Refine
Year of publication
Document Type
- Part of a Book (2842) (remove)
Language
- German (2842) (remove)
Has Fulltext
- yes (2842)
Keywords
- Literatur (187)
- Rilke, Rainer Maria (128)
- Deutsch (117)
- Geschichte (82)
- Rezeption (78)
- Benjamin, Walter (67)
- Begriff (66)
- Lyrik (54)
- Aufsatzsammlung (51)
- Experiment (48)
Institute
- Extern (390)
- Universitätsbibliothek (49)
- Gesellschaftswissenschaften (47)
- Rechtswissenschaft (43)
- Neuere Philologien (26)
- Erziehungswissenschaften (24)
- studiumdigitale (23)
- Geschichtswissenschaften (20)
- Sprach- und Kulturwissenschaften (20)
- Institut für Deutsche Sprache (IDS) Mannheim (12)
Es existieren zahlreiche Gattungsgeschichten zur Autobiographie; es gibt neuerdings in der Literaturwissenschaft endlich auch eine Geschichte der Biographie; es fehlt aber eine Untersuchung zu dem komplexen Verhältnis von Autobiographie und Biographie, diesen beiden Grenzgängern zwischen Geschichtsschreibung, Wissenschaft und Kunst. Und doch liegt hier ein methodisch, gattungstheoretisch und ästhetisch ungemein interessantes Beziehungsnetz vor, das, wenn es ausgelegt werden könnte, Rückwirkungen auf die Gattungsgeschichte der Biographie und Autobiographie haben würde.
Das Meer als Faszinosum und Das Meer als Ort von Katastrophen sind nicht zu trennen. Diese kleine Abhandlung beginnt daher mit einer Hommage an das Meer durch Lichtenberg (1793) und endet mit einer nicht weniger einzigartigen minutiösen protokollartigen Darstellung einer "Sturmspringflut" an der Nordsee mit ihren katastrophalen Folgen durch Ernst Willkomm (1854).
Spinnenbrille, Dog-Cam und Gassi mit Ziege : Reflexionen über ein tierlinguistisches Projektseminar
(2022)
In her article, "Spinnenbrille, Dog-Cam und Gassi mit Ziege: Reflexionen über ein tierlinguistisches Projektseminar" ("Spider-Glasses, Dog-Cams, and Walkies with a Goat - Reflections on a Project Seminar on Animal Linguistics"), Pamela Steen describes a linguistics seminar that she taught in the summer semester of 2020 at the University of Koblenz-Landau. The author offers a general classification of pragmatic linguistics in HAS in order to justify its categorization as a sub-discipline of cultural animal studies. Steen pays special attention both to the creative methods participants use to incorporate animal perspectives into their research and to the aspect of empathy for animals. This aspect is not only a central linguistic feature but also relevant to the researcher's perspective. A particularly sophisticated method of empathizing with animals are the "spider glasses" developed by a student of Steen's seminar, Katharina Anna-Lena von Werne. In excerpts from her research report, von Werne describes how she sees the world "through the eyes of a spider" and what personal changes this has brought about for her in relation to nonhuman animals.
In "Jagd oder die Kultivierung der Gewalt: Tierethische Sensibilisierung anhand der Filme 'Die Spur' und 'Auf der Jagd'" ("Hunting or the Cultivation of Violence: Sensitizing Students to Animal Ethics using the Films 'Spoor' and 'On the Hunt'"), Björn Hayer proposes an intervention that allows students to understand hunting as a cultural practice and its representation in contemporary film, and to develop greater compassion for nonhuman animals. Arguing that it is possible to relate the cognitive and affective educational goals listed in several secondary school curricula with the objectives of HAS as defined by Gabriele Kompatscher, Hayer sketches a teaching sequence that focuses on two texts featuring hunts: Agnieszka Holland's "Pokot" ("Spoor", the 2017 screen adaptation of Olga Tokarczuk's novel "Drive Your Plow Over the Bones of the Dead") and Alice Agneskirchner's 2018 documentary "Auf der Jagd". Framing his nuanced readings of these two films with recent debates on hunting and animal ethics, Hayer shows that this approach allows secondary school students to develop a better understanding of cinematography. In addition, students also discover how cinematic animals can be used to elicit different cognitive and affective responses that may lead to the development of an ethical regard for nonhuman animals. Contributing to both the literature on animals in film and on related pedagogies, Hayer proposes an approach that could easily be implemented both in secondary schools and in various other educational contexts and settings.
Tiere im imperialen Diskurs : die Human-Animal Studies als Unterrichtsparadigma für das antike Rom
(2022)
Steffensen combines human-animal studies with the concept of new political history to explore innovative perspectives for teaching Roman history. He thus provides a framework that allows students to further their understanding of the political dimensions of historical consciousness and to enhance their orientation competency. Students learn to recognize and analyze power structures and relationships in historical and contemporary societies. According to Steffensen, HAS is of utmost significance for the initiation of this process. Animals played important roles in political decision-making processes in ancient Rome, and animals were meaning-making figures in governance discourses. Focusing on the practical and semantic functions of animals in the context of divination and the discourse of decadence, this essay shows that HAS can serve as a starting point for teaching in a way that addresses the formation and utilization of empire. However, Steffensen does not only seek to promote students' understanding of political processes in the past but also hopes to motivate students to assess modern-day politics.
Der Beitrag von Aurea Klarskov verhandelt die Genauigkeit als methodischer Parameter in der Etablierung eines neuen künstlerischen Mediums, nämlich der Videokunst. Im Zentrum steht ein Close Reading der frühen Videoarbeit "Slow Angle Walk (Beckett Walk)" (1968) des US-amerikanischen Künstlers Bruce Nauman, welches das Verhältnis von Körper und Technik herausarbeitet: Für die Laufzeit eines Videobandes wiederholt der Künstler eine kurze, gleichbleibende Bewegungssequenz so präzise und gleichmäßig wie möglich, was die Arbeit mit (selbst auferlegter) Körperdisziplinierung und subtilem Zwang rahmt. Der individuelle, verletzliche Körper steht dabei dem vorangegangenen 'Befehl', der die Bewegungen bestimmt sowie der scheinbar objektiv die Situation aufnehmenden Kamera, gegenüber. Diese frühe Arbeit nimmt die Leitthematik späterer Arbeiten Naumans vorweg: die Selbst- und Fremddisziplinierung des lebendigen Körpers, registriert durch die technische Genauigkeit des überwachenden Kameraauges.
Felix Hempe beschreibt eine dritte, zwischen quantitativer und qualitativer Sozialforschung vermittelnde Position der 'disziplinierten Subjektivität', die Siegfried Kracauer im Kontext des Methodendiskurses im US-amerikanischen Bureau of Applied Social Research in den 1950er Jahren entwickelte. Mit der Zuordnung von Genauigkeit zu statistischen Methoden und Präzision zur Beschreibung sozialer Verhältnisse, besteht Kracauer darauf, dass Genauigkeit im Sinne einer Exaktheit der Naturwissenschaften die sozialen Ereignisse und Bedingungen der Lebenswelt als eigentlicher Gegenstand der Sozialforschung nicht "präzise" genug bestimmen kann. Umgekehrt kann qualitative Forschung, die nicht zu einem gewissen Grad kodiert und operationalisierbar gemacht wird, keine Allgemeingültigkeit beanspruchen. Entscheidend wird in dieser Konstellation nun das, was Kracauer eine "disziplinierte Subjektivität" nennt. Methodisch kann sie erst dann gelingen, wenn beispielsweise kritisch reflektiert wird, wie die Imagination des Forschersubjekts vom zu untersuchenden Material angeregt wird. Hempe deutet dieses Verfahren deswegen auch als Vermittlung zwischen Genauigkeit und Imagination.
Lisa Cronjäger untersucht entlang einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden forstwissenschaftlichen Taxationskarte von Claës Wilhelm Gyldén, auf welche Weise Zukunft als kartografische Projektion entworfen wird. Das Ziel von Gyldén, den Holzertrag eines Waldes prognostisch zu regulieren, wird hierbei über diagrammatische und kalkulatorische Berechnungs- und Darstellungsverfahren erst möglich gemacht. Die Imagination einer genauen Planbarkeit von Ressourcennutzung, kartografische Genauigkeit und die Unterdrückung von (subalternen) Waldnutzungspraktiken bedingen sich in dieser Konstellation gegenseitig.
'Ultima mano' : Endretusche und Nachbearbeitung in der italienischen Kunsttheorie der Neuzeit
(2021)
Projektion als Entwurfs- und Übertragungsverfahren kann auch ein Kalkül mit offenem Ausgang sein. Diesem Problem widmet sich Laura Valterio in ihrem kunsttheoretischen Beitrag, in welchem das abschließende Moment der 'ultima mano' ins Zentrum gerückt wird. In den kunsttheoretischen Debatten der Frühen Neuzeit wird die 'letzte Hand' gleichermaßen zu einem symbolischen Moment der Vollendung, wie auch der technischen Meisterschaft des Malers. Valterio zeigt, wie die 'ultima mano' als Versprechen der Vollkommenheit stets entrückt bleibt, aufgeschoben wird und damit einen Projektionsraum etabliert, in welchem die Genauigkeit als Akt des Abschließens zur Disposition steht.
Projektionsverhältnisse zwischen Körper, Linien und Zeichen stehen im Zentrum des Beitrags von Li-Chun Lee, der sich den Visualisierungsformen von Pulskurven im europäischen und chinesischen Kontext widmet. Mit Rekurs auf Maurice Merleau-Ponty verfolgt Lee die Frage, wie die leibliche Phänomenalität des Pulses in eine für medizinische Analysen genaue Zeichenform übersetzt werden kann. Lee kann in der Gegenüberstellung von sprachlich-metaphorischen, technischen und grafischen Übersetzungsprozessen eine Situation skizzieren, in welcher unterschiedliche Zeichenregime des Pulses und Genauigkeitsvorstellungen aufeinanderstoßen.
Mit der Darstellbarkeit des Malprozesses an sich beschäftigt sich der Maler Fernand Léger. Denn durch die Materialisierung dieser Prozesse, d. h. durch den Versuch der exakten Dokumentation, werden sie analysierbar und ihr Potential allererst begreifbar. Technische Genauigkeit wird hierbei zum methodischen Ideal.Fernand Léger strebt mit dem Gemälde "Les éléments mécaniques" nach einer auf ihre Grundbedingungen spezialisierten Malerei, um mit den maschinellen Produkten der industriellen Moderne in Konkurrenz zu treten. Larissa Dätwyler verdeutlicht, dass er sich hierfür neben dem geometrischen Formenschatz insbesondere die disziplinierte Arbeitshaltung der Zeitgenossen zu eigen macht. Durch die kontrollierte Ordnung seiner eigenen Imaginationsleistung reflektiert Léger in mehrjähriger, präzisierender Überarbeitung den eigentlichen malerischen Prozess der Bildgenese. Zudem leitet die resultierende bildimmanente Mechanik idealerweise die kombinatorische Fähigkeit der Rezipient*innen, um die Bildherstellung nachzuvollziehen. So veranschaulicht Légers Malerei die Entstehung eines Bildraums und somit die Voraussetzung für neue Möglichkeitsformen.
Mit der Darstellbarkeit des Denkprozesses an sich beschäftigt sich der französische Lyriker und Philosoph Paul Valéry. Denn durch die Materialisierung dieser Prozesse, d. h. durch den Versuch der exakten Dokumentation, werden sie analysierbar und ihr Potential allererst begreifbar. Technische Genauigkeit wird hierbei zum methodischen Ideal. Gemäß dem Beitrag von Lucas Knierzinger sucht Valéry explizit nach einer präzisen, systematisierenden Notationsform, die mit dem variierenden Schreibfluss seiner "Cahiers" in Spannung tritt und den in der Handschrift sedimentierten Denkprozess in Erscheinung treten lässt. Mit Eggerts laboratorischen Versuchsanlagen vergleichbar, bezeichnet Valéry die Interaktion von Lesen und Sehen bei der anschließenden kritischen Betrachtung dieser faksimilierten Manuskriptseiten auch als analytische 'machine à lire'.
Treue Bilder, quantifizierte Prozesse : fotografische Exaktheit zwischen Hochschule und Industrie
(2021)
In Stephan Grafs Beitrag, der sich mit den Vorgängen im Photographischen Institut der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich befasst, nimmt die Imagination eine bloß marginale Rolle ein. Wie Stephan Graf zeigt, gewinnt nach 1945 John Eggerts auf die 1920er Jahre zurückgehende Erforschung der physikalisch-chemischen Grundlagen der Fotografie an Bedeutung, d. h. das Streben nach Quantifizierbarkeit des fotografischen Prozesses. Der deutsche Physikochemiker verspricht sich schließlich Mitte der 1950er Jahre von der exakten Messung und Analyse abstrakter, in Graustufen gehaltener Bildresultate eine Systematisierung der experimentellen Variationen und letztlich eine gezielte Reproduzierbarkeit des Belichtungsverfahrens. In diesem Sinne werden die Voraussetzungen für die Entstehung und Sichtbarwerdung eines bloß latenten Bildes geklärt und grafisch veranschaulicht.
Judith Sieber zeichnet die Entwicklung und Verwendung von statistischen Grafen in William Playfairs "Commercial and Political Atlas" (1786) nach. Dabei arbeitet sie die gesellschaftspolitische Ausrichtung der sich etablierenden Methode der visuellen Statistik heraus. In der Wiedergabe des Übergangs vom Vertrauen in numerische Genauigkeit (tabellarische Vermittlung von ökonomischem Wissen) zu Playfairs Anwendung visueller Statistik, die auf größtmögliche Einfachheit und Anschaulichkeit abzielt, erläutert sie Playfairs Gewichtung von Anschaulichkeit vor Genauigkeit im Kontext der schottischen Aufklärung. Hierbei wird deutlich, dass der Wendepunkt zur anschaulichen Darstellungsform begleitet ist von Fragen nach der Zugänglichkeit und Sichtbarmachung von Wissen sowie der politischen Rolle der eigenen Wissenschaftsdisziplin.
An den Begriff der Genauigkeit ist ein Gemenge von Medien, Techniken, Fähigkeiten und Parametern gekoppelt, die der vorliegende Sammelband zusammenführen möchte, um Genauigkeit als vielfältige, instabile Kategorie vorzustellen. Ihr scheinbares Gegenstück, die Imagination, wird zweifellos mitgedacht, aber anstatt einer dichotomen Gegenüberstellung soll im Sinne von Musils "phantastischer Genauigkeit" gerade auf die Verwobenheit und gegenseitige Abhängigkeit von Imagination und Genauigkeit aufmerksam gemacht werden - freilich im Wissen um die Unabschließbarkeit, die sich mit der Öffnung auf ein immer schon disparates und heterogenes Problemfeld aufdrängt.
Über die allmähliche Verfertigung des Romans beim Schreiben : zur Entstehungsgeschichte des "Butt"
(2018)
Nach dem Abschluss der später so genannten Danziger Trilogie war das Themenreservoir aus Nazi- und Kriegszeit, das Grass als Zeitgenosse und Augenzeuge zu 'anhaltender Schreibwut' angetrieben hatte, erschöpft. Um zu einem erneuten großen Wurf ausholen zu können, musste er sich dem Problem stellen, wie er einen neuen Stoff, der nicht aus der lebensgeschichtlichen Erfahrung stammt, aus der produktiven Einbildungskraft entwickeln könne – ein mühsamer Prozess der Ideenfindung, den die Untersuchung anhand der erhaltenen Vorarbeiten von den ersten Brainstormings an zu rekonstruieren versucht. Derartige assoziative Verfahren zur Erzeugung eines epischen flow mündeten allerdings in eine veritable Schreibkrise. Um die schweigende Muse zu reaktivieren, war eine Reihe von Impulsen vonnöten, wobei die Einflüsse 'exogenetischer', also psycho-sozio-kultureller Faktoren (die Schwangerschaft der Lebensgefährtin; der andauernd heftige Beziehungskrieg mit dieser; die Geburt der Tochter Helene) entscheidende Impulse erbrachten, die unmittelbar in Literatur umgesetzt wurden. Ein lange währendes 'warming up' – das Einschalten zahlreicher Gedichte und Graphiken – war aber immer noch vonnöten, um die autonome Motivation aufrechtzuerhalten, bis der wunderbare Fischfang gelang, der den Butt ans Tageslicht holte. Wie und unter welchen Umständen Grass dieser Ideenfund zufiel, einen sprechenden Plattfisch zur Zentralfigur seines Romans zu machen, bleibt im dunkeln verborgen: Es war ein echtes Serendipity-Erlebnis, das einen Kreativitätsschub zur Folge hatte, der allerdings weiterhin chaotisch, unstetig und sprunghaft verlief. Die amorphe Stoffmasse konnte erst bewältigt werden, nachdem mit der Disposition (dem Neunmonateschema der Schwangerschaft) und der diachronen Anlage vom Neolithikum bis in die Gegenwart des Autors das Organisationssystem erarbeitet war: Finderglück und selbstvergessenes Schreiben allein erzeugen noch kein episches Großwerk, sofern nicht 'die Fähigkeit zum Ausnutzen von Gelegenheiten' mitwirkt, die nach Luhmann Kreativität ausmacht.
Die Arabeske ist ein Nachkömmling. Sie ist die jüngere Schwester
der Groteske. Die Gemeinsamkeiten wird man schwer übersehen können. Beide, Groteske und Arabeske, kennen keine strikte Trennung zwischen 'hohen' und 'niederen' Künsten, beide entwickeln sich gleichermaßen in 'klassischen' wie in Print-Medien, beide haben Teil an der Ausbildung der Künstler als Experten in Spezialbereichen. Gemeinsam ist ihnen vor allem, dass ihre Entstehung überschattet ist von Infragestellungen. Die Pointe freilich ist, dass Kritik und Abwehr der Groteske zur Geburt der Arabeske führen. Es liegt also nahe, die Ketten von Polemiken zunächst zu benennen, zumal da die Antworten und Gegenmaßnahmen auf die Kritik die ästhetischen Spielräume der Grotesken und Arabesken erst eigentlich eröffnen.
Manchmal lässtt sich schon am Zugriff auf das Material die Differenz einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten zu einer geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft ablesen. Die Beschäftigung mit Johann Peter Hebels Kalendergeschichten dürfte eine solche Wahlmöglichkeit eröffnen. Da bietet sich nämlich das berühmte "Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes" an, das 1811 im sogenannten 'Klassikerverlag' Cotta mit seinen von Hebel selbst aus den Kalendern 1803 bis 1810 ausgewählten hundertsiebenundzwanzig Lesestücken erschien. Da existiert aber auch ein Faksimiledruck des "Rheinländische[n] Hausfreundes", also der "Neue Calender" von 1808-1815 und 1819. In diesem Nachdruck finden sich nicht nur die dreißig nicht ins "Schatzkästlein" aufgenommenen Kalenderbeitrage vor 1811 und dann natürlich alle in den Kalendern nach dem Druck des "Schatzkästleins" erschienenen Beitrage von 1812-15 und 1819. Man hat die Meinung vertreten, in der von Hebel selbst fürs "Schatzkästlein" getroffenen Auswahl sei "der 'ganze' Erzähler Hebel präsent", denn gegenüber den Schatzkästleintexten stellten "die später entstandenen Kalenderbeitrige" "keine entscheidenden Neuerungen mehr" dar.' Eine kulturwissenschaftlich interessierte Forschung richtet freilich ihr Augenmerk nicht allein auf die Kalendergeschichten, sondern genauso auf das im "Schatzkästlein" ausgesparte Kalenderspezifische, z.B. die "Wetter- und Bauernregeln", die "Tax-Ordnungen", die verschiedenartigen Kalenderordnungen der Juden, der evangelischen und katholischen Christen.
Zwar gibt sich Günter Grass' "Treffen in Telgte" ausschließlich als ein Poetentreffen und hat den Blick der Leser nahezu ausschließlich auf die Poetenfiguren, ihre Diskussionen und die Analogie zur Gruppe 47 gelenkt – geheimes Zentralgestirn aber, um den die barocken Poeten kreisen, ist der im Zentrum der Erzählung in Telgte eintreffende Überraschungsgast Heinrich Schütz. In der Gegenwart des Komponisten verzwergen die Dichter mit ihrem durchaus respektablen Anliegen, eine poetische Nationalkultur zu begründen, und unterwerfen sich seiner Autorität als moralischer Instanz und als Künstler. Der 'große Schütz' formuliert nicht nur die relevante poetologische Programmatik der Erzählung, sondern initiiert auch den hier noch als Musketier und Quartiermacher auftretenden Grimmelshausen in seine spätere Rolle als den für Grass größten Dichter des Barockzeitalters und sein ihn von Jugend an bestimmendes Vorbild. Während die Poeten angesichts der politischen Ohnmacht der Dichtung in den Zeiten des nicht enden wollenden Krieges schier verzweifeln, weisen diese beiden scheinbar als Nebenfiguren eingeführten Charaktere über die Erzählung hinaus in die Zukunft.
Das "Vatertag"-Kapitel in Günter Grass Roman "Der Butt" ist das Ergebnis jahrelanger Reflexion des Autors und zahlreicher Konzeptionsänderungen: Am Ende wurde daraus eine Tragödie in Novellengestalt, eine Tragödie sowohl stofflich als auch formal. Sie setzt einerseits die aristotelischen Poetik in Prosa um und realisiert einen Alptraum ins Tribadische transponierter Männlichkeitsrituale, an deren Ende ein Mord steht, der an Brutalität mit den gewalttätigsten attischen Mythenstoffen, vor allem mit Euripides' Bakchen, konkurrieren kann. Die Perversität der rauschhaften sexuellen Exzesse verschärft Grass, indem er sie auf Himmelfahrt, den als Vollendung der Erlösung strahlendsten Tag im christlichen Jahresfestkreis, verlegt und auf diese Weise einen schrillen Kontrast herstellt zwischen der Vergewaltigung und dem barbarischen Zerfleischen einer Frau durch eine dionysische Horde alkoholisierter Black Angels auf der einen Seite und der Auffahrt der vom Tode auferstandenen Lichtgottheit gen Himmel auf der anderen Seite, einer Vergeistigung der Kultur, die im Sinne der Bachofen'schen "Vaterreligion" alles Irdische, Stoffliche, Geschlechtliche unter sich lässt. Nachdem Grass Bachofens Konstruktion der Entwicklung des Patriarchats aus der Gynaikokratie im ersten Kapitel des Butt geradezu systematisch in Erzählung umgesetzt hat, kehrt er im achten zu Bachofens Kulturstufenfolge zurück, allerdings ohne dessen optimistischen Glauben an den Menschheitsfortschritt zu teilen – im Gegenteil.
'Grimms Wörter', Günter Grass’ „Liebeserklärung“ an die deutsche Sprache und die Verfasser des 'Deutschen Wörterbuchs' (2010), erlaubt sich zahlreiche ernste Scherze – erotischer wie auch erkenntniskritischer Art – mit den Elementarteilchen der Sprache, dem Alphabet. Als Kollege und Freund antwortet er auf den Parzivâl-Roman Adolf Muschgs 'Der Rote Ritter' (1993) mit Buchstabengedichten und Menschenalphabeten, weil für beide nur über die Sprache, das Lesen und das Schreiben eine Identität entwickelt werden kann. Ohne diese Elementarschule, an deren Anfang der Fall Adams in die Erkenntnis und an deren Ziel der Zweifel an allen Ideologien zwischen Rechts und Links steht, würde Parzivâl der reine Tor bleiben, als der er angetreten ist und als der er in seiner Narrheit Gewalt ausgeübt hat. Um von der anfänglichen Sünde Adams zum Ziel des Zweifels zu gelangen, muss der dumme Junge einen Lernprozess durchlaufen, in dessen Zentrum das Fragen steht: die Frage des Mitleidens und die der Schuld. – Ein anderer Parzivâl, erlebt auch Oskar Matzerath seine Blutstropfenszene, teilt mit dem Roten Ritter dessen Mutterkomplex, findet aber im Gegensatz zu diesem keine Erlösung, schon gar nicht durch die Vergewaltigung der Krankenschwester Dorothea, die die Jeschutes durch den törichten Parzivâl „imitiert“. Schuldig bekennt sich schließlich in aller Deutlichkeit Günter Grass selbst: als Tor, der nicht gefragt hat, als Juden deportiert wurden, und der unter der Narrenkappe des Simplicissimus in den Weltkrieg gezogen ist.
Souvenir und Andenken
(2006)
Souvenir und Andenken sind [...] Mediatoren einer Umwegerinnerung: und dies, weil sie "mit dem ursprünglichen Sinneseindruck" metonymisch, d.h. als Fragment zusammenhängen. Charakteristisch für Souvenir und Andenken ist, dass sie, als Reststücke einer Person, eines Ortes, einer Situation, eines Erlebnisses, ein Versprechen enthalten, nämlich eine bislang im Rest-Fragment nur angedeutete Geschichte ganz zu erzählen, wiederzubeleben, wiederzuinszenieren. Dass dieses Versprechen nur sehr schwer und selten eingelöst werden kann, ist der Zwischenzeit geschuldet.
Im einleitenden Teil soll an drei markanten Beispielen die kulturpraktische Bedeutung ästhetischer Mystifikation und Verstellung in der Romantik vorgeführt werden. Im zweiten Teil soll ein Problemaufriss gegeben werden, auf welche Weise aus der Kulturpraxis der artistisch eingesetzten Mystifikation Camouflagetechniken entstehen können.
Ökologie
(2022)
Als die Ökologie 1866 von Ernst Haeckel aus der Taufe gehoben, d. h. offiziell zu einer biologischen Teildisziplin ernannt wird, gehört die Annahme einer 'ganzen Natur' zu ihren zentralen Glaubenssätzen. Der vielseitig tätige Haeckel betrachtet die Natur als ein "überall zusammenhängendes 'Lebensreich'", das von einer gleichbleibenden Substanz getragen und beseelt wird. In einer gewissen Spannung zu diesem versöhnlichen Bild stehen manche Aspekte von Haeckels ökologischer Lehre. Beschrieben werden dort die wechselseitigen Einwirkungen von Organismus und Umgebung sowie der Organismen untereinander, und diese Interaktionen können durchaus feindselig ausfallen. [...] Haeckels Ausführungen markieren nicht nur den nominellen Auftakt der biologischen Ökologie, sie läuten auch bereits die wechselvolle Karriere von Ganzheitsbegriffen innerhalb dieses Forschungsfeldes ein. Ein gemeinsamer Nenner lässt sich dabei insofern ausmachen, als der Kategorie des Ganzen hier eine spezifische Funktion zukommt: Sie dient dazu, den größeren Zusammenhang zu benennen, innerhalb dessen die Wechselwirkungen in der Natur, welche dies im Einzelnen auch sein mögen, beschreibbar werden. Denn von Haus aus hat es die Ökologie nicht mit isolierten Individuen zu tun, sondern mit den Bezügen, die zwischen diesen und ihrer Außenwelt bestehen. [...] Hinzu kommt, dass sich auch das Verständnis des Ökologischen selbst in den letzten rund 50 Jahren gravierend gewandelt hat. 'Ökologie' bezeichnet seither nicht mehr allein eine biologische Teildisziplin, sondern eine Weise des Denkens, die auf Relationalität im weitesten Sinn bezogen ist, die sich also mit Beziehungsgefügen, Verbundenheiten und Inklusivität befasst. In diesem erweiterten Verständnis hat die Ökologie seit den 1960er Jahren, besonders aber seit der Jahrtausendwende in den verschiedensten Wissens- und Anwendungsfeldern Einzug gehalten. Während Forschungszweige wie der vor etwa drei Jahrzehnten institutionalisierte 'Ecocriticism' noch explizit an die Leitbilder des Naturschutzes und der Umweltethik anknüpfen, hat sich das ökologische Denken inzwischen vielerorts aus dem durch 'Natur' bestimmten Bezugsrahmen herausgelöst. Dies geht mit einer Problematisierung der Annahme einher, dass es so etwas wie eine 'erste' Natur, auf die sich Ökologie exklusiv zu beziehen hätte, überhaupt geben kann. So lässt sich gegenwärtig einerseits eine kaum noch überschaubare Diversifizierung des ökologischen Denkens feststellen, während andererseits Ansätze zu einer 'allgemeinen Ökologie' entwickelt werden, die die vielfältigen ökologischen Phänomene ontologisch, d. h. unter dem Gesichtspunkt des 'ganzen Seins', zu erfassen suchen.
Mit ontologischen Problemen des Ganzen beschäftigt sich Robert Matthias Erdbeer in seiner Untersuchung des modernen Computerspiels. Er knüpft dabei an moderne Spielkonzeptionen von Schiller über Gadamer bis hin zu Wolfgang Iser an, die das Spiel als Vermittlung von Verstand und Sinnlichkeit, Notwendigkeit und Freiheit, v. a. aber in der Koppelung von Vorhandenem und Möglichem einer außerordentlichen "ontologischen Belastung" ausgesetzt hätten. Diese Belastung setze das Computerspiel in seinem eigenen Medium konsequent um und fort. Beim Gaming gehe es um eine grundlegende "Inszenierung von Handlungsmodalität" im Sinn einer "kohärenten Selbst- und Welterfahrung". Ganzheit komme dabei insbesondere über das Weltmodell der virtuellen Storyworld, über das Selbst als Avatar und in der Reflexion und Gestaltung des Spiels als Integral der Medienkünste zum Ausdruck.
Dimensionen des Werkbegriffs
(2022)
Ingo Meyer fragt nach Ganzheitsvorstellungen mit Bezug auf den Werkbegriff von der ästhetischen Theorie seit dem 18. Jahrhundert bis in die zeitgenössische kunst- und literaturwissenschaftliche Schulenbildung hinein. Obwohl (oder weil) das Werk an materielle Träger gebunden sei und zwingend der Realisation bedürfe, begreift Meyer es als "ontologischen Skandal". Klassische Zuschreibungen an das Werk wie 'Mikrokosmos', 'Äquilibrium' oder 'Harmonie' sowie überhaupt die aus ganz unterschiedlichen Richtungen an das Kunstwerk herangetragene Forderung nach "Kontingenzvernichtung" forderten die Frage nach seinem ontologischen Status stets aufs Neue heraus. Seinen vielleicht privilegiertesten Ausdruck findet das Problem Meyer zufolge in der Kategorie der Werkgenese, die keineswegs einfach als Produktionsästhetik (miss)verstanden werden dürfe. Die Irritation darüber, dass das Werk überhaupt 'da' sei, könne nicht mit Gattungsordnungen, Kanonisierungsreflexionen, Marketingstrategien oder klassischen Dichotomien wie Produktions- und Rezeptionsästhetik stillgestellt oder unsichtbar gemacht werden. Vielmehr gelte: "Das Paradoxe am Kunstwerk aber ist der Umstand, dass mit zunehmender Elaboriertheit seine Unbestimmbarkeit zunimmt, völlig konträr zu Handwerk oder Wissenschaft."
Stefan Willer fragt nach den Ganzheitspostulaten enzyklopädischen Wissens vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Ganzheit begreift er dabei als eine Kategorie, die von unterschiedlichen Formen der Enzyklopädie erst hergestellt werden müsse und die hier besonders intensive Verbindungen zu Phänomenen wie 'Summe', 'Gesamtheit' oder gar 'Überfülle' unterhalte. Dies zeige sich vornehmlich am Problem enzyklopädischer Ordnungsmuster, die auf "die Registrierung, Sortierung und mitunter auch Systematisierung von Wissen" abheben und sich schnell mit der Frage nach einer Begrenzbarkeit dieses Wissens konfrontiert sehen. Eine zusätzliche Schwierigkeit für Enzyklopädien stelle das Verhältnis der verzeichneten Realien zur Medialität der Sprache dar. So gelte es etwa für Diderot als ausgemacht, dass die Sprache aufgrund ihrer fehlenden Systematizität "nur eingeschränkt als Medium der Wissensdarstellung geeignet" sei. Willer beleuchtet die Affinitäten zwischen Enzyklopädie und Roman, der seinerseits oft auf "Totalisierung", auf den "Einschluss heterogener Elemente" und auf die "Überschreitung jeglicher Gattungslogik" verpflichtet worden sei, und lässt seine Überlegungen in eine Lektüre von Flauberts Roman "Bouvard und Pécuchet" einmünden, in dem die enzyklopädische Anhäufung von Wissen auf Handlungsebene zwar als ziel- und nutzlos klassifiziert werde, sie sich auf der Ebene der Textkonstitution jedoch zugleich als unabdingbar erweise. Den Anspruch auf Ganzheit oder Vollständigkeit des Wissens kündige Flauberts Roman folglich nicht einfach auf. Vielmehr stelle er einen "Widerspruch zwischen der textkonstitutiven und der poetologischen Funktion von Wissen" zur Schau.
Wissenschaft
(2022)
Georg Toepfer wendet sich Ganzheitsidealen der Wissenschaft und ihrer Theorie von der Antike bis zur zeitgenössischen Wissensgeschichte zu. Ganzheit kann dabei auf unterschiedlichen Ebenen zum Tragen kommen. Die Wissenschaft beschäftigt sich mit ihrer inneren Einheit auf methodologischer Ebene, sie fragt nach der Ganzheit oder Ganzheitlichkeit ihrer Gegenstände (im Rahmen etwa einer Überwindung des Leib-Seele-Dualismus), sie kann eine Summe aller Wissenschaften als Ganzheit in Aussicht stellen oder den Versuch unternehmen, eine Einheit oder Ganzheit der gesamten Menschheit zu befördern. Insgesamt sei festzuhalten, dass Forderungen nach einer Einheit der Wissenschaft verstärkt zu Zeiten aufkämen, in denen sich epistemologisch wie praktisch das exakte Gegenteil beobachten lasse. Auch wirke die Ganzheitsrhetorik der Wissenschaft "mitnichten integrativ", sondern arbeite im Gegen teil oft "mit massiven Ausgrenzungen". Das Ganzheitsproblem habe die wissenschaftliche Selbstreflexion oft auch hinsichtlich ihrer eigenen Visualisierbarkeit beschäftigt. Dies findet seinen Niederschlag in frühneuzeitlichen Diagrammtypen wie dem Baum, dem Haus oder dem Bergwerk, in der zweidimensionalen Landkarte der 'Encyclopédie' oder in einer von Jean Piaget noch im 20. Jahrhundert bearbeiteten Kreisfigur. Solche Formen des Ganzen offenbarten die "Simplifikation" des wissenschaftstheoretischen Zugriffs und müssten oft ganze Wissensbereiche ausschließen; im Fall Piagets etwa die kompletten Geisteswissenschaften.
Daniel Weidner untersucht die (als 'absolut' begriffene) Metapher der Welt im Werk Hans Blumenbergs und wirft in enger Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Tradition die Frage auf, ob 'Welt' im Plural überhaupt noch eine Ganzheit meinen könne. Der philosophische Zugriff auf die 'Welt' oder auf 'Welten' - ähnliches gelte mit Blick auf Blumenberg vornehmlich für den 'Horizont' - gestalte sich insofern als schwierig, als sie auf Gegenstandsebene immer implikativ bleiben müsse. Diesem Problem begegne Blumenberg mit der Ausgestaltung vierer historischer Wirklichkeitsbegriffe, die die 'Welt' in einer "Spannung von Evidenz und Mitpräsenz, von Intention und Erfüllung" situierten, und zwar als Anschauung (in der Antike), als Offenbarungsmitteilung (im Mittelalter), als sukzessive sich entfaltende "Verläßlichkeit" (in der Neuzeit) oder als Widerstand. Letzteres scheint vornehmlich für die Moderne zu gelten, der Welt und Wirklichkeit oft als ein "ganz und gar Unverfügbares" erschienen. Anschließend beleuchtet Weidner die unterschiedlichen Vorstellungen von Kunst, die Blumenberg diesen Modellen von Welt und Wirklichkeit attribuiert. Die von Blumenberg dem Roman als "formale Totalstruktur" zugeschriebene "Welthaltigkeit" entspreche dem Wirklichkeitsbegriff der Neuzeit. Durchaus also würden Wirklichkeit oder Welt Blumenberg zufolge in der Kunst tentativ erfahrbar; dies jedoch gerade nicht im Sinn der einen Totalität des vollkommenen Kunstwerks, wie es die idealistische Ästhetik in der Regel suggerierte.
Wo das Ganze als Prozess begriffen wird, droht es mitunter zu entgleiten. Im Denken des Ganzen haben sich reiche Traditionen herausgebildet, die (auch) in dieser Gefahr eine Chance sehen. Die Überzeugung einer kategorialen Ungreifbarkeit, Unbestimmtheit oder Unerreichbarkeit des Ganzen dominiert ganze Bereiche des Wissens und der Künste. Dabei scheinen solche Vorstellungen mit den Forderungen nach möglichst 'handfesten' Formen oder Bedingungen von Totalität gleichursprünglich zu sein. Tentative oder gar hypothetische Formen des Ganzen sind entsprechend oft unter dem Zeichen eines imaginierten Verlusts von Totalität formuliert worden. Dies gilt zumal mit Blick auf die moderne Kunst und Ästhetik, die das Kunstwerk als einen Mikrokosmos vorstellte, dem sein eigener Makrokosmos indes längst (oder immer schon) abhandengekommen zu sein schien.
Mit Blick auf die neuere historiographische Entwicklung plädiert Marian Füssel für eine prozessuale Betrachtung des Ganzen. Nur dies erlaube die Aufsprengung des Gegensatzes zwischen einer Mikro- und einer Makroebene von Geschichte. Angesichts der Komplexität und der wechselseitigen Durchdringung historischen Geschehens - als Beispiele nennt Füssel Handel und Krieg - sei dieser Gegensatz nicht adäquat. Zu diesem Fazit gelangt Füssel, nachdem er prominente Ganzheitsvorstellungen unterschiedlicher Schulen der Geschichtsschreibung vom Historismus über die 'histoire totale' und die Sozial- bis hin zur Mikro- und Globalgeschichte vorgestellt hat. Historische Ganzheitsvorstellungen, die auf einer Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem beruhten oder die dem Prinzip der Repräsentation verpflichtet blieben, muteten heute genauso unbefriedigend an wie solche, die undifferenziert "Fragmentierung, Dezentrierung und Pluralisierung" feierten. Die Kritik an herkömmlichen Ganzheitsvorstellungen der Historiographie ist für Füssel demnach nicht Anlass, das Ganze zu verabschieden, sondern, es zu rekonzeptualisieren. Dass auch Füssel mit dem Fokus auf den 'Prozess' jenes Phänomen als Chance für das Ganze begreift, das vormals oft als dessen Bedrohung identifiziert wurde, zeigt das Ausmaß der Umbrüche, in denen die Formen des Ganzen sich derzeit in praktisch allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen offenbar befinden.
Die Ganzheit der Epoche
(2022)
Barbara Picht beschäftigt sich mit Ganzheitsvorstellungen, die dem Begriff der Epoche im modernen Geschichtsdenken zugrunde liegen. Ganzheit wie Einheitlichkeit betrachtet Picht dabei insofern als maßgeblich, als die Epoche einerseits über ausschließlich sie selbst charakterisierende Merkmale definiert werden solle, dabei andererseits aber auch solche Züge herauspräpariert werden müssten, die eine bestimmte Epoche mit anderen verbinde. Die Behauptung der Ganzheit einer Epoche sei in der Regel mit politischen Absichten verbunden. Zum Problem für die Integrität der Neuzeit als Epoche wird die für das moderne Geschichtsbewusstsein konstitutive Vorstellung einer 'offenen Zukunft'. Das schreibe dem Selbstverständnis der Neuzeit eine grundlegende Paradoxie ein. Die Neuzeit kenne zwar einen Anfang, könne aber in einer offenen Zukunft an kein Ende kommen und deshalb auch keine - ganze - Epoche sein. Diese Schwierigkeit erweist sich Picht zufolge jedoch als Glücksfall, denn die für das Ganze der Epoche prekäre Prozessualität habe eine "historiographisch produktive Dauerunruhe" ausgelöst.
Karin Kukkonen nimmt nicht den Text als Medium ins Visier, sondern die Form des Romans, dem sie ein hohes Bewusstsein für die eigene "Unabgeschlossenheit" attestiert. Der von Georg Lukács auf die Moderne gemünzten Formel der "transzendentalen Obdachlosigkeit" trage der Roman dadurch Rechnung, dass seine Teile "nie den Eindruck eines geschlossenen Ganzen" zu erwecken versuchen. Kukkonen legt dies am Beispiel der narrativen Darstellung moderner "Protokolle" offen, die sie als Mechanismen zur Ordnung jeweiliger Lebenswelten begreift. Moderne Romane kündigten in der Regel eine "organische Logik der Lebensgeschichte" auf und verschrieben sich buchstäblich einer "sozialen, prozessualen Logik des Protokolls". Solche Protokolle könnten von Zügen und Fahr- oder Bau plänen über das Schlangestehen bis hin zur Organtransplantation reichen. Die literarische Umformung der Prozesslogik moderner Protokolle analysiert Kukkonen vornehmlich bei Zola, Sorokin und Maylis de Kerangal.
Andrea Polaschegg untersucht aus medienpoetischer Sicht die Friktionen zwischen dem Text und den philosophischen oder literarischen Ganzheitspostulaten, die an dessen Stoffe, Gegenstände oder gar Gattungszuschreibungen herangetragen werden. Den Text begreift Polaschegg als "transitorisches Medium", "das vorne beginnt und hinten endet" und das jede Bemühung unterläuft, "eine organische Einheit wechselseitiger Teil-Ganzes-Beziehungen oder eine statische Einheit aus übereinandergeschichteten Teilen zur Darstellung zu bringen". Dieser Einsicht hätten sich mit letzter Konsequenz allerdings bislang weder poetologische noch literaturwissenschaftliche Denktraditionen gestellt. Seit der Autonomieästhetik lasse sich ganz im Gegenteil eine Fülle an Versuchen beobachten, die fundamentale 'Sukzessivität' von Texten metaphorisch über konzeptionelle 'Simultaneisierungen' stillzustellen. In diesem Umfeld nimmt Polaschegg insbesondere die oft als Ganzheitsgarant dienende Metaphorik der Architektur in den Blick, die sie bis in das bekannte, den 'Aufbau' dramatischer Texte visualisierende Pyramidenmodell Gustav Freytags hinein verfolgt.
Astrid Deuber-Mankowsky wirft einen Blick auf Alfred N. Whitehead und sein 1929 erschienenes Hauptwerk "Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie". Zur Ausformulierung seines denkbar umfassenden Ziels einer "vollständigen" Kosmologie rekurriere Whitehead auf eine "systematische Philosophie des Prozesses". Whitehead sei davon überzeugt, dass die philosophische Erkenntnis sich den Ergebnissen der Relativitätstheorie und der Quantentheorie zu stellen habe und zugleich versuchen müsse, sich gegen deren Absolutheitsansprüche zu behaupten. Während die Quantentheorie gezeigt habe, dass sich kleinste Teilchen diskontinuierlich zueinander verhalten, beharre Whitehead auf der Möglichkeit, ein Ganzes zu denken und am "Prinzip der Kontinuität" energisch festzuhalten. Sein Bemühen ziele darauf ab, das berühmte, auch von Leibniz systematisch aufgegriffene Diktum "natura non facit saltus" wieder in sein Recht zu setzen. Die Spannung zwischen Kontinuität und Atomizität begreife Whitehead konsequent als "Komplementarität", ein entscheidendes Relais hierfür stelle seine Entdeckung der "realen Potentialität" dar. Anders als man vielleicht zunächst annehmen könnte, steht Whiteheads Interesse an Leibniz damit nicht in fundamentalem Widerspruch zu dem Latours, umso weniger als eine Zäsur zwischen Natur und Sozialem oder eine Einschränkung von Subjektivität auf den Menschen schon für Whitehead keine Verbindlichkeit mehr besaß.
Hanna Hamel beschäftigt sich in ihrem Aufsatz mit Latours vieldiskutierter Gaia-Konzeption. Latours Aufkündigung einer pseudoobjektiven Anschauungsform der Erde als 'Globus' und die Favorisierung der Imagination Gaias als "wüstes Gewirr" sei dem Versuch geschuldet, klassische Vermittlungsideen von Innen und Außen oder die Repräsentation des einen durch das andere kategorisch zu verabschieden. An deren Stelle trete "ein Ganzes ohne distinkte Teile, ohne polare, absichtsvolle oder gar harmonische Ordnung". Übergänge und Kreuzungen etwa von natürlichen und sozialen Ordnungen habe Latour immer schon in ihrer Prozessualität kenntlich gemacht. Es handle sich dabei stets um "zeitlich wie räumlich wirksame wechselseitige Modifikationen einer Vielzahl von Wirkmächten". Ohne Berücksichtigung dieser Größen lässt sich der Klimawandel in den Augen Latours (wie Hamels) weder bekämpfen noch überhaupt adäquat erkennen.
Zeitliche Prozesse können Formen das Ganzen mitunter vor erhebliche Herausforderungen stellen. Das zeigt sich insbesondere dort, wo das Ganze zum Zweck einer bildlichen Veranschaulichung fixiert werden soll. Historisch betrachtet lassen sich in den Beziehungen zwischen Ganzheit und Prozessualität ähnliche Entwicklungen feststellen wie in denen zwischen Ganzheit und Teil. Forderungen nach einer maximalen Integrität des Ganzen, die im Prozess eine Bedrohung oder Gefahr wittern, erweisen sich bei genauerem Hinsehen oft erst als moderne Perspektive. Folgerichtig lehnen sich aktuelle Ganzheitskonzeptionen an frühneuzeitliche philosophische Modelle (neben Leibniz gilt dies v. a. für Spinoza) an, wenn sie auf eine programmatische Versöhnung zwischen Ganzem und Prozess abzielen.
Welt, Wort, Mensch : (Un-)Gestalten des Ganzen in Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften"
(2022)
Musil entwickelt seine literarische Ganzheitsreflexion in enger Auseinandersetzung mit der Wissenschaft seiner Zeit: von der Gestaltpsychologie bis hin zur Thermodynamik, wie Inka Mülder-Bach in ihrer Lektüre des "Mann ohne Eigenschaften" zeigt. Musils Text sei einerseits von zahlreichen Dualismen geprägt, andererseits erteile er einem 'klassischen' Verständnis von Teil und Ganzheit eine deutliche Absage. Einem Briefpartner beschied Musil 1931 kurz und bündig: "Eine Totalität lässt sich nicht durch noch so viele Einzelheiten darstellen." Zentral ist hierbei nicht zuletzt der Begriff der Darstellung. Totalität wird bei Musil in erster Linie zu einem Problem des eigenen literarischen Verfahrens. Mülder-Bach legt dar, dass das Phänomen der Ganzheit unzählige Aspekte seiner Schreibweise tangiert: vom Wortbau über die Syntax und die Metaphorik bis hin zu der für die Darstellungsebene des Romans zentralen Form des 'Gleichnisses'. Auch die politische Prekarität 'Kakaniens' oder das Geschwisterverhältnis seien als Spiegelungen und Ausdruck der Ganzheitsproblematik zu begreifen. Den Umgang mit Figuren der Vielfalt, der Vollständigkeit, der Teilung, der Verdopplung, der Mitte, der Grenze, der Symmetrie oder des Gleichgewichts sieht Mülder-Bach dabei oft in zunächst paradox erscheinende Versuche einmünden, Trennung und Verbindung irgendwie zusammenzuziehen oder gar zu vereinen. Auch die bekannte auf die Geschwister gemünzte Wendung der "Ungetrennten und Nichtvereinten" erschließe sich erst vor diesem Hintergrund. Angesichts des fragmentarischen Charakters des Romans seien alle Musil'schen Antworten auf das Ganzheitsproblem freilich als "tentativ" zu begreifen.
Sophie-C. Hartisch untersucht die Funktion der Konstellationsmetapher im Diskurs der geisteswissenschaftlichen Selbstbeschreibungen im frühen 20. Jahrhundert. Die doppelte Grundlagenkrise sowohl der Naturwissenschaften als auch der historisch arbeitenden Geisteswissenschaften bewirken in ihren Augen die Attraktivität eines Denkens in 'Konstellationen'. Mit der (streng genommen) falschen Suggestion eines sogenannten 'Sternbildes' würden abstrakte Strukturen vermeintlich anschaulich und könne Totalität als "Kippfigur zwischen Werden und Darstellung" repräsentiert werden, die die Ganzes-Teil-Problematik neu konfiguriere. Zwar verspreche die 'Konstellation', die Geisteswissenschaften mittels einer Anlehnung an die Astronomie gegen die zeitgenössischen Naturwissenschaften zu profilieren. Allerdings ist die für die Konstellation zentrale Kategorie der 'Bedeutsamkeit' (der Sterne) keine astronomische, sondern eine astrologische Vorstellung. Die als Pseudowissenschaft verpönte Astrologie wird in den Geisteswissenschaften unter der Hand zum Garanten für die Legitimität und Objektivität historisch ausgerichteter Wissenschaften.
Der Literaturwissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts gilt das Interesse des Beitrags von Eva Axer. Sie untersucht in erster Linie die Kategorie der 'inneren Form', die neben der Literatur- auch die zeitgenössische Sprachwissenschaft beschäftigte. Im Werk Wilhelm Scherers, Reinhold Schwingers und Oskar Walzels werde die 'innere Form' emphatisch als eine in sich geschlossene Sinneinheit literarischer Texte konzipiert, die den Blick auf den Aufbau und eine Beziehung der Teile untereinander indes keineswegs ausschließe. Prinzipiell werde die 'innere Form' als ein den Teilen vorgängiges Ganzes gedacht, der ein hohes Maß an Dynamik eigne. Die Hoffnung auf eine innere Einheit des Werks erweise sich in der Regel allerdings als so mächtig, dass Wechselbeziehungen zwischen Innen und Außen, materielle Bedingungen oder funktionale Beziehungen der Literatur in dieser wissenschaftlichen Tradition keine systematische Berücksichtigung finden könnten.
Carlos Spoerhase wendet sich dem Verhältnis von Teil und Ganzheit im Denken der literarischen Form zu. Für die Imagination ganzheitlicher Werke - als Paradebeispiel dient Spoerhase die Shakespeare-Apologie der Romantik - sei nicht allein die Vollständigkeit der Teile und ihr ausgewogener Bezug zum Ganzen, sondern auch die Beziehung der Teile untereinander zentral. Zwar erfolgten literarische Ganzheitsvisionen immer wieder über Analogien mit dem Menschen, der Architektur oder biologischen Systemen. In der Regel garantiere aber ein "nichtsinnliches Prinzip, das im Innern des Werkes situiert wird", erst dessen "ganzheitliche Formstiftung". Anders als es etwa die Prominenz der stabilen Unterscheidung zwischen 'System' (als Musterbeispiel geschlossener und einheitlicher Ganzheit) und 'Aggregat' (im Sinne einer lockeren Anhäufung) in der Dichtungstheorie um 1800 suggeriere, würden literarische Werke zwangsläufig keineswegs mit "maximalen Einheitlichkeitszuschreibungen" versehen. An Goethes Poetik etwa lasse sich das Bemühen um eine "Gradierung von Ganzheit" ablesen. Ganzheit ist demnach weniger eine den Teilen vorangehende oder übergestülpte Totalität. Vielmehr sind es die unterschiedlichen und vielfältigen Verknüpfungsweisen der Teile, die über Art und Konzeption der Ganzheit literarischer Werke entscheiden.
Michael Cuntz greift die Leibniz'sche Monadologie in systematischer Absicht auf. Zwar gehe es auch der Monadologie zunächst um die Organisation der Relationen zwischen Teilen und Ganzem. Allerdings trage Leibniz als "Denker des Fluiden" in diese Organisation keineswegs die heute selbstverständlich anmutenden Implikationen und Hierarchien ein. Moderne Dualismen und Binarismen, etwa der zwischen Natur und Kultur, besäßen für Leibniz noch keine Gültigkeit. Die Monaden selbst seien zudem als geschlossen und offen zugleich konzipiert. Jede Monade enthalte die Welt und alle anderen Monaden. Nicht die stabile Differenz, sondern die 'Faltung', die 'Korrespondenz' und die 'Ähnlichkeit' regelten in der Monadologie die Beziehungen. "Untrennbar und doch unabhängig von einander oder verschieden - diese vermeintlich paradoxe, komplexe Struktur der Relation" betrachtet Cuntz als deren aktuelle Provokation, über die man sich durch die für Leibniz maßgebliche Überzeugung einer 'Weltharmonie' nicht hinwegtäuschen lassen sollte. Die Monadologie könne nämlich einen bedeutenden Beitrag zur Verstärkung von Diversität wie zur Überwindung des Anthropozentrismus leisten. Hierfür sei jedoch der direkte Rückgriff auf Leibniz selbst vonnöten. Moderne Anverwandlungen seiner Philosophie etwa bei Gabriel Tarde oder Gilles Deleuze hätten die originäre Sprengkraft der Monadenlehre mitunter missverstanden, simplifiziert oder entschärft, dies gelte auch und gerade für Tardes Umstellung von der 'Harmonie' auf den 'Agon'.
Kulturgeschichtlich, ästhetisch und politisch brisant sind herkömmliche Imaginationen von Ganzheit oft gerade dort, wo das Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen zur Verhandlung steht. In der Regel werden die Teile dem Ganzen untergeordnet, und das Ganze wird im Gegenzug als über- oder suprasummativ aufgefasst. Es soll "mehr" sein als "die Summe seiner Teile", so lautet die bekannte Formel des Aristoteles. Diese Grundidee lässt mindestens zwei kausale wie temporale Spielarten zu. Das Ganze kann den Teilen vorangehen, es kann auf die Teile aber auch folgen oder aus ihnen resultieren, ohne seine Vorrangstellung einzubüßen. Aus diesem Grund wurde dem Ganzen oft vorgeworfen, das Partikulare zu absorbieren.
Gestalt
(2022)
Das Bedeutungsspektrum von 'Gestalt', diesem Inbegriff eines Abgeschlossenen, in sich Gegliederten, aber nur als Ganzes Wahrnehmbaren, ist um 1800 noch erstaunlich breit.[...] Auch den 1890 vom Gestalttheoretiker Christian von Ehrenfels fixierten "Gestaltqualitäten", zu denen vor allem gehört, dass eine Gestalt die Summe ihrer Teile übersteigt, kommt um 1800 noch keine privilegierte Stellung zu. Während das "Historische Wörterbuch der Philosophie" für jene Zeit zwar auch ein Dutzend Spezifikationen verzeichnet, 'Gestalt' aber exklusiv als ästhetischen und psychologischen Grundbegriff ausweist, hat Dagmar Buchwald in ihrem Eintrag für die "Ästhetischen Grundbegriffe" darauf hingewiesen, dass Gestalt in der mechanistischen Festkörperphysik der Zeit als Prädikat der 'res extensa' zu deren messbaren Attributen hinzutritt, ohne aber "in den Rang eines Standards" aufzusteigen. Die Differenz zwischen diesem und dem idealistisch überhöhten Gestaltbegriff "ist der Goethe-Zeit eingeschrieben", bezeichnet also ein Spannungsfeld, das erst später und besonders in der Zwischenkriegszeit den exklusiven Ganzheitsansprüchen der Gestalt weicht. [...]
Dagmar Buchwald zufolge "läßt sich die Geschichte des Begriffs Gestalt auch als Warnung vor einem 'Kult' um die Gestalt lesen." Das bedeutet im Umkehrschluss, dass ein Kult um die Gestalt einer begriffshistorischen - wie überhaupt einer begrifflichen - Reflexion der Gestalt abträglich bleibt. Für eine Konkurrenz zwischen Kult und Begriffsschärfe sind die wissenschaftlichen Überlegungen, die in den 1910er und 1920er Jahren im Umfeld Stefan Georges zum Phänomen der Gestalt angestellt wurden, aufschlussreich und symptomatisch in einem. 1911 von dem Historiker Friedrich Wolters im "Jahrbuch für die geistige Bewegung" programmatisch lanciert, treibt die Gestalt bald in den germanistischen Schriften Friedrich Gundolfs und später auch Max Kommerells ihre Blüten. [...]
"Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile" - dieser Satz, eine stark verkürzte Passage aus Aristoteles' "Metaphysik", wird wie wohl kaum ein zweiter mit der Gestaltpsychologie assoziiert. Ähnlich hartnäckig mit ihr in Verbindung gebracht werden allenfalls noch 'Kippfiguren', also visuelle Reize, die abwechselnd mindestens zwei einander ausschließende Gesamteindrücke provozieren. In dieser assoziativen Verkürzung mag Gestaltpsychologie wenig konturiert oder banal anmuten, weil darin ihre historische Entstehungssituation und damit ihr radikaler, epochemachender Perspektiv wechsel unterschlagen wird. [...]
Die Tradition des Gestaltbegriffs, von Goethe bis zur Gestaltpsychologie, lässt sich der breiteren philosophischen Grundausrichtung des Holismus zuordnen, dessen Widerpart ist der Atomismus. Diese Differenz wird im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert dort problematisch, wo holistische Gegenstandsfelder in atomistisch operierende technische Systeme umgesetzt oder durch sie simuliert werden sollen. Nirgends zeigt sich der Zusammenstoß beider Paradigmen besser als in der fortdauernden Auseinandersetzung um die Begriffe und Vorgehensweisen zweier der jüngsten Disziplinen des letzten Jahrhunderts, der Informatik und der Kognitions- bzw. Neurowissenschaft. Dieses Spannungsverhältnis wird vor allem am Forschungsdiskurs um die Künstliche Intelligenz (KI) seit den 1940er Jahren deutlich, der hier nachgezeichnet werden soll.
Synekdoche und Metalepse
(2022)
Das Ganze ist eine Latenzfigur, vielleicht die radikalste und folglich auch die bei Weitem undurchschauteste. Das wird an der neuzeitlichen Konjunktur der Synekdoche als einer generalisierten Beziehungsfigur augenfällig. In den unterschiedlichen Abschattungen des pars pro toto ist sie unter den Figuren der Rhetorik die mit der größten Reichweite.
Insel und Archipel
(2022)
Das theoretische Denken bedient sich bekanntlich häufig räumlicher Metaphern, wie etwa Reinhart Koselleck mit Bezug auf die Repräsentation von Zeitverhältnissen zu betonen pflegte. Darüber hinaus reicht ein Denkmodus, den der italienische Philosoph Massimo Cacciari einmal als "Geo-Philosophie" bezeichnet hat. Dieser Modus setzt dort ein, wo die Eigenarten und Kontingenzen der Gestalt der Erdoberfläche nicht mehr allein als metaphorische Sinnressourcen willkürlich genutzt werden, sondern selbst über Form und Richtung des Gedankens Gewalt gewinnen. Obwohl nicht der Erfinder eines solchen Denkens, ist Carl Schmitt doch sein bekanntester Vertreter, und er ist auch derjenige, der in der Dichotomie von Land und Meer die nachhaltigste Ressource erschlossen hat, vermittels derer man mit der Planetenoberfläche philosophieren kann. [...] Der Insel kommt in dieser Konstellation ein besonderer Status zu. Sie ist das nicht mit den Landmassen zusammenhängende Gebiet, dessen Daseinsbedingung das Meer ist. [...] Festzuhalten ist, dass die Geo-Philosophie, insofern es ihr um Figuren der Ordnung geht, früher oder später stets auf normative Sprache zurückgreift. Archipele sind immer schon normative Räume, in denen es um unübersichtliche, voneinander getrennte und doch aufeinander bezogene Normen und Werte geht. Die wechselseitige Bezogenheit, das Mitsein, stiftet die Einheit des Archipels als spezifischer 'Form des Ganzen'. Diese Form dient nicht allein dazu, jeweils ein spezifisches Gefüge von Normen und Werten abzubilden, sondern erlaubt auch eine philosophische Untersuchung der Natur solcher Gefüge.
Organismus
(2022)
'Organismus' ist eine Form des Ganzen, in der Vielfalt mit Einheit zusammengedacht werden kann. Der Begriff bezeichnet sowohl ein abstraktes Prinzip als auch konkrete, in der sinnlichen Anschauung erfahrbare und der kausalen Analyse zugängliche Gegenstände. Daher wurde er zu einem der zentralen Modelle von Ganzheit, vor allem in den empirisch orientierten Naturwissenschaften. Zu einem eigenen Typ der Ganzheitsform wird der Organismus nicht, weil er eine bestimmte Gestalt im Räumlichen bezeichnen würde - die Morphologie von Organismen ist bekanntlich überaus vielfältig -, sondern weil er ein bestimmtes Muster der Abhängigkeit von kausalen Relationen auf den Begriff bringt. Dementsprechend werden Organismen als 'dynamische' oder 'funktionale' Ganzheiten bezeichnet und gelten geradezu als das Paradigma dieser Ganzheitsform: Sie sind "das eindringlichste Beispiel einer dynamisch geordneten Ganzheit" oder auch "das Paradebeispiel einer strukturell-funktionalen Ganzheit".
Totalität
(2022)
Aus dem weiten Bedeutungshorizont des philosophischen Terminus soll im Folgenden 'Totalität' vor allem als Begriff in einer bestimmten neuzeitlichen Theorietradition thematisiert werden, in der er besonders prominent ist, und zwar in der zunächst im deutschen Idealismus verwendeten, dann vornehmlich im westlichen Marxismus prominent werdenden dialektischen Philosophie, wobei Gesellschaft zum paradigmatischen Gegenstand wird. Von Hölderlin über Hegel bis zu Lukács und Adorno lässt sich die Kategorie der Totalität wiederholt als eine dem Ideal des Kunstwerkes entlehnte erkennen. Beim jungen Hegel heißt es: "Jede Philosophie ist in sich vollendet und hat, wie ein echtes Kunstwerk, die Totalität in sich." Dennoch wäre es verfehlt, den philosophischen Gehalt von 'Totalität' allein als eine Übertragung von der Kunst auf die Gesellschaft anzusehen. [...] Bei dem hier interessierenden Begriff der Totalität geht es um die vermittelt gedachte, nicht um die unmittelbar geschaute oder gefühlte Einheit der Welt. Auf andere, seltenere Verwendungen, etwa Alexander von Humboldts eher in der Anschauung gegründeten, panoramatisch auf die "Totalität der Naturanschauung" gerichteten Gebrauch, wird hier nicht näher eingegangen. Hegels berühmtes Diktum: "Das Wahre ist das Ganze" jedoch gehört ganz wesentlich zu dieser Theorietradition, auch wenn er das Wort Totalität an dieser Stelle selbst nicht verwendet. Die Bestimmung: "Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen" ist die wesentliche Denkfigur, die auch Hegel selbst später mit dem Terminus Totalität gefasst hat. Die Debatten um den Begriff sind seit den 1920er Jahren, worauf am Ende einzugehen sein wird, zugleich hochpolitisch, was die morphologische und semantische Nähe von 'Totalität' als philosophischer Kategorie und 'Totalitarismus' als politischem Schlagwort zeigt.
System
(2022)
Das 'System' erregt starke Gefühle. Das gilt, nach wie vor, in der Wissenschaft, das gilt aber auch im Bereich des Politischen, wo 'das System' (früher) von links und (heute) von rechts abgelehnt wurde und wird. Auch wenn der Kampf gegen das 'Schweinesystem' dem Hass auf 'Systemparteien' und 'Systempresse' Platz gemacht hat - kühl abwägend oder unbefangen neugierig steht dem System niemand gegenüber. Es gehört zur Aufgabe einer theorie- und begriffshistorischen Annäherung an den Systembegriff, auch die starken Gefühle zu verstehen, die dieser hervorruft.
Aggregat
(2022)
Aggregate, die sich von realen Einheiten durch ihre Zusammengesetztheit unterscheiden, können Leibniz zufolge auf die verschiedensten Weisen zu einer zufälligen Einheit zusammengesetzt sein: durch räumlichen Kontakt (wie beim gefrorenen Teich), durch gemeinsame Bewegung (wie bei der zusammengebundenen Herde) oder durch einen einheitlichen Zweck (wie bei der niederländischen Ostindien-Kompanie). Nach Leibniz entsteht die zufällige Einheit eines Aggregats erst durch eine synthetische Operation des Geistes, durch die eine Menge von Dingen als Teile eines Ganzen betrachtet wird. Dies bedeutet aber nicht, dass Aggregate nur Erscheinungen sind. Sie sind vielmehr Körper, deren Wirklichkeit in den realen Einheiten besteht, aus denen sie zusammengesetzt sind. Es bedeutet auch nicht, dass Leibniz seinen Aggregatbegriff dem des Organismus entgegensetzt. Wenn ein Aggregat organisiert ist, hat seine Organisation entweder einen äußeren Grund (wie bei der Uhr) oder einen inneren Grund (wie beim Pferd). Die letztere, organische Variante heißt 'Lebewesen' und unterscheidet sich von einem bloßen mechanischen Aggregat dadurch, dass die Verhältnisse seiner Teile zueinander einer einzelnen Entelechie oder Seele untergeordnet werden. [...] Im Anschluss an Kant etablierte sich die Unterscheidung von System und Aggregat als zwei einander entgegengesetzten Formen des Ganzen. Ein System besteht demnach in der notwendigen Verknüpfung von Gliedern, die innerlich (nach einem Prinzip) in einem bestimmten Ganzen miteinander zusammenhängen. Ein Aggregat ist dagegen das bloß zufällige Resultat eines sukzessiven Zusammensetzens von Teilen, die äußerlich (durch räumliche Verhältnisse) in einem unbestimmten Ganzen miteinander zusammenhängen. Im Unterschied zur Leibniz'schen Prägung des Begriffs, der auch organisierte Körper einschloss, wurde das Aggregat jetzt dem Organismus entgegengesetzt, der systematisch gedacht werden müsse, auch wenn unser begrenzter menschlicher Verstand dieses System nie vollständig begreifen werde.
Universum, All, Kosmos
(2022)
Historisch gesehen ist 'Universum' ein einfaches Wort. Es stammt aus dem antiken Latein, wurde dort von Cicero gebraucht, verbreitete sich mittels des altfranzösischen 'univers' über die meisten europäischen Sprachen und fand Eingang in den modernen Wissenschaftsdiskurs offenbar mit dem offiziellen Titel "Über das Universum" der sogenannten "Kosmos-Vorlesungen", die Alexander von Humboldt im akademischen Jahr 1827/1828 an der Berliner Singakademie hielt. Die Semantik von 'Universum' hingegen, welche auf den ersten Blick ähnlich unterkomplex aussehen mag und in der Tat über zwei Jahrtausende konstant geblieben ist, konfrontiert uns mit zahlreichen Unschärfen und mit einer elementaren philosophischen Herausforderung. [...] Wie jede menschliche Kultur, so verfügt auch unsere Gegenwart über spezifische Konzepte und Bilder vom maximalen Ganzen. Einige von ihnen, vor allem solche, die in globaler Kommunikation zirkulieren, aus den Perspektiven ihrer historischen Besonderheit und ihrer epistemologischen Funktionen zu beschreiben, nehme ich mir für diesen Text vor. Epistemologisch, also auf die Strukturen von Wissen bezogen, ist der Blickwinkel, weil solche Prämissen und Bilder des maximalen Ganzen den Stellen wert von erstaunlich selten explizit werdenden Vorzeichen für individuelle Akte der Erfahrung und der Wissensbildung haben; historisch werde ich nicht im Sinn einer geschichtlichen Dokumentation verfahren, sondern mit der Bemühung, vor dem Hintergrund intellektueller Vergangenheiten eine These über die Spezifik jener epistemologischen Vorzeichen im frühen 21. Jahrhundert zu formulieren.
Einleitung
(2022)
Die politischen Krisen der Gegenwart (Klimawandel, Migration, Pandemie) verlangen nach globalen und ganzheitlichen Lösungen, während Ganzheit aufgrund der Totalitarismuserfahrungen des 20. Jahrhunderts zugleich eine in Verruf geratene Kategorie ist. Dieser Spannung haben sich die Geisteswissenschaften seit einigen Jahren verstärkt zu stellen versucht. Galt das Ganze v. a. der Idealismuskritik lange als suspekt, geht die Verabschiedung überkommener Totalitätsmodelle derzeit oft mit der Erprobung neuer Vorstellungen von Ganzheit einher.
Die dialektische Begriffsentfaltung schöner Kunst in ihren Momenten des Häßlichen, Komischen, Erhabenen ist nicht, wie das Vorurteil will, sophistische Begriffsspielerei; sie ist der angestrengte Versuch, die Möglichkeit bzw. Ermöglichung schöner Kunst unter den ihr "ungünstigen", "prosaischen" Lebensverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft zu entwickeln. Alle ästhetischen Theorien des Häßlichen greifen ein in die Debatte über den Vergangenheitscharakter schöner Kunst; sie melden sich zu Wort als Theorie gegenwärtiger Kunst; sie übernehmen präventiv die Gewährleistung schöner Kunst im Status ihrer drohenden Verabschiedung: sie behandeln sie als suspendiert. [...] Eine Kontroverse zwischen angemessener philosophischer Reflexion moderner Kunst und ästhetischer Theorie steht bislang aus. Aus der Optik einer Einzelwissenschaft heraus ist hier nur auf ihre Aktualität zu verweisen; sie ist merkliches Desiderat gar für Spezialforschungen wie diese über Schlegels 'Studium-Aufsatz'.
Hauffs Werk und Erfolg wurden in der Forschung immer wieder aufs neue und variantenreich durch drei Topoi charakterisiert. [...] Die Wirkmächtigkeit dieser drei Topoi, Eklektizismus, Marktanpassung
und virtuose Technik, scheint so stark und umfassend zu sein, daß das Interesse der Forschung an Hauffs spezifischer Literarizität gegenüber der fast ausschließlichen Konzentration auf die soziologische Analyse eines Erfolgsautors marginalisiert wurde. [...] Vielmehr deutet vieles darauf hin, daß hinter den Marktstrategien Hauffs ein literaturästhetisches, ja sogar ein literaturpolitisches Konzept steht. Eine Voraussetzung für eine diesbezügliche neue Sicht auf Hauff und sein Werk dürfte allerdings sein, daß die spezifische politisch-publizistische Sondersituation Württembergs in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts in den Blick genommen wird.
Die Zuspitzung der Problemkonstellation Virtuosentum versus Kunst im
Vormärz läßt sich plausibilisieren an Balzacs Roman "Les Illusions perdues". Hier wird nämlich die kunstkritische Kontroverse um Virtuosentum und Künstlertum und gleichzeitig das produktionsästhetische, narratologische Problem Feuilletonismus und Kunst zusammen- und enggeführt.
Wenn die Beschäftigung mit dem Thema Erinnerung heutzutage als Mode erscheint, so indiziert das nichts anderes, als dass das Erinnern in ein Stadium der Selbstreflexion eingetreten ist, das das Vergessen nicht vergessen lässt. Zugleich erscheint das Erinnern durch den Bezug auf das Vergessen in einer dynamisierten Form, insofern es nicht mehr über einen einzelnen Term, sondern über das Wechselspiel zweier Terme erklärt wird. Dieses dynamisierende Spiel mit zwei Termen beschränkt sich in der aktuellen Memoriaforschung keineswegs auf das Erinnern und Vergessen. Vielmehr erscheint es als Effekt des mittlerweile erreichten selbstreflexiven Niveaus der Erinnerung und bestimmt auch, wie im Folgenden angedeutet werden soll, den Gegensatz von außerwissenschaftlicher Erinnerungsarbeit und wissenschaftlicher Erinnerungsforschung; da Nebeneinander von transdisziplinärer und interdisziplinärer Erinnerungsforschung, das Verhältnis von raum- und zeitorientierten Erinnerungsmodellen, den Zusammenhang von individuellem und kollektivem Gedächtnis, sowie die Spannung zwischen einer national bzw. lokal verorteten und einer global entorteten Erinnerung.
Der Beginn der literarischen Karriere des Andenkens lässt sich in der
empfindsamen Literatur ausmachen. Dort finden sich auch Hinweise auf die Genese des Alltagsphänomens, die auf eine besondere Beziehung von Andacht und Andenken deuten. Im Folgenden soll die historische Konstellation der beiden Kulturpraktiken Andacht und Andenken skizziert werden. Den Ausgangspunkt bildet die begriffsgeschichtlich bezeugte Verbindung von Andacht und Andenken. Danach soll diese Beziehung mediengeschichtlich, erinnerungstheoretisch und ästhetisch erhellt werden.
Das Kriegserlebnis im für und wider : "Im Westen nichts Neues" von Erich Maria Remarque (1929)
(2011)
Der nationale und internationale Erfolg deutet darauf hin, dass "Im Westen nichts Neues" zehn Jahren nach Kriegsende den Nerv der Nachkriegszeit getroffen haben musste, indem er einen im angloamerikanischen Raum inzwischen etablierten Kriegs- und Nachkriegsmythos der "verlorenen Generation" aufgriff, nach Deutschland importierte, ihm eine neue deutsche Eigenart verlieh und in dieser bereicherten und neuen Form wieder exportierte. Der Roman hat eine aktuelle politische Bedeutung und eine spätere Langzeitwirkung.
Die binäre Opposition von Ideal und Karikatur ist bis in den Alltagswitz eine Erfahrung der Revolutionsepoche geworden. Karl Marx hat dieser Desillusionierung des revolutionären Heroismus, des plötzlichen Umschlags vom Erhabenen zum Lächerlichen und Häßlichen in seiner Schrift "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" die zusammenfassende, man ist fast geneigt zu sagen, klassische publizistische Form gegeben. Es scheint mir daher nicht nur zulässig, sondern auch notwendig, der Opposition Ideal und Karikatur auch in den exotischen Gefilden der Ästhetiken nachzugehen.
Pola Groß beobachtet in ihrem Beitrag zu neuesten deutschen Theatertexten eine Abkehr von der Relevanz der Aufführbarkeit, die mit einer Entwicklung hin zu stärkerer Fokussierung auf die Artifizialität und Poetizität der Texte einhergeht und somit zur "Reliterarisierung des Theaters" führe: Der Einsatz rhetorischer Stilmittel und die Aufwertung von Rhetorik als auch linguistisch fixierbare Sprechhandlung definierter Gruppen auf der Bühne trage dazu ganz wesentlich bei. Das zeigt Groß am Beispiel der Stücke dreier Gegenwartsdramatiker: Thomas Köck, Enis Maci und Wolfram Höll. Sie sind für das Verhältnis von Rhetorik, Stil und Gegenwartsbezug der neuen Stücke so aufschlussreich wie symptomatisch. In Köcks "paradies fluten" trägt nicht zuletzt die disparate Stilmischung zu einer auffälligen "Dramaturgie der Gleichzeitigkeit" bei. Ellipsen und fehlende Interpunktionen verstärken diesen Effekt. Enis Macis "Mitwisser" wird mitunter als "erstes wirkliches Internetdrama" gehandelt. Sie hält den hohen Stil auch dort durch, wo er ironisch gebrochen wird, integriert viele orale Segmente, bleibt jedoch im Ganzen auf die Ausstellung von Stil und Grammatik fixiert, um die Form gegenüber dem Inhalt und seinem Informationsgebot aufzuwerten. Hier schießt die Autorin jedoch, wie Groß überzeugend darlegt, mitunter übers Ziel hinaus, indem sie zu erläuternden (oft allzu moralischen) Kommentierungen bzw. Gebrauchsanweisungen neigt. Auch in Wolfram Hölls "Disko" geht es um den stilistisch bedingten Effekt der Gleichzeitigkeit, mehr noch als bei Köck, der diesen inhaltlich, und Maci, welche ihn formal privilegiert. Der Sound der 'Disko Europa' ist von einem minimalistischen Stil geprägt. Aber die an das elliptische Prinzip anknüpfenden Stile und Phrasen der Figuren nähern sich tendenziell so sehr an, dass sie sich zu einer Gruppen- oder Schulrhetorik formieren. In den unterschiedlich eingesetzten Techniken, eine Gleichzeitigkeit von Stil und Rhetorik zu forcieren, sieht Groß aber doch Möglichkeiten einer genuinen und bühnenwirksamen Literarizität.
Während Frank am Stil als "Handschrift des stilschöpferischen Individuums" gleichwohl festhält, sieht sich Elisa Ronzheimer anhand ihres Materials gezwungen, sowohl diesen Topos wie die Logik von Norm und Abweichung zu verabschieden. Was bei Frank Kombinatorik heißt, muss radikalisiert und neu gedacht werden, um dem international erfolgreichen südkoreanischen Musik-Video "Gangnam Style" gerecht zu werden, weil in diesem Fall das Original selbst schon parodistisch ist. Ronzheimer schlägt vor, das Individualitätsparadigma zu ersetzen durch ein Verständnis von Stil als kollektiver und partizipatorischer Praxis der Figuration und Defiguration. Damit scheint aber auch die Möglichkeit einer Art Wiederkehr der rhetorischen Regelpoetik am oder nach dem 'Ende' des Stils auf. Die Aussicht, dass heute Bedingungen herrschen, unter denen es eine Praxis, ein 'Üben' geben könnte, das nicht mehr automatisch Abweichungen produziert, sondern zur Homogenisierung tendiert, hat Moritz Baßler jüngst unter dem Titel "Der Neue Midcult" entfaltet.
Die Struktur und ihr Stil : wie Schleiermacher zwischen Derrida und Saussure vermitteln könnte
(2022)
Manfred Franks Beitrag widmet sich mit "Struktur" einem Gegenbegriff zum Stil, um Friedrich Schleiermachers sprachtheoretisch begründetes Verständnis des Stils als eines individuellen Allgemeinen zu rekonstruieren. Dabei zeigt sich, dass Stil und Struktur sehr wohl kompatibel sind und zusammengedacht werden können. Allerdings gilt auch bei Schleiermacher, anders als bei Lamy auf eine und bei Luther auf andere Weise, dass der Stil nie direkter Ausdruck (hier: des Individuellen) ist, sondern eine Weise der Kombinatorik, die allein "divinatorisch" zu entschlüsseln ist. Für den Nachweis der Kompatibilität von Stil und Struktur beruft sich Frank vor allem auf den Erz-Strukturalisten Saussure, der hier in große Nähe zu Schleiermacher und polemisch in weite Ferne von Jacques Derridas Saussure-Deutung gerückt wird.
Wie stark Stil durch die Rezipienten in ihren unterschiedlichen historisch-kulturellen Prägungen mitbestimmt wird, zeigt Gyburg Uhlmann in ihrem Beitrag zum Verhältnis von Stil und Elliptik. Um der rhetorischen Figur dynamischer Auslassung an der Schnittstelle von Rhetorik und Rezeption Rechnung zu tragen, erarbeitet sie, auch in Auseinandersetzung mit der reader-response-theory und Flecks Denkstil, das Konzept des Homologiestils. In ihm wird die Möglichkeit einer Übereinstimmung der Leser mit dem Text zu einem integrativen Bestandteil des Textes: Der Text ist angelegt, seinen Lesern die dynamische Verfasstheit seines Stils im Lektürevorgang nahezubringen. In Uhlmanns Analyse wird deutlich, dass und wie Stil mit jeder Lektüre neu entsteht. Sie entwickelt ihre Thesen vor allem mit Blick auf die Pragmatien, also die Schulschriften des Aristoteles, die für die Tradition einschließlich einiger der hier verhandelten Beiträge, maßgeblich sind. Zwischen den Polen eines qualitativen Mangels und einer stilistischen Tugend wird Elliptik bei Uhlmann zu einem Gradmesser der Literarizität eines Textes in der Interaktion mit Rezipienten.
Lutherstil
(2022)
Wie Stil und Rhetorik in einem einzelnen Autor mit- und gegeneinander wirken können, zeigt Barbara N. Nagels Analyse der Texte Martin Luthers, dessen Stil die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache bekanntlich geradewegs bedingt haben soll. In engem Kontakt mit der jüngeren Lutherforschung arbeitet Nagel auf originelle Weise den antirhetorischen Affekt heraus, der Luthers Bibelstil, seinen deutschen Stil und den Disputationsstil grundiert. Was immer im Ausgang von Luther seit Buffons bekanntem Diktum und bis Nietzsche vom Stil behauptet worden ist, für Luther selbst war Stil Lüge und deshalb jüdisch konnotiert (und aus diesem Grund für ihn problematisch). Was heute 'hate speech' heißt und schon damals nicht auf das Reden beschränkt blieb, hat einen seiner Ursprünge in Luther.
Rüdiger Campe argumentiert für die Kontinuität der Rhetorik über die Zäsur von 1800 hinweg. Gegenläufig zu Martin Urmann setzt er jedoch an der bei Descartes und Lamy abgewerteten Übung an, die im Zuge der Bildungsreform endgültig von der Bildfläche verschwunden schien. In der Moderne knüpft allenfalls Raymond Queneau mit seinen "Stilübungen" (1947) an die sich in der französischen Tradition länger erhaltene Praxis an, aber das wohl eher unter ästhetischen als rhetorischen Gesichtspunkten. Dass die Überführung schulischer Übungen in ästhetische Verfahren und stilistischen Ausdruck im modernen Sinne einen Zusammenhang bilden könnten, den Baumgartens Ästhetik von 1750 noch einmal pointiert, war trotz der jüngeren Forschung zu Baumgarten, die seine Bedeutung für das Fortleben der Rhetorik in der Moderne immer wieder hervorgehoben hat, allenfalls zu ahnen. Der Zusammenhang war gleichsam blockiert durch die historische Zäsur, die Rhetorik von Stil trennt, denn in der Folge hat Stil es nicht mehr mit rhetorischen Regeln, sondern mit Dialektiken von Norm und Abweichung zu tun. Diesen ganzen Bereich nennt Campe die taxonomische Dimension des Stils. Und sie trägt auch Verantwortung für die im 20. Jahrhundert notorische Inkriminierung von Stil als verkapptes Machtinstrument. Sehr deutlich wird diese Abwehr beispielsweise an Theodor W. Adornos gespaltenem Verhältnis zum Stil. Campe ergänzt die taxonomische Dimension des Stils um eine praxeologische - prominent verkörpert im Begriff der Schreibszene - die direkt aus der rhetorischen Praxis kommt. Was später Stil sein wird, ist in der Rhetorik nicht in den Regelwerken, weder in der Tropenlehre noch in den 'genera dicendi' zu suchen, sondern in der Praxis, die 'hexis' heißt und eigentlich das Wesen der Rhetorik ist. Dem Eindruck eines radikalen Bruchs entgegen hat das Üben nicht aufgehört und insistiert noch dort, wo es mit 'Werken' im modernen Sinne um etwas anderes zu gehen scheint.
In "Stil als natürliche Repräsentation der Affekte in der cartesianischen Rhetorik" macht Urmann die verblüffende Entdeckung einer Transformation der Rhetorik lange vor der Sattelzeit. Im 17. Jahrhundert, in der Logik von Port Royal wie bei Bernard Lamy, gerät Rhetorik in den Einzugsbereich der philosophischen Logik mit ihrem Primat des Selbstbewusstseins. Die damit zusammenhängende Aufwertung der 'elocutio' führt nicht nur zu einem neuen Interesse an Stil innerhalb der rhetorischen Systematik, sondern es kommen die Affekte in einer Weise ins Spiel, die das sprachzentrierte Wesen der Rhetorik angreift. Schon bei Descartes rutscht Rhetorik in die Einflusssphäre der als menschliche Vernunft gefassten Natur. Natur stellt die Mittel der Redekunst unmittelbar zur Verfügung. Die Bedeutung von Regeln und deren Übung ('studium' und 'exercitatio', 'étude' bei Descartes) rückt in den Hintergrund. Lamy knüpft das gelockerte Band zwischen Rhetorik und Sprache wieder enger, aber auf unerwartete Weise: Die Tropen seien selbst schon die Sprache, in der sich die Affekte wie in einem passiven Medium ausdrücken. 'Elocutio' erscheint als 'natürlicher Stil der Affekte'. Während es nicht schwer ist, von diesem Befund aus Linien von der frühen Neuzeit ins 18. Jahrhundert einschließlich Geniekult zu ziehen, weist Urmann auf den Preis dieser "cartesianischen Trübung" der Rhetorik hin: Weil Rhetorik traditionell immer eine "implizite Theorie der Praxis" gewesen sei, ist die Vorstellung von der Sprache als passives Medium eigentlich widersinnig. In Urmanns Perspektive wird Lamys Rhetorik zum Einfallstor für spätere Einfühlungsästhetiken, deren Kritik bei Nietzsche dann mit der Kritik am rationalistischen Primat des Selbstbewusstseins zusammenfällt.
Die Beiträge dieser Interjekte-Ausgabe zeichnet eine programmatische Dimension aus, die zur Revision einer Reihe von bisherigen Annahmen in der Forschung zu Stil und Rhetorik auch durch überraschende historische Schnitte anregt: von Luther und Bernard Lamy über Baumgarten und Schleiermacher bis zu Musikvideos und Theatertexten der Gegenwart.
Der historische Index für die in der Titelformulierung zum Ausdruck kommenden kontrast-und spannungsreichen Freundschaftskonstellationen in einem um 1800 sich bildenden urbanen Umfeld wird ersichtlich, wenn man die Unterscheidung von empfindsam geprägten Bekenntnisfreundschaften und diplomatisch geführten Freundschaftsnetzwerken einführt.
Anders aber als in den Deutungen der frühen dramatischen Schriften [...] ist 'Die Harzreise' bislang nicht als eine für die Topographie des jüdischen Gedächtnisses entscheidende Wegmarke eingeschätzt und interpretiert worden. Dies verwundert um so mehr, da "Die Harzreise" im Kontext eines ausgiebigen Studiums der "historia judaica" entstanden ist.
Ekphrasis ist in der rhetorischen Theorie der Antike keine Gattung der
Bildbeschreibung, wohl aber eine "Übungsform" (Progymnasmata), die sich verpflichtet durch Sprache innere visuelle Bilder zu erzeugen. Mörike ist bekanntlich ein guter Kenner der Antike, u.a. ausgewiesen als Übersetzer aus dem Griechischen. Sein Gedicht 'L. Richters Kinder- Symphonie' spielt alle Formen der Ekphrasis, des Vor-Augenstellens durch Sprache aus: die Beschreibung, die Narration, die Vision, die evidentia, auch ganz spezifische Formen wie die "Schaurede", die in der
kaiserlichen Zeit der Antike Festbeiträge mit einer impliziten Beschreibung des Festes selbst verbunden hatte.
Wissenspopularisierung
(2013)
Wilhelm von Humboldt leistet zweierlei: I. Er überträgt die Grundfigur des Klassizismus, das Eigene am Fremden zu verstehen, vom Altertum auf die modernen europäischen Nationen mit Hilfe seines Konzepts einer vergleichenden Anthropologie. 2. Er stellt die anthropologisch und geschichtsdiagnostisch zugleich intressierte Frage nach dem Potential, den Voraussetzungen, Bedingungen und Grenzen einer Nation, sich Fremdes aufzuschließen und anzuverwandeln. Damit gelang ihm gegenüber der dem Nationalgeist huldigenden Romantik zwar kein breitenwirksamer, aber ein für die deutsche Klassik richtungweisender Beitrag zur kulturellen Identitätsfindung. Er sollte bis in Goethes Weltliteraturvorstellung fortwirken.
Wie keine andere Erzählung Kleists läßt sich "Der Findling" explizit als Sequenz von 'Vorfällen' lesen. Sieben Mal wird dieser Begriff in der Erzählung als Gliederungsakzent verwendet [...], nicht mitgerechnet der Gebrauch der verbalen Form, etwa bei der Frage: 'was vorgefallen
sei' [...]. Die zeitgenössische Konjunktur des Wortes 'Vorfall' ist in der Medizin, Kriminalistik und der ihr nahestehenden Publizistik zu beobachten, und selbstredend ist dieser Begriff auch dem auf aktuelle Polizeinachrichten bedachten Herausgeber der Berliner Abendblätter, Heinrich von Kleist, geläufig.
Erich Knauf übernahm am 1. Juli 1928 die literarische Leitung der Büchergilde. [...] Er war nicht nur an einer thematischen Erweiterung der Angebotspalette um "zeitgenössisch sozialkritische Werke" interessiert. Es ging ihm offensichtlich zugleich um eine methodische Neuausrichtung des kulturpolitischen Konzeptes der Büchergilde. [...] Der Titel von Knaufs Buch 'Empörung und Gestaltung' ist [...] Programm. Er sollte implizit das neuartige sozialrevolutionäre und ästhetische Konzept für die weitere Gestaltung des Programms vorstellen.
Dem bemerkenswerten wissenschafts- und ästhetikgeschichtlichen Interesse an Friedrich Theodor Vischers Werk in der Gegenwart lässt sich ein weiterer Akzent hinzufügen, wenn man Vischers repräsentative Rolle sowohl im Vormärz wie im Nachmärz rekonstruiert und dabei vor allem auf seine Selbstkorrekturen und Revisionen die Aufmerksamkeit lenkt. In wissenschaftshistorischen Studien der jüngsten Zeit gewinnt die 'Historische Epistemologie' an Kontur.
In der Märchenforschung ist man lange Zeit überwiegend von einem Archetypus oder einem Grundmuster ausgegangen, um dann danach, gleichsam im zweiten Schritt, die Vielfalt historischer Erscheinungen als Varianten eines Typs aufzuzeichnen. Dieses idealtypische Vorgehen schätzt nicht nur die historische Ausprägung eines Märchens als sekundär ein, es geht prinzipiell auch von einer Hierarchie aus. Gegenüber derartigen spekulativen Annahmen ist man heute skeptisch und vorsichtig geworden.
Jugend sei eine "Erfindung" des 18. Jahrhunderts - wurde in der Forschung behauptet. Diese These bestreitet nicht, daß auch schon früher 'Jugend' als Altersstufe bekannt und anerkannt war. Mit rhetorischer Selbstverständlichkeit wurden seit Aristoteles gewisse anthropologische Grundmuster von Jugendlichkeit, z.B. Unbekümmertheit, Unbeständigkeit, Draufgängertum, Übertreibung, Zukunftsorientierung, Schamhaftigkeit und Freundschaftsfähigkeit unterstellt, repetiert und zitiert. Die forcierte These, das Konzept Jugend sei erst im 18. Jahrhundert entstanden, akzentuiert, daß Jugend als selbständige Lebensform ein Kennzeichen der Moderne ist.
Sicherlich hat der Begriff Erbe gegenüber konkurrierenden Begriffen wie dem der Tradition als einer bis in die Lebensverhältnisse hinein fraglosen Beziehung zum Hergebrachten oder dem der Rezeption als einer allein szientifischen Form der Vergangenheitsaneignung einsehbare Vorteile. Er faßt mehr als ein nur wissenschaftsgeleitetes Vergangenheitsverhältnis. Er ist vorbegrifflich angesiedelt in Lebens- und Eigentumsverhältnissen und legt auch in seinem wissenschaftlichen Gebrauch diese, sein Vorverständnis prägende Nähe zu Formen und Regeln gesellschaftlichen Lebens nicht ab. Doch verkehren sich - unbedacht - Vorteile leicht in Nachteile. Es sollten daher die wissenschaftsmethodischen, -theoretischen und -geschichtlichen Verwendungen des Erbebegriffs ebenso überlegt werden, wie die vorbegrifflichen, teils metaphorischen Implikationen, die den Begriffsgebrauch mitbestimmen. Denn gerade letztere entfalten, aus dem wissenschaftlich kontrollierten Kontext entlassen, eigene politische und ideologische Wirkungen. Auf beides kann ich nur knapp eingehen. Wenn ich von wissenschaftlichen Implikationen des Erbebegriffs spreche, die kaum Beachtung finden, denke ich beispielsweise an das Verhältnis der Metapher 'kulturelles Erbe' zu ihrer juristischen Basissemantik; es hat eine wissenschaftsgeschichtliche Vorgeschichte. Wenn ich von außerwissenschaftlichem Vorverständnis spreche, denke ich an den alltagssprachlichen Wortgebrauch und die Alltagserfahrung.
Karikatur
(1976)
Die Romantiker lieben es, programmatisch aufzutreten. Daher ist es bemerkenswert, dass in ihren Manifesten die Nennung und Konzeptualisierung von Ironie, Arabeske, Humor, Phantastik und Groteske dominiert. Die Erwähnung der Satire hingegen findet sich selten, sie bleibt randständig. Und doch ist auffällig, dass zum Beispiel in den nicht zur Veröffentlichung bestimmten poetologischen Notizen Friedrich Schlegels die Satire nicht nur gleichwertig mit Ironie, Burleske, Parodie, Groteske behandelt, sondern zugleich um ihren literaturtheoretischen systematischen Ort und ihre literaturpolitische Stellung geradezu gerungen wird.
Die erste Voraussetzung für eine Neuausrichtung des Verhältnisses der Künste und Medien zueinander bestand darin, dass jede und jedes von ihnen Eigenständigkeit und Gleichwertigkeit beanspruchen konnte. Keine Kunst und kein Medium sollte als zweitrangiger Dienstleister begriffen und missbraucht werden. Illustration von Texten wurde infolgedessen genauso abgelehnt wie eine schlichte Beschreibung einer malerischen Vorgabe.
Meine Überlegungen zielen [...] nicht nur spezifisch auf eine Anfang der 80-er Jahre des 20. Jahrhunderts führende Interpretationsrichtung, die damals bis auf den Kommentar einer Historisch-kritischen Ausgabe durchschlug. Meine Bemerkungen richten sich darüber hinaus auf die Problematik eines positivistisch ausgerichteten Kommentars angesichts eines Œuvres, das bei genauerem Hinsehen nicht nur eine gewisse Nähe zum Positivismus aufweist, sondern zugleich auch Kritik und Distanz. Eine Historisch-kritische Edition trägt von ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Genese her positivistische Züge. Der "Detailrealismus" und der dokumentarische Zug in Annette von Droste Hülshoffs Werk kommt dem entgegen.
Wie sehr gerade Kunst dem Geheimnisbedarf einer modernen Gesellschaft gerecht wird, kann ein Seitenblick auf ein in der Aufklärung gemachtes, faszinierendes und gescheitertes Experiment zeigen, das den Geheimnisbedarf der Gesellschaft auf gesellschaftlicher und lebensweltlicher Ebene zu befriedigen versuchte. Ich denke an die Konjunktur der Freimaurerei als einer Form des modernen Geheimbundes.
Das Merkmal der Vielstimmigkeit mag für Rühmkorfs auf Rede und Gegenrede angelegtes essayistisches, kritisches und polemisches Schreiben, das sich mitunter als sprechendes Fechten im literarischen Handgemenge zeigt, unstrittig sein; zu Anfang seines lyrischen Schaffens jedoch war für die Lyrik Dialogizität ein mehr als ungewöhnliches Ansinnen; es war geradezu provokant. Denn Lyrik, vornehmlich moderne Lyrik, war festgelegt auf "poetische Monologizität".
Schreibszenen des Billets
(2015)
Es ließe sich unschwer eine veritable Bibliothek aus Briefwechseln, Briefstellern, Briefforschung zusammenstellen. Zum Billet, "Briefgen", "Zedul" oder "Blättchen", also zur Vorgeschichte der SMS, könnte man gerade mal einen kleinen Schuber füllen. Diese Asymmetrie ist erklärungsbedürftig und im Blick auf ganz andere als in sogenannten "ordentlichen" Briefen praktizierte Schreibszenen auch aufschlussreich.
Ich will versuchen, an einem Spezialfall der Ornamentästhetik zu zeigen, wie die Arabeske, damals auch Arabeskgroteske genannt, aufgrund ihrer traditionellen Disposition zu einem der bedeutendsten Grenzgänger innerhalb der klassizistischen Ästhetik wird: Sie ist hervorragend geeignet zum autonomen Spiel. Daher avanciert sie auf der einen Seite zum Favorit klassizistischer Ornamentästhetik, gefährdet aber auf der anderen Seite durch die ihr eigene, unbändige Einbildungskraft beständig den Ordnungsgedanken des Klassizismus. Die Arabeske als Grenze einer Grenzziehungskunst scheint mir geeignet, die Spielregeln klassizistischer Ästhetik und die Notwendigkeit oder wenigstens Möglichkeit des Übertritts zur Romantik plausibel zu machen.
Ausgangspunkt der hier vorgenommenen Zusammenstellung einer ästhetischen Theorie, einer kunstgeschichtlichen Analyse und einer poetischen Darstellung des niederländischen Genres war eine Faszination. Annette von Droste-Hülshoff hatte in einem Prosafragment ein ästhetisches Experiment mit einer Gattung durchgeführt, deren ästhetische Besonderheiten theoretisch erst in jüngster Zeit und durch eine neuartige kulturgenetische Vorgehensweise von Hegel und Schnaase exponiert worden waren. Staunenswert dabei ist nicht nur, dass und wie Droste-Hülshoff die verschiedenen Bestimmungsstücke des Genres, die Ästhetik des Flüchtigen, die Ästhetik des Zweideutigen und die ästhetische Theorie des Interieurs, im sprachlichen Medium erprobt; verblüffend ist mehr noch, dass sie die implizit zwischen Hegel und Schnaase sich abzeichnende Differenz in der Einschätzung der ästhetisch lizenzierten Darstellung des Bösen narratologisch zu nutzen weiß und folgerichtig das niederländische Gesellschaftsbild in eine "Kriminalgeschichte" überführt.
Wechselseitige Infiltration von Grenzregion und Interieur in Joseph Roths "Das falsche Gewicht"
(2012)
Es existieren viele Leitworte in der Erzählung "Das falsche Gewicht". Dominant und führend ist das Wort 'Zuhause'. [...] Die Geschichte "Das falsche Gewicht" stellt einen Auszug von 'Zuhause' dar, einen Weggang von 'Zuhause' in Etappen und dem Versuch ein oder zwei oder drei 'Ersatzzuhause' zu finden.
Der Name Engelbert Humperdinck wird von den meisten Musikinteressierten unwillkürlich mit seinem berühmtesten Werk "Hänsel und Gretel" oder allgemein mit dem Begriff "Märchenoper" assoziiert. Auch herausragende Musikwissenschaftler - wie z.B. Carl Dahlhaus im "Neuen Handbuch der Musikwissenschaft" - beschränken sich beim Stichwort "Humperdinck" in der Regel auf Erläuterungen zu "Hänsel und Gretel". Humperdinck hat in der Tat eine ganze Reihe von Märchenstoffen vertont: Er begann mit Liedern zu Märchenspielen, die seine Schwester Adelheid Wette für ihre Kinder geschrieben hatte ("Schneewittchen" 1888, "Hänsel und Gretel" 1890 und "Die sieben Geislein" 1895). Nach dem Erfolg der durchkomponierten Oper "Hänsel und Gretel" 1893 versuchte er sich an der Gattung Melodram ("Königskinder" 1895/97 nach einem Text von Elsa Bernstein), einer Mischform aus Singspiel und Melodram ("Dornröschen" 1902 nach einem Text von Elisabeth Filhés-Ebeling) und schließlich wieder an der durchkomponierten Märchenoper ("Königskinder" 1910). Außerdem schrieb er ein Vorspiel und zwei Musiknummern zu Maurice Maeterlincks "Der blaue Vogel" (1910-12).
Jedoch war dies nur ein Bereich der Musik für die Bühne, in dem er sich betätigte. Eine bedeutende Phase war für Humperdinck die Zusammenarbeit mit Max Reinhardt am Deutschen Theater und Alfred Halm am "Deutschen Schauspielhaus" in Berlin (von 1905 bis 1907), in der u.a. Bühnenmusik zu vier Shakespeareschen Werken entstand ("Der Kaufmann von Venedig", "Der Sturm", "Das Wintermärchen" und "Was ihr wollt"). In seiner letzten Schaffensperiode konnte Humperdinck sich verstärkt der Gattung widmen, die ihm schon vor Hänsel und Gretel als Ausweg aus der Wagner-Nachfolge-Lethargie erschienen war, der komischen Oper ("Heirat wider Willen" 1905, "Die Marketenderin" 1914, "Gaudeamus" 1919).
In diesem Beitrag soll "Dornröschen" genauer betrachtet werden - ein Märchenspiel, das im Unterschied zu den beiden Märchenopern Humperdincks wenig Erfolg hatte und in der Literatur bisher so gut wie gar nicht behandelt wurde. Wie ist das Werk entstanden, was ist das Besondere an ihm, und welche Gründe gibt es für sein Scheitern auf der Bühne? Zunächst soll je doch ein kurzer Überblick über Inhalt, Besetzung und Form in das Werk ein führen...
„Zu viel Musik“ lautet der Titel eines Aufsatzes des Pianisten, Komponisten, Dirigenten und Musikschriftstellers Ferdinand Hiller (1811-1885) über die Musikbelästigung eines musikalischen Bürgers durch unterschiedlichste Quellen in seinem Umfeld im Laufe eines Tages, sicherlich auf eigenen Erfahrungen fußend.1 Er wird als Titel für diesen Beitrag im übertragenen Sinne zitiert, weil der Nachlass Hiller in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main beim ersten Sichten bisher sehr unübersichtlich erschien. Der Nachlass umfasst 74 Bände Musikhandschriften, davon 21 Sammelhandschriften, dazu 9 Mappen mit Stimmen, 59 Bände Musikdrucke eigener Werke, davon 29 Sammelbände, dazu eine dicke Mappe mit Stimmen. Weitere Handschriften wurden nachträglich erworben. In verschiedenen Sammlungen sind darüber hinaus Briefe und Bildnisse Hillers überliefert.
Dieser Beitrag hat das Ziel, eine strukturierte Übersicht über die enthaltenen Werke zu geben: Der Inhalt der im Druck überlieferten Sammelbände wird anhand einer Tabelle dargestellt. Den Hauptteil dieses Beitrages bildet eine nach musikalischen Gattungen gegliederte Liste der in Frankfurt überlieferten Musikautographe, die als Register zu dem mittler weile digital verfügbaren Nachlassverzeichnis von Christine Ihl genutzt werden kann.
Zwei große Theaterzettelsammlungen mit über 100.000 Stück sind seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in der damaligen Stadt- und heutigen Universitätsbibliothek Frankfurt am Main beheimatet und machen sie in dieser Hinsicht zu einer bedeutenden theaterhistorischen Institution im deutschsprachigen Raum: die Sammlung der Städtischen Bühnen Frankfurt am Main und ihrer Vorläufer sowie die Sammlung des Manskopfschen Musik- und Theaterhistorischen Museums...
Die in der Forschung bislang übersehene eigenständige Rezeption der urbanen in Paris entstandenen Persiflage durch die Frühromantiker*innen bietet eine Möglichkeit, die duale Konstellation zwischen Büchner und der Romantik um eine dritte komparatistische Perspektive zu erweitern. Es wird im Folgenden also nicht das allgemeine Phänomen der Verwendung von satirischen Mitteln in der Romantik und in Büchners Werk diskutiert, sondern eine spezifischer ausgelegte dreigliedrige Fragestellung: Der Nachweis der Attraktivität der französischen Persiflage als moderne Form boshafter Satire in der Frühromantik wird ergänzt durch die Analyse der Romantisierung der Persiflage. Erst danach kann das virtuose ausdifferenzierte Widerspiel von Persiflage und Karnevaleske in Büchners Werk vorgestellt und analysiert werden.
Öffentlichkeit bedarf, um zu gedeihen, einerseits bestimmter staatlicher und rechtlich abgesicherter Außenbedingungen [...] anderereits bestimmter kommunikativer und urbaner Binnenbedingungen. Öffentlichkeit ist und wird aber auch geprägt von bestimmten Erfahrungs- und Wahrnehmungsformen. Eine Gelehrtenöffentlichkeit kann z.B. lokalitätsüberschreitend durch Schrift [...] und vor Ort in bestimmten Formen der Oralität, etwa der Vorlesung oder Disputation, stattfinden. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Physiognomie der Öffentlichkeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr dominant von einer exzessiven Lese- und Schreibsucht geprägt wie noch im 18. Jahrhundert, sondern von einem unersättlichen Bilderhunger. Geht man auf die Suche nach den eigentümlichen Konstitutionsbedingungen literarischer Öffentlichkeit in der Epoche der Spätromantik und des Vormärz, so darf man nicht bei der Literatur stehen bleiben, sondern muß von der Interferenz von Literatur und Bild (wie in anderer und paralleler Weise von Literatur und Lied) ausgehen.
Betrachtet man die gesamte Breite ästhetischer Tonarten, die Annette von Droste-Hülshoff in ihren Gedichten erprobt hat, von der Ironie, dem Sarkasmus, der Satire, der Parodie, dem Humor bis zum Schauer, Horror, Dämonischen, Unheimlichen und Erhabenen, so ist eine asymmetrische Bewertung auffallend. Obgleich sie in ihrer Jugend "durchbohrend witzig" gewesen sein solll und obgleich in der gleichzeitigen zeitgenössischen ästhetischen Theorie - von Selger bis Ruge und Vischer - die Gleichursprünglichkeit des Erhabenen und Komischen als innovative Einsicht geltend gemacht wurde, scheint es bis zur aktuellen Rezeption und Erforschung der Lyrik der Droste
ausgemacht zu sein, dass die Modernität dieser Dichterin in der "bedrohlichen Abgründigkeit", das heißt in ihrer das Unheimliche, Schaurige darstellenden Lyrik zu finden sei.