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Obwohl Fragment geblieben, steht der "Andreas" im Zentrum von Hofmannsthals Schaffen. Um die Bedeutung und den fragmentarischen Status des "Andreas" zu erklären, ist ein Blick auf seine Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte unerläßlich.
Hofmannsthal arbeitete an seinem Romanprojekt "Andreas" zwischen 1907 und 1927. Circa 500 Manuskriptseiten umfaßt der "Andreas" im Nachlaß Hofmannsthals. Davon entfallen annähernd 100 Seiten auf den relativ geschlossenen Hauptentwurf von 1912/13, - er wurde postum, im Jahre 1930, unter dem Titel "Andreas oder die Vereinigten" erstmals veröffentlicht - der Rest verteilt sich auf insgesamt knapp 400 Entwürfe, Skizzen, Notizen und Exzerpte.
Hofmannsthals Fragmente sollen hier nicht nach Grenzen und Gründen ihres Status abgesteckt werden. Die Beleuchtung einer "Ästhetik des Fragmentarischen" wirft ihr Licht wohl weniger auf die sogenannten Fragmente Hofmannsthals als auf den Teil seines oeuvres, den man als das vermeintliche Werk von den Fragmenten abzusetzen pflegt. Damit hängt zusammen, daß von einer Ästhetik des Fragmentarischen wohl nur in Verbindung mit einer Ethik des Fragmentarischen im Werk Hofmannsthals die Rede sein kann. Es geht daher auch um die Ortung einer fragmentarischen Identität bei Hofmannsthal. Die Gründe für eine solche, vielleicht paradox anmutende Umschreibung vom Ästhetischen zur Ethik, vom Fragment zum Werk scheinen gerade aufgrund auch editorischer Erfahrungen im Umgang mit Hofmannsthal gerechtfertigt: Es ist zunächst die zwar angesichts der großen Torsi wie "Andreas", "Silvia im 'Stern'", "Timon" oder "Kaiser Phokas" verständliche Frage nach den Gründen für den Abbruch der Arbeit, aber dann gerade ihre immer nur unbefriedigend - kann man sagen: unvollständig? - ausfallende Antwort, die zu einer resignativen Einstellung führt. Im Fall des "Andreas"-Romans, um hier das wertvollste aller Fragmente stellvertretend anzuführen, sind schon von den ersten Lesern die unterschiedlichsten Versuche unternommen worden, den Abbruch, die Brüchigkeit durch eine eindeutige Antwort zu glätten und damit den Fragmentcharakter zu nivellieren.
Dem kürzlich von Werner Volke an dieser Stelle veröffentlichten Briefwechsel zwischen Hugo von Hofmannsthal und Alfred Walther Heymel (Teil I) kann man einen ersten Hinweis auf die Beschäftigung mit einem Gegenstand entnehmen, der Hofmannsthal offensichtlich sehr am Herzen lag. Am 28. August 1905 läßt er den Freund wissen:
Ich lese den 23ten November in einem 'Künstler-Verein' den Leuten einiges von meinen Arbeiten. Tags vorher möchte ich im Saal eines Herrn Leuwer der sich mir durch Nennung Deines Namens empfahl, vor einem kleinen Kreis über ein Thema sprechen, das mich interessiert: nämlich über die Stellung der Dichter unter den Leuten in dieser unserer Zeit. (HJb 1, 51).
Einen Monat später, am 26. September 1905, bietet er das Thema, nun etwas abgewandelt, Oscar Bie für die "Neue Rundschau" an: "[ ... ] zeigen Sie, bitte, wenn Sie wollen, einen Aufsatz an: Der Dichter und diese Zeit. Zu dem Aufsatz dieses Titels hab' ich ein starkes Material liegen [ ... ]" (B II 216). Allerdings, stellt er fest: "Ob ich das aber fertig bringe? Es vor Dezember zu schreiben, ist absolut ausgeschlossen." (Ebd.) Die Niederschrift erwies sich als langwierig und mühevoll, der Vortrag - unter dem Titel "Der Dichter und diese Zeit" - wurde erst ein Jahr später gehalten, der Druck in der "Neuen Rundschau" erfolgte im März 1907.
Hofmannsthal und Majakowskij. Hofmannsthal und Picasso. Hofmannsthal und Malewitsch. Hofmannsthal und Beuys. - Was Hofmannsthal seinem Chandosbrief nachgerufen hatte - "fernes Fremdes als nah verwandt spüren zu machen" (BW Andrian 161) -, kann als Leitsatz gelten für den vorliegenden Beitrag, der Hofmannsthal mit Namen in Verbindung bringt, von denen man bisher ziemlich genau wußte, wie wenig sie mit diesem Dichter zu tun haben.
Alban Berg begann seine kompositorische Laufbahn als Komponist von Klavierliedern, die Teil einer quantitativ frappierenden Liedproduktion im Wien der Jahrhundertwende sind: Das Klavierlied hatte zu dieser Zeit in Wien schon eine lange, vor Franz Schubert beginnende Gattungstradition und erlebte als Gattung von besonderer Lokalbedeutung nun einen späten, abschließenden Höhepunkt. Kaum ein Oeuvre eines in Wien lebenden Komponisten dieser Zeit zeigt nicht die Anziehungskraft eines musikalischen Lyrismus. Das gilt für Wilhelm Kienzl, Julius Bittner, Carl Lafite, Joseph Marx ebenso wie für Franz Schreker, Alexander von Zemlinsky, Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton von Webern sowie für die beiden bedeutendsten Lied-Komponisten dieser Zeit - Hugo Wolf und Gustav Mahler. Ihre Liedkompositionen markieren zugleich einen zweifachen gattungsgeschichtlichen Wendepunkt, denn war Wolf der letzte, in dessen Schaffen das Klavierlied zwar noch einen alles dominierenden Rang einnahm, sich aber endgültig vom bis dahin gültigen Strophenlied-Modell ablöste und zum Deklamationslied entwickelte, so führte Mahlers Entwicklung von frühen, späterhin orchestrierten Klavierliedern zum Orchestergesang und zur Synthese zwischen Lied und Symphonik.
Das Fragment: Ein Kunstwerk?
(1995)
Um diese nicht nur auf Hofmannsthal bezogene Fragestellung zu begründen, muß ich gleich erklären, daß meine intensive Beschäftigung mit Hofmannsthal mehr als dreißig Jahre zurückliegt. Nur etwa fünf Jahre lang, von den späten Fünfzigerjahren bis zum Abschluß des dritten Bandes der englischen Hofmannsthal-Auswahl, der 1963 erschien, stand Hofmannsthal im Mittelpunkt meiner Tätigkeit. Obwohl ich Gedichte von ihm und lyrische Dramen schon spätestens in den frühen Fünfzigerjahren übersetzt hatte, wurde ich nur während dieser intensiven Beschäftigung ausnahmsweise auch zum Forscher, indem ich Hofmannsthals Bibliothek im Hause seines Sohns Raimund wenigstens zum Teil sichtete und die in den Büchern enthaltenen Anmerkungen und Aufzeichnungen - darunter auch solche zu geplanten eigenen Werken – zu entziffern versuchte, was mir in manchen Fällen nicht ohne die Hilfe der Tochter Hofmannsthals, Christiane, gelungen wäre, schon weil mir die in österreichischen Schulen gelehrte Stenographie ganz fremd und unentzifferbar blieb. Damals faszinierte mich jede Einzelheit der weit schweifenden Lektüre Hofmannsthals und deren Verarbeitung in eigenen Werken, gerade weil es mir als Herausgeber von zwei Auswahlbänden und für die Einleitungen dazu um das Erfassen der Ganzheit des Schaffens Hofmannsthals ging, wobei ich alles scheinbar heterogene, vereinzelte oder sich widersprechende verknüpfen wollte und die untergründige Einheit suchte.
Man gelangt zu interessanten Ergebnissen, wenn man folgende Verse von Ludovico Ariosto genauer untersucht, die gleich zu Beginn des Werkes, fast als Auftakt des Romans, zitiert werden: "Oh quante sono incantatrici, oh quanti / incantator tra noi che non si sanno." Diese Verse stammen aus dem VIII. Gesang des Ritterepos "Orlando furioso", der besonders wichtig ist, da gerade hier der Held zum ersten Male vorgestellt wird. Eine weitere symbolische Bedeutung ist in diesem Gesang ebenfalls zu erkennen, denn gerade hier läßt der zitierte Zauber die Liebenden "la lor prima forma", d.h. ihr urprüngliches, wahres Antlitz zurückgewinnen. Berücksichtigt man auch die Tatsache, daß der Held bei seinem ersten Auftreten schon im Aufbruch begriffen ist, so kann behauptet werden, daß bereits an dieser Stelle das Thema der Bildungsreise eingeführt wird, die sich allmählich in Selbstsuche verwandeln wird. Parallelen zum "Andreas" beginnen somit schon ansatzweise sichtbar zu werden. Gerade bei seinem ersten Auftritt hat der Aufbruch des Helden Orlando nichts Zufälliges an sich, sondern weist schon auf die immanente Struktur des Werkes hin, wo jede einzelne Gestalt im Begriff ist, sich fortzubewegen, um vor jemandem zu fliehen oder um jemandem zu begegnen. Eine unaufhörliche Bewegung der Trennung und Vereinigung durchzieht das ganze Werk.
Jede Episode wird durch eine weitere aufgehoben; auf diese Weise erhält man den Eindruck einer unaufhaltsamen Mobilität, und während sich die ganze Darstellung ins Endlose ausweitet, weisen die einzelnen Geschehnisse einen fragmentarischen Charakter auf.
Ariosto selbst hat sein Werk nie als abgeschlossen betrachtet und daran immer wieder, bis zu seinem Tode - im Jahre 1533 - gearbeitet.
Primärtexte und Briefausgaben werden entsprechend dem für das HJb zugrundegelegten Siglenverzeichnis zitiert. Briefe und Notizen, die erstmals in der Kritischen Ausgabe abgedruckt wurden, bleiben hier unberücksichtigt. Jede bibliographische Angabe erhält eine Ordnungsnummer, ausgenommenn davon sind in der Regel Rezensionen. Einzelkritiken zu aktuellen Inszenierungen sind nur in Ausnahmefällen aufgenommen.
Hofmannsthal 3/1995
(1995)
[…] denn bei den vielen Fehlern, mit denen mich
meine Vorfahren und das Schicksal ausgestattet
haben, habe ich vielleicht doch die Tugend der Treue
der Gefühle, einer unerschütterlichen Anhänglichkeit
an meine Freunde und eine Fähigkeit, nichts aus dem
Leben zu verlieren [...]
Heymel an Otto Vrieslander. Berlin, 22. Mai 1912