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Alban Berg begann seine kompositorische Laufbahn als Komponist von Klavierliedern, die Teil einer quantitativ frappierenden Liedproduktion im Wien der Jahrhundertwende sind: Das Klavierlied hatte zu dieser Zeit in Wien schon eine lange, vor Franz Schubert beginnende Gattungstradition und erlebte als Gattung von besonderer Lokalbedeutung nun einen späten, abschließenden Höhepunkt. Kaum ein Oeuvre eines in Wien lebenden Komponisten dieser Zeit zeigt nicht die Anziehungskraft eines musikalischen Lyrismus. Das gilt für Wilhelm Kienzl, Julius Bittner, Carl Lafite, Joseph Marx ebenso wie für Franz Schreker, Alexander von Zemlinsky, Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton von Webern sowie für die beiden bedeutendsten Lied-Komponisten dieser Zeit - Hugo Wolf und Gustav Mahler. Ihre Liedkompositionen markieren zugleich einen zweifachen gattungsgeschichtlichen Wendepunkt, denn war Wolf der letzte, in dessen Schaffen das Klavierlied zwar noch einen alles dominierenden Rang einnahm, sich aber endgültig vom bis dahin gültigen Strophenlied-Modell ablöste und zum Deklamationslied entwickelte, so führte Mahlers Entwicklung von frühen, späterhin orchestrierten Klavierliedern zum Orchestergesang und zur Synthese zwischen Lied und Symphonik.
This paper aims to demonstrate the hidden place of the surrealist poet, Paul Éluard, in Samuel Beckett's writing process. It will show that Beckett not only read and translated Paul Éluard, as is known, but also quoted him extensively. Moving from Beethoven to the short story "Lessness", the place of quotation as a trace of emotion will be examined.
Der jüdische Schriftsteller und aggressiv-polemische Publizist Saul Ascher (1767-1822) fing nach den napoleonischen Befreiungskriegen das Befinden einer Generation von deutschen Intellektuellen mit einem Reizwort ein. "Die höchsten Interessen der menschlichen Natur, Religion, Vaterland, Recht, erwarben in dem Gemüth der deutschen Denker nunmehr ein eigenes Gepräge, das sich durch eine Gemüthsäusserung aussprach, die man füglich 'Germanomanie' benennen könnte." Gemeint waren die Überlegungen eines Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Ludwig Jahn, Friedrich Schlegel, Friedrich W.J. Schelling, Adam Müller und Ludwig Tieck, um die Verschiedenheit der Religion, der Verfassungen und Fürstentümer in einem deutschnationalen Geist zu einigen.
Aschers trennscharfe, aber polemisch übersteigerte Analyse der sogenannten 'Germanomanen', die er an anderer Stelle als "transzendentale Idealisten und Identitäts-Philosophen" identifizierte, erschien zu einem Zeitpunkt, als auch die Neue Welt von einer Welle der germanophilen Begeisterung erfasst wurde. Der wichtigste und am meisten rezipierte Autor der amerikanischen "Germanomanie" war Johann Wolfgang Goethe (1749-1832).
"Das schöne Gedicht auf den Vogel ..." : Anmerkungen zu Hofmannsthals Rezeption Walt Whitmans
(1986)
Die Bedeutung des amerikanischen Dichters Walt Whitman (1819-1892) für Hugo von Hofmannsthal im einzelnen ausmachen zu wollen, ist nicht einfach und kann auch nicht Ziel dieser Ausführungen sein. Vielmehr soll es darum gehen, Spuren zu verfolgen, die einer solchen Untersuchung dienlich sein können. Dem kurzen Überblick über die Rezeption Whitmans im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert folgen eine genauere Untersuchung des Briefwechsels zwischen Hofmannsthal und Ottonie von Degenfeld, welcher gegenüber Hofmannsthal Whitmans Gedicht "Out of the Cradle Endlessly Rocking" wohl als das "schöne Gedicht auf den Vogel, der um seine Frau klagt" erwähnte, sowie der vollständige Abdruck des Gedichtes und dessen deutsche Übersetzung von Johannes Schlaf.
Die Reaktionen auf das Werk Thomas Bernhards sind Paradebeispiele für das Missverständnis, Literatur habe unvermittelt etwas mit Politik, Philosophie oder anderen gesellschaftlichen Teilbereichen zu tun. Auch Aussagen von Bernhard selbst forcieren diesen Eindruck, gleich, ob sie in den 'faktualen' Interviews, den wenigen poetologischen Texten, den Reden zu Preisverleihungen, der meist referentiell gewerteten Textsorte Autobiographie oder in den 'fiktionalen' Texten geäußert werden: "Zu Lebzeiten war das Bild des Autors Thomas Bernhard vor allem in Österreich ganz wesentlich von Skandalen geprägt."
Inhaltlich umfassen die Themenbereiche die 'Makro-' bis zur 'Mikroebene' des Sozialen: Der Staat Österreich wird zum Ziel des Angriffs, die von Bernhard angeprangerten Kontinuitäten in nationalsozialistischer Hinsicht, der Katholizismus (die Religion), unterschiedliche Institutionen, beispielsweise das Schulsystem, die Musikausbildung, die Familie, konkrete Personen bis hin zum Leitzordner in der Auslöschung, der dann wiederum als Symbol für eine bürokratisierte österreichische und europäische 'Leitzordnerkultur' auf die Makroebene hochgerechnet wird.
Auch in der Forschung wird immer wieder die Frage nach dem Realitätsgehalt der Texte Bernhards aufgeworfen: Wieviel Dichtung, wieviel Wahrheit beinhaltet die Autobiographie, wieviel Biographie die 'Fiktion', wie ist Österreich im Text repräsentiert?
Die Antike im doppelten Aspekt von Mythos und Geschichte war lebenslang einer der von Hofmannsthal bevorzugten Themenkreise. Sein Interesse daran reicht in die ersten Anfänge zurück und setzt sich bis ins Spätwerk fort. Schon ein flüchtiger Blick auf die lange Reihe der Titel zeigt die beeindruckende Dichte der Projekte: Auf den Alexander-Stoff, der bereits Ende der achtziger Jahre in den Vordergrund rückt, folgen 1891 eine im Umriß ganz vage gebliebene "mythische Komödie", die vielleicht den Titel "Athene" tragen sollte, im Jahr darauf das Hades- und Alkibiades-Thema sowie die Auseinandersetzung mit den "Bacchen" des Euripides, die zwischen 1904 und 1918 im "Pentheus"-Plan weiter vorangetrieben wird. Ein erstes 'fertiges' Stück ist der - kurz vor "Tor und Tod" - im März 1893 entstandene Einakter "Idylle", der auf schmalstem Raum eine antikisierende Szene "im Böcklinschen Stil" gestaltet. Im Sommer 1893 werden Entwürfe zum 1906 wieder aufgenommenen "Traum" notiert, der auf einer Erzählung des Plutarch in der Demetrius-Vita 27 beruht.
Seine Annäherung an die Antike, soweit sie an die attischen Tragiker anknüpft, fühlt sich dem eingestandenen Ziel verpflichtet, den "Anschluß an große Form" zu suchen und damit, vom lyrischen Drama weg, die wirkliche Bühne zu erobern. Dabei geht es ihm von Anbeginn darum, die antiken Stücke aus ihrer "maskenhaften Starrheit zu lösen", wie es anläßlich des "Alkestis"-Plans im Januar 1894 heißt; ein Gedanke, den auch Hermann Bahr 1923 im Rückblick seines Tagebuchs formuliert, wenn er daran erinnert, daß er und Hofmannsthal sich vor drei Jahrzehnten vor der "Gypsgriechelei der Heysezeit" zu retten versucht hätten, ganz im Einklang mit Max Reinhardt, der die Unlust, antike Dramen zu spielen, dem "gipsernen " Charakter der vorliegenden Übersetzungen und Bearbeitungen anzulasten pflegte.
Obwohl Goethes Bedeutung als größter deutscher Dichter - bei aller Polemik gegen ihn zu seiner und späterer Zeit - kaum je umstritten war, wurde ihm doch von den Deutschen nach der Überzeugung Nietzsches kaum je wirklich normative Kraft zugeschrieben. "Goethe that den Deutschen nicht noth, daher sie auch von ihm keinen Gebrauch zu machen wissen", bemerkt er in einem anderen Aphorismus aus Menschliches, Allzumenschliches: "Man sehe sich die besten unserer Staatsmänner und Künstler daraufhin an: sie alle haben Goethe nicht zum Erzieher gehabt, - nicht haben können." Er stehe "zu seiner Nation weder im Verhältnis des Lebens noch des Neuseins noch des Veraltens", heißt es wieder im Aphorismus "Giebt es >deutsche Classiker<?". "Nur für Wenige hat er gelebt und lebt er noch: für die Meisten ist er Nichts, als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von Zeit zu Zeit über die deutsche Grenze hinüberbläst."
Goethe und die Musik seiner Mit- und Nachwelt: das ist ein weites, ja eines der weitesten Felder seiner Wirkungsgeschichte. Wohl kein Dichter in der Geschichte der Weltliteratur hat einen vergleichbaren Einfluß auf die Musik gewonnen hat wie er. Fast keiner der großen Komponisten - zumindest in Deutschland - von der Schwelle des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ist ohne ihn ausgekommen, ja in vielen Fällen - es seien nur die Namen Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Schumann, Liszt, Wagner, Brahms, Mahler, Strauss, Busoni oder Webern genannt - stehen die Lektüre und musikalische Auseinandersetzung mit Goethe so sehr im Zentrum ihres ästhetischen Kosmos, daß man beinahe behaupten kann: ohne ihn hätte ihr Werk eine andere geistige, ja vielfach eine andere künstlerische Gestalt. Vor allem eine bestimmte musikalische Gattung, die außerhalb Deutschlands heute mehr denn je als Inbegriff deutscher Kultur gilt, hätte sich ohne ihn niemals in dieser Form und zu dieser Höhe entwikelt: das Kunstlied, "le lied", wie die Franzosen sagen, ein Wort, das niemals im Dictionnaire stünde, hätte es Goethe nicht gegeben, dessen Gedichte seit fast zweihundert Jahren nach den Worten von Friedrich Blume "die bei weitem am häufigsten komponierten Texte der Weltliteratur" sind.
Tento článek je kritickým posouzením předsudku, který stále nedotčeně přetrvává při četbě novely 'Die Judenbuche' Anetty von Droste-Hülshoff. Ve většině interpretací tohoto textu je Friedrich Mergel rozpoznán a analyzován jako vrah. Předložený rozbor ukazuje, že novela obsahuje značný počet rozporuplných prvků, které nedovolují Friedrichovo odsouzení. Proto by mělo být cílem četby zamyšlení, které je v textu obsaženo, a ne rozsudek.
"Wenn man die Meisterstücke des Shakespeare, mit einigen bescheidenen Veränderungen, unsern Deutschen übersetzt hätte, ich weiß gewiß, es würde von bessern Folgen gewesen sein, als daß man sie mit dem Corneille und Racine so bekannt gemacht hat." (Briefe, die neuere Literatur betreffend, Lessing 1967,616) Mit diesen Worten formuliert Lessing eine Kritik an der französischen klassischen Tragödie, die für die Herausbildung der deutschen Nationalliteratur von kaum zu unterschätzender Bedeutung gewesen ist. Sie hat dazu beigetragen, daß die Vorbildfunktion der französischen Tragödie im ausgehenden 18. Jahrhundert durch das Naturgenie Shakespeare und dessen melancholischen Helden Hamlet abgelöst wird.
Robespierre gehört zu den historischen Figuren, die nicht so leicht ad acta gelegt werden können. Das wurde mir wieder bewusst, als ich jüngst auf zwei 2016 bzw. 2017 in Paris erschienene Bücher aufmerksam wurde. Zuerst sprang mir in einer Straßburger Buchhandlung das Buch: "Gertrud Kolmar. Robespierre [Poésies]" in die Augen. Die Herausgeberin und Übersetzerin Sibylle Muller präsentiert dort zweisprachig den 46 Gedichte umfassenden Gedichtzyklus "Robespierre" von Gertrud Kolmar sowie, nur in französischer Übersetzung, Kolmars Essay "Das Bildnis Robespierres". Entstanden sind diese Texte in den Jahren 1933 und 1934, also im zeitlichen Umkreis der Machtergreifung Hitlers. Sibylle Muller verweist in ihrem Nachwort knapp auf das 2016 erschienene Buch des Historikers Jean-Clément Martin - ein renommierter Spezialist für die Geschichte der Französischen Revolution: "Robespierre. La fabrication d'un monstre." Sie erwähnt diesen Historiker deswegen, weil er wie schon Gertrud Kolmar den üblichen Bildern von Robespierre ihre suggestive Dominanz nehmen möchte. Aufschlussreich könnte es sein, dieser möglichen Konvergenz von so unterschiedlichen Texten einmal nachzugehen. Ich möchte also ein Rendezvous zwischen zwei ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten, einer bescheidenen deutsch-jüdischen Lyrikerin und einem renommierten französischen Professor der Geschichte, arrangieren. Was Getrud Kolmar betrifft, will ich mich dabei im Wesentlichen auf ihren Essay über Robespierre beschränken und ihren Gedichtzyklus nur kurz ins Auge fassen. Ihr Drama "Cécile Renault" soll ganz bei Seite gelassen werden.
Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes ist es, einige Aspekte des Versuchs, den in Deutschland neu geprägten Begriff der "Ästhetik" nach Frankreich zu importieren, in der Zeit um 1850 zu beleuchten, einer Periode, in der die Ästhetik sich als philosophische Wissenschaft in Frankreich allmählich etabliert. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts stieß der Begriff "esthétique", der als direkte Übersetzung des deutschen Wortes "Ästhetik" geprägt wurde, auf zähen Widerstand. Schon ein schneller Blick auf die Wortgeschichte zeugt von dieser Resistenz. Zwar tauchte der Terminus "esthétique" bereits 1753 auf, aber dieser erste Beleg, der im Werk des französischsprachigen Mitglieds der Berliner Akademie der Wissenschaften Louis de Beausobre erschien, blieb lange Zeit isoliert und ohne Widerhall. In der "Encyclopédie" von Diderot und d'Alembert ist bezeichnenderweise unter "esthétique" kein Eintrag zu finden. Erst in zwei Nachbildungen der "Encyclopédie" - in die "Encyclopédie d'Yverdon" von Fortunato Bartolomeo de Felice und ins "Supplément à l'Encyclopédie" von Charles-Joseph Panckoucke - wurde ein solcher Artikel eingeführt. Dieser Importversuch blieb aber bis Anfang des 19. Jahrhunderts so gut wie folgenlos. 1835 wurde das Lemma zum ersten Mal in der sechsten Ausgabe des "Dictionnaire de l'Académie Française" aufgenommen. Den ersten wichtigen Beleg für einen regelrechten Einbürgerungsversuch liefert aber erst der zweite Band des "Dictionnaire des sciences philosophiques" von 1845. Dort ist ein Eintrag zur "esthétique" zu finden, der von Charles Bénard gezeichnet ist. Damit wurde dem Wort "esthétique" in der Sprache der französischen Philosophie sozusagen sein erster Taufschein erstellt. Wer genau war der Autor dieses langen Artikels und was hat ihn veranlasst, einen solchen Eintrag zu schreiben? Wie konnte die Ästhetik als besonderes Teilgebiet der Philosophie um 1850 neue Befürworter finden? Auf welche Hindernisse stießen ihre Fürsprecher? Auf diese Fragen sollen im Folgenden einige Antworten skizziert werden.
1932 befindet sich die Weimarer Republik an ihrem politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Tiefpunkt. Was ließe sich angesichts des angeschlagenen Selbstbewußtsein der Nation besser instrumentalisieren als der hundertste Todestag des Olympiers Goethe, als die Epiphanie des Unsterblichen, als ein "Ehrenjahr des deutschen Menschen und der deutschen Kultur". Nicht nur in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Goethes Werk und den gigantischen staatlichen Feierlichkeiten, mehr noch in den populären Medien, in allen Radiosendern, in sämtlichen Zeitungen, in allen politischen Lagern, von Nationalsozialisten und Katholiken, von Juden und Kommunisten wird Goethe auf fatale Weise ideologisch vereinnahmt.
Athanasios Anastasiadis wirft einen Blick nach Österreich, auf das Werk Franz Grillparzers, und beschreibt dessen Rezeption der griechischen Antike und - damit verbunden - philhellenischer Gedanken. Franz Grillparzer war ein vorzüglicher Kenner der antiken Literatur, die er im Original intensiv studiert und exzerpiert hat. Seine klassisch-humanistische Bildung hat ihn aber keineswegs dazu bewogen, zum Anhänger der philhellenischen Bewegung zu werden, sich publizistisch zum griechischen Unabhängigkeitskrieg von 1821 zu äußern oder gar aktiv daran teilzunehmen. Keineswegs lässt sich sein Werk dem literarischen Philhellenismus zuordnen. Aber Franz Grillparzer und seine Dramen weisen in dreierlei Hinsicht Bezugspunkte zu Griechenland, und zwar zum antiken wie zum modernen auf, die im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen: 1) Zwischen 1817 und 1831 verarbeitete er in seinen 'Griechendramen' Stoffe der klassischen Antike. 2) Im Jahr 1843 unternahm er eine Reise in den Orient und hielt sich auch im jungen griechischen Staat auf, wovon er in seinem Tagebuch auf der Reise nach Konstantinopel und Griechenland desillusioniert Zeugnis ablegte. 3) Die Griechendramen wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Griechenland rezipiert. Sie blieben bis in die 1930er Jahre auf Athener Bühnen präsent und wurden in der Presse kontrovers diskutiert.
In seinem Buch "Einfache Formen" (1930) entwickelt André Jolles in Auseinandersetzung mit Goethes Naturkunde die Vorstellung einer besonderen Zeitlichkeit der von ihm so genannten "Einfachen Formen", die er als "Jedesmaligkeit" bezeichnet. Jolles greift damit den morphologischen Gedanken einer Vielgestaltigkeit von Form vor dem Hintergrund der sprachwissenschaftlichen Debatten seines politisierten akademischen Umfelds in Leipzig auf, das den Saussure'schen Systemgedanken der Sprache unter Rückbezug auf Wilhelm von Humboldt holistisch umdeuten wollte. Der Aufsatz verortet Jolles' Überlegungen in der formorientierten Literatur- und Kulturtheorie der Zeit. Anhand seiner Zeitbegriffe und seines Formkonzepts wird gezeigt, wie er die zeitgenössischen Ideen der Ganzheit und der Verzeitlichung von Form im Ausgang morphologischer Fragen auf eigenwillige Weise interpretierte.
Der Familien- oder Generationenroman durchlief seit seiner deutschsprachigen Prägung durch Thomas Mann zwei Schübe oder "[B]oom[s]": Auf die Welle der sogenannten 'Väterliteratur' oder 'Väterbücher' der 1970er und 80er-Jahre folgte ungefähr ab Ende der 90er-Jahre eine abermalige Konjunktur der Gattung im Umfeld neu aufgeflammter Debatten über 'Vergangenheitsbewältigung', die 'Enkelperspektive' auf den Nationalsozialismus und über 'Germans as victims'. Vergegenwärtigt man sich die ungebrochene Popularität dieser aktuellen Erscheinungsform des Generationenromans, so erstaunt der prominent auf dem Buchcover platzierte Untertitel von Christoph Geisers 2013 erschienenem Roman 'Schöne Bescherung': Dieser sei 'kein Familienroman', heißt es dort. Gesetzt wird diese peritextuelle Lektüreanweisung noch dazu ausgerechnet von einem Autor, der mit seinen frühen Texten Grünsee (1978) und Brachland (1980) die vielleicht wichtigsten Familienromane der jüngeren schweizer Literatur schuf.
Statt den Untertitel zu 'Schöne Bescherung' vor diesem Hintergrund zu problematisieren, buchte ihn das Feuilleton tendenziell als nicht weiter erläuterungsbedürftig ab und taxierte den Roman gar als Schlussstein einer veritablen "Familientrilogie". Schöne Bescherung will aber eben - anders als die formalästhetisch konventionelleren frühen Romane Geisers - explizit und dezidiert 'kein Familienroman' (mehr) sein. Der Text stellt sich also keineswegs in ein Verhältnis der Kontinuität zu Brachland, dem nächstälteren Roman der angeblichen "Familientrilogie". Vielmehr kommuniziert er noch vor seinem Incipit, eben durch den trotzigen Untertitel, einen kuriosen gattungsbezogenen Abgrenzungswillen. Dieser soll im Folgenden ernstgenommen werden.
Als Rezeptionsanalyse von Goethes Werken in Persien befasst sich die vorliegende Untersuchung zunächst mit der Frage: 'Wie wird Goethe in Persien gelesen?' Bei der Frage nach einer persischen Goethe-Rezeption steht Übersetzung als Vermittlungsprinzip eines, vom Persischen aus betrachtet, fremden Dichters ebenso im Vordergrund wie bei der Frage nach einer deutschen Ḥāfiẓ-Rezeption.
El presente artículo se propone analizar la interpretación benjaminiana de Kafka tomando como eje central el problema de la tradición y su resignificación política en el contexto de producción tardío. Son relevantes en este sentido, los conceptos de hagadá y halajá con los que Benjamin estructura sus análisis. El objetivo es entonces rastrear los elementos que en la elaboración de una teoría política permiten recuperar al narrador checo para la revisión de un concepto de lo humano.
"… die ehernen Blöcke männlichen Schaffens umkreisen" - Elfriede Jelinek queert Lessing und Goethe
(2016)
Der Beitrag verschränkt kommunikations-, informations-, kulturwissenschaftliche sowie philosophische Ansätze zur Störung mit gender- und queer theory, um Elfriede Jelineks 'Gattung' des Sekundärdramas analytisch zu beschreiben. Jelinek verfasst ihre Sekundärdramen zu kanonisierten Dramen des deutschsprachigen Raums und stellt über ihr typisches, intertextuelles Verfahren Bezug zu den Stücken her, fordert gleichzeitig aber auch die Kombination der Sekundärdramen mit ihren Bezugstexten im Moment der Inszenierung und geht damit über ihr bisheriges Verfahren hinaus. Ausgehend von der Feststellung, dass Jelineks Sekundärdramen in den Umsetzungen am Theater meist als weibliche Gegenschreibung interpretiert werden, will der vorliegende Beitrag zeigen, dass die Sekundärdramen vielmehr an einer Auflösung der Kategorien von 'Weiblichkeit' und 'Männlichkeit' arbeiten. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Thematisierung des Inzests, der mit Judith Butler als vorhandene Ordnungen und Relationen verschiebendes Element gelesen werden kann.
Ann Cotten gilt dem Feuilleton als das aktuelle "Wunderkind der deutschen Literatur" und als die "klügste und schwierigste Dichterin in deutscher Sprache". [...] Ann Cotten nervt. [...] Doch was hat es mit dem Nerven auf sich? Ist das, was hier als Pose an- und vermeintlich vorgeführt wird, nicht etwas ganz anderes? Bereits diese ersten Hinweise zeigen, dass Cottens Spiel mit den Stillagen zwischen Virtuosität und Kalauer aufgeht: Es entlarvt die Kritik - sowohl in ihrem positiven als auch in ihrem negativen Urteil als Mansplaining, das mit Formeln wie 'Wunderkind', 'talentierte Autorin', Dekonstruktion etc. genau das einhegt, was mit dieser Literatur in Frage steht. Das Nerven, so manieriert es auch daherkommen mag, stellt eine intensiv reflektierte poetologische Dimension von Cottens Literaturauffassung und ihres Schreibens dar - ja man könnte von einer Poetik des Nervens sprechen. [...] Wenn Cotten, wie zu sehen sein wird, die Kategorie des Existenziellen wieder einführt, die vom (Post)Strukturalismus in Abhebung unter anderen von Sartre verabschiedet wurde, dann liebäugelt sie auch mit Autoren, die von ganz anderer Warte aus nerven. Zu ihnen zählt auch der in der Poetikvorlesung mehrfach genannte Peter Handke. Peter Handke nervt Ann Cotten, aber sie liest ihn auch und kann etwas mit ihm anfangen - inwiefern, wird zu sehen sein. Mit Handke steht ein weiteres ehemaliges 'Wunderkind' des Literaturbetriebs zur Debatte, bei dem jedoch seit ein paar Jahrzehnten eine Abwendung von den avantgardistisch-sprachkritischen Anfängen und eine Hinwendung zu einer mystischen Weltanschauung kritisch diagnostiziert wird. Die Empörung bei der Vergabe des Literaturnobelpreises an Handke im Herbst 2019 betraf vor allem seine proserbische Haltung sowie sein 'Frauenbild' und steigerte sich auch bis zum 'Durchdrehen'. Ist man bei Cotten über die dekonstruktivistische Pose genervt, so enerviert man sich bei Handke poetologisch gesehen darüber, dass er deren Einsichten zumindest in seinen jüngeren Werken trotzig negiere. [...] Seit der Tetralogie rund um die "Langsame Heimkehr" (1979) zeichnet sich bei Handke ein neuer Weltzugang und damit verbunden eine epische Erzählweise ab, denen Peter Hamm, knapp vier Monate nach dem Massaker von Srebrenica, in seiner Laudatio bei der Verleihung des Schillerpreises an Handke Folgendes attestiert: "Peter Handke hat das Schwierigste und Höchste gewagt, was ein Schriftsteller nach Kafka überhaupt wagen konnte, nämlich erzählend wieder für Weltvertrauen zu werben und Weltvertrauen zu schaffen". Man kann darin freilich auch einen gefährlichen Eskapismus sehen - ob man Handke als schwierig erachtet, oder ihm attestiert, Schwieriges zu leisten, ist auch eine Frage der Perspektive. Oder aber man kann die Vermutung formulieren, dass solche Zuschreibungen den Blick auf die Sache, wie auch bei Cotten, eher verstellen, und so drängen sich verschiedene Fragen auf: Wieso arbeitet sich Cotten an einem Autor mit solchem Ruf ab? Weshalb liest sie ihn? Was hat sein Nerven mit ihrem Nerven zu tun? Und was ist das eigentlich, 'nerven'? Zeit also für eine Rekonstruktion von Cottens Handke-Lektüre.
Dave Eggers' in seinem Roman 'The Circle' entfaltete Zukunftsvision erzählt vom Aufstieg des Konzerns Circle, eines Konglomerats aus Apple, Twitter, Facebook, PayPal und Google, des Erfolgreichsten sowie Umstrittensten also, was die momentane Debatte über Big Data, Datenschutz und Privatsphäre hergibt. Kein Wunder, dass der Roman, so rasch zum Bestseller avancierend wie ins todbringende Pantheon möglicher Schullektüre aufrückend, als 1984 fürs Internetzeitalter stürmisch begrüßt und als verstörend-düstere Prophetie gefeiert wird. Indes die Kritik auch deutliche Mängel diagnostiziert; so moniert man zumeist eine völlig unrealistische Naivität des Romanpersonals, allen voran der Hauptprotagonistin Mae Holland, die sich im Verlauf der Handlung immer vehementer mit der Konzernphilosophie identifiziert und am Ende bereitwillig in den Circle eingeht; bei weitem zu bereitwillig, wie einige Interpreten meinen: "Mae, The Circle's protagonist, is mealymouthed and naive. Other Circle employees wander about the page in raptures, gleeful about their Elysian employment. One has a hard time imagining why they'd be hired in the first place – their vision and intelligence is sorely limited." – "Der Roman malt schwarz und weiß, ganz bewusst", erklärt hingegen Adrian Daub, einen zornigen Autor deutend, der mit groben Effekten größte Wirkung zu erreichen suche, weshalb der Roman auch "absolut unironisch" gemeint sei und die Naivität der Helden damit allein notgedrungen brachiales Kriegswerkzeug eines im Grunde couragierten Kampfes sei, der eben nur noch mit harten Bandagen geführt werden könne. Diese in der grundsätzlichen Anlage sicherlich zutreffenden Interpretationen unterschlagen jedoch eine weitere höchst spannende, da äußerst strittige Lesart, nach welcher der Roman mit der produktiven Rezeption dystopischer Literatur hintergründig auch einen anthropologischen Umbruch verhandelt.
Bei der Durchsicht von literarischen und literarkritischen Werken der 1830er und 40er Jahre wird schnell deutlich, daß jedes einen anderen 'Goethe' hat. Damit ist nicht nur den Tatsachen Rechnung getragen, daß jeder der Autoren seine ganz individuelle Sicht auf Goethe zur Geltung bringen will - um des eignen Profils und der Distinktionsgewinne willen - und daß jede der sich ausdifferenzierenden ideologischen Positionen,
die dem Vormärz sein besonderes Gepräge geben, sich ihre spezielle, pejorative oder verklärende Mystifikation zurechtlegt.
O artigo resulta de pesquisa realizada entre os meses de abril e junho de 2010 no Instituto de Estudos Brasileiros (USP) e apresenta a listagem completa dos títulos pertencentes à biblioteca de João Guimarães Rosa que de algum modo se relacionam à língua e cultura alemãs. Descrevemos nosso procedimento e procuramos privilegiar alguns aspectos do material estudado, elaborando uma introdução ao levantamento, comentando as presenças mais significativas, os temas recorrentes e a marginália encontrada em volumes de autores como Nietzsche, Kafka e Erich Auerbach, bem como o contexto da relação de Guimarães Rosa com as leituras alemãs. Intentamos contribuir no estudo de fontes da obra do autor de "Grande sertão: veredas" e desejamos por fim divulgar um objeto de provável interesse no âmbito dos estudos germanísticos brasileiros.
Den deutschen Linksterrorismus der RAF und ihre gesellschaftlichen Folgen behandelt Gerald Bär anhand der Filme "Deutschland im Herbst" und "Der Baader Meinhof Komplex", berücksichtigt wird dabei auch die Aufnahme dieser Ereignisse in Portugal, so wie das Lied "Sedas a Vento", das Vitorino Salomé der toten Ulrike Meinhof widmete.
Um dos capítulos mais importantes da recepção do teatro alemão no Brasil se iniciou em 1958, com a montagem de "A alma boa de Setsuan". A encenação de muitas entre suas obras a partir de então colocou novas questões dramatúrgicas e teóricas num cenário aberto à experimentação estética e marcado pela dialética entre o teatro e o turbulento contexto social brasileiro da época. Grupos como o Arena, o Oficina e o CPC discutiram, atualizaram e articularam a obra de Brecht com suas próprias pesquisas. Como essa recepção, ontem como hoje no Brasil, é feita a partir dos mais diferentes referenciais teóricos e críticos, faz-se necessária a revisitação da crítica esclarecedora de Anatol Rosenfeld sobre Brecht. Profundo conhecedor de estética teatral, da teoria do teatro épico, da obra de Brecht e do teatro brasileiro, Rosenfeld tem papel decisivo em vários debates em torno de sua obra e de sua influência no teatro brasileiro. Nesse artigo, a partir de questões que surgem da recepção contemporânea de Brecht, pretendemos acompanhar algumas etapas desse percurso na obra de Rosenfeld, que é tanto teórico como histórico e crítico e se constitui como um dos mais lúcidos e atuais estudos sobre Brecht e o teatro brasileiro.
Die Germanistikabteilung der Philologischen Fakultät in Kronstadt/Braşov veranstaltete in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens [GGR] (Zweigstelle Kronstadt) und mit dem Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Hermannstadt zwischen dem 30. März und 01. April 2017 ihre XX. Internationale Tagung zum Thema Luthers Reformation und deren Wirkung auf Sprache, Literatur und Kultur.
Im Folgenden erörtert Alexander Nebrig den Zusammenhang zwischen der international anschlussfähigen Philosophie Spinozas in Auerbachs Werk einerseits und der internationalen Verbreitung ebendieses Werkes andererseits. Es geht um die ideellen Eigenschaften von Literatur, die ihren Entstehungs- und primären Vertriebsraum überschreitet und in Übersetzungen Erneuerung findet. Bislang wurden Auerbachs Erzählungen vornehmlich mit dem Pantheismus Spinozas in Verbindung gebracht. Die Spinoza-Rezeption lässt sich aber noch stärker präzisieren. Zu zeigen ist, dass die Affektenlehre der spinozistischen Ethik für Auerbachs Figurenpsychologie strukturbildend wurde (I, II). Im Anschluss an die Überprüfung dieser Hypothese wird in einem zweiten Schritt Auerbachs Spinoza-Rezeption in Verbindung mit seiner Einstellung auf internationale Kontrolle des Werkes gebracht (III, IV). Das neue grenzüberschreitende Verwertungsbewusstsein wurde von der Entstehung des übersetzungsrechtlichen Denkens ermöglicht. Auerbach verfolgte aufmerksam die urheberrechtliche Entwicklung und trat selbst als Lobbyist internationaler Urheberübereinkünfte auf, was ihn zu einem Pionier internationaler Werkherrschaft macht. Leitend ist an dieser Zusammenführung von literarischer Hermeneutik und Urheberrechtsgeschichte die bereits an anderen Fällen erörterte These, dass Vertriebs- und Vermittlungslösungen in einem wechselseitigen Verhältnis mit der Werkstruktur stehen können.
Borges : philology as poetry
(2018)
The titles of many of Borges's poems refer to canonical texts of world literature. One poem, for example, deals with the ending of the Odyssey and is simply called "A scholion"; others are called "Inferno V, 129" and "Paradise XXXI, 108", referring both to Dante's "Divine Comedy". These titles indicate that in his poems, Borges often keeps his distance from traditional poetical matters such as love, or, more generally, immediate emotions. Instead, he writes poems that gloss other texts, some of which actually relate love stories. Thus, Borges's poems stage themselves as philological commentaries rather than as poetry in its own right. In a similar vein and on a more general level, Borges likes to present himself in poems, interviews, and essays as a fervent reader of world literature, playing down his role as an original author. [...] In the following two sections of his paper, Joachim Harst tackles this question by commenting on two of Borges's philological poems, namely, the two texts on Dante's "Comedy". A ready objection to the idea of "philological poetry" is that despite Borges's selfstaging as reader, his texts obviously aren't philological in any academic sense. [...] The fundamental role of love for Dante's cosmological vision leads Harst to another understanding of the term "philology," namely, its more or less literal translation as "love of the lógos," the "lógos" being the cosmic principle and the divine word. Dante's Comedy can be considered a "philological" text in the sense that it is fueled by the "love of the lógos," and it discusses this love by citing, glossing and correcting other texts on love. Returning to Borges, Harst suggests that his two "philological" poems on Dante refer to this understanding of "philology." But by modifying the epic's theological underpinnings, they work to integrate Dante into a larger system which Borges calls "universal literature." Harst claims that this notion of literature, just like Dante's cosmos, is also centered on a lógos—albeit differently structured—and in this sense "philological."
Daß in die Visionen des Jorge Luis Borges Reminiszenzen an Werke der bildenden Kunst eingeflossen sind, erscheint evident, wenn man etwa die Beschreibung der 'La biblioteca de Babel' (Borges 1989a, 465-471) mit den Kerkerphantasien Giovanni Battista Piranesis ('Carceri', 1745-1750) oder auch mit der Darstellung des Babylonischen Turmbaus (1563) durch Pieter Breughel d.Ä. vergleicht. Auch bestehen vielfaltige Beziehungen der Borges'schen Labyrinth-, Spiegel- und Doppelgängerphantasien zu Gemälden der Surrealisten sowie zu anderen Werken, insbesondere der modernen Kunst. Inzwischen hat Borges der bildenden Kunst gleichsam mit Zinsen zurückerstattet, was er ihr verdankt. Bildende Künstler verschiedener Stilrichtungen haben aus seinen Werken Anregungen bezogen, Borges'sche Visionen visualisiert, mit Gemälden, Photographien und Graphiken auf die Denkbilder des Argentiniers geantwortet.
This article discusses some aspects of Brecht's work and its relationship with the Brazilian literary, historical and socio-political life. The focus is on the inconsistency of the struggle for the so-called Bildung, where the advances of new ideas and social forms are in conflict with a reactionary context.
In the age of globalization, we cannot reflect about Comparative Literary Studies and "Languages of Theory" without contemplating how cross-liminality and transculturality might be lived in a mobile, medialized and rapidly changing world. Art and literature have always mirrored, transmitted and evaluated critically social, moral, and aesthetical values. How, then, can this task be fulfilled on a transnational literary and cultural level in a rapidly growing world community of letters, authors and readers? In this paper, Dagmar Reichardt promotes the notion of "transculturality", first proposed as a basic model of conviviality by the Cuban sociologist Fernando Ortiz (1881-1969) in the 1940s and then, from the 1990s onwards, taken up and adapted, both terminologically and conceptually, to Third Millennium culture by the German philosopher and theorist of postmodernity Wolfgang Welsch (b. 1946). Reichardt argues that at this moment in history, in the interest of peacemaking and sustainability and for the sake of humanity, transcultural skills and a shared understanding of transcultural coexistence, both theoretical and practical, are indispensable. From a methodological point of view that is related to the History of Knowledge, Reichardt begins chronologically by introducing the work of Fernando Ortiz and then briefly tracing the reception of his most crucial cultural analysis in order to connect, in a second sub-chapter, its theoretical interests to Wolfgang Welsch's publications. In a third step, Reichardt briefly demonstrates the potential of the transcultural approach by showing paradigmatically its applicability to a colonial (Italian) novel, reread, as it were, through a transcultural lens, before coming to her conclusions.
Zu Rainer Maria Rilkes und Peter Handkes besonderem Verhältnis zu Paul Cézanne ist bereits viel gesagt und geforscht worden. Das Thema ist über die vielfältigen intermedialen Bezüge von Kunst und Literatur hinaus, die sich hier an besonders reichhaltigen und qualitätvollen Materialien untersuchen lassen, jedoch von grundsätzlicherer Bedeutung: Es geht nicht ausschließlich um ästhetische Rezeptionsphänomene, sondern im emphatischen Sinn um 'Lehren', wie Handke seinen Cézanne-Roman "Die Lehre der Sainte-Victoire" (1980) betitelt; sie werden von dem verehrten Vorbild nicht nur vordoziert, sondern vorgelebt, und von seinen Schülern nicht nur auswendig gelernt, sondern in lebendige Praxis überführt. Beide Autoren verstehen ihre Begegnung mit Cézanne als eine Art Bekehrung, eine einschneidende Lebenswende.
Dantes Weltengedicht, das die Jenseitsreise des menschlichen Protagonisten Dante durch die drei Reiche Inferno, Purgatorium und Paradies schildert, verfügt offenbar über eine gewaltige visionäre Faszination und Ausstrahlung, die dazu tendiert, bildkünstlerische Arbeiten sowie Aneignungen in vielfältigen visuellen Medien zu stimulieren. Nicht zufällig partizipieren zahlreiche berühmte europäische Maler, Zeichner und Bildhauer an der unabschließbaren Aufgabe, die Stationen jener Jenseitsreise der Danteschen Projektionsfigur zu illustrieren oder im Medium der bildenden Kunst zu interpretieren. Vor diesem Hintergrund verwundert es außerdem kaum, dass auch die Zeichner und Autoren von Comics, Mangas und Graphic Novels im ausgehenden 20. und 21. Jahrhundert Dantes Werke und besonders die "Commedia" als geeignetes Sujet für sich entdeckt und sie in teils komplexen Text-Bild-Gestaltungen adaptiert haben. Der japanische Mangakünstler Gô Nagai schreibt sich mit "Dante Shinkyoku" (1994–1995) in den Kontext einer globalen und transmedialen Danterezeption ein und bedient sich dabei vielfältiger Referenzen auf die europäische Geschichte der Dante-Illustration.
Dantes Weltengedicht, das die Jenseitsreise des menschlichen Protagonisten Dante durch die drei Reiche Inferno, Purgatorium und Paradies schildert, verfügt offenbar über eine gewaltige visionäre Faszination und Ausstrahlung, die dazu tendiert, bildkünstlerische Arbeiten sowie Aneignungen in vielfältigen visuellen Medien zu stimulieren. Nicht zufällig partizipieren zahlreiche berühmte europäische Maler, Zeichner und Bildhauer an der unabschließbaren Aufgabe, die Stationen jener Jenseitsreise der Danteschen Projektionsfigur zu illustrieren oder im Medium der bildenden Kunst zu interpretieren. Vor diesem Hintergrund verwundert es außerdem kaum, dass auch die Zeichner und Autoren von Comics, Mangas und Graphic Novels im ausgehenden 20. und 21. Jahrhundert Dantes Werke und besonders die "Commedia" als geeignetes Sujet für sich entdeckt und sie in teils komplexen Text-Bild-Gestaltungen adaptiert haben. Der japanische Mangakünstler Gô Nagai schreibt sich mit "Dante Shinkyoku" (1994–1995) in den Kontext einer globalen und transmedialen Danterezeption ein und bedient sich dabei vielfältiger Referenzen auf die europäische Geschichte der Dante-Illustration.
Die Etablierung Goethes als "Klassiker" im 19. Jahrhundert ist Teil einer komplexen Wirkungsgeschichte, in der die Deutung des Werks mit dem Interesse an der Person aufs engste verknüpft ist. Noch im Untertitel einer jüngst erschienenen Goethe-Biografie wird ein zentrales Denkmuster der Rezeption aufgegriffen, dass das "Leben" des Dichters sein eigentliches "Kunstwerk" gewesen sei. Goethe wird zur Projektionsfigur eines scheinbar autonom gestaltbaren Lebens in einer immer komplexer werdenden modernen Gesellschaft, zum Lehrmeister einer humanen Bildung des Individuums, das vor allem nach 1945 noch als Rettung angesichts einer beschädigten Identität noch einmal beschworen wurde.
Der Aufsatz skizziert diskurs- und mentalitätsgeschichtlich Stationen eines Rezeptionsprozesses von der frühromantischen Inthronisation Goethes als "Statthalter des poetischen Geistes auf Erden" (Novalis) bis zur Bedeutung der "Goethe-Philologie" für die Institutionalisierung einer Wissenschaft von der deutschen Sprache und Literatur in der Bismarckzeit und im Wilhelminismus. Untersucht werden dabei die zentralen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in der Rezeption von Werk und Leben eines Dichters, in denen sich auch politisch-gesellschaftliche Entwicklungen des 19. Jahrhunderts spiegeln, die in der Kritik der Jungdeutschen am "Fürstenknecht" Goethe ebenso deutlich werden wie in der Instrumentalisierung Goethes für die Aufwertung des nationalen Selbstwertgefühls.
Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf Lacans mit Blick auf Luther elaborierte Freudkritik. Aus Raumgründen wird auf eine Darstellung der Funktion verzichtet, die Lacan dann, mit Blick vor allem auf die Antigone des Sophokles, der Kunst zuweist. Kunst schafft Lacan zufolge zwischen uns und dem "Ding" die lebensnotwendige Distanz, womit der Kunst eine anthropologische Schlüsselrolle zufällt. Lacan erinnert an eine Einsicht, die bereits Erik H. Erikson in seiner frühen, von Lacan ignorierten Luther-Monographie formulierte: die Einsicht in die klandestin protestantische Dimension der Psychoanalyse.
Der 200. Todestag Friedrich Schillers - wären zu diesem Anlaß folgende Feiern vorstellbar: In vielen deutschen Städten werden nicht einzelne, sondern ganze Zyklen von Festreden gehalten, nicht nur von Germanisten, sondern auch von Ministern, Ministerpräsidenten, vom Bundespräsidenten und von Ehrengästen aus dem Ausland; sie füllen Hör- und Festsäle, die für den Publikumsandrang nicht groß genug sein können; die Theater sowieso, aber auch viele Laiengruppen spielen und rezitieren Schiller, so daß von der Großstadt- bis zur lokalen Vereinsbühne ein flächendeckendes Angebot herrscht; dessen Popularität wird nur noch von Denkmalseinweihungen übertroffen, die zu Volksfesten auswachsen; der Bundespräsident ruft zur nationalen Schiller-Spende für Forschung und Nachlaß-Pflege auf; die Kinder haben schulfrei. Überwältigend. Und auch: unvorstellbar - jedenfalls für das Jahr 2005 sowie für die absehbar weiteren Jahre, etwa 2009, wenn Schillers 250. Geburtstag ansteht. Die Vorstellung eines nationalen Spektakels gehört nicht in die Gegenwart und nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit der Schiller-Jubiläen.
Daß in Italien im Laufe der Jahrhunderte nicht nur "Zitronen" und "Orangen", sondern auch - mit "vollkommener Unverschämtheit" - "Pomeranzen", "Anemonen", "Faschisten" und sogar "Zertissen" blühten, mag jedem Literaturwissenschaftler, der sich entweder mit parodistischen Texten oder mit dem Thema der Italienreise beschäftigt (hat), bekannt sein. Aber daß dort auch einmal Gastarbeiter (nicht) haben blühen können, mutet vielleicht etwas unerwartet an. Die chronologisch jüngste Parodie zu Goethes berühmtem Mignon-Lied ist tatsächlich eine weitgehend unbekannte und erschien lautlos in der 1984 veröffentlichten Gedichtsammlung 'Mein fremder Alltag' vom italienischen deutschschreibenden Dichter Gino Chiellino.
Hier Chiellinos Parodie 'Listige Gesichter' / (für J.W.v.G. in voller Wut):
Weißt du von einem Land, wo
das Leben billig, sehr billig für dich ist
und Sonne dazu?
Siehst du das Land
durch das du mit dem Film im Kopf
die Kamera am Hals
von der Sonnenbrille abgeschirmt
läufst?
Frauen am Fluß
Männer auf der Piazza
Kinder, die im Dreck spielen
listige Gesichter
auf leuchtenden Dias
stillen deine ästhetische
Sehnsucht nach Armut.
Nicht dies,
nicht dies ist das Land
wo die Gastarbeiter blühen!
Harald Haferland erört die Frage, inwiefern wir beim "Nibelungenlied" von einem ‚festen Text’ sprechen können; dabei wird das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit besprochen. Es wird die These aufgestellt, das Nibelungenlied stehe in der Tradition des auswendigen Vortrags und sei auch selbst auswendig vorgetragen worden.
Das Weibliche als Natur, Rolle und Posse : sozio-theatrale Tableaus zwischen Shakespeare und Nestroy
(2011)
Es wäre viel zu einfach, die in einer bestimmten historischen Konstellation verbreitete Rede davon, was "weiblich" und was "männlich" sei (eine Rede, der die Alltagsrealität des Einzelnen ohnehin entgegengesetzt sein kann), und die in einem Bühnenstück vorgeführten Verhaltensweisen von Frauen und Männern in eins zu setzen. Zu bedenken ist vielmehr, was Walter Obermaier über die Frauen bei Nestroy schreibt: dass sie nämlich "generell einer Welt der Fiktion zugehörig [sind], in der Possentradition und Theaterkonventionen eine entscheidende Rolle spielen" - oder allgemeiner formuliert, dass Kunst, Alltagswissen und die Autorität wissenschaftlicher Rede je spezifische Funktionen für einen Diskurs besitzen und dabei in verschiedene Beziehungen zueinander treten können. Dies vorausgesetzt, möchte Marion Linhardt im Folgenden einem traditionellen Thema des komischen Theaters nachgehen: dem Aufeinandertreffen von geschlechtsbezogener Norm einerseits und Abweichung von dieser Norm andererseits. Das genre- wie geschlechtergeschichtliche Feld wird dabei durch William Shakespeares "The Taming of the Shrew" (um 1592) und Nestroys "Gewürzkrämer-Kleeblatt" (Theater an der Wien 1845) aufgespannt. Die Verschiebungen im Geschlechterdiskurs, die sich innerhalb dieses Feldes vollzogen, und das jeweilige Potenzial dieses Diskurses im Hinblick auf komische Genres lassen sich beispielhaft anhand der maßgeblichen Wiener Shrew-Adaption des 19. Jahrhunderts nachvollziehen: gemeint ist "Die Widerspänstige" (Burgtheater 1838) des Nestroy-Zeitgenossen Johann Ludwig Deinhardstein, ein Stück, das seinerseits nach zwei Richtungen hin kontextualisiert werden soll - zunächst durch einen Blick auf die im deutschsprachigen Raum viel gespielten älteren Shrew-Bearbeitungen von Johann Friedrich Schink und Franz Ignaz von Holbein, dann durch Beobachtungen zu einem programmatischen Stück aus dem unmittelbaren Umfeld der "Widerspänstigen", nämlich Wilhelm Marchlands Lustspiel "Frauen-Emancipation" (Theater in der Josephstadt 1839). Der Ausgangspunkt der Überlegungen ist ein doppelter: Es wird gefragt, wie sich die aus dem erwähnten Aufeinandertreffen von Norm und Abweichung resultierende Komik zur - historisch bedingten - Disposition von Genres verhält und welche Dimensionen das Phänomen des Rollenspiels in diesem sozio-theatralen Tableau gewinnt.
Seit gut zwanzig Jahren sind keine Zweifel mehr erlaubt: Heinrich Heine ist in seine deutsche Heimat wieder definitiv heimgekehrt, und die große Heine-Ökumene scheint angebrochen. Denn wohl erstmalig in der Geschichte herrscht heute im deutschsprachigen Raum ein universeller und ungebrochener Konsens zu dem Dichter, daß er jedem, der die wechselhafte Geschichte dieses ungezogen Lieblings der Grazien in seinem Vaterlande kennt, fast verdächtig anmuten muß: Traut man doch gerade als alter Heine-Kämpe da dem Frieden, ja bisweilen den Augen nicht. Und so triumphal der Einzug - und selbst sein Heros Napoleon hat in Düsseldorf wohl keinen triumphaleren gehalten - , den der inzwischen allseits Gefeierte beispielsweise 1997 zum zweihundersten Jubiläum in seiner Geburtstadt hielt, das mit allem gebührenden Glanz und Gloria als mediale Event und internationales wissenschaftliches Happening, gar als germanistisches Love-In begangen wurde, überkam den eingefleischten Heine-Verehrer bei aller Genugtuung dabei doch fast ein leichtes Unbehagen, ein fast nostalgisches Heimweh nach jener nicht allzu fernen, doch nun versunken
anmutenden Äone, wo, wie die verklärende Erinnerung es suggeriert, um und über den Dichter noch so aufwühlend wie aufschlußreich gestritten wurde.
Unter den zahlreichen Motiven, die in der mittelalterlichen Literatur mit Frauendienst verbunden sind, gehört das vom Ritter mit dem Hemd zu den besonders interessanten. Es erscheint zunächst in dem ersten von fünf Fabliaux aus einer verlorenen Turiner Handschrift, die dem sonst unbekannten altfranzösischen Dichter Jacques de Baisieux zugeschrieben werden, einer heiteren Kurzgeschichte mit dem Titel "Des trois chevaliers et del chainse". In der vorliegenden Untersuchung gilt es, der Frage der Rezeption im deutschsprachigen Raum anhand der Fassungen des Wiener Chronisten Jans Enikel und der etwas späteren "Weihenstephaner Chronik" nachzugehen und die Verschiedenheit der drei Fassungen zu ergründen. Die mhd Erzählung "Frauentreue" (c. 1300) wird dabei außer Acht gelassen; zwei gemeinsame Hauptmotive legen zwar eine grundsätzliche Verwandtschaft nahe, eine Vielfalt an fremden Erzählelementen schließen diese Märe jedoch aus dem engeren Kreis der hier zu besprechenden Werke aus.
Tierfilme und -reportagen haben Konjunktur, neue Bildtechnologien ermöglichen immer differenziertere Einblicke in Verhaltens- und Lebensweisen bekannter und unbekannter Tierarten. Wir fühlen uns als teilnehmende Beobachter in scheinbar gewagtester Nähe. Das "Privatleben" der Tiere wird bis in den letzten Winkel verfolgt, die Entdeckung der Tierindividualitäten schreitet voran, Tiere bekommen ein Schicksal und wecken Empathie, der vor über 2000 Jahren entstandene Tier-Mensch-Verwandtschafts-Topos, dem noch jeder Gedanke an die Abstammung der Arten fern lag, wird neu belebt. Doch das kulturelle Interesse am Tier erschöpft sich nicht im Fasziniertsein durch perfekt visualisierte Verhaltensstudien oder durch neueste Lesarten der Tiermetaphorik, in der es stets weniger um Tiere als um Menschen geht. Der historische Wandel der menschlichen Tierbeziehung wird in der Tierethik reflektiert.
Seit der Antike umstrittene kognitive Fähigkeiten verschiedener Tierarten bilden heute einen einzelwissenschaftlich fundierten philosophischen Diskussions- und Forschungsgegenstand ("Der Geist der Tiere"). Die Biosemiotik macht große Fortschritte, der Tier-Mensch-Vergleich - bereits ein Kernstück antiker Anthropologie und Ethik - erfährt eine tiefgreifende Umwertung. Dabei steht nicht mehr von vornherein der Mensch im Mittelpunkt; vielmehr wird versucht, das Animalische in seiner Artenvielfalt als eine vielgestaltige eigene Lebensform zu beschreiben; diese ist nicht länger an Maßstäben einer Anthropozentrik zu messen, die im innersten teleologisch geblieben ist. Der Tier-Mensch-Vergleich wird heute nicht mehr so einseitig und ausschließlich auf kognitive Fähigkeiten bezogen. Vielmehr werden weitere Aspekte wie Emotionalität, Wertungs- bzw. Präferenzverhalten, moralanaloge Verhaltensweisen, Antriebsstrukturen, Soziabilität, Zeichenverhalten mit einbezogen. Diese Komplexität der Vergleichspunkte oder Vergleichseinheiten war erst mit dem neuzeitlichen Rationalismus immer mehr eingeschränkt worden. Die gegenwärtig wiedergewonnene Komplexität lässt nach historischen Vorbildern Ausschau halten; da verwundert es nicht, wenn eine Anthropologie ins Blickfeld rückt, die im Tier-Mensch-Vergleich einen ihrer wichtigsten Ausgangspunkte hatte: die antike Anthropologie.
Die Herrmannsschlacht ist als Manifest des Partisanenkampfes gelesen worden, in dem das hehre Ziel - Befreiung und Einigung Deutschlands - jedes Mittel rechtfertige. Erst in den letzten Jahren ist das Drama nicht mehr als Propagandastück gelesen, sondern als „Lehrstück in Sachen Propaganda“ erkannt worden: Herrmann ist nicht Kleist). Im Folgenden soll deshalb nicht interessieren, was Kleist ideologischen Mutmaßungen zufolge mit seinem Stück wollte, sondern was sein Stück tut. Schwarz auf weiß, lautet [die] Gegenthese [der Autorin], wird die Begründung der deutschen Nation in der Herrmannsschlacht als das verworfene Zerrbild Roms lesbar. In der „Posse“, welche die Herrmannsschlacht ist, erscheint Deutschland als die verzerrte Fratze Roms. Deutschland entpuppt sich als nichts anderes als eine Perversion des Römischen - oder eben des Französischen. Die Herrmannsschlacht setzt keinen urdeutschen Moment, sondern die Unhintergehbarkeit der translatio Romae in Szene. Von Anfang an wird in diesem Stück die Opposition von Germanen und Römern getreu der translatio Romae dekliniert, vor der es kein Entrinnen, keinen andern Ursprung, keine irgendwie geartete Authentizität gibt. Alles an diesem Stück ist römisch.
Mit Baltasar Gracián vertrauten Walter Benjamin-Lesern fällt sofort auf, dass der letzte und abschließende Abschnitt von Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels einen unverkennbar Gracián’schen Titel trägt: "Ponderación mysteriosa". Als fremdartiges und rätselhaftes Bruchstück stehen die spanischen Vokabeln im deutschen Text. Lange Zeit wurden sie übersehen oder in Benjamins Reflexionen subsumiert. Bernd Witte deutet in seinem Kommentar zum Trauerspielbuch die Figur der 'ponderación misteriosa' als "Sinnbild für Benjamins eschatologische Zuversicht: 'Subjektivität, die wie ein Engel in die Tiefe niederstürzt, wird von Allegorien eingeholt und wird am Himmel, wird in Gott durch 'Ponderación mysteriosa' festgehalten'". Für Witte verdichtet diese Figur den theologischen Gehalt des Trauerspielbuches, zugleich zeigt sie aber auch die "Fragwürdigkeit seines literarischen Anspruches". Mit diesem Urteil sieht Witte nicht nur Benjamins Theorie des Trauerspiels und der Allegorie als wenig bedeutsam an, sondern erschwert zudem den Zugang zu einem der produktivsten Momente der Rezeptionsgeschichte von Graciáns 'ponderación misteriosa' im 20. Jahrhundert.
Der vorliegende Beitrag konzentriert sich nicht auf die interessanten, etwas späteren Vorbilder einer italienischen 'hybriden' Rezeption des Gotischen bzw. Phantastischen, die gleichzeitig einer neuen Sensibilität bzw. Ästhetik den Weg ebnete und die das Interesse der Forschung schon erweckte, sondern er verfolgt das Ziel, die weniger erforschten Wurzeln des Genres in Italien zu ergründen. Diese sind unerwartet in 'Fermo e Lucia', d.h. in jener unvollkommenen ersten bzw. 'Ur'-Fassung von Manzonis Prosameisterstück 'I promessi sposi' zu finden.
Die Erzählungen E. T. A. Hoffmanns haben seit jeher bildende Künstler fasziniert, mit über 3000 Illustrationen von Künstlern des In- und Auslandes zählt er zu "den meist illustrierten Autoren der Weltliteratur". Dennoch sind diese Illustrationen bislang kaum aus medienkomparatistischer Sicht untersucht worden. Wie wird die Hoffmann'sche Erzählweise in das bildliche Medium übersetzt? Dieser Frage, die vorliegender Aufsatz sich stellt, ist noch kaum einer nachgegangen. [...] Wer die Illustration als 'Ideenklau' versteht, ignoriert, dass das Bild, als anderes Medium, den Inhalt des Textes verändert, transformiert. Aus diesem Grund wird dieser Aufsatz Klees "Hoffmanneske Märchenscene" und Hoffmanns "Goldenen Topf" aus medienkomparatistischer Sicht vergleichen. Im Gegensatz zu Jürgen Glaesemer, der 1986 schreibt: "Bis heute blieb der Inhalt der Hoffmannesken Szene weitgehend ungeklärt", haben zuvor bereits Jürgen Walter und Elke Riemer den Bezug des Bildes zu Hoffmanns Märchen aus der neueren Zeit erkannt. Bevor Klees Farblithographie kontextualisiert und die Beziehung zwischen Text und Bild unter die Lupe genommen wird, skizziert Pauline Preisler zunächst das Phantastische dieser Erzählung. Denn, wie sich im Folgenden zeigen wird, ist dieser Aspekt relevant für den Medienwechsel.
Im spanischsprachigen Raum wird immer noch oft zwischen philosophischer und historiographischer Begriffsgeschichte unterschieden. Allerdings führen beide Richtungen seit einigen Jahren einen fruchtbaren Dialog miteinander. Damit schließen sie in gewisser Weise an eine Forderung Reinhart Kosellecks an. Nach seiner Einschätzung kann die "Fortführung oder Revision der Begriffsgeschichte" von "deren philosophiegeschichtlichen Wurzeln und Varianten" nicht absehen. Die von Koselleck benannte Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, damals noch umstritten, ist zu einer Art Evidenz geworden. Daher kann ein kleiner Exkurs zur editorischen Wirkungsgeschichte Kosellecks in Spanien und Iberoamerika aufschlussreich sein.
Daß Texte sich auf andere Texte beziehen und jedes literarische Werk als eine Art Schnittpunkt von Linien auffaßbar ist, welche, ihrerseits aus einer komplexen literarischen Tradition kommend, in ihm zusammenlaufen, gilt nicht erst seit der rezenten Karriere des Intertextualitätsbegriffs als eine Leitprämisse der Literaturwissenschaft. Doch auch Werke der bildenden Kunst befinden sich inmitten dieses Geflechts. Sie bilden oftmals - um ein weiteres räumliches Gleichnis zu verwenden - eine "Lage", welche zwischen dem einen Text und dem anderen Text situiert ist. Solche bildlichen Zwischen-Lagen stiften auch Intertextualitätsbeziehungen eigener Art: Der spätere Text nimmt auf den oder die früheren Bezug, schließt an diese an oder stellt sich in eine historische Reihe von Texten hinein, und zwar durch Vermittlung des Bildes, welches dazwischentritt und das explizite Bezugsobjekt bildet. Indem über ein Bild oder eine Folge von Bildern gesprochen wird, werden also mittelbar und indirekt zugleich Texte thematisiert, interpretiert, fortgesetzt. Um dies zu erläutern, sei im folgenden ein Beispiel genauer in den Blick genommen - das der literarischen Rezeption der Werke William Turners. Hier wiederum möchte ich mich darauf beschränken, Prosatexte vorzustellen, statt das weite Feld der Bildgedichte zu Turners Werken einzubeziehen.
Es sprechen viele Argumente dafür, biografische wie werkspezifische, aber auch rezeptionsgeschichtliche Aspekte, Hofmannsthal im Zusammenhang einer Problematik des Scheiterns zu berücksichtigen. Zum einen hat sich bereits zu seinen Lebzeiten die Frage gestellt, ob sich der Autor nicht nach seinem so vielfach euphorisch wahrgenommenen Frühwerk selbst überlebt habe. Zum anderen finden sich auch bei Hofmannsthal, was kein Kennzeichen nur dieses Autors ist, in den Texten aller Schaffensphasen Figuren, die durch ihr Scheitern Aufmerksamkeit und Sympathie gewinnen. Und zuletzt stellt die Rezeptionsgeschichte seines Werkes die Frage nach der Konkurrenz, nämlich inwiefern Hofmannsthal als ein maßgeblicher Autor der klassischen Moderne seine Reputation hat verteidigen können? Ist er im Anspruch gescheitert, als einer der maßgeblichen Autoren seiner Zeit im Gedächtnis zu bleiben? Insofern wäre Hofmannsthal als ein vielleicht auch unfreiwilliger Experte und als ein raffinierter Regisseur des Scheiterns zu beschreiben, der eine Grunderfahrung des 20. Jahrhunderts teilt.
Hinter dem kritischen und kommerziellen Erfolg literarischer Texte stehen nicht selten Autor(inn)en, verstanden als mächtige Akteure des literarischen Feldes sowie als Marken, die beim Publikum bestimmte Erwartungen erwecken und zur Gestaltung von entsprechenden Wertungsstrategien beitragen. Derartige Wertungen überschreiten nicht immer nationale Grenzen. Am Beispiel der polnischen Rezeption der deutschsprachigen Literatur kann bewiesen werden, dass die Macht der genannten Akteure kulturgeographisch begrenzt ist und dass sie im Kulturtransfer stereotypisiert werden. So lassen sich einzelne Rezeptionsfälle in Figuren ausdrücken: Metapher (Allgegenwart) - Günter Grass, Metonymie (Repräsentation) - Elfriede Jelinek, Litotes (Abwesenheit) - Daniel Kehlmann und Wolf Haas im polnischen Feld.
Im Jahr 1895 verherrlichte Annunzio bei irgend einem festlichen Anlaß die Stadt Venedig in einer Rede, die sich nicht mit den Reden vergleichen läßt, welche man bei ähnlichen Anlässen zu halten pflegt. Er gab dieser Rede, als sie später veröffentlicht wurde, die Überschrift: "Allegorie des Herbstes", und in der That bildet ihren Inhalt die Vision und Schilderung einer hochzeitlichen Vereinigung Venedigs mit dem Herbst. Man fühlt sich an jene frostigen Personificationen erinnert, an jene Kunstform, deren sich drei vergangene Jahrhunderte bis zur völligen Erschöpfung ihres Reizes, ja über die Grenze des Erträglichen bedienten.
Und wirklich scheinen sich die gewaltigsten visionären Augen und der kühnste an unerhörten Gleichnissen reichste Freund, den die lateinischen Völker im jetzigen Zeitraum besitzen, endgültig dieser majestätischen lateinischen Kunstform zugewandt zu haben: der gewaltigen, das gesammte Dasein umschließenden Allegorie, den prunkvoll hinrauschenden Triumphzug, der aus blendenden Gleichnissen aufgethürmten Ehrensäule. Seit einigen Jahren sehe ich kein Werk von ihm entstehen, das nicht dastünde wie eine Trophäe.
Hofmannsthals Aufsatzentwurf "Die neuen Dichtungen Gabriele d’Annunzio’s" aus dem Jahre 1898, der hier zum ersten Male abgedruckt ist, belegt anhaltendes Interesse und eine um die Jahrhundertwende noch einmal aufllammende Sympathie, die erst 1912 in offene Ablehnung umschlagen wird. Gegenstand des ersten Teiles "Zwei Verherrlichungen der Stadt Venedig", welcher als beinahe abgeschlossen gelten kann, ist ein Bändchen von D’Annunzio mit dem Titel "L’Alllegoria dell’ autunno" (1895). Hofmannsthal kaufte es auf seiner Italienreise 1898. Über welche Dichtungen er darüber hinaus noch schreiben wollte, ist nicht bekannt. Einer genaueren Rekonstruktion der Beziehung zwischen D’Annunzio und Hofmannsthal bis zu diesem Zeitpunkt gelten die folgenden Hinweise.
Die Analogien zwischen der Barthes'schen Theorie und den Konzepten der deutschen Romantik sind von der Forschung durchaus registriert worden, Beobachtungen in diese Richtung haben aber bislang kaum über die Nominierung des Desiderats hinausgeführt. Das ist sicher überraschend, da in den letzten Jahrzehnten bekanntermaßen eine Vielzahl aktualisierender Romantik-Lektüren vor der Folie postmoderner Ästhetik und Erkenntnistheorie veröffentlicht wurden. Zur Behebung dieses Defizits beizutragen, ist dementsprechend das Anliegen dieses Beitrags. Im Folgenden sind Ansätze zur systematischen Aufarbeitung der vielfachen Bezüge zu konzipieren, die sich zwischen dem Text der Deutschen Romantik und den Arbeiten Barthes' aufzeigen lassen. In methodologischer Hinsicht bewegt sich ein solcher Vergleich allerdings auf nicht eben einfachem Terrain. Das resultiert zunächst aus dem beträchtlichen Volumen der theoretischen Erträge Roland Barthes' sowie der romantischen Autoren, infolgedessen eine strenge Reduktion der Textbasis notwendig wird. Hinzu kommt, dass diese Erträge jeweils in rigoros fragmentierten und hermetischen Schreibweisen codiert sind, die das Paradox und die begriffliche Unklarheit bewusst suchen. Das multipliziert die Zahl der Blickwinkel und wirft die Frage nach der Wahl der interpretativen Zugänge auf. Um diesem Dilemma zu entgehen, rekurriert das Folgende bewusst auf eine einzelne Darstellung romantischer Theorie, die sich durch ihre besondere Prägnanz und ein überdurchschnittliches analytisches Niveau auszeichnet: Walter Benjamins Dissertation zum Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik.
Hofmannsthal war auch als Philologe Dichter. Das zeichnet seine literaturkritischen Arbeiten aus, macht sie aber einzigartig subjektiv. Zudem ist die Denk- und Empfindungsweise der Epoche in diesen Texten deutlich präsent. Das gilt für das Meiste, was er an Würdigungen, Einleitungen und Reden schrieb. Es wird uns hier in seinen Urteilen über Nestroy und Raimund beschäftigen.
Die besondere sprachliche und gesellschaftliche Situation in der Türkei bedingt, dass sich dort die Voraussetzungen für die Beschäftigung mit Begriffsgeschichte grundlegend von denen in anderen Ländern unterscheiden. In den Atatürk'schen Reformen seit den späten 1920er Jahren wurde auch die Sprache zum Ziel staatlicher Eingriffe: Der arabische und persische Wortschatz sowie Fremdwörter aus europäischen Sprachen sollten durch "genuin türkische" ('Öz Türkçe', etwa: 'das eigentliche, reine Türkisch') Wörter ersetzt werden, die entweder aus anderen Turksprachen entlehnt oder neu geschaffen werden sollten. Über Jahrzehnte hinweg wurde über Wörter und ihre Gestalt heftig gestritten, und die politische Gesinnung eines Menschen konnte lange Zeit auch an dem Wortschatz festgemacht werden, den er gebrauchte. Dies hatte und hat auch Konsequenzen für Begriffe und ihre Geschichte in der Türkei. So ist es im akademischen Diskurs der Türkei gängige Praxis, Begriffe aus den europäischen Sprachen ins Türkische zu übersetzen, wobei die türkischen Begriffe sowohl von den Autoren als auch von den Lesern als Übersetzungen der entsprechenden Begriffe in den Originalsprachen wahrgenommen werden. Kommen begriffsgeschichtliche Fragen ins Spiel, so interessiert man sich dann meist nicht für die Geschichte der türkischen Übersetzung, sondern für die des ursprünglichen Begriffs. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Tatsache, dass "Klassiker" der sozialwissenschaftlichen und philosophischen deutsch-, englisch- und französischsprachigen Literatur relativ schnell auch ins Türkische übersetzt werden, wobei sich begriffliche Fragen gewissermaßen von selbst einstellen.
Mattia Luigi Pozzi liefert aus philosophiegeschichtlicher Perspektive einen Überblick über "Die Rezeption Stirners in Italien (1850-1920)". Pozzi kann zeigen, dass die Auseinandersetzung mit dem deutschen Denker eng verbunden ist mit der Ablehnung der Hegelschen Philosophie und eine starke Selbstreflexion der italienischen Zeitgenossen bewirkt. Kritik an Stirner und gleichzeitig eine starke Faszination durch dessen Theorien entwickeln sich im postrisorgimentalen Italien durch die Schlagworte Anarchismus und Individualismus. Diese werden immer wieder in Diskussionen von Schriften Stirners diskutiert. Pozzi kann zeigen, dass und wie sich die Stirner-Rezeption bis ins 20. Jahrhundert ununterbrochen fortsetzt. Sie wird auch für das Denken Benito Musselinis einflussreich.
Die folgenden Ausführungen möchten die zentrale, bereits von Schulz-Buschhaus aufgeworfene Frage nach der Funktion des Gnosis-Rekurses in Borges' Texten erörtern und zu beantworten versuchen. Als Ausgangspunkt der Überlegungen dient uns dabei die von Schulz-Buschhaus vorgeschlagene These, dass das gnostische Rezidiv in Borges' Werk vor allem unter dem Aspekt der Transformation von Religion bzw. religiöser Weltanschauung in Fiktion, in "fabulierende Poiesis" (Schulz-Buschhaus 1983, 9), zu begreifen sei. Diese Deutung der Gnosis bzw. Gnosis-Rezeption als Poiesis gilt es im Folgenden weiter zu differenzieren und zu entfalten. Die nachstehenden Untersuchungen tun dies, indem sie die angesprochene 'poietische' Dimension des gnostischen Elements in Borges Texten in drei Hinsichten betrachten: (1.) in Hinblick auf das mythische und mythenbildende Moment des gnostischen Konzepts, das sich bereits in den Schriften der historischen Gnosis als ein erzeugendes Prinzip geltend macht und in den modernen literarischen Adaptationen fortwirkt, sowie (2.) im Blick auf den Zusammenhang von mythischer Poiesis und Sprache bzw. Sprachreflexion. Schließlich geht es (3.) darum, Gnosis als eine Lektürestrategie, als ein Verfahren der Relektüre, Kommentierung und Reinterpretation einer bestehenden Überlieferung zu begreifen, das zu einer subversiven Umkehr etablierter exegetischer Konventionen und Deutungen führen kann.
Franz Kafka hat als Angestellter einer Versicherungsgesellschaft auf abstrakter Ebene immer wieder mit Odradeks zu tun, womit die Verunfallten gemeint sind, welche die Grenzen jeder Statistik sprengen und nicht mehr auf herkömmliche Weise in ein Muster übersetzt werden können. Kafkas Behörde, der AUVA, ist es darum zu tun, diesen Ausfall aus dem Sinngefüge nachträglich einzureihen und zudem vorausgreifend in verhütender Manier zu verhindern - womit zu Kafkas Zeit ein gesellschaftspolitisches Programm formuliert wird, welches zwar schon länger im Diskurs pendelt, sich nun aber in der Alltagswelt zu etablieren beginnt: "Die AUVA war in Habsburg das Prunkstück [...] eines Staates, in dem Krankheit und Unfall als gesellschaftsbildend gelten, weil sie, einmal als soziale Übel erkannt, zur Solidarität zwingen; eines Staates, [...] der 'Vorsorge' betreibt und seinem immer drohenden Ruin zuvorkommt, indem er präventiv tätig wird und zur Prävention verpflichtet; und der schließlich sämtliche Individuen versichert, um sich ihrer zugleich zu versichern - der sie also allesamt in ein statistisches Feld der Normen und Abweichungen integriert." Ein schwieriges Unterfangen, denn wie ist ein Unfall, der als ein solcher per se im toten Winkel stattfindet oder diesen gar erst etabliert, mit statistischen Mitteln überhaupt zu beschreiben, wie einzuordnen - dies die Fragen, die ein soeben erst entstehender Versicherungsdiskurs sich stellt und die Kafka dann am heimischen Schreibtisch in Form seiner Schreibprojekte immer wieder künstlerisch dekliniert, um sie ins Allgemeine zu heben. Hat Kafka doch begriffen, dass die Tagesarbeit im Amt eine statistische Denkart zu entfalten beginnt, die bald schon jeden Bereich menschlichen Lebens zutiefst prägen sollte und sich spätestens Mitte des letzten Jahrhunderts vom Staat abkoppelt und zunehmend verselbständigt; seitdem werden die Verfahren vor allem zur ökonomisch begründeten Sondierung potentieller Konsumenten genutzt, ist es in einer Marktwirtschaft doch zu einer existentiellen Notwendigkeit geworden, den Menschen als Kunden so gut wie möglich zu kennen und hierzu eine Art "Kunden-Genom" zu extrapolieren. Bis sich infolge des "computational turn" die faktisch gegebene Möglichkeit etabliert, Statistiken zu entwickeln, die eigentlich keine mehr sind: "Because in the era of big data, more isn't just more. More is different."
Die unterschätzte Reifeprüfung : zur Rezeption von Uwe Johnsons erstem Roman "Ingrid Babendererde"
(2013)
In der Johnson-Forschung der letzten Jahre wurde verschiedentlich die Ansicht geäußert, dass eine Beschäftigung mit Johnsons Werken ohne eine Reflexion auf die Biographie des Autors unvollständig, wenn nicht gar unzulänglich bliebe. Ein "ganzes Team von Johnson-Forschern" arbeitet deshalb seit dem Frühjahr 2005 daran, eine neue Johnson-Biographie zu verfassen. Es ist in dem Zusammenhang nicht überflüssig, daran zu erinnern, dass nicht nur der Autor, sondern auch die Leser Biographien haben, die ihrerseits - auf freilich mittelbare Weise - die Auseinandersetzung mit dem Werk Johnsons beeinflussen können. Beispielsweise, indem die in individuellen Lebensläufen gemachten Erfahrungen Lektüre-Wahrnehmungen in den Romanen Johnsons begünstigen, anregen, fördern, steuern - oder auch erschweren und behindern.
Ein weites Feld, gewiss, aber doch auch eines, dessen Relevanz schwerlich von der Hand zu weisen sein dürfte. Auf Uwe Johnson wird sich jedenfalls berufen dürfen, wer Interesse aufbringen kann für "jenes unverlierbare Eigentum, das beschlossen ist in der Vergangenheit einer Person". Die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat in diesem Sinne kürzlich auf einen "Primat der Erfahrung" aufmerksam gemacht, der in den Debatten um die Erinnerungsliteratur der letzten Jahrzehnte (zu der auch Johnsons Werk gehört) eine zentrale Rolle spielt: "Was man nicht selbst in den Knochen hat, kann man nicht nachträglich in diese Knochen injizieren."
In einem Brief vom 8. Juli 1891 schreibt der junge Hugo von Hofmannsthal an den acht Jahre älteren Richard Beer-Hofmann von seinen Lektüren in Bad Fusch. Darunter findet sich eine ganze Bandbreite internationaler literarischer und philosophischer Werke: von "Gogol" über "Andersen, Immermann, Maupassant" bis hin zu "Schopenhauer". Während die rezeptionsästhetische Aufnahme und Verarbeitung der erstgenannten Autoren bei den Schriftstellern der Wiener Moderne generell eine eher marginale Rolle spielt, ist die frühe Beschäftigung Hofmannsthals mit Schopenhauer freilich keine Einzelerscheinung. Ganz im Gegenteil gehört der Philosoph in der intellektuellen und literarischen Welt des Fin de Siècle zur Allgemeinbildung und ist bereits seit dem literarischen Realismus von vielen Schriftstellern (z.B. Hebbel, Raabe und Fontane) breit rezipiert, zentrale Aspekte seiner Philosophie sind auf vielfältige Weise poetisch produktiv verarbeitet worden.
Dass dem abschließenden Lessing-Triptychon in Heiner Müllers "Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei" eine eminent biographische bzw. autobiographische Dimension eigen ist, wurde von Müller betont. Die Forschung hat das gerne wiederholt. Wesentlich für diese Deutung sind die biographischen Parallelen zwischen Lessing und Müller.
Die hier vorgeschlagene Rekonstruktion der eher zufälligen Entstehung der Spinoza-Studie und insbesondere die Interpretation des zweiten Teils dieser Schrift als ironische, jedoch entschiedene Distanzierung von den im ersten Teil formulierten Prinzipien vermag nun abschließend auch eine wenigstens plausible Antwort auf die nicht nebensächliche Frage zu geben, warum Goethe Zeit seines Lebens nicht nur nie an eine Veröffentlichung dieses angeblich so wichtigen Zeugnisses seiner Naturauffassung gedacht, sondern diesen Text auch an keiner Stelle je erwähnt hat.
Die neuen Leiden des jungen W. wurden »bewußt auf Auslegbarkeit geschrieben« und irritierten die Kritiker durch »die ungeheure Breite der Assoziationsmöglichkeiten«. Durch die vier »strukturtragenden Schichten« oder Informationsebenen des Textes kommt es zu interferierenden Perspektiven: 1. die voranstehenden Dokumente (Zeitungsnotiz, drei Todesanzeigen), 2. »die szenisch-dialogisch objektivierte Erinnerungsperspektive der Eltern und Arbeitskollegen«, 3. die Kommentare Edgars »von jenseits des Jordans«, 4. »die Brechung und Verfremdung der gesellschaftlichen Beziehungen des Helden im Spiegel des Werther-Zitats und der Werther-Fabel«. Plenzdorf führt »seinen Edgar Wibeau gegen Edgar Wibeau« vor, indem er ihn aus dem Jenseits kritisch und ironisch zu sich Stellung nehmen läßt. Der Leser / Zuschauer wird vom Autor geschickt in »eine Mittelstellung zwischen Identifikation (Verständnis) und Distanz (Kritik)« manövriert, sein »Beurteilungs- und Wertungspotential« wird aktiviert.
Von allen wichtigen Texten Benjamins sind seine Sonette auf seinen Dichterfreund Christoph Friedrich Heinle, der seit 1913 mit ihm in der Jugendbewegung aktiv war und am 9. August 1914, verzweifelt über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, mit seiner Verlobten Rika Seligson Selbstmord verübt hatte, verhältnismäßig wenig von der Kritik gewürdigt worden. Entstanden sind die Gedichte vermutlich zwischen 1915 und 1925, mit Handschriften-Datierungen von vor Ende 1917 und nach Anfang 1918; ihr Manuskript befindet sich unter den Papieren Benjamins, die im Juli 1981 von Giorgio Agamben in der Bibliothèque Nationale in Paris gefunden wurden. Sie sind in einer komplexen Sprache verfasst, die verschiedene Vorbilder, darunter den Duktus Stefan Georges und den Spätstil Hölderlins, höchst eigenwillig weiterführt. Esoterische, oft rätselhafte Metaphern und willkürlich-kryptische Bilder, eine preziös-archaisierende Stilhöhe, grammatikalische Brüche und das syntaktische Zusammenhänge verschleiernde Fehlen der Interpunktion - durch diese Merkmale verweigern sich die Sonette einer hermeneutischen Entschlüsselung, die sich durch den Nachvollzug der Einzelheiten im Gesamtzusammenhang das Verständnis kohärenter Sinntotalität erhofft. Stattdessen sind die Leser darauf angewiesen, die sich immer wieder selbst verschleiernde Beziehung des lyrischen Ichs zu dem Verstorbenen durch ein Nachbuchstabieren bestimmter Textdetails so zu rekonstruieren, dass deren Inkonsistenzen, Sinnbrüche und Mehrdeutigkeiten nicht beseitigt, sondern als das Medium erkannt werden, in dem eine poetisch-erotische Liebe die Möglichkeiten und Grenzen ihrer eigenen Versprachlichung reflektiert. Diese performative Selbstreflexion - so meine Kernthese - geschieht vorrangig im Rahmen einer intermedialen Beziehung zwischen Schrift, Bild bzw. Blick und Musik. In diesem Sinne zielt der folgende Versuch einer Interpretation bewusst auf keine Gesamtdeutung, sondern beschränkt sich darauf, einige ausgewählte Textpassagen explizierend zu einem Netzwerk zusammenzustellen, das diese Intermedialität der trauernden Liebes-Erinnerung im Kontext anderer Schriften Benjamins zu erhellen versucht.
Ellen Keys Goethebild
(2007)
Am Anfang des 20. Jahrhunderts waren Selma Lagerlöf, August Strindberg und Ellen Key die in Deutschland meistgelesenen schwedischen Schriftsteller. Im Gegensatz zu Lagerlöf und Strindberg schrieb die Reformpädagogin und Frauenrechtlerin Ellen Key (1849-1926) aber keine Belletristik, sondern von ihr wurden in erster Linie der pädagogische Text "Das Jahrhundert des Kindes" und die feministisch-theoretische Arbeit Über "Liebe und Ehe" gelesen. Als ihre Vorbilder wurden Jean-Jacques Rousseau und dessen Überlegungen zu "natürlicher Erziehung" des Kindes bzw. Friedrich Nietzsches Gedanke vom Übermenschen erwähnt. Daß Ellen Key sowohl zu ihrer Auffassung in Erziehungsfragen als auch zu ihrer Frauenrolle durch ihre Bewunderung für Goethe gekommen war und sogar die erste schwedische Goethebiographie geschrieben hatte, war aber damals und ist noch heutzutage in Deutschland kaum bekannt. [...] Im folgenden möchte ich zeigen, welche entscheidende Bedeutung Goethe für Ellen Keys Leben und Werk und in Anlehnung daran für die Formung des Goethebildes in Schweden gehabt hat, und auch wie Ellen Keys Goethebild entstanden ist.
"Wie kann ich die Čechen differenzieren? In städtische u. ländliche (Machar u. Brezina)?" fragte Hugo von Hofmannsthal unsicher Hermann Bahr, als er den Editionsplan für die "Österreichische Bibliothek" konzipierte. Die Frage mag, was die tschechische Literatur betrifft, etwas naiv erscheinen, sie zeigt jedoch, dass Hofmannsthal zumindest von zwei markanten Vertretern der frühen tschechischen literarischen Moderne eine gewisse Kenntnis besaß. Der Dichter und Feuilletonist Josef Svatopluk Machar (1864–1942) lebte seit 1889 in Wien. Bahr hatte ihn im Juli 1892 kennengelernt und bei der Gründung der Wochenschrift "Die Zeit" mit ihm zusammengearbeitet, und auch nach Bahrs Rückzug von dieser Zeitschrift 1899 fungierte Machar als wichtiges Verbindungsglied zu tschechischen Schriftstellern und Politikern einschließlich T. G. Masaryks. In der deutsch-österreichischen Presse zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf Machars Namen zu stoßen, war nicht schwer. Öfters wurden seine Konflikte mit der katholischen Kirche erwähnt, die er mit seinen Feuilletons, Gedichten und Vorträgen provozierte. Zudem war er zum meistübersetzten tschechischen Dichter avanciert. Grund hierfür waren nicht nur die Qualität seines Werkes und seine wachsende Popularität bei tschechischen Lesern - derlei tschechische Schriftsteller ließen sich mehrere finden. Der Hauptgrund bestand vielmehr darin, dass er in Wien lebte und etliche seiner dortigen Freunde ihn übersetzt hatten. Einer von ihnen war Emil Saudek, der Hofmannsthal auf den zweiten der oben genannten tschechischen Dichter, den Symbolisten Otokar Březina, aufmerksam machte. Dieser bislang wenig bekannte Umstand soll im Folgenden beleuchtet werden.
Als eines der Hauptprobleme der Rezeption deutscher Kultur in Frankreich kann die Dichotomie von Dekontextualisierung vs. Hyperkontextualisierung bezeichnet werden, wobei man das Bild von den zwei Seiten derselben Münze benutzen könnte. Die damit verbundenen Interpretationsansätze bewirken einerseits, dass bei der Auseinandersetzung mit deutscher Literatur, Philosophie und Kunst der historische, politische und soziale Kontext oft vernachlässigt oder gar ausgeblendet wird. Bereits Heinrich Heine warnte seine französischen Zeitgenossen in seinem Buch 'De l'Allemagne' (1833) vor dieser Gefahr beim Umgang mit der deutschen Romantik. Andererseits kann man ebenso häufig beobachten, wie in Frankreich geistig-künstlerische Werke aus Deutschland auf ihre geschichtlichen Entstehungsbedingungen oder politischen Implikationen bzw. Belastungen heruntergebrochen werden. Dieses Phänomen kann natürlich verstärkt in Zeiten ideologischer und kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen beiden Ländern beobachtet werden, vor allem während der Periode 1870–1945. Aber auch heute noch - ein halbes Jahrhundert nach dem deutschfranzösischen Freundschaftsvertrag - prägt die Epoche des Nationalsozialismus den Blick vieler Franzosen auf Deutschland und beeinflusst maßgeblich die Rezeption deutscher Literatur, Philosophie und Kunst.
Die hiermit aufgeworfene Frage ist die nach dem notwendigen bzw. angemessenen Grad von (politikgeschichtlicher) Kontextualisierung im französischen Verhältnis zur deutschen Kultur, wobei eine pauschale Beantwortung sich selbstredend als schwierig oder gar unmöglich erweist.
Der romantische Liedzyklus ist keiner, denn sein Held kehrt nicht zurück. Ausfahrt, Abenteuer und Wiederkunft, das ist das Modell, das das zyklische Denken der musikalischen Klassik strukturiert. Da geht es als Exposition, Durchführung und Coda in die Logik der Komposition ein. Wenn der romantische Held sich hingegen in die Welt begibt, neugierig, sehnsüchtig oder ausgetrieben aus dem nicht länger Erträglichen, so riegelt er das Heimische ab und treibt von nun an im Anderswo. Adornos Charakterisierung der romantischen Musik als Triumph der Variation über das Thema transponiert dieses Narrativ ins Strukturelle der Form, der nun im Sonatenhauptsatz das finale Glied amputiert wird. Noch bevor die Expressionisten sich des O-Mensch-Pathos von Nietzsches vielleicht bekanntestem Gedicht bemächtigten, hatte es schon ein Komponist für sich entdeckt. Im langsamen 4. Satz von Mahlers 3. Symphonie sträubt sich der misterioso vorzutragende Text gegen den vom Kinderchor gesungenen des darauffolgenden Satzes und produziert einen der Mahler'schen Brüche, die für den Hörer entweder eine neurotische Entgleisung oder eine lustvolle Reibungsfläche darstellen. Die Lektion der Mitternacht, die Dunkel über Tageslicht stellt und damit zum Ewigkeitsbezug führt, scheint nicht allzu weit entfernt von den Hymnen des Novalis, und in der Reihung Dunkel-Lust-Ewigkeit sind auch Tristan und Isolde nicht allzu fern.
Pascal Dusapin, geboren 1955, hat in Paris bei Xenakis studiert und ist anfänglich fasziniert von dessen, letztlich wohl von Edgar Varèse ausgehenden, Operationen mit Klangmassen, die er aber spätestens in den 1990er Jahren für deutlich filigranere Strukturen, die oftmals von Mikrotonalität geprägt sind, aufgibt. In seinen Kompositionen, die auf Textvorlagen zurückgreifen, lässt Dusapin sich wiederholt von der deutschen literarischen Tradition inspirieren. Eines seiner drei jeweils als Requiem bezeichneten Chorwerke aus den Jahren 1992-97 vertont acht mittelhochdeutsche Gedichte von Meister Eckhardt, wobei die sparsame Expansivität des Klangmaterials der intensiven Gottsuche des Mystikers nicht völlig gerecht zu werden scheint.
Für die mediävistische Germanistik gilt in noch stärkerem Ausmaß, was bereits für die Diskussion feministischer Fragestellungen im Bereich der neueren deutschen Literatur festzustellen war: Die Rezeption einschlägiger Forschungsansätze erfolgte zögerlich und mit großer Verspätung, vor allem im Vergleich zum anglo-amerikanischen Sprachraum. (...)
Ziel der folgenden Ausführungen ist es, Hölderlins Verarbeitung des Fichteschen "Wechsel"-Begriffs sowohl in seiner Tragödientheorie wie auch in der Tragödie selbst kenntlich zu machen. Ausgehend von Fichtes philosophischer Konzeption ist zunächst zu zeigen, in welcher Weise Hölderlin die ‚Wechselwirkung’ im Grund zum Empedokles poetologisch funktionalisiert. Vor diesem Hintergrund soll danach die dichterische Umsetzung der "Wechselwirkung" im Tod des Empedokles verfolgt werden.
Franz Kafka Almanca yazılan edebiyat içinde dünyada en çok okunan ve eserleri en çok yorumlanan yazarlardan biridir. Farklı dillere çevrilerek uluslararası büyük yankı bulan Kafka'nın eserlerinin Türkçe'ye çevrilmesi Türkiye'de 1950'li yıllarda başlar. Türkiye'deki Kafka alımlanmasının temelini oluşturan bu çevirilerin aynı zamanda Türk Edebiyatı ve entelektüel dünyanın gelişimini devamlı etkilediği görülür. Türkiye, kültürel ve toplumsal yapısı itibarıyla Franz Kafka'nın doğup büyüdüğü ve sosyalleştiği ortamdan birçok açıdan farklılık gösterir. Bu farklılığa bağlı olarak ortaya çıkan alımlanma şartları Kafka ve eserlerini anlama ve yorumlamada da farklılıkları beraberinde getirir. Bu kapsamda bu makalede amaç Franz Kafka ve eserlerinin Türkiye'deki alımlanmasını, alımlanma süreci ile birlikte Kafka'nın eserlerinin Türk okuyucusu ve Modern Türk Edebiyatı üzerine etkisi, ülkenin tarihsel, kültürel, toplumsal ve siyasi gelişimleri de dikkate alınarak incelemektir.
Vischers Freiheitsbedürfnis war unersättlich, und er war ständig auf der Suche nach Trost und Orientierung in einer orientierungslosen Zeit. Vischer hoffte, dies nicht nur in der Kunstschönheit in fernen Ländern zu finden, sondern vor allem in der Literatur, der Dichtung und der Philosophie. Der erste Teil des Goethe'schen Faust und Hegels Philosophie sollten daher in der zerrissenen, stürmischen Vormärzzeit zum Rettungsanker für ihn werden. Vischer wird sich von diesen Reisebegleitern nie gänzlich befreien, sie werden mehr oder weniger ausdrücklich sein ganzes Leben an seiner Seite sein, wenn er sich auf die Suche nach einem (unmöglichen) Gleichgewicht zwischen den beiden Seelen in seiner gespaltenen Brust macht: der systematischen (mit offensichtlichen Anklängen an Hegel) und der zerrissenen (die klar auf den Faust anspielt). Wir wollen, von der ersten ausgehend, beide analysieren.
This paper introduces two literary representations of Moses, the lawgiver from the Old Testament. These two portrayals (Schiller, Goethe) are a part of the Moses-discourse that stretches over centuries. Here they are compared to the popular scientific Moses-study "Das Leben Mosis" (1868) written by Hermann Reckendorf, the author from Jihlava.
Goethe (1749 - 1832)
(2003)
Goethe: den "wahren Statthalter des poetischen Geistes auf Erden" hat Novalis ihn einst in der Romantiker-Zeitschrift "Athenäum" genannt. Es dürfte keine Nation geben, in der ein einziger Name zum Synonym für ihre Kultur geworden ist - die wichtigste kulturpolitische Institution Deutschlands trägt bezeichnenderweise seit dem Ende der Weimarer Republik den Namen Goethes -, keine Nation, die ein halbes Jahrhundert ihrer Literaturgeschichte nach einem einzigen Autor: als "Goethezeit" bezeichnet hat. Den Deutschen gilt Goethe mit fast noch größerer Selbstverständlichkeit als Homer den Griechen, Dante den Italienern, Cervantes den Spaniern, Shakespeare (mit langer Verzögerung) den Engländern oder Puschkin den Russen als ihr größter Dichter.
Goethe-Rezeptionen im Vormärz : Heine - August von Goethe - Laube - Lewald schreiben über Italien
(2022)
Anhand der vier Autoren zeigt Meyer, wie die Auseinandersetzung mit Goethes "Italienischer Reise" für jede Reisebeschreibung grundlegend wird, aber auch, welche Strategien Heine, Goethes Sohn August, Heinrich Laube und Fanny Lewald entwickeln, um ihr eigenes Schreiben von dem des unhintergehbaren Vorbildes abzugrenzen. Innovative Schreibverfahren gewinnen in Auseinandersetzung mit Überliefertem an Kontur. Intertextuell orientierte Schreibverfahren lassen Brüche und Kontinuitäten in ästhetischer wie inhaltlicher Hinsicht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erkennen.
Goethes Werther im gesellschaftlichen Kontext : Rezeptionsdokumente als Interpretationshilfen
(2009)
In seinem Werther-Aufsatz von 1936 hat Lukács ein bis heute häufig wiederholtes Interpretationsmuster skizziert: Werther als »Repräsentant einer >progressiven Bourgeoisie< in der >revolutionären Periode< ihrer frühen ideologischen und ökonomischen Entwicklung«. Das Werk wird von der DDR-Germanistik einem umfassenden Geschichtsprozeß eingeordnet, der Aufklärung, Sturm und Drang und Klassik umfaßt, und bei dem es »um den Aufstieg bürgerlichen Selbstbewußtseins, das Wachstum gesellschaftlicher Einsichten und die Eroberung immer neuer poetischer Provinzen« geht. Reuter betrachtet den Roman in diesem Sinn als »Brennspiegel des gesamten sozialen und politischen Zustandes in Deutschland« des späten 18.Jahrhunderts, wobei Werther im Streben nach allseitiger Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit ein »fortgeschrittenes bürgerliches Selbstbewußtsein« vertritt.
Die besonderen Herausforderungen einer "vertrackten Quellenlage" für das historiographische Arbeiten über die Vormärzzeit veranschaulicht Christian Stöger in seinem Beitrag über Heinrich Deinhardts Ghostwriting. Der Oppositionelle Deinhardt hatte für Emil Anhalt und auch für Jan Daniel Georgens, den Gründer der Heilpflege- und Erziehungsanstalt Levana, pädagogische Schriften verfasst. In seinem Beitrag fokussiert Stöger vormärzliche Schriften Deinhardts, die er unter dem Eindruck von Hausdurchsuchung, Untersuchungshaft und Verhinderung seines Universitätsabschlusses durch die preußischen Behörden verfasste, die er zur Veröffentlichung an Anhalt weiterreichte und die sich demokratietheoretisch rekonstruieren lassen. So trat Deinhardt unter anderem für eine Volksschule als Einheitsschule und als ein standesübergreifender "Begegnungsort" ein sowie für Autonomie und Lehrfreiheit an der Universität. Dass die Schriften Deinhardts in der pädagogischen Historiographie lange unentdeckt blieben, führt Stöger auf eine selektive Praxis der Ideengeschichte zurück.
In dem Aufsatz wurde ein bislang kaum beachteter Faktor der Rekatholisierung in den Böhmischen Ländern, die Liebe Gottes, behandelt. Liebe Gottes war das zentrale Thema der Geistlichen Übungen von Ignatius von Loyola und damit auch der jesuitischen Spiritualität. Sie hat sich als ein bewährtes Motivierungsmittel nicht nur nach innen, auf die Jesuiten, gerichtet, sondern wurde auch von außen, d. h. seitens der Protestanten, als ein Kompromissthema angenommen.
Johann Nepomuk Nestroy (1801-1862) foi um dos dramaturgos mais importantes da história do teatro da Áustria. Ator e autor aclamado durante seu tempo, é também nome de referência e enorme influência para muitos escritores austríacos canônicos do século XX e do começo do XXI, que até hoje se definem como devedores de sua poética dramatúrgica (por exemplo, Karl Kraus ou Elfriede Jelinek). Este artigo, além de destacar o papel do dramaturgo com "ancestral" para uma parte da literatura austríaca, lança um olhar sobre a única tradução de uma peça de Nestroy disponível no Brasil ("Cacique Vento-da-Tarde ou O festim do horror", publicada em 1990), com o intuito de colocar em questão a visão recorrente da obra de Nestroy como "intraduzível".
Kafka und die Weltliteratur
(2005)
Tagungsbericht zum internationalen Symposion an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken, vom 20. bis 23. September 2004
Die Veranstalter des Saarbrücker Symposions 'Kafka und die Weltliteratur', Manfred Engel (Saarbrücken) und Dieter Lamping (Mainz), wußten, daß sie mit ihrer Tagung die vielfältigen Differenzen innerhalb der Kafka-Forschung nicht würden ausräumen können. Wohl aber hofften sie, die schmale Konsensbasis der Kafka-Forschung durch einen neuen Zugangsweg zu vergrößern: Statt den Autor, wie schon so oft, als (bewunderten) Einzelgänger innerhalb der klassischen literarischen Moderne zu betrachten und alle Anstrengungen auf eine Deutung der Einzeltexte zu konzentrieren, ging es in Saarbrücken erstmals darum, Kafkas Dichtungen in komparatistischer Hinsicht zu kontextualisieren.
Eine zuverlässige Identitätskontrolle ist zu dieser Zeit noch nicht möglich. Man muss dem 33-jährigen plantation-owner glauben, der sich unter selbst gewählter Identität als "CMSealsfield" beim Gouverneur von Louisiana vorstellt, einen Wohnsitz in Louisiana angibt, Leumundszeugnisse präsentiert, sein Vorleben samt Taufnamen Carolus Magnus Postl verschweigt und diese nur in der Unterschrift des "safe conduct pass" (US-Schutzzusage) andeutet. Die administrierenden Herren, Gouverneur Henry Johnson (Louisiana, USA), Albin Eusèbe Michel de Grilleau, Kanzler des französischen Konsulats, und C. N. Morant, Kapitän des amerikanischen Vollschiffs "American", können nicht ahnen, dass sie dem Reisenden im Juni 1826 zu einer amerikanischen Identität mit dem anglophonen Namen Charles Sealsfield (1793-1864) verhelfen und ihn in die nationale 'machinery of identification and integration' einbeziehen. Indem Johnson den Status als 'US-resident' legitimiert, vermittelt er dem politischen Österreichflüchtling und Priester durch Identitätswechsel von Postl zu Sealsfield eine provisorisch gesicherte Existenz.
Dieser Akt ist mit weitreichenden Konsequenzen für Sealsfield verbunden. Er absolviert als 'Amerikaner' Sealsfield die Karriere eines deutschsprachigen 'amerikanischen' Autors von Amerika-Romanen (1833-47) und reüssiert 1844/45 als englischsprachiger 'amerikanischer' Autor unter der Fehlschreibung Seatsfield kurzfristig zum Protagonisten der amerikanischen Nationalliteratur, nachdem 'The Boston Daily Advertiser' am 20. März 1844 in Folge von Theodor Mundts (1808-1861) Urteil aus dem Jahr 18422 ihn als "The Greatest American Author" einer nationalen democratical American literature apostrophiert hat.
Folgt man einem Eintrag in einer der meistbenutzten Online-Enzyklopädien, dann gehört Reinhart Koselleck in Frankreich zu den bekanntesten deutschen Historikern des 20. Jahrhunderts. Eine vergleichsweise lange Liste von Übersetzungen und kritischen Beiträgen bekräftigt dieses Urteil und unterstreicht zugleich die spezifischen Interessengebiete, die für die französische Rezeption Kosellecks wichtig wurden. Sie reichen von der Sozial- und Begriffsgeschichte über die Geschichte von Recht und Gerechtigkeit bis zu Problemen der Erinnerungskultur und der Theorie der Geschichte. Vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erschien eine Reihe von Übersetzungen wesentlicher Beiträge Kosellecks zu diesen Themen ins Französische. Dass sich diese Periode mit einer Phase intensiver methodologischer und theoretischer Auseinandersetzungen unter französischen Historikern deckte, war für die Art und Weise, in der Kosellecks Arbeiten aufgenommen und diskutiert wurden, keineswegs unwichtig. Zeitweilig erwuchs daraus ein Dialog, der auf beiden Seiten des Rheins eine ganze Generation junger Historiker einschloss.
Koselleck in Italien
(2015)
Das Werk Reinhart Kosellecks ist in Italien im Rahmen der Historiographie, der Theorie der Geschichte, der Philosophie und der Politikwissenschaft relativ bekannt. Im italienischen Sprachraum haben seine Theorie historischer Zeiten, seine begriffsgeschichtliche Methode und seine Historik eine weite Verbreitung erreicht. Etwas weniger bekannt sind seine Aufsätze zur politischen Ikonologie. Die Übersetzung der Schriften Kosellecks in die italienische Sprache begann erst in den 1970er Jahren. So wurde 1972 'Kritik und Krise', 1986 'Vergangene Zukunft', 1988 das Buch über Preußen, 1990 'Hermeneutik und Historik' und 1992 'Das Zeitalter europäischer Revolution 1780–1848' übersetzt. Die 'Studien zum Beginn der modernen Welt' erschienen im Jahre 1997 in einer italienischen Ausgabe. 2009 wurde eine Teilausgabe der 'Begriffsgeschichten' im Italienischen veröffentlicht. Außerdem sind mehrere Artikel Kosellecks aus den 'Geschichtlichen Grundbegriffen' (1991 'Fortschritt', 1993 'Demokratie', 2009 'Geschichte', 2012 'Krise') und einige Aufsätze ('Concepts of Historical Time and Social History' (1980), 'Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit' (1987), 'Die Transformation der politischen Totenmale im 20. Jahrhundert' (2002)) übersetzt worden. Koselleck wird in Italien meist als Begriffshistoriker wahrgenommen und ist für das italienische Publikum der wahrscheinlich bekannteste Vertreter der deutschen Begriffsgeschichte.
Die Rezeption von Kosellecks Konzeption der Begriffsgeschichte in Polen begann Anfang der 1990er Jahre auf Umwegen und als Resultat von Zufällen. Die Tatsache, dass der polnische Philosoph Krzysztof Michalski (1948–2013), der Direktor des Wiener 'Instituts für die Wissenschaften vom Menschen', die Ergebnisse der vom ihm organisierten Castelgandolfo-Gespräche nicht nur im deutschen Original, sondern ab 1990 auch in Polen herausgab, führte dazu, dass auch drei Vorträge Kosellecks in polnischer Übersetzung erschienen. Da Koselleck in zweien seiner Vorträge mit 'Krise' und 'Emanzipation' die Geschichte von Begriffen behandelte, die er auch in den 'Geschichtlichen Grundbegriffen' (GG) erörtert hatte, gelangten auf dem Umweg der Castelgandolfo-Sammelbände erstmals Texte Kosellecks zur Begriffsgeschichte in den akademischen Diskurs in Polen. Auch in seinem dritten Castelgandolfo-Vortrag, in dem es um die Möglichkeit eines auf der historischen Semantik basierenden Vergleichs bürgerlicher Gesellschaften ging, hatte Koselleck weiterreichende Konsequenzen der Begriffsgeschichte behandelt. In den 1990er Jahren selbst erfuhren die genannten Texte in Polen allerdings noch kaum Beachtung. Dies sollte sich erst 2001 ändern, als der Germanist Hubert Orłowski in der von ihm verantworteten 'Posener Deutschen Bibliothek' (Poznańska Biblioteka Niemiecka) einen Sammelband mit vom ihm ausgewählten Aufsätzen Kosellecks zur historischen Semantik herausgab, der im Wesentlichen auf dessen Band 'Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten' (1979) basierte, allerdings um die Einleitung zu den GG und weitere Texte ergänzt worden war.
This article aims to outline the phenomenon of glocalization from the example of the "Ibero-American Collection" published by the International Institute for Intellectual Cooperation from 1930 to 1939. Initially planned to appear in four languages, this collection was eventually published in French only. It is nonetheless an interesting laboratory from which to observe the consequences of the worldwide circulation of literature, through translation, on the uses and definitions of literature, as well as on the simultaneous production of the global and the local. In this, it is exemplary of a particular moment in the history of the idea of world literature.
Se discute aquí la reseña de Friedrich Blanckenburg sobre "Las penas del joven Werther" (1774) de J. W. Goethe. La reseña, de la que ofrecemos la traducción al español de varios pasajes, fue publicada unos meses más tarde que la polémica y revolucionaria novela de Goethe y constituye un documento valioso no solo de su recepción, sino también de la teorización acerca del género en el contexto de finales de la Segunda Ilustración en Alemania. Da cuenta, en efecto, de un rasgo central de este periodo: la recepción sensibilista, 'empfindsam', que tendría un efecto benefactor sobre la sociabilidad y las costumbres. Además, en una relación en cierto modo ambigua con este llamado a la empatía socialmente útil del crítico y del lector, el autor presenta elementos que señalan llamativamente hacia una doctrina de la autonomía de la esfera estética. Lo que queda sin saberse es si se trata de una "desprolijidad" de la reseña o de una lúcida interpretación de la "voz doble" que plantea Goethe en su famosa novela epistolar.
Für Lessing [...] war die Epoche der Nationalliteratur [...] an der Zeit gewesen; und er hat in Hamburg nicht wenig für den "süße[n] Traum" gewirkt, "den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind". Gleichwohl operierte er als Autor wie als Kritiker schon früh und je später desto mehr im Horizont der Weltliteratur. Um diesen literarischen Ausgriff in die "große Welt" besser zu verstehen, muß man sich zunächst seine ursprüngliche "kleine Welt" vergegenwärtigen.
Einläßliche Untersuchungen zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte Lichtenbergs fehlen bislang. Sie würden zunächst ein disparates Rezeptionsfeld aufweisen: Lichtenberg als Naturwissenschaftler, Lichtenberg als Physiognomikkritiker, Lichtenberg als Literatursatiriker , Lichtenberg als Stifter eines neuartigen ästhetischen Bildreservoirs, eines Orbis Pictus, den seine Hogarth Kommentare erschließen, schließlich Lichtenberg als Autor der Sudelbücher, die ihn als Selbstdenker zu erkennen geben. Darüber hinaus wäre das Besondere von Lichtenbergs Wirkungsweise methodisch zu bedenken und zu verwirklichen.
Die aktuelle Debatte um den Begriff der Weltliteratur ist eng verwoben mit Dynamiken, die wir im Kontext von Fragen der Glokalisierung im literarischen Feld in den Blick nehmen müssen: Was bedeutet der oft proklamierte weltweite Abschied von der einstigen Zentrums-Peripherie-Logik für literarische Kanonisierungsprozesse? Inwiefern haben neue Zirkulationswege von Literatur im sogenannten Globalen Süden Auswirkungen auf weltliterarische Denominationsprozesse? Diese Aspekte von Prozessen literarischer Glokalisierung werden am Beispiel eines Autors besprochen, der nach wie vor, häufig als einziger, den Globalen Süden in den Kanones der westlichen Welt vertritt: der Kolumbianer Gabriel García Márquez. Beispielhaft für sein Werk steht hier der zentrale Roman "Cien años de soledad" und seine Rezeption in den USA, in Indien und China, mit einem sehr knappen Exkurs auch in die arabische Welt. Neben den Fakten und Zahlen des Buchmarktes geht es auch darum, inwiefern der Bereich des Ästhetischen konkrete intertextuelle Bezugnahmen zwischen García Márquez und Autor:innen des Globalen Südens zeigt und inwiefern sich Rezeptions- und Transformationsvorgänge hinsichtlich bestimmter literarischer Topoi, Gattungen oder Paradigmen herausdestillieren lassen.
Louise Dittmar gehört zu den wenigen Autorinnen ihrer Zeit, die sich auf das für Frauen eher ungewöhnliche Gebiet der Philosophie wagten. Ungewöhnlich nicht deshalb, weil sie philosophische Schriften rezipierte, denn das war durchaus kein Einzelphänomen. Gerade in den 1840er Jahren setzten sich viele Vormärzautorinnen mit den modernen Strömungen und deren Studien auseinander, insbesondere mit frühsozialistischem und junghegelianischem Gedankengut. Das Ungewöhnliche war vielmehr, dass Louise Dittmar Werke publizierte, in denen sie Ludwig Feuerbachs Philosophie "systematically and seriously" zu entfalten versuchte, aber ebenso ihre eigenen Erkenntnisse selbstständig (fort-)entwickelte.
Tagungsbericht zum Symposion an der Universität Potsdam vom 20.-22. Oktober 2000
Endlich ist es vollbracht: Nach verschiedensten juristischen, verlagstechnischen u.a. Peripetien, die Maria Sommer, die Leiterin des Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs und Inhaberin der deutschen Pirandello-Werkrechte, bei der Präsentation plastisch schilderte, liegt nun die deutsche Pirandello-Ausgabe (Propyläen-Verlag) vollständig in 16 Bänden vor. Allemal ein Anlaß für den Herausgeber Michael Rössner (München), gemeinsam mit Helene Harth (Potsdam) und dem Istituto Italiano di Cultura (Berlin), dort sowie an der Universität Potsdam vom 20.-22. Oktober 2000 ein Symposion zu veranstalten.
Die großen Dichter der Römer haben in der abendländischen - und nicht zuletzt in der deutschen - Literatur des 20. Jahrhunderts ein äußerst produktives Nachleben genossen. In seinem 'Tod des Vergil' (1945) befasst sich Hermann Broch einfühlsam mit Leben und Werk des Dichters der Äneis. In Christoph Ransmayrs 'Die letzte Welt' (1988) tritt Ovid als Person nie in Erscheinung, aber die Forschungen des Romanhelden enthüllen das problematische Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit im Leben Ovids während seines Exils im fernen Tomis und in den Erzählungen seiner Metamorphosen. Günter Grass' Roman örtlich betäubt (1969) bietet unter anderem eine einsichtsvolle Analyse der Bedeutung Senecas als Seismograph für jeweils drei Generationen von Deutschen der Bundesrepublik. Und Lukrez?
Titus Lucretius Carus (circa 94-54 v.Chr.), der in der Geschichte der lateinischen Literatur als epischer Dichter neben, ja manchmal sogar über Vergil gestellt wird und vor allem als wichtigster Befürworter des Epikureismus im Rom des ersten Jahrhunderts v.Chr. galt, spielt in der Literatur des 20. Jahrhunderts kaum noch eine Rolle. Wenn auch die atomistischen und vermeintlich antireligiösen Lehren seines 'De Rerum Natura' während des christlichen Mittelalters abgelehnt wurden, schätzten ihn sogar seine Gegner als einen großen Sprachkünstler. Nach seiner Wiederentdeckung in der Renaissance wurde er zunehmend als Philosoph und Naturwissenschaftler geschätzt. Aber nachdem sein Einfluss im 19. Jahrhundert bei vielen Dichtern noch hochstand, wurde sein Name danach immer seltener erwähnt. Seit der wichtigen Vortragsreihe George Santayanas über Lucretius, Dante und Goethe - Three Philosophical Poets (1910) - haben sich zwar immer wieder akademische Philosophen mit seinem Denken befasst; aber die einzige ausführliche Studie über Lukrez und die Moderne kann nur wenige literarische Beispiele heranziehen: neben den Italienern Italo Calvino und Primo Levi und dem Österreicher Raoul Schrott, die im Vorübergehen erwähnt werden, werden nur einige anglo-amerikanische Dichter zitiert, die sich aber nie ausführlich mit Lukrez oder seinem Werk beschäftigen. In einer wichtigen deutschen Forschung zur Antikerezeption wird nach Goethe nur noch Heinrich Mann erwähnt, in dessen Roman 'Die Vollendung des Königs Henri Quatre' (1938) Zitate aus mehreren lateinischen Dichtern, einschließlich Lukrez, vorkommen.
Warum dieses Schweigen?