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Das Wachsen im Nachhall
(2013)
Nach Benjamins Aufsatz "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen" von 1916 gibt es Verständigung nicht nur in der Wortsprache, sondern auch in allen anderen Kommunikationsmedien, zu denen Benjamin auch die Musik zählt. Diese vielfältigen Mitteilungsformen der Dinge, Tiere und Menschen lassen sich ineinander übersetzen, wenn man Übersetzung als Leistung des Vermögens versteht, mimetisch nicht nur sinnliche, sondern auch unsinnliche Ähnlichkeiten zu erzeugen, wie z. B. Kinder Gegenstände zu imitieren vermögen, ohne ihrer Entscheidung ähnlich zu werden. Die drei Teile des Stücks versuchen, dieses von Benjamin mehrfach erörterte mimetische Vermögen musikalisch in Anspruch zu nehmen und dabei klangliche Korrespondenzen für Erinnerungsvorgänge aus der Berliner Kindheit um neunzehnhundert zu finden.
In Benjamins 1921 entstandenen Text Die Aufgabe des Übersetzers (GS IV), der ursprünglich als eine Art Prolog zu seiner Übersetzung von Baudelaires Tableaux parisiens gedacht war, ist die "reine Sprache" stets auf einen messianischen Horizont hin ausgerichtet. Demnach enthält jede Sprache ein ihr je eigenes Sagen-Wollen, das die Gesamtheit allen Sagen- Wollens aller Sprachen für sich allein auszudrücken imstande wäre. Daher stammt die Vorstellung, dass die reine Sprache an sich bereits eine Figur der Prosa der messianischen Welt sei. Sprachen aber unterliegen, wie Benjamin so wunderbar zeigt, ganz gegensätzlichen Bewegungen: Die einen nähern sich einander an, andere schließen sich gegenseitig aus. Sie tragen sich gegenseitig, sie wandern aus. Die Übersetzung schließlich nimmt sie bei sich auf und fügt wieder zusammen, was Benjamin die "Scherben eines Gefäßes" (18) der reinen Sprache nennt. So spricht er davon, dass das "was an Übersetzungen wesentlich ist" (12), zugleich unter dem Sinn eines Sprachgebildes "verborgen oder deutlicher" (19) sei.
Antoine Berman zeigt eindringlich, wie der Akt des Übersetzens nicht nur zwischen zwei Sprachen vollzogen wird, sondern dass es eine dritte Sprache gibt, ohne die jener nicht stattfinden kann. Genau an diesem Punkt treffen Benjamins Gedanken zur Übersetzung auf grundsätzliche Überlegungen zur Musik. Denn die dritte Sprache ist auf eine geradezu geisterhafte Art anwesend in der mündlichen Dimension eines Textes, die ein Autor in seiner Schreibweise bewahren will. Dieses Geisterhafte lässt sich nur in dem Sinne deuten, dass das schöpferische Subjekt allein nicht die Totalität seiner Äußerungen wiedergeben kann, es seine eigene Rede also nicht zur Gänze beherrscht. Im Gefolge Heideggers geht Gadamer gar so weit, von der Verblendung des schreibenden Subjekts zu sprechen. Nur ein Leser, aber mehr noch ein Übersetzer oder Hermeneut sei in der Lage, die implizite Historizität eines Textes zu entschlüsseln und so dessen Bedeutung zu ermitteln. Doch die Vorstellung, dass ein Text im Wesentlichen messianisch oder prophetisch sei, läuft jeglicher Deutungstradition zuwider. Benjamins Essay beginnt mit einem Postulat, der daran keinen Zweifel lässt: "Nirgends erweist sich einem Kunstwerk oder einer Kunstform gegenüber die Rücksicht auf den Aufnehmenden für deren Erkenntnis fruchtbar." (GS IV, 9–21, hier 9)
Von den unmittelbar auf Musik und Klang bezogenen Passagen im Werk Walter Benjamins besteht die längste zu einem bemerkenswert großen Teil aus Zitaten: In dem 1924/25 geschriebenen Ursprung des deutschen Trauerspiels (GS I, 203–430; hier 387–389) bringt Benjamin auf 96 Zeilen, die dem Abschnitt über die Oper folgen und sich mit Klang und Schrift befassen, 27 Zeilen mit Zitaten aus den Fragmenten aus dem Nachlasse eines jungen Physikers2 v on Johann Wilhelm Ritter. Ritter, heute weitgehend in Vergessenheit geraten, war Naturwissenschaftler und philosophierender Schriftsteller, ein spekulativer, perspektivenreicher Denker der Romantik, ein universell interessierter, zugleich aber auch schwer verständlicher Autor. Er bot Benjamin mit seinen Ideen und Assoziationen eine Fülle von Anknüpfungsmöglichkeiten, und es waren vor allem die auf Musik, Klang, Schrift und Sprache bezogenen und an ältere akustische Experimente anknüpfenden Ideen und Assoziationen Ritters, die Benjamins Aufmerksamkeit auf sich zogen.
"Idiom", "Trauerspiel" und "Dialektik des Hörens" sind die Überschriften der drei Teile dieses Beitrages, der Benjamins Rezeption im Werk Luigi Nonos behandelt. Genauer gesagt: Es handelt sich eher um die verblüffende Konvergenz von Nonos Denken mit Benjamins Philosophie, unabhängig davon, ob, wie, wann und in welcher Breite Nono sie sich bewusst angeeignet hat. Zwischen ihnen steht ein Exkurs über die Idee des opus perfectum et absolutum und dessen Entfaltung vom 'organischen' zum 'autopoietischen' Werkbegriff, dem Nono sich widersetzt.
Adornos Kritik an Benjamin gilt heute als geläufig und weitgehend abgearbeitet; was Benjamin zu Adorno notiert hat, ist dagegen weitgehend unbekannt, jedenfalls unbeachtet. Im einen Fall mag das Objekt, die Skizzen zum Singspiel Der Schatz des Indianer-Joe, zu weit ab vom Schuss liegen, um unter mehr als rein historischen Gesichtspunkten in actu noch ergiebig zu sein. Im Falle des Kommentars zur Wagnerschrift liegen die Dinge deutlich anders. Liefert er doch beinahe eine konzeptionelle Alternative zu dem, wie Adorno mit Wagner umgeht, überdies avant la lettre Einwände gegen jenen Theoriegestus, den Adorno kurz darauf gegenüber Benjamins erstem Essay über Baudelaire an den Tag legen zu müssen meint.
Verlassene Orte
(2013)
Das von Klangnetz e.V. organisierte Projekt "DenkKlänge für Walter Benjamin" bot für mich den Anlass, mich überhaupt tiefer mit Walter Benjamins Schriften und seiner Philosophie zu beschäftigen, was sehr bereichernd und inspirierend war, zum Teil gar verstörend (im besten Sinne). Die Berliner Kindheit um neunzehnhundert – so reich und vielfältig – bleibt dabei nach wie vor ein Rätsel, ein Paradoxon steckt darin, was sicher einen Teil ihres Zaubers ausmacht.
Der kulturelle und wissenschaftliche Austausch zwischen Israel und Deutschland ist in seiner Lebendigkeit beeindruckend. [...] Wenig allerdings weiß man in Israel und Deutschland noch von der zeitgenössischen Musik aus dem jeweils anderen Land. Daher setzte sich die Berliner Komponistenvereinigung Klangnetz e. V. das Ziel, die gegenseitige Neugier mit einem Austauschprojekt zwischen jungen israelischen und deutschen Komponisten zu wecken und dabei möglichst dauerhafte Verbindungen zwischen Musikern, Komponisten, Wissenschaftlern und einem interessierten Publikum herzustellen. Im Juni 2010 fanden Konzerte und Workshops in Tel Aviv und Jerusalem statt, auf die Konzerte und Workshops in Frankfurt am Main und Berlin folgten. Den Abschluss bildete das internationale Symposium »Klang und Musik im Werk Walter Benjamins – Benjamin in der Musik«, das vom Zentrum für Literatur- und Kulturforschung und von Klangnetz e. V. in Kooperation mit der Akademie der Künste, Berlin, veranstaltet wurde.
Fieber
(2013)
In diesem Stück habe ich mich mit dem Fragment "Das Fieber" aus der Berliner Kindheit um neunzehnhundert befasst, in dem Benjamin literarisch u. a. die Entfremdung des Ichs vom eigenen kranken Körper zu vermitteln versucht. Mich hat gereizt, Begriffe wie Dissoziation und Mimesis, die beide, ohne genannt zu werden, eine zentrale Rolle in diesem Text spielen, auf eine musikalische Ebene zu übertragen. Anstelle des menschlichen Körpers arbeite ich mit der Anatomie des Ensembles, dessen Identität sich im Fluss befindet.
Walter Benjamins Aufsatz "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen" dient als Ausgangspunkt für mein Stück. Benjamin verbindet die Schöpfungsgeschichte der Genesis und die Geschichte des Turms von Babel, wobei er die einheitliche, reine Sprache, die vor Babel gesprochen wurde, auf den idealen Zustand im Garten Eden bezieht. Zefanjas Prophetie für das Ende aller Tage führt kreisförmig auf diesen Anfang zurück: "Dann aber will ich den Völkern reine Lippen geben, dass sie alle des HERRN Namen anrufen sollen und ihm einträchtig dienen." (Zef 3,9).
Trällernde Erinnerung
(2013)
In Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert findet sich vor dem Hintergrund des traumatischen, durch die Nationalsozialisten erzwungenen Exils des Autors eine doppelte Entwurzelungserfahrung: die der zeitlichen Distanz des Erwachsenen zu seiner Kindheit und die der räumlichen Entfernung des Exilanten zu seiner Heimat.
Die abgelauschte Stadt und der Rhythmus des Glücks : über das Musikalische in Benjamins Denken
(2013)
Im Folgenden sollen die Dimensionen des Musikalischen und Akustischen bei Benjamin betrachtet werden. Zunächst wird das musiktheoretische Vokabular, das Benjamin auf nicht-musikalische Phänomene und Medien anwendet, Gegenstand der Untersuchung sein. Es handelt sich dabei um erkenntnistheoretische und medienphilosophische Überlegungen, die sich an der Form des Musikalischen, besonders am Rhythmus, orientieren. Danach wird das auditiv sensible Schreiben Benjamins am Beispiel der Berliner Kindheit um neunzehnhundert auf die Funktion akustischer und musikalischer Phänomene hin überprüft und mit Benjamins Überlegungen zum Hören verknüpft. Das Ohr zeigt sich hier als das Organ, das über akustische Reize in Klangmedien und die mit ihnen verbundenen Gefühle die Aufmerksamkeit für die in Bildern und Worten fortlebende Geschichte erzeugt. Schließlich wird nach der Funktion der Musik in Benjamins Werk gefragt. Mit Blick auf die Sprache weist er der Musik als der hörbaren Kunst eine Rolle zu, die Bilder und Sprache auf ihre Verbindung und auf die Möglichkeit der Erlösung von der durch sie bedingten Ausdruckshemmung bezieht. Es zeigt sich, dass die Musik bei Benjamin die Sphäre des semiotisch (noch) Unbestimmten bildet und in einer Spannung zwischen Übersinnlichem und Leiblichem steht, die sie mit der Transzendenz ebenso verbindet wie mit den Gefühlen und propriozeptiv wahrnehmbaren Impulsen.
Im Gegensatz zu Adorno wird Walter Benjamins Theorie […] kaum mit Musik in Verbindung gebracht, sondern vor allem für ihr Bilddenken geschätzt. Auch wenn im Ursprung des Deutschen Trauerspiels, in den Erinnerungsszenen der Berliner Kindheit, den Häuser- und Gedankenschluchten der Passagenarbeit und nicht zuletzt in seinem Briefwechsel durchaus von Musik die Rede ist, rücken Klänge seltener in den Mittelpunkt seiner Schriften und sind in der Rezeption bisher auch weniger beachtet worden. Ohnedies wird derjenige enttäuscht, der gerade von Benjamin – so reizvoll es sein mag, sich solchen Gegenständen widmende Essays zu imaginieren – die Exegese des gängigen musikalischen Kanons erwartet: Keine Abhandlung zu Schuberts Streichquintett schließt an die Interpretation der Wahlverwandschaften an und ebenso vergeblich sucht man nach die Erwägungen zum Trauerspiel auf die Affektkontrolle der opera seria oder die des Kraus-Essays auf die Musik des Fackel-Habitués Arnold Schönberg übertragenden Arbeiten. Dennoch kommt Musik, Klage und Tönen in Benjamins Reflexionen eine nicht unerhebliche Bedeutung zu. Selten drängen sie sich lautstark in den Vordergrund, erlauben aber – zumal in einer Zeit, in der auch die professionelle Auseinandersetzung mit Musik die ideale Beständigkeit musikalischer Werke und ihrer Texte zunehmend in Zweifel zieht – theoretische Einsichten, über die das auf andere Dinge gerichtete Ohr des Experten achtlos hinweggeht. In Ergänzung zur wohlbekannten epistemischen und poetischen Rolle seiner Sprach- und Denkbilder unternimmt dieser Band den ersten systematisch angelegten Versuch, sowohl den kultur- und medienhistorischen Zusammenhängen von Benjamins akustischen Motiven nachzugehen als auch ihre ästhetische Relevanz für die gegenwärtige Produktion und Reproduktion von Klängen zu reflektieren.
Es ist keine sehr originelle Einsicht, dass die grundlegend neuen Perspektiven auf die Kunst des 20. Jahrhunderts, die Walter Benjamin in seinem Aufsatz über "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" skizziert hat, am Paradigma der visuellen Künste gewonnen wurden. Das lässt sich exemplarisch am Begriff der Aura demonstrieren, der für Benjamins Theorie des traditionellen Kunstwerks von zentraler Bedeutung ist. Allein das Bild, das als Unikat durch die Räume und Zeiten wandert und sich dabei mit historischer Substanz sättigt, ist Träger der Aura. [...]
Es liegt auf der Hand, dass es die Aura [...] bei akustischen Kunstwerken nicht geben kann. Musik und Theater bieten kein Identisches, das sich materiell in der Geschichte durchhält wie ein Bild und in diesem spezifischen Sinne traditionsstiftend wirkte. Wir haben bloß den Text als ein unvollständiges Gerüst, das von Aufführung zu Aufführung neu aktualisiert wird. Zwar gibt es zweifellos und gerade in der akustischen Kunst eine besondere Emphase auf dem "Hier und Jetzt" (475), von dem Benjamin im Zusammenhang des traditionellen Kunstwerks redet, aber dieses Hier und Jetzt ist grundlegend anders zur Geschichte vermittelt als das beim bildenden Kunstwerk der Fall ist. Der Begriff des Unikats, den Benjamin letztlich aus dem Kultbild herleitet (480 f.), ergibt bei der Musik (und in gewissem Sinne auch in der Literatur) von vornherein keinen Sinn. Was bedeuten 'Nähe' und 'Ferne' im Falle der Musik und der musikalischen Reproduktion? Wenn der Begriff der Aura hier überhaupt eine systematische Stelle hat, dann muss er anders gefasst und positioniert werden als in der bildenden Kunst.
Wie alle sinnlichen Erfahrungen vollzieht sich auch die akustische Wahrnehmung unter Einbeziehung des ganzen Körpers, auch wenn sie unmittelbar den Eindruck hervorruft, von einem bestimmten Punkt im Körper oder einem einzelnen Organ auszugehen. Außerhalb des Labors – und wahrscheinlich nicht einmal dort – treten Sinneswahrnehmungen jedoch nie separat auf, denn die Umwelt, die auf die Sinne wirkt, gibt keine präzise nach den Grenzen und Möglichkeiten des menschlichen sensorischen Apparates getrennten Signale ab. Auch das Hören beginnt mit einer haptischen Empfindung, nämlich der mechanischen Rezeption von Schallwellen durch das Trommelfell. So ist es auch nur schwer möglich, die akustischen Wahrnehmungen aus der Berliner Kindheit von den anderen Sinneseindrücken zu isolieren. Intersensorialität bestimmt die Texte: Die Süße der Schokolade geht beispielsweise nicht nur über die Zunge, sondern auch über das Auge und das Herz in das Kind ein, und der Abend riecht ihm nach "Lampe und Zubettgehn" – zwei Elemente des Abends, die gewöhnlicherweise nicht als olfaktorische Ereignisse wahrgenommen werden (424 u. GS IV, 268). Ebenso sind für den Kind-Erzähler die Stimmen aus dem Telefon "Nachtgeräusche", das Schneegestöber vor dem Fenster erzählt "lautlos" Geschichten, und die Schwingungen der Kirchenglocken bleiben "aufgestapelt" vor der Hauswand liegen (GS VII, 390; 396; 413).
Trotz dieser ausgeprägten Intersensorialität treten in der Berliner Kindheit natürlich akustische Phänomene auf, wenn auch eben selten unvermischt. Daher möchte ich zunächst eine Art vorsortierten Katalog dieser Wahrnehmungen geben und einige Besonderheiten bei deren Auftauchen vor dem Hintergrund der auditiven Stadtwahrnehmung charakterisieren. In einem zweiten Schritt möchte ich einige Deutungen dieser Besonderheiten vorschlagen, die sich aus der speziellen Art von Benjamins Texten und aus seiner Biographie ergeben. Die leitende These ist dabei, dass Benjamin die Klänge in der Stadt seiner Kindheit nicht, wie andere mit ihm zeitgenössische Autoren, als eine Funktion der Moderne und als ein Teil der Großstadtrhetorik einsetzt, sondern zur Konstruktion einer bestimmten Art von idealer, kindlicher Wahrnehmung.