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Wozu VB?
(2017)
Die eifrigste Bestrebung der Kinder besteht darin, so hat es zumindest Sigmund Freud einmal behauptet, "zu erfahren, was die Eltern miteinander tun, woraus dann die Kinder werden." Was treibt die Kinder in die Welt? Haben die Kinder Juristen als Eltern, dann dürften sie bald eher nach den Gründen als nach dem Treiben fragen.
Die gleichgeschlechtliche Ehe wurde vom Gesetzgeber endlich anerkannt, auch das Verfassungsgericht wird dagegen nichts mehr unternehmen können, das hoffe ich zumindest. Wer seine Zeichen und Gesetze dennoch exklusiv halten will, sollte darum darüber nachdenken, auf Alternativbegriffe zur Ehe umzusteigen.
Die Verkleidung des Richters und die Verkleidung der Muslima sind ähnlich, weil sie beide aus einer Abschirmung rühren, die auf gleiche Weise dogmatisch besetzt ist. Auch wenn, zumindest in der deutschen Übersetzung des Koran, mit der Bedeckung der Haare die Keuschheit, Sittsamkeit oder Schamhaftigkeit der Frau und mit der Verkleidung des Richters seine Neutralität symbolisiert oder umgesetzt werden soll, gibt es doch eine Entsprechung, und die liegt in der Abschirmung. Wenn man hijab mit Absperrung oder Verhüllung übersetzt, wie das einige vorschlagen, dann tragen Richter auch einen hijab.
Wenn Rechtstexte auf literarische Texte treffen, dann treffen Wahrheitsformen aufeinander. Es treffen unterschiedliche Weisen, Wahrheit zu produzieren, aufeinander. Zu den zahlreichen Unterschieden gehören, historisch bedingt, unterschiedliche Stile, die sich um die Objektivierung und "Subjektivierung" der Aussagen bilden. Das fängt bei den banalen "wir" und "man" rechtswissenschaftlicher Texte an, geht über allgemein gehaltene, enthistorisierende und systematisierende Definitionen bis zu einem Fussnotenapparat, der in manchen Rechtstexten beinahe jede Aussage als nachweisbare Aussage absichern soll. Die Rechtswissenschaft, zumal die deutsche, pflegt bei ihren Wahrheitsformen objektivierende Stile, die Literaturwissenschaft tut das nicht, nicht in dem Maße, sie lässt das Subjekt stärker in die Aussage einbrechen. Die Lage zwischen diesen beiden Disziplinen ist allerdings kompliziert, weil wiederum das Recht eine wirksame Subjektivierungsinstanz ist, die eben die Instrumente zur Verfügung stellt, um Aussagen an Subjekte zu binden. Sie hat die Unterschrift und den Urheber erfunden. In dieser Lage kann man also nicht einfach das Subjektive gegen das Objektive ausspielen. Von Anfang aber über das Zusammentreffen von Literatur und Recht in objektivierenden Stilen zu schreiben, schafft eine asymmetrische Ausgangslage, die ich gerne zugunsten einer symmetrischen Ausgangslage umgehen möchte – soweit das möglich ist. ...
Mir fällt in dieser Woche, in der nicht nur im Netz darüber diskutiert wurde, was eigentlich gefährlich sei, Menschen in Schlauchbooten oder die Lifeline, und in der darüber diskutiert wurde, ob man nicht lieber ein paar absaufen lässt, damit die anderen gewarnt seien, nicht viel mehr ein, als in die Gründe und Abgründe Europas zu schauen.
Im Deutschen Bundestag liegt der Frauenanteil nach der letzten Wahl bei nur noch 30 Prozent. Bei den Fraktionen der AfD, CDU/CSU und FDP, also den Parteien ohne eine parteiinterne Quote, beträgt er gar nur 10 bis 20 Prozent. Bundesjustizministerin Barley fordert daher eine Wahlrechtsreform, um das "Meer von grauen Anzügen" zugunsten von mehr Frauen im Parlament zu pluralisieren. Dafür wird es einer Regelung bedürfen, die die Parteien verpflichtet, eine gleiche Anzahl von Frauen und Männern bei Wahlen aufzustellen. Von Staatsrechtlern werden jedoch verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet, jüngst etwa von Udo Di Fabio in einem Interview im Spiegel. Eine solche Reform verstoße gegen die Parteifreiheit und die Wahlrechtsgleichheit. Und: Demokratie kenne nur ein Volk, kein geteiltes. Dies überrascht wenig, denn im gegenwärtigen verfassungsrechtlichen Diskurs wird die fehlende Repräsentation von Frauen schlicht nicht als demokratisches Problem verstanden. Wirft man einen Blick in die verfassungsrechtliche Literatur zum Demokratieprinzip und zum Wahlrecht, dann werden dort allerhand aktuelle Probleme und Herausforderungen der deutschen Demokratie diskutiert – vom Einfluss der sozialen Medien über die Krise der Parteiendemokratie bis hin zum negativen Stimmengewicht. Dass nach über 70 Jahren Grundgesetz in keinem deutschen Parlament Frauen nur annähernd hälftig vertreten sind, auf kommunaler Ebene Frauen oftmals sogar nur einen Anteil von 15 bis 25 Prozent erreichen, scheint dagegen niemand für ein aktuelles demokratisches Defizit zu halten – und dies obwohl Art. 3 Abs. 2 GG die Gleichberechtigung der Geschlechter sowie deren tatsächliche Durchsetzung ausdrücklich fordert.
Aktuell wird darüber diskutiert, ob das Sexualstrafrecht noch zeitgemäß ist. Unterschiedliche Bemühungen, die Vorschrift § 177 StGB (sexuelle Nötigung; Vergewaltigung) zu reformieren, stoßen auf heftigen Widerstand. Insbesondere geht es um die Frage, ob für die Erfüllung des Tatbestandes ein fehlendes Einverständnis ausreichend sein kann und darf. Erstaunlich ist, dass bei dieser Debatte europäische und internationale Ansätze völlig ignoriert werden. Dabei ist für Deutschland nicht nur seit dem 1. August 2014 das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbuler Konvention) in Kraft getreten, sondern auch der Ausschuss der Frauenrechtskonvention der Vereinten Nationen (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women – CEDAW) hat zum wiederholten Mal in der Sache R.P.B v. the Philippines zum Ausdruck gebracht, dass nicht einverständliche sexuelle Handlungen unter Strafe zu stellen sind.
Eine wichtige Facette des Wirkens von Ernst-Wolfgang Böckenförde ist die Entfaltung des freiheitlichen Charakters des Grundgesetzes. Sein zentrales Anliegen war es, Freiheitlichkeit nicht nur auf Angehörige des Mainstream zu beschränken, sondern auch die Freiheit der Andersdenkenden zu schützen. Gerade in den 1960er und 1970er Jahren war diese konsequente Liberalität von kaum zu unterschätzender Bedeutung, denn es gab nicht viele, die sich in diesem Sinne äußerten. Damals war die Staatsrechtslehre äußerst konservativ. Schon der SPD anzugehören, war eine große Ausnahme. Das Recht, auch das Verfassungsrecht, wurde häufig geradezu als Bollwerk gegen die Ideen der 1968er-Revolution eingesetzt.
Doch der Beitrag von Ernst-Wolfgang Böckenförde hat nicht nur historische Bedeutung. Das von ihm entwickelte liberale Fundament ist aktueller denn je: In den Debatten um den Umgang mit religiösen Minderheiten ist seine konsequent liberale Haltung von höchster Relevanz. Er selbst hat seinen Ansatz noch in die Debatten um das Kopftuch der muslimischen Lehrerin eingebracht und im Sinne der Liberalität Position bezogen.
2004 erschütterten Terroranschläge in London und Madrid die Welt. Die Reaktion der EU/EG im seinerzeit schnellsten Gesetzgebungsverfahren seit Bestehen: Verabschiedung der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie. 2009 sah der EuGH die Richtlinie trotzdem als Binnenmarktregelung an, mit der Harmonisierung auf dem Informationsmarkt herbeigeführt werden sollte. Äußerungen zum Inhalt – quasi als obiter dictum möglich gewesen – versagte er sich. 2010 beurteilte dann das BVerfG die bundesdeutsche Umsetzung, aber – ganz dem Verhältnis von EuGH und BVerfG entsprechend – nur den die europäischen Mindestvorgaben überschießenden Teil. Dieses Gesetz hatte national schon für reichlich Sprengstoff im Rechtsstaat gesorgt und u.a. den Rücktritt der beharrlich widersetzlichen Justizministerin bewirkt. ...
We are students, scholars, and academics at European universities who unequivocally condemn the violent attacks on student and faculty members of Jawaharlal Nehru University (JNU), New Delhi that took place on 5th January 2020. We see the attacks as part of the larger pattern of systematic violence that is being consistently inflicted on students across Indian universities for the past month by the Indian police in collusion with far-right organisations. We are shocked by the proclivity of the Indian State to turn upon its own students, and by the failure of universities and other academic institutions to protect their members; the cases are too many to be all listed here, but along with JNU, this inhumane orchestration of violence has extended to Aligarh Muslim University, Banaras Hindu University in Uttar Pradesh, and Jamia Millia Islamia in New Delhi. ...
Mittels des BKA-Gesetzes wurden 2009 dem Bundeskriminalamt (BKA) verschiedene Befugnisse zum Einsatz von heimlichen Überwachungsmaßnahmen zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus eingeräumt, darunter der Einsatz von Rasterung, von verdeckten Ermittlern, zur akustischen und optischen Überwachung von Wohnungen und zur Telekommunikationsüberwachung. Das Bundesverfassungsgericht hat nunmehr diese Regelungen einer intensiven Prüfung unterzogen. Im Ergebnis handelt es sich um eine weitere „Ja-aber"-Entscheidung des Verfassungsgerichts im Bereich der Sicherheitsgesetzgebung: Das vom Gesetzgeber gewählte Instrument wird als grundsätzlich als mit der Verfassung vereinbar angesehen, allerdings nicht bzw. nicht vollständig in der konkreten Ausgestaltung. Der Gesetzgeber darf sich also bestätigt fühlen, auf dem richtigen Weg zu sein; eine strikte Grenzziehung gegenüber den Begehrlichkeiten des Staates auf Informationen über seine Bürger gibt es nicht. ...
Die Diskussion über die Frage, ob die Politik offener Grenzen mit dem geltenden Recht in Einklang steht, gewinnt an Dynamik und Tiefenschärfe. Wir freuen uns, dass mit Roman Lehner erstmals ein Fachkollege auf unsere andernorts vertretene Auslegung der Dublin III-VO und des Schengener Grenzkodex erwidert und uns dabei attestiert hat, mit Art. 20 IV Dublin III "einen sehr klugen Gedanken in die Debatte gebracht" zu haben. Im Ergebnis widerspricht uns Lehner gleichwohl. Seine Gegenthese lautet im Kern: Schutzanträge an der deutsch-österreichischen oder einer anderen Binnengrenze unterfallen Art. 3 Abs. 1 und nicht Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO, weshalb die Zuständigkeits- und letztlich die Antragsprüfung in Deutschland und nicht in Österreich stattzufinden haben. Dieser Einwand beruht freilich auf einem grundlegenden Missverständnis der Konzeption des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) und speziell des Art. 3 Abs. 1 S. 1 Dublin III.
An den Europäischen Außengrenzen gehört der Tod von Flüchtlingen zum Alltag. Mehr als 29.000 Menschen sollen seit dem Jahr 2000 nach Recherchen von Journalist*innen auf ihrem Weg nach Europa gestorben sein. Das Projekt The Human Costs of Border Control der Universität Amsterdam hat jüngst eine Datenbank öffentlich gemacht, in der die tödlichen Umstände von über 3.000 Flüchtlingen dokumentiert werden. ...
Die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) hat eine beispiellose Reihe von Skandalen deutscher Sicherheitsbehörden öffentlich gemacht. In der vergangenen Woche hat ein Artikel in der Welt am Sonntag von den Journalisten Stefan Aust, Dirk Laabs und Per Hinrichs ein neues Kapitel in die Geschichte des NSU-Komplex eingefügt. ...
Viel zu selten erhält der Münchner NSU-Prozess die Öffentlichkeit, die seinem Gegenstand entsprechen würde. Der 249. Verhandlungstag wird jedoch in Erinnerung bleiben. Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe hat ihr Schweigen gebrochen und zum ersten Mal über ihren neuen Anwalt Mathias Grasel eine Aussage verlesen lassen (vgl. Vollständiges Protokoll). Diese lässt sich mit dem Egotronic-Song "Von nichts gewusst" zusammenfassen. Dass die beiden Uwes Morde begangen haben? Nichts gewusst, erst später habe sie davon erfahren. Der Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße? Nichts gewusst. Der Inhalt des NSU-Bekennervideos, das sie selbst per Post verschickt hat? Habe sie im Prozess zum ersten Mal gesehen. ...
Bitcoin stands like no other cryptocurrency for the profound transformation of financial markets in the digital economy. While the last few months saw the free trade in goods struggle against trends towards protectionism, cryptocurrencies seemed to tear down one border after the other – physical, geographic, and legal ones alike. A libertarian’s wet dream. Blockchain presents itself as a fortress against state intervention, for whatever purpose. Finally, a technological, market-based solution would put an end to the problem of monetary policy, payment transactions, and make whole chunks of government regulation superfluous. ...
Das "Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken" (Netzwerkdurchsetzungsgesetz, NetzDG) hatte bereits während seiner kurzen Entstehungszeit heftige Kritik ausgelöst und wird von zahlreichen Beobachtern auch in seiner in Kraft getretenen Fassung für unionsrechts- und grundgesetzwidrig gehalten. In Zweifel stehen vor allen Dingen die Gesetzgebungskompetenz des Bundes und die Vereinbarkeit des NetzDG mit der Meinungs- und Informationsfreiheit. Gegenwärtig sind drei Anträge auf vollständige bzw. teilweise Aufhebung des NetzDG im Bundestag anhängig (hier, hier und hier). Auch bei den Regierungsfraktionen steht das NetzDG unverändert auf der rechtspolitischen Agenda. Im Koalitionsvertrag heißt es, die am 1.7.2018 erstmals fälligen Berichte der Plattformbetreiber sollen zum Anlass genommen werden, "das Netzwerkdurchsetzungsgesetz insbesondere im Hinblick auf die freiwillige Selbstregulierung weiterzuentwickeln". ...
Die Berliner Initiative "Deutsche Wohnen & Co enteignen" hat in den letzten Wochen für einigen öffentlichen Wirbel gesorgt. Die Initiator*innen sammeln aktuell Unterschriften für ein Volksbegehren, mit dem der Berliner Senat dazu aufgefordert werden soll ein Gesetz zu verabschieden, um private Wohnungsgesellschaften, die mehr als 3.000 Wohnungen besitzen, zu vergesellschaften und ihren Grund und Boden in eine Anstalt des öffentlichen Rechts "unter mehrheitlich demokratischer Beteiligung von Stadtgesellschaft und Mieter*innen" zu überführen. Ihr rechtlicher Anknüpfungspunkt ist dabei Art. 15 Grundgesetz, der die Vergesellschaftung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln ermöglicht.
Anfang Februar wurde der Referentenentwurf des Bundesinnenministeriums zum sog. "Geordnete-Rückkehr-Gesetz" bekannt. Schon damals gab es Kritik an dem Vorhaben, diejenigen Personen strafrechtlich zu sanktionieren, die einen Abschiebetermin bekannt geben. Konkret geht es um den geplanten § 95 Abs. 2 Nr. 3b Aufenthaltsgesetz. ...
Die Transitzentren sind der neueste Clou der Unionsfraktion zur angeblichen Steuerung der Fluchtmigration und zugleich ein alter Hut. Am Montag verständigten sich CDU und CSU darauf, Transitzentren an der bayerisch-österreichischen Grenze einzurichten, um ihre größte parteipolitische Krise abzuwenden. Die Transitzentren waren bereits im Herbst 2015 Bestandteil eines Ressortentwurfs des Bundesinnenministeriums, den die SPD im letzten Moment verhinderte. Man wolle "Massenlager im Niemandsland" verhindern, wie der damalige Justizminister Heiko Maas sagte. Auf europäischer Ebene sind indes mit den "regionalen Ausschiffungsplattformen", die in außereuropäischen Drittstaaten errichtet werden sollen, sowie mit den "kontrollierten Zentren" auf europäischem Boden vergleichbare Lager geplant. Der Spiegel fasste die EU-Gipfel-Ergebnisse wie folgt zusammen: "Europa orbánisiert sich". Die Überschrift erfasst tatsächlich den Kern des Problems. Hinter dem sog. Asylstreit der letzten Wochen steckt nicht nur ein parteipolitischer Konflikt zwischen Innenminister Horst Seehofer und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Es geht im Kern darum, eine illiberale und anti-europäische Form des Rechtsstaats in Deutschland zu implementieren, die in Ungarn schon weit vorangeschritten ist. Auf lange Sicht ist es das Ziel von nationalistischen Akteuren, dass rechtsstaatliche Garantien nur noch formell auf dem Papier bestehen. Der autoritär transformierte Rechtsstaat ist dann nur noch eine Attrappe, weil Betroffene zu ihm faktisch keinen Zugang mehr haben.
Wer am Wochenende die politische Debatte und auf Twitter den Hashtag #Ellwangen verfolgt hat, könnte den Eindruck gewinnen Deutschland stehe kurz vor einem Bürgerkrieg. Dabei hatten Flüchtlinge nur versucht, die Überstellung ihres Mitbewohners im Rahmen des Dubliner-Zuständigkeitssystems nach Italien zu verhindern, ein Akt des zivilen Ungehorsams. Weil die Polizei den ersten Überstellungsversuch abbrach – was bei Überstellungen durchaus keine Seltenheit ist -, folgte offenbar auf politischen Druck hin nicht nur die Mobilisierung einer behelmten Polizei-Hundertschaft, sondern auch eine Kaskade von politischen Vorwürfen und eilfertigen Maßnahmenvorschlägen. ...
Seit Montag hat sich der dringende Verdacht erhärtet, dass der CDU-Politiker und nordhessische Regierungspräsident Walter Lübcke durch einen neonazistischen Täter ermordet worden sein soll. Der mutmaßliche Täter war laut antifaschistischen Recherchen lange Jahre in der extrem rechten Szene rund um Kassel aktiv und eng vernetzt. Die Ermittlungen sind noch im Gange, aber schon gibt es eine Debatte darüber, ob Stephan E. als Einzeltäter gehandelt haben könnte oder es Unterstützer gegeben hat. In der jüngeren Vergangenheit wurden rechtsterroristische Attentate mitunter als "Amokläufe" von Einzelnen verharmlost, wodurch gleichsam die ideologischen Zusammenhänge solcher Taten negiert werden. Unabhängig vom Fall Lübcke ist jedoch die Frage nach einer vermeintlichen Einzeltäterschaft bereits falsch gestellt. ...
Am 21. November 2019 hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) seine Entscheidung über die ungarischen Transitzonen gefällt (Rs. Ilias and Ahmed vs. Hungary), die im Sommer 2015, inmitten der großen Fluchtbewegungen in Europa, eingerichtet wurden. Die zwei Beschwerdeführer Herr Ilias und Herr Ahmed, beide Staatsangehörige aus Bangladesch, verbrachten 23 Tage in der Transitzone, bevor sie nach der Ablehnung ihrer Asylanträge nach Serbien verbracht wurden. Sie legten Individualbeschwerden vor dem Straßburger Gerichtshof ein und machten geltend, dass ihre Abschiebung nach Serbien das Verbot der Folter oder der inhumanen bzw. erniedrigenden Behandlung nach Art. 3 EMKR verletzt habe, die Bedingungen in der Transitzone ebenfalls mit Art. 3 EMRK unvereinbar gewesen seien sowie ihr Aufenthalt in der Transitzone faktisch einer Inhaftierung entsprochen habe und dies eine Verletzung ihrer Freiheit begründete (Art. 5 Abs. 1 und 4 EMRK). Die Entscheidung dürfte in Bezug auf Transitzonen an europäischen Landgrenzen einen Präzedenzfall geschaffen haben – wobei das Urteil sehr problematische Implikationen enthält.
Article 4 of Protocol No. 4 to the European Convention on Human Rights (ECHR) is short. Its title reads "Prohibition of collective expulsion of aliens", its text reads: "Collective expulsion of aliens is prohibited." It comes as a historical disappointment that the European Court of Human Rights (ECtHR) in its decision in the case N.D. and N.T. v. Spain from 13 February 2020 distorts this clear guarantee to exclude apparently "unlawful" migrants from its protection. The decision is a shock for the effective protection of rights in Europe and at its external borders. Consequently the Guardian titled that the Court is "under fire". Reading the majority opinion is at times a puzzling experience, to say the least.
Die Mühlen des Rechts mahlen langsam, aber gerecht. Zu dieser Abwandlung eines berühmten Sprichworts mag derjenige greifen, wer das jüngste Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Versammlungsrecht liest. Am 25.10.2017 entschied das Bundesverwaltungsgericht über den Tornado-Einsatz vom G8-Gipfel in Heiligendamm – über zehn Jahre, nachdem die damaligen Bundessprecher*innen der GRÜNEN JUGEND Jan Philipp Albrecht und Paula Riester gegen den Einsatz geklagt hatten. Gerade weil sich die staatliche Praxis im Umgang mit Versammlungen in jüngster Zeit immer stärker militarisiert und zugleich präventiv ausgerichtet hat, kommt dem leider in der Öffentlichkeit nicht hinreichend rezipierten Urteil (Pressemitteilung des BVerwG zu 6 C 45.16) eine grundsätzliche Bedeutung zu. ...
Am 01. Juni 2013 gingen ca. 20.000 Menschen in Frankfurt am Main auf die Straße, um im Rahmen der Blockupy-Aktionstage gegen die europäische Finanzpolitik zu demonstrieren. Weit kam die Versammlung damals nicht. Bereits nach einer halben Stunde wurde der vordere Demonstrationsteil mit fast 1.000 Personen durch die Polizei eingekesselt. Bis in den späten Abend, insgesamt über neun Stunden, wurden die Betroffenen festgesetzt, einzeln kontrolliert und erkennungsdienstlich behandelt, so dass die Versammlung ihre geplante Route nicht laufen konnte. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete damals von schwerverletzten Demonstrant*innen und Journalist*innen. ...
Erinnern wir uns zurück: Am 11.11.2011, nur wenige Tage nach Bekanntwerden der zehnfachen Mordserie des sog. Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), erfolgte im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) eine umfangreiche Vernichtung von Akten. Geschreddert wurden Akten zu sieben V-Leuten des Verfassungsschutzes, die ihm Rahmen der "Operation Rennsteig" angeworben worden waren. Diese Geheimdienstoperation unter Beteiligung des BfV, verschiedenen Landesverfassungsschutzämtern sowie dem Militärischen Abschirmdienst hatte zwischen 1997 und 2003 zum Ziel, die rechtsextremistische Szene in Thüringen zu untersuchen. Angeworben wurden dabei auch V-Leute, die im Thüringischen Heimatschutz aktiv gewesen sind, gerade jener rechtsextremistischen Gruppierung, in der das NSU-Trio politisch sozialisiert wurde. Auch nach diesem Tag ging die Aktenvernichtung im BfV weiter. Die unter dem Namen "Operation Konfetti" bekanntgewordene Vernichtungsaktion schlug hohe Wellen und führte zumindest kurzzeitig zu einer schweren Legitimationskrise des Verfassungsschutzes. Infolge der Krise trat der damalige BfV-Präsident Heinz Fromm zurück. ...
Der EGMR in Straßburg hat letzte Woche eine Entscheidung veröffentlicht, die in diesen Zeiten der Staatsschuldenkrise die Banken die Ohren spitzen lassen dürfte: Die Mitgliedsstaaten der EMRK dürfen ihre insolventen Kommunen nicht davor schützen, dass deren Gläubiger ihre rechtskräftig festgestellten Ansprüche eintreiben und in das Kommunalvermögen vollstrecken. Ein kommunales Insolvenzrecht, das vollstreckbare Titel wirkungslos macht, verstößt nach Meinung einer EGMR-Kammer gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Denn solche Titel gelten als Eigentum, und das setzt sich auch gegen das öffentliche Interesse durch, die kommunalen Schulen, Bibliotheken und Schwimmbäder vor dem Gerichtsvollzieher zu schützen. ...
Ende November hat Bundesjustizministerin Christine Lamprecht (SPD) vorgeschlagen, das Grundgesetz zu ändern und darin ausdrücklich Kinderrechte zu verankern. Der Vorschlag befindet sich derzeit in der Ressortabstimmung. Auf dem Verfassungsblog hat sich Friederike Wapler kritisch mit diesem Entwurf auseinandergesetzt und am Ende empfohlen, statt einer schlechten Grundgesetzänderung lieber gar keine zu verabschieden. Ich hingegen halte eine solche Grundgesetzänderung für ebenso sinnvoll wie möglich.
Der Zweifel muss schweigen, soll ein richterliches Urteil überzeugen. Gewissheit zu verbreiten, ist das nicht allzu heimliche Ziel der juristischen Ausbildung. Der Charme der Gutachtentechnik, alles Mögliche zu erwägen und zu prüfen, wird in der Referendarausbildung durch die Relationstechnik ersetzt und in der richterlichen Urteilspraxis vollends desavouiert. Gewissheitsdenken und Erledigungsökonomie gehen in Führung. Vieles bleibt "dahingestellt", wenn die Entscheidung einmal feststeht. Und die Gutachten von Rechtsexperten hängen dem Interesse der Auftraggeber häufig einen mehr als fadenscheinigen Mantel um. Ungewissheit, das scheint gewiss, ist Sache der juristischen Zunft nicht. ...
Während der Streit um den Verfassungsgerichtshof aus polnischer Sicht als mittlerweile beendet gilt, versucht die Europäische Union eine passende Lösung zu finden, die in der Empfehlung der Kommission geäußerten Forderungen durchzusetzen. Die regierende Partei "Recht und Gerechtigkeit" beschließt jedoch in der Zwischenzeit weitere Justizreformen, die genauso, wie das umstrittene Verfassungsgerichtshofgesetz, gegen die Grundsätze der Europäischen Union aus Art. 2 EUV, vor allem gegen die Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, verstoßen können. ...
Krisen als Normalität
(2020)
Es gibt in Krisenzeiten wenig Verlässliches. Doch auf eines kann man immer zählen: Irgendwann, und meistens früher als später, fällt der Begriff der Ausnahme oder einer seiner zahlreichen Verwandten. Hierzu gehört vor allem die große Schwester der Ausnahme: der Ausnahmezustand. Da unterscheidet sich die Corona-Krise nicht von der Eurozonenkrise, die Eurozonenkrise nicht von der globalen Finanzkrise und diese nicht von der durch die Terroranschläge vom 11. September ausgelöste Sicherheitskrise. Auch wenn wir über den Corona-Virus selbst nicht viel wissen, scheint vieler Orten Gewissheit darüber zu herrschen, dass wir derzeit im Ausnahmezustand leben. ...
Angesichts der in Deutschland und anderswo präzedenzlosen Eingrenzung des rechtlich Erlaubten stehen die begrenzenden Rechtsverordnungen, Allgemeinverfügungen und vollziehenden Maßnahmen des Staates im Zentrum grundrechtlicher Aufmerksamkeit. Freiheitsschonendere Alternativen werden in erster Linie durch das Prisma der Erforderlichkeit in den Blick genommen. Sich in einer Pandemielage gegen Beschränkungen zu entscheiden, erscheint grundrechtlich unverdächtig. Doch wäre es das tatsächlich? Im Folgenden werden zwei unterschiedliche Szenarien einer solchen Entscheidung vorgestellt und es wird ein näherer Blick auf die Folgen für den individuellen Grundrechtsgebrauch geworfen. Es zeigen sich Grundrechtsfragen, die im Ergebnis auch für die Beurteilung des beschränkenden Staates aufgeworfen sind.
Seit Wochen nun beobachten wir, wie Menschen auf sehr unterschiedliche Weise auf die COVID-19-Pandemie reagieren. Die unmittelbare Gefahrenursache ist zwar für das bloße Auge nicht sichtbar. Sichtbar hingegen sind die von der Weltgesundheitsorganisation, der Johns Hopkins Universität oder dem Robert-Koch-Institut veröffentlichten Daten. Täglich steigende Zahlen von Infizierten, täglich steigende Zahlen von Toten. Vielleicht ist es nachvollziehbar, dass "in diesen Zeiten" Regelungsmaßnahmen "mit heißer Nadel gestrickt" (noch so eine Phrase) sind. Selbst wenn in der Theorie Krisenszenarien vielleicht irgendwann einmal durchgespielt worden sind (siehe BT Drs. 17/12051, S. 57 ff.), lässt sich nicht jede Variante einer Krise antizipieren – genauso wenig wie der tatsächliche Stressmodus, in dem andere und man selbst sich befinden werden. In diesem Modus sind nun Entscheidungen getroffen worden. Entscheidungen, deren Konsequenzen ohne jegliche Übertreibung als der "massivste kollektive Grundrechtseingriff in der Geschichte der Bundesrepublik" bezeichnet werden können. ...
Das Oberverwaltungsgericht für Nordrhein-Westfalen hat am 19. März eine für die rechtsstaatliche Prägung deutscher Außenpolitik sehr bedeutsame Entscheidung getroffen. Demnach muss sich die Bundesrepublik in Zukunft vergewissern, ob durch den Einsatz von US-Drohnen, die über deutsches Gebiet gesteuert werden, Völkerrecht verletzt wird. Ist dies der Fall, muss sie Maßnahmen treffen, damit eine solche Rechtsverletzung unterbleibt. Ein einfaches Wegducken der Bundesrepublik ist damit nicht mehr möglich. ...
Bevor der Bundesgesundheitsminister mit der Corona-Bewältigung in das Rampenlicht der Öffentlichkeit treten konnte, versuchte er in einer Reihe von Gesetzgebungsvorhaben und Maßnahmen, die deutsche gesetzliche Krankenversicherung (GKV) zu verändern. Eine seiner Maßnahmen war das Digitale-Versorgung-Gesetz, das der Bundestag im Dezember 2019 verabschiedete (DVG, BGBl. I, S. 2562) und die medizinische Versorgung durch Digitalisierung und Innovation verbessern sollte. Es sieht u.a. vor, Gesundheits-Apps auf Rezept zu verschreiben und Videosprechstunden und Telemedizin zum Alltag werden zu lassen. Vor allem aber sollen umfangreiche medizinische Daten der Versicherten in einem Forschungsdatenzentrum zusammengeführt und effektiv ausgewertet werden, um bessere Erkenntnisse in der Gesundheitsforschung zu erlangen.
Dagegen hatte ein Versicherter Beschwerde erhoben, und das Bundesverfassungsgericht hat im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entschieden, dass Teile dieses Gesetzes – nämlich §§ 68a Abs. 5 und 303a-303f SGB V – in der Tat erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken aufwerfen. Dennoch hat das Gericht den Vollzug dieser Regelungen nicht ausgesetzt (Rn. 6 ff.) und noch nicht einmal die hilfsweise beantragte Reduktion des Datenumgangs angeordnet. Das ist im Ergebnis, vor allem aber in seiner Begründung unter mindestens zwei Aspekten kritisch zu betrachten.
Datenschutz versus Katastrophenschutz : Standortdaten als Mittel zur Bekämpfung der Corona-Pandemie
(2020)
Einige Länder setzen Standortdaten jetzt schon gezielt ein, um die weitere Ausbreitung von Covid-19 einzudämmen. Ein Gesetzentwurf von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der weitreichende Befugnisse vorsah, um mithilfe von Standortdaten Kontaktpersonen von Infizierten über deren Handys zu orten, stieß auf teilweise heftige Kritik. Der Gesetzentwurf wurde daraufhin zurückgezogen, ohne dass nähere Einzelheiten an die Öffentlichkeit gelangt sind. Ein genauer Blick zeigt jedoch, dass eine Verarbeitung von Standortgesundheitsdaten nicht nur tatsächlich nützlich sein kann, sondern auch rechtlich möglich ist.
Mit Dashcams den Verkehr aufzuzeichnen, kann nach einem Unfall in einem zivilrechtlichen Haftpflichtprozess sehr nützlich sein – obwohl man das datenschutzrechtlich eigentlich nicht darf. Der BGH hat in dieser Woche (BGH, Urt. v. 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17) zwei rechtliche Problemlagen geklärt, die deutsche Gerichte seit geraumer Zeit beschäftigt haben: Zum einen betrifft dies die datenschutzrechtliche Zulässigkeit des Einsatzes von Dashcams im öffentlichen Verkehrsraum. Zum anderen deren zivilprozessuale Verwertbarkeit, insbesondere wenn die Aufnahmen rechtswidrig erfolgten.
In 2003, a number of banks adopted the Equator Principles (EPs), a voluntary Code of Conduct based on the International Finance Corporation’s (IFC) performance standards, to ensure the ecological and social sustainability of project finance. These so called Equator Principles Financial Institutions (EPFI) commit to requiring their borrowers to adopt sustainable management plans of environmental and social risks associated with their projects. The Principles apply to the project finance business segment of the banks and cover projects with a total cost of US $10 million or more. While for long developing countries relied on World Bank and other public assistance to finance infrastructure projects there has occurred a shift in recent years to private funding. The NGOs have been frustrated by this shift of project finance as they had spent their resources to exercise pressure on the public financial institutions to incorporate environmental and social standards in their project finance activities. However, after a shift of NGO pressure to private financial institutions the latter adopted the EPs for fear of reputational risks. NGOs had laid down their own more ambitious ideas about sustainable finance in the Collevecchio Declaration on Financial Institutions and Sustainability. Legally speaking, the EPs are a self-regulatory soft law instrument. However, it has a hard law dimension as the Equator Banks require their borrowers to comply with the EPs through covenants in the loan contracts that may trigger a default in a case of violation. ...
Die Dritte Option: Für wen?
(2017)
Sollte der Gesetzgeber eine Dritte Option im Personenstandsrecht einführen, so wird er sich damit auseinandersetzen müssen, wer Zugang zu dieser Dritten Option erhalten soll. Dieser Beitrag geht der Frage nach, was sich aus der Entscheidung vom 10. Oktober 2017 dazu entnehmen lässt: Muss die dritte Option neben inter*geschlechtlichen Menschen auch allen anderen offen stehen, die sich weder als Mann noch als Frau verstehen?
O novo regulamento europeu de proteção de dados e o direito à saúde na Alemanha foram os temas debatidos na Procuradoria Geral do Estado do Rio de Janeiro (PGE-RJ), nesta quarta-feira (13/06), após as conferências proferidas pelas especialistas nesses assuntos e professoras da Universidade de Frankfurt, na Alemanha, Indra Spiecker e Astrid Wallrabenstein. ...
L'occhio, che tutto vede ...
(1996)
Questo saggio descrive il progetto ambizioso del costituzionalismo moderno e lo distingue dalla mera giuridicizzazione del potere pubblico. Esso mostra le sfide del costituzionalismo derivanti dalla perdita di identità del potere statale e del potere pubblico. Il saggio afferma la persistenza della necessità di regolare il potere pubblico, indipendentemente dal fatto che sia esercitato dalle autorità statali o da organizzazioni internazionali. Tuttavia, esso solleva dubbi sul fatto che il potere pubblico frammentato a livello internazionale possa essere regolato in modo tale da soddisfare le richieste del costituzionalismo. È in corso una giuridicizzazione che manca delle caratteristiche fondamentali del costituzionalismo. Come realizzare una compensazione in questo senso resta una domanda aperta.
Qualche anno fa, grazie al cortese e amichevole gesto della signora Ursula Sinzheimer-Potsma, sono stati trasferiti da Haarlem a Francoforte i documenti di suo padre, Hugo Sinzheimer’, che si trovavano presso di lei. Nel fondo si trovano materiali di gran de interesse, utili a chiarire sia la posizione dell’autore nell’am bito della scienza giuslavoristica weimariana, sia i fondamenti della sua dottrina del diritto del lavoro, sia, infine, la sua sociologia del diritto. Si pone peraltro la domanda se, ai giorni nostri, l’approccio scientifico di Sinzheimer e la dottrina che ne è derivata possano ancora essere considerati attuali.
Ab Donnerstag, 21. November, wollen wir mit Wissenschaftler_innen und Praktiker_innen aus Recht und Netzpolitik über die rechtlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen des Persönlichkeitsschutzes im Internet diskutieren. In der Veranstaltungsreihe "Persönlichkeitsrecht 2.0" an der HU Berlin, sollen die Entfaltung und Verletzung der Persönlichkeitsrechte im Internet wissenschaftlich aufgearbeitet werden.
In Österreich kategorisiert ab 2019 ein Algorithmus arbeitslose Personen nach ihren Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Software trennt in drei Personengruppen: Arbeitssuchende mit guten, mittleren und schlechten Perspektiven, einen Arbeitsplatz zu finden. Auf dieser Basis will der Arbeitsmarktservice Österreich (AMS) seine Ressourcen ab 2020 überwiegend auf Personen der mittleren Gruppe konzentrieren. Dort seien sie am effektivsten eingesetzt. Die "Arbeitsmarktintegrationschancen" von Frauen bewertet der Algorithmus pauschal negativ. Zudem führen betreuungspflichtige Kinder zu einer schlechten Einstufung – allerdings nur für Frauen. Bei Männern, so begründen die Entwickler, habe eine Betreuungspflicht statistisch gesehen keine negativen Auswirkungen auf die Arbeitsmarktchancen.
Freund oder Feind?
(2019)
Bemühen wir uns um einen nüchternen Blick auf die "Fakten". Ein Hochschulprofessor betritt von Protesten begleitet einen Hörsaal, um seine Vorlesung zu halten. Aufgrund lauter Beschimpfungen und Störungen kann er diese Vorlesung nicht halten und verlässt den Campus schließlich zwei Stunden später unter Polizeischutz. Es handelt sich nicht um irgendeinen Professor, sondern um den Mann, der eine Partei gründete, vordergründig, um den Austritt Deutschlands aus der Eurozone zu erreichen und der auf der Pegida-Welle reitend eine rechtspopulistische Partei hervorbrachte, die ihre Umfragewerte von Unzufriedenheit und Enttäuschung nährt. Seit 2015 gehört er dieser Partei nicht mehr an. Samthandschuhe hat Bernd Lucke deswegen noch lange nicht verdient. Wie weit sollte aber der grundsätzlich berechtigte Protest gegen Lucke gehen?
Schneller als erwartet fängt Donald Trump an, seine Versprechungen, mit denen er sich die Stimmen der radikalen Rechten im Wahlkampf erkauft hat, einzulösen. Und er scheint die Möglichkeit der Befriedung der Ultra-Rechten gefunden zu haben: die Nominierung eines neuen Richters am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, dem Supreme Court.
Legal pluralism as a pre-modern and well-known phenomenon appeared to be domesticated by the "modern state" with its sovereign position as creator of law. Today the phenomenon is back. Today's lawyers struggle not only with multiple levels of normativity (national law, European law, international law, legal networks without a state) but also with the cultural diversities of interpretation and practice.
Es war eine heißer, schwüler Sommerabend, als John Rawls im Hörsaal H der Frankfurter Universität einen Vortrag hielt. Er sprach leise, fast schleppend, und er hatte sich vorgenommen, den Text in einer deutschen Übersetzung vorzulesen, was für einen amerikanischen Professor ungewöhnlich war und deshalb Bewunderung verdiente. Doch war die angespannte Konzentration spürbar, die Rawls aufbringen musste, um deutscheWorte mit so wenig amerikanischer Phonetik wiemöglich zu sprechen, und der Vortrag wurde dadurch noch langsamer, die Stimme noch leiser. Außerdem funktionierte das Mikrofon nicht richtig. Deshalb wurde es ihm von seinem Übersetzer, Wilfried Hinsch, mit ausgestrecktem Arm so nahe an denMund gehalten, dass wenigstens ein paar Worte zu verstehen waren. Nach kurzer Zeit verließen die ersten Zuhörer den Hörsaal. Der ausgestreckte Arm des Helfers wurde sichtbar schwerer; Anstrengung und Hitze ließen Schweißbäche rinnen und das Oberhemd nass werden.Der Vortragwar nicht einfach. Rawls machte, wie gewohnt, keinerlei Konzessionen, sondern diktierte einen komplexen Satz nach dem anderen. Wer etwas verstehen wollte, musste von der komischen Situation absehen, alle Kräfte gegen die von der schwülen Hitze geführten Ermüdungsattacken aufbieten und sich irgendwie konzentrieren. Der einzige, der sich davon nicht beirren ließ, sondern hartnäckig Satz für Satz in den schwülen Sommerabend hämmerte, war der kleine, schmächtige, blasse, sein Gesicht hinter einer riesigen Brille verbergende, aber Respekt heischende Professor Rawls. Wenn Geist so unmittelbar präsent ist, wird eben alles andere banal. ...
Cominciamo dalla fine. Il passo in cui Radulfus Niger racconta dell’intervento del misterioso Pepo o Pepone nel placito tenutosi in Lombardia alla presenza di Enrico IV è divenuto ormai famoso. Quanti si sforzano di gettare luce sulle origini del rinascimento giuridico medievale, lo hanno letto e riletto indagandone anche i minimi dettagli. Eppure, ogni ulteriore lettura di quel passo sembra proporre motivi di interesse e spunti di riflessione sempre nuovi. ...
What happened to the tremendous legacy of juridical knowledge left behind in Italy in the 6th century? Into what labyrinth did it plunge only to re-emerge after the silent age of the early Middle Ages into the light of day, and effectively come to shape the renewal of the jurisprudence at the beginning of the 12th century? One-and-a-half centuries after the fanciful writings of Hermann Fitting, legal historians are still looking for the answers to these questions. Considering the new information we have (especially coming from the paleographical research), this paper re-examines the existence as well as the activities of the school of Rome both during the Justinian Age and in the two centuries thereafter. The aim of this essay is to verify whether Rome, during the very early Middle Ages, continued to represent a centre of juridical culture. According to the hypothesis developed in this contribution, Rome – at that time – not only played a very important role with regard to the material conservation of the Justinian’s libri legales, but also in the initial establishment of the new (i. e., Justinian) imperial law in the West and creation of its image as a significant juridical centre. The absence of such a centre as well as its wide-spread image would truly make the Bolognese renovatio appear "miraculous" and very difficult to explain.
After Justinian, the 7th and 8th centuries can truly be characterised as "silent" in the history of Roman law in the West. However, by studying the medieval manuscript tradition, in particular, that of the Institutiones and the Novellae, we can gather together a series of elements helping us to clarify the situation. Also quite useful is an examination of the manuscript tradition of the Collatio legum Mosaicarum et Romanarum. Through the spread and use of these Late Antique works, we can see how – in conjunction with the actions of the papacy – Rome, toward the end of the 8th century, returned to being a centre of world politics and – given that law follows politics – of the legal culture.
Joint Venture : International Max Planck Research School for comparative european legal history
(2002)
Gegenwärtigen Fusionspraktiken folgend, haben auch Rechtshistoriker sich verbündet, um international Synergien zu erzeugen. Das Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte und das Institut für Rechtsgeschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität haben – mit dem Segen und dem Geld ihrer "Mütter" – ein gemeinsames Forschungskolleg gegründet. ...
Öffentlichkeit der Verhandlung ist eine der obersten Maximen unserer Strafprozesse. So mühsam diese Forderung im Geist der Aufklärung vom bürgerlichen Liberalismus vor 200 Jahren erkämpft wurde, so hoch wird der heilige Grundsatz – "das Kernstück des Strafverfahrens" (so Pfeiffer in der Einleitung des Karlsruher Kommentars zur StPO) – noch heute, meilenweit von der Geheimjustiz des Absolutismus entfernt, gehalten. In peniblen Entscheidungen hat sich die höchstrichterliche Rechtsprechung über Generationen mit so zentralen Fragen wie der auseinandergesetzt, ob ein versehentliches Abschließen einer Gerichtstür oder ein unzulänglicher Hinweis auf den Verhandlungssaal zur Urteilsaufhebung nach § 338 Nr. 6 StPO (Verletzung der Öffentlichkeit) führen muss – und dabei die doch wohl recht beschränkte praktische Relevanz des Publizitätsprinzips etwas aus den Augen verloren oder überbewertet. ...
Die juristische Europakarte bestand bis vor kurzem aus dem common law, dem romanistischen civil law und dem sozialistischen Recht. Angesichts dessen Niedergangs und des Zusammenwachsens Westeuropas vereint man die beiden ersteren unter dem altsowjetologischen Schild der western legal tradition, wodurch das Ostrecht aus der europäischen Rechtsgeschichte ausgegrenzt wird. Coings Weitsicht, Osteuropa einschließlich Russlands mindestens teilweise in die Disziplin einzubeziehen, findet praktisch keine Nachahmer. Immer noch versteht man, in Savignys Fußstapfen tretend, unter der "europäischen" mehr oder minder stillschweigend die westeuropäische Rechtsgeschichte. Die "Reformstaaten Mittel- und Osteuropas" tauchen in manchem Traktat der Rechtsvergleichung wie deus ex machina auf. Während man die Zäsur zwischen civil law und common law vernachlässigt, wird die europäische Natur Osteuropas, besonders Russlands und der Balkanländer, angezweifelt. ...
During the late Middle Ages, the subject of Berman’s focus, the West, equalled a Europe whose overseas expansion had not yet begun. This recalls the "Europe of legal historians" as their attempt, efficiently caricatured by Dieter Simon, to determine the borders of the continent on the basis of a medieval state of affairs. Such a historical justification of geopolitical concepts is risky, but nonetheless common. In the Middle East, the borders of Biblical regions legitimize present or future frontiers. Berman shared the usual ideas of legal history as regards the modern being nothing else than a protraction or renewal of the old, when he identified the papal revolution of 1075 as the factor having durably impregnated western legal culture. ...
Im vergangenen Jahr habe ich ihn noch einmal gesehen bei der Feier zum 60. Geburtstag seines Schülers Rüdiger Bubner. In einer improvisierten Rede brachte er das Enigma des Verstehens gleichsam auf den letzten Stand vor einem eingeweihten, die Fakultäten überspannenden Publikum. Unter den Zuhörern war auch der Autor des Buches, das vom kulturellen Gedächtnis handelt, Jan Assmann. ...
Sommer 1789: Frankreich revoltiert, Preußen evaluiert. Staatsminister Johann Christoph von Wöllner, Chef des geistlichen Departements, entsendet einen bewährten Berliner Schulmann ins deutsche Reich, mit dem Auftrag, die außerpreußischen Lehranstalten zu begutachten, "teils überhaupt die Verfassung der fremden Universitäten kennen zu lernen, teils von dem Vortrag solcher Professoren, auf die einmal bei irgend einer preußischen Universität reflektiert werden könnte, zuverlässig Nachricht und Kenntnis einzuziehen". Es ist Friedrich Gedike, der durch ministeriale Order zum Headhunter für das Königreich ernannt wird. Seine Beobachtungen legt er in einem Bericht an den König nieder, der, 1905 ediert, 61 Blätter umfasst. ...
In der Debatte über die Entscheidung des EGMR zum Burka-Verbot in Frankreich läuft einiges gerade ziemlich schief. Viele Liberale – an vorderster Stelle im Verfassungsblog selbst – empören sich geradezu über die Entscheidung, während diese andererseits im Namen der Geschlechtergleichheit von Leuten verteidigt wird, die man bislang nicht gerade als deren Vorkämpfer in Erinnerung hatte. [...]
Liberal political philosophy has two alternative options in principle: It can either stick to its original theorems such as the harm principle or the separation of law and morals and from here try to prove large parts of present social and political reality as wrong, illegitimate, dangerous etc. The other option is trying to adjust the original theorems to the apparent needs of modern societies, which is what I would prefer in the long run.
Die Frage, die der Fall Böhmermann aufwirft, ist nicht, ob Böhmermann sich strafbar gemacht hat oder nicht und die Bundesregierung ihre Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilen durfte oder nicht. Sondern die Frage ist, ob es Sinn macht, in diesem Fall mit dem Recht zu kommen. Das hängt auf einer ersten und vordergründigen Ebene davon ab, ob das Recht auf diesen Fall überhaupt eine Antwort oder jedenfalls eine einigermaßen klare Antwort hat. Hat es eine Antwort?
Kaum hat der Bundestag das Gesetz über die Öffnung der Ehe beschlossen, wird es schon verfassungsrechtlich diskutiert. Dass das Bundesverfassungsgericht es für verfassungswidrig erklären wird, ist wenig wahrscheinlich. Und das lässt sich auch ohne Rückgriff auf den historischen Willen des Verfassungsgebers überzeugend begründen.
Fällt nach der Einführung der Ehe für alle der grundgesetzliche und der zivilrechtliche Ehebegriff auseinander? Das wäre nicht nur für die Ehe für alle als eine politische Errungenschaft, sondern auch für das Grundgesetz selbst ausgesprochen unglücklich. Wenn der Gesetzgeber in diesem Sinne die Ehe für alle öffnet, kann das dementsprechend den verfassungsrechtlichen Ehebegriff nicht unberührt lassen.
Eine in Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft weit verbreitete Annahme lautet: "Europa muss, um eine Zukunft haben zu können, sich zu einer Geschichtsgemeinschaft entwickeln." Was man dabei übersieht: So wenig sich nationale Geschichtsgemeinschaften identifizieren lassen, so wenig wird sich eine europäische Geschichtsgemeinschaft konstituieren.
Der Ausnahmezustand
(2020)
Wenn wir die Berechtigung der Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Pandemie unterstellen, dann deshalb, weil wir darauf hoffen, dass sie greifen und etwas bewirken, und zwar in nicht allzu ferner Zukunft. Tun sie es, ist alles gut. Aber was, wenn nicht – und wenn der Zustand, der durch sie eintritt, länger und länger dauert, vielleicht ein Ende auch gar nicht absehbar ist? Dazu drei knappe, aber grundsätzliche Bemerkungen aus der Sicht der Staatstheorie, des Verfassungsrechts und der Rechtsphilosophie.
Wie lässt sich ein gemeinsamer Grund formen, der eine heterogene Gesellschaft verfassen kann? Ein Grund für alle. Keiner soll mehr dürfen, sein (haben) als der andere. Seit den Anfängen des Konstitutionalismus gewinnt der Gleichheitssatz an Fahrt und Gerechtigkeit wird nach und nach zu einer An-, Auf- und Abrechnungssache. Wer wem was und wie viel in Rechnung stellt, ist eine Frage, die an der jeweiligen Begründung hängt. Hierum kümmern sich die je befugten Teilsysteme des Rechts- qua Rechenbetriebes, wobei sich die dem Entscheid folgende gefährliche Begründung durch eine "Berechtigkeits"-Buchhaltung ergänzt bzw. – etwa nach dem Wegfall der peinlich gewordenen Schuldfrage im Scheidungsrecht – sogar beinahe ersetzt sieht. Begründungen sind nämlich immer prekär, provozieren den Widerspruch der Gegenseite, anstatt die Wogen zu glätten. ...
Das rhetorische Ensemble
(2006)
Auf dem Tisch liegt die zweite Auflage von Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz (1968) von Claus-Wilhelm Canaris, erschienen Berlin 1983. Die schriftliche Fassung basiert auf einem rhetorischen und mündlichen Ereignis, seinem Habilitationsvortrag. Spuren davon finden sich noch im Text. Das gilt für die Spuren, die Rhetorik immer schon in nicht-mündlichen Texten wie der Schrift hinterlassen hat, also etwa in den Kompositionsregeln und den Regeln des Umgangs mit Figuren und Stil. Die rhetorische Spur findet sich darüber hinaus an herausragenden Stellen in den kurzen Hinweisen und Adressen, die scheinbar außerhalb der eigentlichen Schrift selber stehen. In einem Fall findet sich z. B. in Kursivschrift eine Widmung an den verehrten Lehrer Karl Larenz, in einem anderen erinnert der Autor daran, dass der Vortrag am 20. Juli gehalten wurde. Es sind kurze und knappe Hinweise auf denMoment, an dem ein Jurist eigenständig, zu seinem autonomen System wird und eine eigene Lehrbefugnis erhält. Sie sind noch rhetorisch, weil sie in ihrem Aufspüren von Referenzen an den Lehrer und an historische Daten vollziehen und reflektieren, was sich in solchen Augenblicken geziemt. Sie begegnen einem an der Schwelle des Textes – also kurz bevor man sich auf die sachliche Ordnung des Textes einlässt. An der Schwelle wird die letzte Gelegenheit ergriffen, dem Text eine genealogische Adresse zu verleihen. Es sind (um selbst rhetorisch zu werden) letzte Tankstellen vor der Autobahn. Sie markieren keine Systembrüche, sie markieren den Eingang in den Text, der sich in einer rhetorischen Transmission positioniert. In der Architektur der Argumentationsführung sind diese Stellen der Bogen, der durchschritten wird, unmittelbar bevor die Lektüre beginnt – oder mit denen die Lektüre beginnt. Das hängt schon davon ab, wie man Rhetorik vom System abgrenzt. ...
Ein beunruhigendes Gefühl, ausgelöst durch die knappe Mitteilung auf dem Anrufbeantworter: Walter Wilhelm ist gestorben. Das Gefühl, dass es mir zukomme, über diesen Toten einen Text zu schreiben. Weil anders wahrscheinlich niemand über ihn schreiben würde. Was freilich gleichgültig ist, wegen der Kraftlosigkeit von Geschriebenem, das sich einer Person zu bemächtigen sucht, und angesichts der Flüchtigkeit von Texten im Gedächtnis. Wozu also schreiben – zumal Walter Wilhelm ein emphatischer Gegner akademischer Nachrufe war, grimmiger Verächter sentimental verklärter Lügengeschichten und ins Grab geschleuderter professoraler Hochrufe, die dem einsamen Leben nicht gegönnt waren? Aber manche Worte lassen sich nicht auf Dauer bändigen, bohren sich hartnäckig in die Geschäfte des Tages, winken und starren abends mit vorwurfsvollen Augen auf eine beginnende Bequemlichkeit. Man muss ihnen nachgeben und hoffen, dass sie einen nicht unversehens im Stich lassen.
Mitte der 70er Jahre war ich manchmal bei Walter Wilhelm zu Gast. Wir hatten uns bald nach meinem Dienstantritt als Professor an der Universität Frankfurt im Jahre 1968 kennen gelernt. ...
"Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde". Wir wissen das. Wir wussten es vermutlich schon lange bevor der "Prediger" Salomo (3.1), der ein Philosoph war, uns vor nunmehr gut 2200 Jahren darüber belehrte. Aber wir handeln nur selten nach unseren Einsichten. Trennungen fallen schwer und Gewohnheiten verkleiden sich bereitwillig als Notwendigkeit. Verschwendung ist den Reichen keine Kategorie, und wer vom Verschwender lebt, erhebt keine Vorwürfe. Schließlich das Wichtigste: Wer außer Gott hat Kraft und Befugnis "Zeit" und "Stunde" zu bestimmen? ...
Wenn in deutscher Gegenwart über Rhetorik gesprochen wird, dann darf man davon ausgehen, dass mit großer Wahrscheinlichkeit auch die packende Geschichte ihres weiland unrühmlichen Unterganges und ihres alsdann strahlendenWiederaufstiegs erzählt wird. Es ist eine sehr schöne Geschichte, denn sie lässt sich lang oder kurz erzählen, sie kann personalisiert und dramatisiert werden – etwa: wie die bedeutenden Bürger Kant und Goethe, obwohl selbst große Rhetoriker, hässliche Dinge über das "Wortgeklingel" verbreiteten, aber am Ende doch nicht Recht behielten –, aber auch wissenschaftsgeschichtliche Aufbereitungen mit "Aufklärung" und "Naturwissenschaften" und "Positivismuszeitalter" bis hin zu "Renaissance" und "Ubiquität der Rhetorik" etc. sind jederzeit möglich.
Gewiss, bei näherem Zusehen ist manches an der Geschichte so ganz richtig nicht. Wie immer, wenn man in DER Geschichte zu "genau" wird, erweist sich das Gespinst leicht als undicht und brüchig. Aber das kann und darf den echten Historiker, auch den Wissenschaftshistoriker, nicht davon abhalten, seine Geschichten immer wieder zu erzählen, denn dafür hat ihn die Gesellschaft bestellt.
Premiere
(2003)
Die 1968 gegründete Zeitschrift "Kritische Justiz" stand anfangs am äußerst linken Rand der juristischen Publikationen. Auch der Rezensent, der in einer Ausgabe des Jahrgangs 1970 die Neuauflage der Lebenserinnerungen des KommunistenMax Hoelz "Vom 'Weißen Kreuz' zur roten Fahne" besprach, machte aus seinem dezidiert linken Standpunkt kein Geheimnis: die Neuauflage sei "wichtiges Lehrmaterial für die gegenwärtigen Klassenkämpfe" (Kritische Justiz 1970, 363–365). ...
Geschichtsschreibung lebt davon, dass sie Veränderungen beobachtet. Selbst eine Geschichte des Augenblicks kommt nicht ohne ein Vorher und ein Nachher aus. Es gibt keine Geschichte ohne Ereignis und ohne die Differenz, welche sie als "Zeit" begreift und beschreibt. Rechtsgeschichte hat es mit Veränderungen im Recht zu tun. Das Recht eines beliebig gesetzten Zeitpunkts X wird betrachtet und danach beurteilt, was neu, was anders geworden, was gleich geblieben ist. Das muss erst einmal erkannt und beschrieben werden, ehe man nach den Gründen fragt, warum es denn anders geworden ist, und zwar so und nicht anders anders geworden ist. ...
In Band 1 dieser Zeitschrift wurde ein "Vorschlag" gemacht, wie – mit welchem Erkenntnisziel und welchem theoretischen Gerüst – man Rechtsgeschichte betreiben könnte. Dieser Vorschlag wurde von zwei Kollegen kommentiert: Simon Roberts zeigte sich skeptisch, ob ein systemtheoretischer Ansatz für vormoderne Gesellschaften überhaupt brauchbar sei, und besorgt um den Verlust des Menschen sowie konkurrierender Theorien in der Geschichtsschreibung. Marc Amstutz hingegen drängte auf erhöhte theoretische Genauigkeit, insbesondere was die Bedeutung exogener und endogener Faktoren von evolutiven Prozessen betrifft. Beiden sei herzlich gedankt. ...
Nach Hause…
(2004)
Read only memory. Eine CD ROM ist ein Festwertspeicher. Die Daten kann man lesen, aber nicht verändern, ergänzen oder löschen. Man kann die Scheibe zertrümmern oder die Platte zerstören, aber die Daten manipulieren kann man nicht. Eine CD ROM schützt sich selbst vor Variation. Die Erfindung dieser Technik hat eine neue, kleine Gewissheit in der chronisch unsicheren Welt geschaffen. Was auf der CD ROM steht, steht fest. Und da viel auf ihr stehen kann – ganze Bibliotheken der Vergangenheit –, steht viel fest. Das macht Historiker glücklich. Drohen ihnen schon die Fakten abhanden zu kommen, verfügen sie immerhin noch über Festwerte, die aus einer zuverlässigen "Quelle" (Oexle, S. 165) fließen. ...
Es gibt technische, intellektuelle, soziale Erfindungen, die ungewöhnlich großen Erfolg haben, so großen Erfolg, dass sie über Jahrhunderte und Jahrtausende beibehalten, gepflegt und ausgebaut werden, ja aus der Gesellschaft nicht mehr leicht wegzudenken sind. Zu solchen evolutionären Errungenschaften gehören das Rad, das Geld, die Schrift, das Eigentum, die Straßen und manches mehr, namentlich auch der Vertrag, ohne dessen Konstruktion und Gebrauch erhebliche Teile der Kommunikationen und Funktionen in der Gesellschaft zusammenbrächen. Ob Ehevertrag oder Kaufvertrag, ob Ausbildungs-, Arbeits-, Beförderungs-, Lizenz-, Tarifoder Staatsvertrag – so gut wie nichts funktioniert in kleinsten bis hin zu großen sozialen Systemen ohne die Begründung wechselseitiger Rechte und Pflichten und ohne die in pacta sunt servanda zementierten normativen Erwartungen. ...
Einleitung
(2005)
Es mag mit der Erfahrung erhöhter Geschwindigkeit und Dichte von weltweiten Kommunikationen zusammenhängen, es mag Resultat lebhafter Austauschbeziehungen in Wirtschaft, Kunst, Politik sein, es mag Folge der Ahnung sein, dass vor unseren Augen eine "Weltgesellschaft" entsteht – Anlass genug gibt es jedenfalls, genauer zu beobachten, wie und zu welchem Ende Produkte und Imaginationen, Technik und Visionen, Waren und Wissen Grenzen überschreiten, um in einem entgrenzten Raum zu zirkulieren und ihr Eigenleben zu entfalten. Grenzen, das sind nicht nur, aber immer noch, nationale Grenzen. Begrenzt sind jenseits von Nationalitäten ganze Kulturen durch ihre historisch bedingten Strukturen, die wohl vieles, aber eben nicht alles zulassen. Durch Grenzen etablieren sich auch die sozialen Systeme der Gesellschaft, womit das Kreuzen der Grenzen nicht ausgeschlossen, aber ein heikler, die Autonomie der beteiligten Systeme tangierender Vorgang ist. ...
Rechtstransfer
(2005)
Anlass zu beschreiben, was Rechtstransfer bedeutet, sieht nicht nur die gegenwärtige juristische Gesellschaft. Erheblicher Bedarf an Erklärungsmodellen bestand auch im 19. Jahrhundert. Eine der größten Migrationswellen, die so genannte Rezeption des römischen Rechts, hatte Europa während mehrerer Jahrhunderte überflutet. Aus dieser Flut, kaum hatte sie ihren Höchststand erreicht, reckten sich nun allerorts nationale Gesetzgebungsprogramme und ganze Kodifikationen hervor. Das Verhältnis von rezipiertem, römischem Recht – das längst ganz "eigen" und "heutig" geworden war – zu den das ius commune störenden oder sogar zerstörenden Eingriffen nationaler Gesetzgeber galt es zu klären und zu erklären. Nur wenn es für den einstigen Transfer des römischen Rechts in germanische Gefilde plausible und irreversible Gründe gab, gab es auch Gründe, die kecken Vorstöße des nationalen Gesetzgebers zurückzuweisen und der Positivität des Rechts Einhalt zu gebieten. Das war die Position eines Savigny und seiner Gesinnungsgenossen. ...
"Mit Bettina und Savigny in traulich scherzendem Gespräche den Sonnenuntergang betrachtet. Savigny heim, wir allein zurük und gute Nacht, Hand in Hand, in denen die ersten Küsse glühen, tief bewegt zu Bette…" Das notierte Philipp Hössli, Gast auf dem Landsitz der von Arnims in Wiepersdorf, in sein Tagebuch am 21. September 1822. Im Frühjahr 1821 war der 21jährige Philipp Hössli aus Nufenen, Graubünden, in Berlin zum Studium eingetroffen, hatte sich umgehend bei Wilhelm von Humboldt und Carl Friedrich von Savigny vorgestellt und wurde von diesem herzlich willkommen geheißen. Savigny machte ihn mit seiner Familie, darunter auch seiner Schwägerin, Bettina von Arnim, bekannt. "Die Frau von Arnim begleitet", "Bald weg zu Frau von Arnim", "Zu Madame von Arnim", "Bei Frau von Arnim" – fast für jeden Tag findet sich ab Juni 1822 ein solcher Eintrag in Hösslis Tagebuch. Im Juli heißt es dann: "Zu Bettina. Wunderbare Stunden!" Eine glühende Liebesgeschichte zwischen Bettina und ihrem 15 Jahre jüngeren "Schweizerknaben" nimmt ihren Lauf. "Nach dem Essen an die Castanien.…Dann auf die Bäume gestiegen. Wonniges Gefühl…" "Dann eilen wir in ihr Zimmer aufs Sopha. … In reinster, innigster Liebe beisammen. Über Freundschaft gesprochen." ...
Vom Raum zur Zeit
(2006)
"Transfer", die Debatte des 7. Bandes von "Rechtsgeschichte", wird in diesem Band fortgesetzt. Die Beiträge konzentrieren sich, wie es einer rechtshistorischen Zeitschrift angemessen ist, auf den Transfer von Recht, auf Bewegungen und Mutationen des Rechts im transnationalen Raum (Amstutz /Karavas), auf historische Prozesse von "Kontaminierungen" lokaler und nationaler Rechte (Monateri), auf den Rechtstransfer im "Ausnahmezustand" der Kolonien (Nuzzo), auf das merkwürdige Schicksal transferierter isolierter Normen in neuer Umgebung (Rudokvas) und auf das Experiment, durch Transfer und Zirkulation von Normen und Prinzipien ein europäisches Verfassungsrecht zu konstituieren (Seckelmann). ...
Zum Recht des Auftrags
(2006)
"All diese Aufgaben hat der Rechtshistoriker zu lösen. Erfüllt er diesen Auftrag nicht…," ja, was dann? Wird er verhaftet oder verachtet? Droht ihm die Todesstrafe oder löst er sich in Luft auf? Jedenfalls muss der Rechtshistoriker wissen, dass er als Beauftragter "für getreue und sorgfältige Ausführung des ihm übertragenen Geschäfts" haftet (Art. 398 Abs. 2 OR2). Das kann teuer werden. ...