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Die großen Dichter der Römer haben in der abendländischen - und nicht zuletzt in der deutschen - Literatur des 20. Jahrhunderts ein äußerst produktives Nachleben genossen. In seinem 'Tod des Vergil' (1945) befasst sich Hermann Broch einfühlsam mit Leben und Werk des Dichters der Äneis. In Christoph Ransmayrs 'Die letzte Welt' (1988) tritt Ovid als Person nie in Erscheinung, aber die Forschungen des Romanhelden enthüllen das problematische Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit im Leben Ovids während seines Exils im fernen Tomis und in den Erzählungen seiner Metamorphosen. Günter Grass' Roman örtlich betäubt (1969) bietet unter anderem eine einsichtsvolle Analyse der Bedeutung Senecas als Seismograph für jeweils drei Generationen von Deutschen der Bundesrepublik. Und Lukrez?
Titus Lucretius Carus (circa 94-54 v.Chr.), der in der Geschichte der lateinischen Literatur als epischer Dichter neben, ja manchmal sogar über Vergil gestellt wird und vor allem als wichtigster Befürworter des Epikureismus im Rom des ersten Jahrhunderts v.Chr. galt, spielt in der Literatur des 20. Jahrhunderts kaum noch eine Rolle. Wenn auch die atomistischen und vermeintlich antireligiösen Lehren seines 'De Rerum Natura' während des christlichen Mittelalters abgelehnt wurden, schätzten ihn sogar seine Gegner als einen großen Sprachkünstler. Nach seiner Wiederentdeckung in der Renaissance wurde er zunehmend als Philosoph und Naturwissenschaftler geschätzt. Aber nachdem sein Einfluss im 19. Jahrhundert bei vielen Dichtern noch hochstand, wurde sein Name danach immer seltener erwähnt. Seit der wichtigen Vortragsreihe George Santayanas über Lucretius, Dante und Goethe - Three Philosophical Poets (1910) - haben sich zwar immer wieder akademische Philosophen mit seinem Denken befasst; aber die einzige ausführliche Studie über Lukrez und die Moderne kann nur wenige literarische Beispiele heranziehen: neben den Italienern Italo Calvino und Primo Levi und dem Österreicher Raoul Schrott, die im Vorübergehen erwähnt werden, werden nur einige anglo-amerikanische Dichter zitiert, die sich aber nie ausführlich mit Lukrez oder seinem Werk beschäftigen. In einer wichtigen deutschen Forschung zur Antikerezeption wird nach Goethe nur noch Heinrich Mann erwähnt, in dessen Roman 'Die Vollendung des Königs Henri Quatre' (1938) Zitate aus mehreren lateinischen Dichtern, einschließlich Lukrez, vorkommen.
Warum dieses Schweigen?
Barthes' Benjamin-Rezeption soll in einem ersten komparatistisch-dokumentarischen Teil genauer erfasst werden, indem die photographischen Illustrationen in der 'Literarischen Welt', dem 'Nouvel Observateur' und in 'La Chambre claire' gegenübergestellt und die Photographie-Zitate identifiziert werden. Als Zweites werden weitere mögliche Rezeptionswege zwischen Benjamin und Barthes angedeutet, die im Kontext der Photographie eine Rolle gespielt haben könnten. Dem wird drittens ein analytisch ausgerichteter Teil folgen, in dem problematisiert werden soll, inwiefern der theoretische Gegenstand selbst, d.h. die Photographie, als visuelles Bindeglied zwischen Benjamin und Barthes fungiert und auf welche Weise die Photographie-Zitate mit einigen Scharnierstellen in der Photographie-theoretischen Argumentation insbesondere bei Barthes zusammenhängen. Abschließend soll untersucht werden, inwiefern Barthes’ spezifische Zitierpraxis mit Benjamins eigener Zitier-, Montage- und Sammlerpraxis verwandt ist, inwiefern dadurch die Photographien "zu ihrem Rechte kommen" (GS V, 574) und inwiefern schließlich Rezeptionsgeschichte im Sinne von Benjamins Geschichtsverständnis exemplarisch zur Anschauung kommt.
Stefan Willer analysiert die zahlreichen um 1900 kursierenden Pathologien und Pathographien 'großer Männer', die Goethe oft als privilegiertes Fallbeispiel bemühen. Die diese Schriften kennzeichnende Mixtur aus "biographischem Interesse", "vitalistischer Weltanschauung" und "metaphysischer Überhöhung" betrachtet Willer als typisch für eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts prosperierende 'lebenswissenschaftliche' Goethe-Rezeption, die Goethe allerdings nicht degradiere, sondern die in der Regel sogar zu einer "umso emphatischeren Aufwertung" seiner "künstlerischen Lebensleistung" führe und Goethe auf ihre Art anschlussfähig für das neue Jahrhundert mache. Während insbesondere Schiller vom pathologischen Diskurs als ein "heroischer" (und rein biologisch Kranker) kanonisiert worden sei, schlage dieser Goethe auf die 'nervöse', 'innerliche' und partiell auch 'dekadente' Seite der Modernität. Im Zentrum von Willers Untersuchung steht die Studie "Ueber das Pathologische bei Goethe", die der Psychiater Paul J. Möbius 1898 vorgelegt hat. Neben dem "diagnostisch-lesenden Blick" und der "symptomalen Lektüre", die sowohl Goethe'sche Figuren wie Werther oder Gretchen als auch bedeutende Lebensstationen des Autors pathologisch einordnen, gilt Willers besonderes Interesse der Partizipation dieser Studie an den wichtigsten medizinischen Diskursen ihrer Zeit. Die Untersuchung verrate den Einfluss einer bereits von Cesare Lombroso wissenschaftlich behaupteten Affinität von Genie und Wahnsinn ebenso wie den der Entartungs-Theorie Max Nordaus. Die seit dem späten 19. Jahrhundert gängige Verbindung zwischen Pathologie und Degenerationsdiskurs appliziere Möbius jedoch allenfalls zaghaft auf Goethe. Stattdessen unterlege er die Goethe'sche Pathologie einer Entwicklung, die sich in Sieben-Jahres-Zyklen manifestiert habe. Willer flankiert seine Möbius-Lektüre systematisch mit anderen Goethe-Pathographien jenseits der Psychiatrie bis in den Nationalsozialismus hinein und er konfrontiert Möbius abschließend mit prominenten psychoanalytischen Goethe-Lektüren. All diesen Bemühungen sei gemeinsam, dass sie Goethe als Patienten betrachteten. Gemeinsam sei ihnen aber auch, dass die Ärzte als von Goethe permanent 'Affizierte' ihrerseits "in die Nähe des Patienten-Status" zu geraten drohten.
Vor uns liegt ein Kupferstich auf Papier: er misst 27,5 cm in der Höhe und 20 cm in der Breite, ein handlich-mobiles, druckgraphisches Objekt also. Am unteren Rand, innerhalb des von feinen Linien markierten Druckrahmens der Platte, stehen die drei Signaturen der an der Produktion des Blatts Beteiligten: "L.Cigoli Florent. figuravit. Cornelius Galle sculpsit. C.Galle excudit", entwerfender Florentiner Künstler ("figuravit"), Kupferstecher ("sculpsit") und Verleger ("excudit"). Das Blatt befindet sich heute im Amsterdamer Rijksmuseum. Ein geringfügig kleinerer, beschnittener Druck (26,2 cm × 19,3 cm) im British Museum in London trägt am unteren Rand nur die Marke des Verlegers aus Nürnberg: "B. Caimax excudit". Der in Florenz und Rom aktive Maler Ludovico Cigoli (1559–1613) hatte um 1595, wohl in Florenz, Zeichnungen als Vorlage für den Stich angefertigt. Er greift mit seiner Teufelsfigur eine Figuration Giovanni Stradanos von 1588 auf, die wiederum, nicht im Detail, aber in der monumentalen Anlage der Figur des Satans auf Botticellis Zeichnung vom Ende des 15. Jahrhunderts rekurriert. Vermutlich sollten die dann gestochenen Blätter zunächst als eine Art Anschauungsmaterial im Rahmen akademischer Vorlesungen und Debatten über Dante dienen. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts waren regelrechte Wort- und Argumentschlachten unter Florentiner Intellektuellen, vornehmlich an den neu gegründeten Sprachakademien, um den Stellenwert von Dantes Dichtung im Allgemeinen und um die konkreten Formen seiner poetisch konstruierten Jenseitsräume im Besonderen ausgetragen worden. Das Londoner Blatt, in Nürnberg gedruckt und verlegt, zeigt, dass Cigolis gestochener Lucifer um 1600 auch überregional reüssierte: ein gleichsam intellektuell eingehegtes und doch ästhetisch eindrücklich neu formuliertes Bild des Teufels Dantescher Lesart, das im Medium des Kupferstichs Verbreitung findet.
Stefan George und Alfred Schuler begegnen der sog. Krise des Historismus, die den Glauben an die Einheit von geschichtlichem und kulturellem Fortschritt erschütterte, mit einer neuen Art des Historismus, die mit einer signifikanten Umcodierung der überlieferten Wissensbestände einhergeht. Vor dem Hintergrund der kulturpessimistischen Stimmungslage des Fin de Siècle knüpft die Idealisierung der Antike hier zwar an deren bildungsbürgerlich tradierte normative Setzung durch Johann Joachim Winkelmann an, das klassische Antikenverständnis wird jedoch einer zeitbedingten Transformation unterzogen und zum vitalistischen Gegenpol einer als dekadent verstandenen Gegenwart erklärt. Unter dem Einfluss von Friedrich Nietzsches "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" (1874) wird das Griechische bei George bzw. das Römische bei Schuler als 'verlebendigte Antike' zum gegenwärtigen, heilsgeschichtlich aufgeladenen Kulturfaktor erhoben, der als produktive Kraft in der deutschen Gegenwart wirken soll.
George Sand (1804-1876) zählt zu den herausragenden Figuren der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. [...] Auch in Deutschland gehörte Sand, legt man die Präsenz ihrer Romane im Bestand der zeitgenössischen Leihbibliotheken als Maßstab zugrunde, zu den meistgelesenen französischen Autoren. Da heute nicht mehr von einer vergleichbar breiten Kenntnis ihres Werks ausgegangen werden kann, erscheint es sinnvoll, einleitend einen Abriss des literarischen Schaffens der Schriftstellerin voranzustellen, dessen übersetzerische Vermittlung im Vormärz Gegenstand der folgenden Untersuchung ist. [...] Ein Blick auf die beteiligten Übersetzer zeigt ein heterogenes Bild. [...] Eine breite Vermittlung der Texte als Unterhaltungsliteratur wird durch ästhetisch und politisch gebundene Deutungsdiskurse einer intellektuellen Avantgarde ergänzt, die in vielen Fällen direkt an bestimmte Übersetzungen geknüpft sind, in Form von Einleitungen, Vorworten oder erläuternden Artikeln in verlagseigenen Zeitschriften, offenbar mit dem Ziel, die Rezeption in eine bestimmte Richtung zu lenken. Die folgende Studie möchte diesen Steuerungsprozessen im Rahmen der übersetzerischen Rezeption nachgehen und untersuchen, inwiefern sie tatsächlich Ausdruck einer doppelten Vermittlung der Sand-Übersetzungen sind, zum einen ausgerichtet auf das Unterhaltungsbedürfnis eines entstehenden Massenlesepublikums, zum anderen eingepasst in den Ideenkampf bestimmter, tonangebender Milieus.
Eine Untersuchung der Rezeption der Opera comique in Italien mag auf den ersten Blick wenig ertragreich erscheinen. Während ihre Werke im übrigen Europa die Bühnen beherrschten, konnten sie sich hier nie recht im Repertoire etablieren. Wiederholt wurden Versuche unternommen, dies zu ändern; belegt sind immer wieder Vorstellungsserien einzelner Werke, in der Regel mit Rezitativen und in italienischer Übersetzung. Kurzzeitig gab es sogar lokale Aufführungstraditionen, aber von einer auch nur annähernd flächendeckenden Verbreitung konnte nicht die Rede sein. Eines von vielen gescheiterten Experimenten war das Gastspiel einer französischen Theatertruppe im Teatro dAngennes in Turin - wo eine Tradition französisch- sprachigen Theaters bestand - im Frühjahr 1858, wobei Operas comiques in Originalsprache und mit gesprochenen Dialogen gespielt wurden. Wegen wirtschaftlicher Erfolglosigkeit fand das Unternehmen ein vorzeitiges Ende.
Obwohl noch nicht ausreichend geklärt ist, wie belesen Schmidt im Bereich der literarischen Moderne eigentlich gewesen ist, als er um 1950 mit ersten literarischen Veröffentlichungen und um die Mitte der fünfziger Jahre sogar mit seinen ersten prosatheoretischen Entwürfen an die Öffentlichkeit trat, läßt sich seinen Äußerungen doch soviel entnehmen, daß wir seine Kenntnis der außerdeutschen europäischen Moderne wohl eher als sehr bescheiden und lückenhaft ansehen müssen. Die Quellenlage spricht dafür, daß außer Alfred Döblin, Hans Henny Jahnn, Hermann Hesse und, im Wortspielerischen, Expressionisten wie August Stramm nur wenige andere moderne Autoren ihm für sein Werk Pate gestanden haben, am wenigsten noch die großen Vertreter der europäischen Moderne. Schmidt, vom Faschismus samt der verabscheuten Wehrmachtszeit zu einem der zahlreichen 'transzendentalen Obdachlosen' der Nachkriegszeit transformiert, siedelte seine private literarische Ahnengalerie stattdessen vorzugsweise im 18. und 19. Jahrhundert an; Vorbilder waren ihm, dem selbst erklärten "Verirrten aus dem 18. Jahrhundert", unter anderem Wieland, Fouqué, Tieck, Poe, Dickens und Stifter.
Arno Schmidt wäre nicht Arno Schmidt, wenn er bei seinen Lesern nicht anecken wollte. Er war ein Meister der Provokation. Nichts liebte er mehr als Leser egal welchen Couleurs vor den Kopf zu stoßen, in seinem Frühwerk vor allem Konservative und Gläubige, in seinem Spätwerk sogar auch seine liberalen und linken Anhänger. In seiner Essayistik und Funkessayistik über deutschsprachige und angelsächsische Autoren war solch gezielte Irritation sein Metier. Paradebeispiele sind seine Funkessays und Aufsätze über Goethe,Stifter, Karl May, Edgar Allan Poe und James Joyce. [...] Rabiat in seiner Kritik an der Gegenwartsgesellschaft suchte Schmidt Zuflucht vor den ungeliebten und ennervierenden Zeitgenossen im intellektuellen Gespräch mit seiner selbsterwählten literarischen Ahnengalerie. Diese Ahnen kamen freilich nicht immer ungeschoren davon: mal waren sie Gegenstand seines Lobes und seiner Verehrung, mal seines Zornes oder Spotts, wie wir gleich auch beim Fall Dante sehen werden.
Als eines der Hauptprobleme der Rezeption deutscher Kultur in Frankreich kann die Dichotomie von Dekontextualisierung vs. Hyperkontextualisierung bezeichnet werden, wobei man das Bild von den zwei Seiten derselben Münze benutzen könnte. Die damit verbundenen Interpretationsansätze bewirken einerseits, dass bei der Auseinandersetzung mit deutscher Literatur, Philosophie und Kunst der historische, politische und soziale Kontext oft vernachlässigt oder gar ausgeblendet wird. Bereits Heinrich Heine warnte seine französischen Zeitgenossen in seinem Buch 'De l'Allemagne' (1833) vor dieser Gefahr beim Umgang mit der deutschen Romantik. Andererseits kann man ebenso häufig beobachten, wie in Frankreich geistig-künstlerische Werke aus Deutschland auf ihre geschichtlichen Entstehungsbedingungen oder politischen Implikationen bzw. Belastungen heruntergebrochen werden. Dieses Phänomen kann natürlich verstärkt in Zeiten ideologischer und kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen beiden Ländern beobachtet werden, vor allem während der Periode 1870–1945. Aber auch heute noch - ein halbes Jahrhundert nach dem deutschfranzösischen Freundschaftsvertrag - prägt die Epoche des Nationalsozialismus den Blick vieler Franzosen auf Deutschland und beeinflusst maßgeblich die Rezeption deutscher Literatur, Philosophie und Kunst.
Die hiermit aufgeworfene Frage ist die nach dem notwendigen bzw. angemessenen Grad von (politikgeschichtlicher) Kontextualisierung im französischen Verhältnis zur deutschen Kultur, wobei eine pauschale Beantwortung sich selbstredend als schwierig oder gar unmöglich erweist.
Die Untersuchung der Goetheschen und Heineschen Betrachtungen eines für das kulturelle Gedächtnis prominenten Ortes, des Amphitheaters in Verona, [soll zeigen], auf welche Weise unterschiedliche Verfahrensweisen vor Ort zu differenten Bedeutungen vom Gedächtnis der Orte führen. Diese sind auch in der gegenwärtigen theoretischen Diskussion virulent. Dabei gilt es nicht nur, das "Gedächtnis der Orte" vom Konzept der "Gedächtnisorte", der lieux de mémoire zu unterscheiden, sondern auch, die je verschiedene Bedeutung der Orte in unterschiedlichen Gedächtnistraditionen - wie beispielsweise der ars memoriae, einer Kultur des Gedenkens und dem Freudschen Gedächtnismodell - herauszuarbeiten. Das steht im Zusammenhang der Notwendigkeit, die Lektüre- und Textmetapher, die in ihrer universellen Verwendung in den gegenwärtigen Kulturwissenschaften ihre Konturen zu verlieren droht, auf ihre Spezifik und ihre theoretische Stimmigkeit hin zu befragen.
Die Leerstelle Walter Benjamin : zur Verfehlung einer kulturwissenschaftlichen Wahlverwandtschaft
(2023)
Unter den 53 Namen der Autoren, deren Beiträge in dem Jahrzehnt zwischen 1921 und 1931 in den neun Bänden der Vorträge der Bibliothek Warburg erschienen sind, springt eine signifikante Lücke ins Auge; es fehlt darin der Name Walter Benjamins. Die Tatsache, dass keine seiner Arbeiten den Weg in die Vorträge fand, ist mehr als bemerkenswert - dies nicht nur wegen der zahlreichen Korrespondenzen seiner Schriften zu den Forschungen der KBW und der deutlichen Nähe zwischen den Interessen Benjamins und Warburgs, die gegenwärtig zu den bekanntesten Köpfen der 'ersten Kulturwissenschaft' gezählt werden. Ihre Namen werden nicht selten zusammen diskutiert. Die Abwesenheit Walter Benjamins in den Publikationen der KBW wie überhaupt in deren gesamtem Netzwerk ist besonders irritierend, weil er sich seinerseits intensiv und ausdauernd darum bemüht hat, mit der Forschergruppe um Warburg in Kontakt zu treten, und seine Wertschätzung für Aby Warburg und dessen Bibliothek mehrfach in seinen Veröffentlichungen zum Ausdruck brachte. Die latente Wahlverwandtschaft der beiden herausragenden Kulturwissenschaftler aber konnte nicht manifest werden, weil ihre Formulierung einseitig blieb und eine Resonanz von der anderen Seite ausblieb.
Bibel und Literatur um 1800
(2014)
Die Geschichte der Philologie war immer auch eine Geschichte des Lesens heiliger Texte. Dass auch die Moderne nicht notwendig mit dieser Herkunft bricht, zeigen die vielfältigen Beziehungen zwischen Literatur, Philologie und Bibelexegese in der epistemologischen Schlüsselepoche um 1800. Wenn Novalis 1798 an Friedrich Schlegel schreibt, eine "Theorie der Bibel" würde eigentlich einer "Theorie der Schriftstellerei oder der Wordbildnerei überhaupt" entsprechen, so ruft das nicht nur einen traditionellen Topos auf, sondern bezieht sich auch auf höchst aktuelle zeitgenössische Debatten. Denn die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ausbildende historische und philologische Kritik der Bibel erlaubt es nicht nur, das Buch der Bücher neu zu lesen, sondern verändert auch das Verständnis des Lesens und der Literatur überhaupt. Immer wenn um 1800 über Semiotik und Übersetzungstheorie, Rhetorik und Philologie, Poetik und Hermeneutik verhandelt wird, geschieht das auch mit Seitenblick auf die Bibel und ihre Lesbarkeit. Weidners Studie untersucht die literarischen und kritischen Diskurse um und über die Bibel, die für die Geschichte der Literaturwissenschaft von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.
Daniel Weidner kann am Beispiel der Goethe-Studie Georg Simmels (1913) nachweisen, dass der epistemologische Rückgriff auf Goethe die Geistes- und Kulturwissenschaften auch produktiv herauszufordern vermag. Anders als Dilthey und anders v. a. als Gundolf oder Spengler versuche Simmel theoretische Probleme oder Begründungsnöte des eigenen Diskurses anhand Goethes nämlich nicht zu verschleiern oder stillzustellen, vielmehr werfe er solche Probleme in seiner lebensphilosophisch wie kulturtheoretisch interessierten Monographie überhaupt erst systematisch auf. Zwar entstehe die große Faszination Goethes auch für Simmel zunächst durchaus aus einem klassischen Einheitsbegehren. Das Versprechen einer Vereinigung 'absolut' scheinender Gegensätze in der Figur Goethes führe Simmel aber nicht in die Sackgasse einer Monumentalisierung, sondern in eine "Art heiße Zone", in der "verschiedene Oppositionen und Begrifflichkeiten" verdichtet, reflektiert und permanent neu justiert werden müssten. Weidner zeigt dies v. a. anhand der drei für die zeitgenössische Kulturwissenschaft zentralen Konzepte von 'Individuum', 'Wert' und 'Leben'. Am Beispiel der Wert-Kategorie etwa stoße Simmel immer wieder auf das Problem, dass Werte zwar relativ seien, dass sie aber immer auch dazu neigten, sich in neue Endzwecke zu verwandeln. Und die Relation von Leben und Kunst gebe in Simmels Umkehrungen und in einer an Goethe selbst zurückgespielten Dialektik den Blick auf Prozesse der Konstruktion von Relationen als solcher frei. Es sei in letzter Instanz die Einsicht in die "Übergängigkeit zwischen verschiedenen Werten oder Wertgebieten", die Simmel als Goethes größte Leistung herausstelle. Zu fragen wäre, ob die von Simmel am Beispiel Goethes kategorisch aufgeworfenen Probleme der Letztbegründung, der Relationalität sowie der konsequenten Reflexion des Verhältnisses von Phänomen und Theorie sich nicht auch für die heutige Kulturwissenschaft nach wie vor stellen.
Die Herrmannsschlacht ist als Manifest des Partisanenkampfes gelesen worden, in dem das hehre Ziel - Befreiung und Einigung Deutschlands - jedes Mittel rechtfertige. Erst in den letzten Jahren ist das Drama nicht mehr als Propagandastück gelesen, sondern als „Lehrstück in Sachen Propaganda“ erkannt worden: Herrmann ist nicht Kleist). Im Folgenden soll deshalb nicht interessieren, was Kleist ideologischen Mutmaßungen zufolge mit seinem Stück wollte, sondern was sein Stück tut. Schwarz auf weiß, lautet [die] Gegenthese [der Autorin], wird die Begründung der deutschen Nation in der Herrmannsschlacht als das verworfene Zerrbild Roms lesbar. In der „Posse“, welche die Herrmannsschlacht ist, erscheint Deutschland als die verzerrte Fratze Roms. Deutschland entpuppt sich als nichts anderes als eine Perversion des Römischen - oder eben des Französischen. Die Herrmannsschlacht setzt keinen urdeutschen Moment, sondern die Unhintergehbarkeit der translatio Romae in Szene. Von Anfang an wird in diesem Stück die Opposition von Germanen und Römern getreu der translatio Romae dekliniert, vor der es kein Entrinnen, keinen andern Ursprung, keine irgendwie geartete Authentizität gibt. Alles an diesem Stück ist römisch.
"Gracián ist nicht nur ein großer Autor, sondern gerade heute [1928] einer der interessantesten.«"Dieses Bekenntnis Walter Benjamins zur Aktualität des spanischen Autors gilt es ernst zu nehmen. Ziel dieses Buches ist es, Benjamins Gracián-Lektüre im Kontext der deutschen Auseinandersetzung mit dem Barock in der Moderne zu verorten und dabei die zentrale politische und theoretische Bedeutung von Graciáns Klugheitslehre in Benjamins Schriften aufzuzeigen. Gracián ist nicht nur eine der Quellen der anthropologischen Ausrichtung von Benjamins Aphorismen, sondern dessen Schriften stellen auch ein wichtiges Bindeglied zwischen dem Trauerspielbuch und Benjamins Produktion der dreißiger Jahre dar. Die Auseinandersetzung mit Gracián führt Benjamin zu einem neuen Konzept einer wirksamen Schreib-Praxis sowie einer politisch wirksamen Schrift.
Mit Baltasar Gracián vertrauten Walter Benjamin-Lesern fällt sofort auf, dass der letzte und abschließende Abschnitt von Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels einen unverkennbar Gracián’schen Titel trägt: "Ponderación mysteriosa". Als fremdartiges und rätselhaftes Bruchstück stehen die spanischen Vokabeln im deutschen Text. Lange Zeit wurden sie übersehen oder in Benjamins Reflexionen subsumiert. Bernd Witte deutet in seinem Kommentar zum Trauerspielbuch die Figur der 'ponderación misteriosa' als "Sinnbild für Benjamins eschatologische Zuversicht: 'Subjektivität, die wie ein Engel in die Tiefe niederstürzt, wird von Allegorien eingeholt und wird am Himmel, wird in Gott durch 'Ponderación mysteriosa' festgehalten'". Für Witte verdichtet diese Figur den theologischen Gehalt des Trauerspielbuches, zugleich zeigt sie aber auch die "Fragwürdigkeit seines literarischen Anspruches". Mit diesem Urteil sieht Witte nicht nur Benjamins Theorie des Trauerspiels und der Allegorie als wenig bedeutsam an, sondern erschwert zudem den Zugang zu einem der produktivsten Momente der Rezeptionsgeschichte von Graciáns 'ponderación misteriosa' im 20. Jahrhundert.
Der »Weimarer Musenhof« – vom Fürstenideal zur Finalchiffre : eine erinnerungskulturelle Spurensuche
(2007)
So richtig es ist, daß der Mythos vom Musenhof, mithin auch der von seiner Gründerin Anna Amalia, gerade in den letzten Jahren kritisch beleuchtet worden ist, so interessant ist der Befund, daß zahlreiche Spuren im kollektiven Gedächtnis, die auf die Herzogin und deren wirkliche wie ideelle Erben – also den mäzenatisch engagierten Carl August, dessen Schwiegertochter Maria Pawlowna, Amalias Urenkel Carl Alexander und deren Urururenkel Wilhelm Ernst – verweisen, systematisch nicht in größerem Umfang gesichert worden sind. So fundiert inzwischen unser Wissen um jene kulturelle Blüte einer deutschen Doppelstadt um 1800 auch ist – nicht zuletzt durch die wissenschaftlichen Aktivitäten der Klassik Stiftung Weimar sowie in noch größerem Maße durch die eines Jenaer Sonderforschungsbereiches – so deutlich ist, daß eine Erinnerungsgeschichte des Weimarer Musenhofs, seiner legendären Gründerin Anna Amalia und deren direkten Nachfolgers Carl August noch zu schreiben wäre. Doch gerade im so genannten langen 19. Jahrhundert müßte man die meisten Spuren jenes schon in der »Klassik« einsetzenden »Gedächtnistheaters« erst noch sichern. Das gilt vor allem für eine gründliche Auswertung wichtiger Literatur- und Politikgeschichten des 19. und 20. Jahrhunderts, eine systematische Analyse populärer Literatur über Weimar und dessen Fürstenhaus sowie der zahllosen Reisehandbücher und Reiseführer, die seit den Tagen des Vormärz über die Klassikerstadt oder Thüringen veröffentlicht worden sind. Es ist also weder understatement noch eine captatio benevolentiae der üblichen Art, wenn sich dieser Beitrag explizit als Skizze versteht, die Befunde und Einschätzungen des Verfassers mit Forschungsergebnissen anderer Kolleginnen und Kollegen synthetisiert, ohne weiterhin offene Fragen damit zu überspielen.
Kategorien wie "nationales" oder "europäisches" Kulturerbe sind [...] nicht selbsterklärend. Immer aber werden sie mit großen Ansprüchen verbunden, sollen "Identität" stiften, zivilgesellschaftliche Normen beglaubigen oder den Bürgern eines bestimmten Landes dessen kulturelle und politische Bedeutung suggerieren. Touristisch vermarktet werden dabei zumeist die ästhetisch ansprechenden, politisch korrekten, also eher die unproblematischen und kulturell angenehmen Überlieferungen. Die negativen Seiten der Geschichte, die verstörenden Ereignisse der Vergangenheit und die Traumata der individuellen wie kollektiven Biographie sperren sich eher gegen eine glatte Nutzung im kulturtouristischen und ökonomischen Sinne. Mit ihnen kann man sich professionell in der Abgeschiedenheit von Akademien und Universitäten leichter beschäftigen als im Streit der öffentlichen Meinungen oder im Kontext touristischer Event-Kultur. [...] Die Tourismusindustrie und deren Werbung setzen immer wieder auf die Beschwörung der Präsenz längst gestorbener Geister. So behauptet beispielsweise das diesjährige Prospekt der "Thüringer Tourismus GmbH" mit dem saisonal bedingten Titel "Schiller lockt", dieser "klassische" Autor sei noch heute an den Stätten seines ehemaligen Wirkens "präsent". [...] In dem vor einigen Jahren erschienenen Sammelwerk "Deutsche Erinnerungsorte" steht auch ein Artikel über "Schiller" [...] Doch wird dort festgestellt, dass Schiller heute kein "deutscher Erinnerungsort" mehr sei, sondern ein Fall für Spezialisten und ein lebendiger Autor für allenfalls einige Hunderttausend Bundesbürger, die regelmäßig ins Theater gehen und dort ab und zu auch ein Stück von Schiller sehen. [...] Die Diskrepanz zwischen der nüchtern, wissenschaftlich konstatierten Bedeutungslosigkeit eines Dichters für das nationale Selbstverständnis der Nation und der emphatischen Behauptung der Tourismusbranche, der Autor sei bis heute präsent, verweist auf spezifische Probleme und Widersprüchlichkeiten im Umgang mit dem kulturellen Erbe, denen ich mich [...] etwas genauer zuwenden möchte, und zwar am Weimarer Beispiel.
Der Aufsatz beschäftigt sich mit der tschechischen Aufnahme der deutschsprachigen Literatur um 1900 und ihrem Anteil an der Profilierung des literarischen Experiments. Tschechische Übersetzungen und Buchausgaben dieser Zeit zeichneten sich der deutschen Literatur gegenüber durch einen traditionellen Zugang aus, durch den die eigentliche deutschsprachige Moderne eher ausgeschlossen wurde und die ausgewählten Werke im Geiste des Parnassismus interpretiert und modifiziert wurden.
Top Dogs, Top Actors, Top Audience : Chronik der Rezeption eines Schweizer Erfolgsstücks in Rumänien
(2008)
Piesa „Top Dogs“ a fost scrisă de Urs Widmer “la cerere” pentru Teatrul Neumarkt din Zürich şi tematizează problema concedierilor în rândurile angajaţilor de elită. Această piesă a fost prezentată şi în ţara noastră, în mai multe concepţii regizorale şi mai multe limbi: germană, română, maghiară. Articolul de faţă urmăreşte receptarea piesei „Top Dogs“ în România, compară concepţiile regizorale ale regizorilor români atât între ele cât şi cu premiera din Zürich şi evidenţiază pe lângă diferenţele regizorale şi pe cele textuale.
In der heutigen Zeit sieht sich das kulturelle Erbe der Völkergemeinschaft der Gefahr ausgesetzt, von der rasanten Entwicklung der Medientechnologien in den Hintergrund gedrängt und zerstört zu werden. Die Globalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft führt auch zu einer kulturellen Globalisierung und damit zur Dominanz des von der westlichen Welt gelebten Kulturimperialismus. Einzelne Kulturformen verlieren ihren Platz in der Kulturweltgemeinschaft und wichtige Kulturgüter wie Literatur, Sprache, Mythen, Darstellungen oder Riten werden nach und nach verdrängt. Aus diesen Gründen ist es notwendig, dass sich die Theater- und Medienwissenschaftler mit diesen Kulturformen auseinandersetzen, sie erforschen und im Bewusstsein der Menschen erhalten. Diese Arbeit stellt eine unabhängige Untersuchung dar, die in dieser Form innerhalb eines geschlossenen gesellschaftlichen Systems nicht möglich gewesen wäre. Die letzte deutschsprachige Dissertation über den Stand der For-schung zu diesem Thema wurde vor knapp vierzig Jahren verfasst. Seitdem ist auch keine Untersuchung der Rezeption dieser Kunstform in Theater, Film und Medien in Europa erfolgt. Meiner Kenntnis nach existiert auch im Iran keine ver-gleichbare wissenschaftliche Arbeit, die sich mit dem untersuchten Themengebiet beschäftigt. Die Ta¬ziyeh ist eine sakrale Theaterform aus dem Iran, die sich über lange Zeit großer Beliebtheit in der eigenen Bevölkerung und Anerkennung durch westliche Reisende erfreute. Obwohl der Vormarsch der Medientechnologien, insbesondere die Verbreitung des Fernsehens und des Kinos im letzten Jahrhun-dert auch dazu geführt hat, dass das Ta¬ziyehritual zurückgedrängt wurde, ist es bemerkenswert, dass modernes Theater, Film und Fernsehen im Iran ihrerseits durch die Ta¬ziyehkultur und –praxis bis heute beeinflusst werden. Ich untersuche in meiner Promotionsarbeit die Geschichte und Auffüh-rung der Ta¬ziyeh, sowie ihre Rezeption im Theater, Film und Fernsehen im Iran. Die Ta¬ziyeh ist ein auf religiösen Riten beruhendes Passionsspiel, welches durch die Ideale und den Glauben der Schiiten begründet wurde und seinen Ursprung im Mythos des  hat. Für das Verständnis der Ta¬ziyeh ist über die Begriffsklärung hinaus sowohl ein grundlegender Überblick über die schiitische Glaubensrichtung, als auch ein Abriss der altiranischen Geschichte und Kultur im ersten Teil dieser Ar-beit unerlässlich. Außerdem werde ich auf die konkrete Ausgestaltung des schiiti-schen Passionsspiels eingehen. Besonders wichtig erscheinen mir hierbei der Ort der Aufführung des Schauspiels, die Dekoration und Requisiten, sowie die Art der Aufführung, zu der eine genaue Beschreibung der Schauspieler, ihrer Rollen, ihrer Kostüme, der begleitenden Musik und der für die Vorstellung benötigten Tiere gehört. Im weiteren Verlauf der Arbeit soll dann detailliert auf die theatralische Entwicklung der Ta¬ziyeh in der Zeit des 15.– 20. Jahrhunderts anhand von Be-richten berühmter Iranreisender eingegangen und eine Rezeption des letzten Jahr-hunderts im Hinblick auf die Ta¬ziyeh besprochen werden. Im dritten Teil der Arbeit analysiere ich nach der Klärung der Ta¬ziyehhistorie und -ästhetik in den ersten beiden Teilen schließlich ausführlich die Rezeption und Praxis der Ta¬ziyeh im modernen Theater, Film und anderen Medien im Iran. Diese Untersuchung bildet aus Sicht der Theater- und Medien-wissenschaften den wesentlichen Kern der Arbeit, in dem die im Untersuchungs-gegenstand beschriebene Synthese herausgearbeitet wird. Dafür werden exempla-risch zwanzig Werke bedeutender Künstler des Irans herangezogen, die den Ein-fluss des sakralen Rituals in einem säkularen Medium eindeutig aufzeigen. Den Abschluss der Arbeit bildet eine Synopsis der Untersuchungen, so-wie ein Ausblick auf die gegenwärtige Entwicklung der Ta¬ziyeh.
Am 17. Januar 2022 jährt sich der Todestag des russischen Dichters und Schriftstellers Warlam Schalamow zum vierzigsten Mal. Mit seinen sechs Zyklen umfassenden "Erzählungen aus Kolyma" setzte er den Tausenden Toten in den Zwangsarbeitslagern des GULag ein bleibendes literarisches Denkmal. Der Jahrestag bietet nicht nur Anlass, sich mit Schalamows Ringen um eine literarische Aufarbeitung des staatlich organisierten Massenterrors gegen die eigene Bevölkerung auseinandersetzen. Ein Archivfund rückt auch seine Sorge um die Rezeption seiner Texte ins Blickfeld. Da in der Sowjetunion die Erinnerung an Terror und Gewalt tabuisiert wurde, kursierten diese zu Lebzeiten nur in Abschriften des Samisdat ('Selbst-Verlag') und blieben für das breite sowjetische Lesepublikum unzugänglich. Die ersehnte Anerkennung blieb ihm verwehrt. Mittlerweile werden seine Werke in Russland gedruckt und aus Anlass des Todestages würdigen Konferenzen seine literarische und menschliche Lebensleistung. Doch Schalamows Imperativ des Erinnerns, der Wahrung des Gedächtnisses an die stalinistischen Verbrechen trifft heute zugleich auf das Bestreben der russischen Machthaber, dieses Gedächtnis erneut mit repressiven Mitteln auszulöschen.
Weimar ohne Goethe gibt es nicht im Bewußtsein der Weltkultur. Die Stadt verdankt ihren Mythos zuallererst der originären Gestalt Goethes, dem bürgerlichen Dichter, der zum Anbruch der Moderne neue Bereiche des Fühlens und Denkens literarisch-poetisch erschließt, der hier den größten Teil seiner Lebenszeit verbringt. Aber daß "die berühmtesten Deutschen [...] lange hier gewohnt, dafür kann man billigerweise Weimar selbst nicht verantwortlich machen. Der Ort ist keine Fabrik berühmter Leute", wußte man bereits kurz nach Goethes Tod.
Das Faszinosum Weimar in seiner sich selbst überlassenen Modernität gründet nicht zuletzt in der Mischung von hochartifizieller Weltbetrachtung und bis heute uneingelösten philosophischen Maximen. Gerade jene Postulate - vom zielgerichtet individuellen, imperativisch-unverbindlichen "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut" bis zum kollektivistisch orientierten Gedanken des Weltbürgertums - boten durch Zeiten und Kriege eine Utopie des schönen Scheins, die immer irgendwo zitabel und stets irgendwie variierbar war. Zudem sicherte die Verschränkung von Weltbürgertum und Humanitas, deren Kerngedanke recht gut mit der Goetheschen Aufforderung zu solidarischem Handeln und Gutsein umschrieben werden kann, dem Zitat seinen Aufstieg zur klassischen Sentenz und allen damit verbundenen sittlichen Unverbindlichkeiten.
Vermeintliche Freiheit
(1996)
Interpretation des Gedichts "Klage der Ceres" von Friedrich Schiller. [...] gerade "Alexis und Dora" sei, schreibt [Schiller] an Goethe, "so voll Einfalt [...], bey einer unergründlichen Tiefe der Empfindung", daß sie dem proklamierten Muster der Empfindung vollkommen zu entsprechen scheint. Seine Theorie gibt Schiller jedoch auch die Kritik ein, er vermisse bei der Idylle eine anhaltende Grundstimmung, zu rasch wechselten Glücksgefühl und Eifersucht innerhalb dieser Dichtungsweise. Auf Schillers rezeptionsgeschichtlich wirkungsträchtiges Mißverständnis wird hier eingegangen, weil es durch Goethes folgende Revanche in Form der in bedeutendem Ton vorgetragenen Unverbindlichkeiten zur "Klage der Ceres" auf Schillers Elegie zurückgewirkt hat.
Als Rezeptionsanalyse von Goethes Werken in Persien befasst sich die vorliegende Untersuchung zunächst mit der Frage: 'Wie wird Goethe in Persien gelesen?' Bei der Frage nach einer persischen Goethe-Rezeption steht Übersetzung als Vermittlungsprinzip eines, vom Persischen aus betrachtet, fremden Dichters ebenso im Vordergrund wie bei der Frage nach einer deutschen Ḥāfiẓ-Rezeption.
Nach Charles de Gaulle sind die Zehn Gebote deshalb so knapp und einleuchtend, weil sie ohne Mitwirkung von Juristen zustande kamen. Analoges scheint cum grano salis auch für vorliegenden Tagungsband im Blick auf Kirchengeschichtsschreibung zu gelten: Als einziger Ordinarius dieser Zunft war Thomas K. Kuhn 2015 beim Symposion in Gera vertreten, welches vom Forschungsprojekt "Thüringen im Jahrhundert der Reformation" an der Schiller-Universität Jena in Kooperation mit dem Institut "Deutsche Presseforschung" der Universität Bremen ausgerichtet wurde. Sein Beitrag "Reformierte Aufklärung. Die Reformation bei Georg Joachim Zollikhofer" behandelt den Schweizer Prediger an der Leipziger Hugenottengemeinde. Dieser war nicht an reformatorischer Hagiographie noch an dogmatischer Fixierung reformatorischer Lehrinhalte interessiert, sondern begriff Reformation als emanzipatorischen Initialprozeß. Über Fragen nach Rechtsbindung, Befreiung von kirchlichen und staatlichen Hierarchien und Vernunftgebrauch bei Prüfung von Schrift und Bekenntnis kam es zu Spannungen mit der lutherischen Spätorthodoxie, aber auch zum überkonfessionellen Dialog mit Aufklärern wie Basedow, Campe, Garve, Gedike, Resewitz, Semler, Spalding und Weiße, ja, sogar zum Wunsch und zur Denkbarkeit einer protestantischen Union, wie sie erst nach dem Reformationsjubiläum von 1817 in Preußen realisiert wurde.
"Reformation als Aufklärung" - so eine Kapitelüberschrift Kuhns – war kein reformiertes Spezifikum Zollikhofers, sondern zieht sich als roter Faden durch den Tagungsband.
Die besonderen Herausforderungen einer "vertrackten Quellenlage" für das historiographische Arbeiten über die Vormärzzeit veranschaulicht Christian Stöger in seinem Beitrag über Heinrich Deinhardts Ghostwriting. Der Oppositionelle Deinhardt hatte für Emil Anhalt und auch für Jan Daniel Georgens, den Gründer der Heilpflege- und Erziehungsanstalt Levana, pädagogische Schriften verfasst. In seinem Beitrag fokussiert Stöger vormärzliche Schriften Deinhardts, die er unter dem Eindruck von Hausdurchsuchung, Untersuchungshaft und Verhinderung seines Universitätsabschlusses durch die preußischen Behörden verfasste, die er zur Veröffentlichung an Anhalt weiterreichte und die sich demokratietheoretisch rekonstruieren lassen. So trat Deinhardt unter anderem für eine Volksschule als Einheitsschule und als ein standesübergreifender "Begegnungsort" ein sowie für Autonomie und Lehrfreiheit an der Universität. Dass die Schriften Deinhardts in der pädagogischen Historiographie lange unentdeckt blieben, führt Stöger auf eine selektive Praxis der Ideengeschichte zurück.
Der Ansatz, dass Katastrophen als diskursive Produkte immer auch ein Symptom der Sinnsuche sind, wird auch in Bernhard Strickers Aufsatz 'Hiob - unser Zeitgenosse?' aufgegriffen. Die Unglücksfälle, die Hiob im Alten Testament widerfahren, können als eine Akkumulation persönlicher Katastrophen gedeutet werden, die sich zunächst durch ihre scheinbare Sinnlosigkeit auszeichnen. Stricker vergleicht zwei zeitgenössische filmische Neugestaltungen der Hiob-Geschichte ('A Serious Man' und 'Das Leben ist zu lang'), die ein ironisches Spiel mit den narrativen Strategien der Sinnstiftung im Angesicht des Realen in Form der Katastrophe treiben.
Hofmannsthal war auch als Philologe Dichter. Das zeichnet seine literaturkritischen Arbeiten aus, macht sie aber einzigartig subjektiv. Zudem ist die Denk- und Empfindungsweise der Epoche in diesen Texten deutlich präsent. Das gilt für das Meiste, was er an Würdigungen, Einleitungen und Reden schrieb. Es wird uns hier in seinen Urteilen über Nestroy und Raimund beschäftigen.
Vorbild, Beispiel und Ideal : zur Bedeutung Goethes für Wilhelm Diltheys Philosophie des Lebens
(2017)
Johannes Steizinger untersucht unter drei Leitaspekten die Bedeutung Goethes für die Lebensphilosophie Wilhelm Diltheys. Goethe stelle das Vorbild für Diltheys Weltanschauung dar; er diene ihm als Beispiel für die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten der Einbildungskraft; und schließlich steige die vielfach beschworene Synthese von Goethes Leben und Werk für Dilthey zum Ideal von Dichtung als einer "Steigerungsform des Lebens" selbst auf. Goethe bilde folglich nicht nur einen zentralen Gegenstand in der Entwicklung von Diltheys Ästhetik und Poetik, wie sie etwa in den unterschiedlichen Fassungen von "Ueber die Einbildungskraft der Dichter" (ab 1877) greifbar wird. Darüber hinaus beanspruche er Goethe konsequent als Lehrmeister in wesentlichen methodologischen Fragen, ja er verpflichte ihn geradezu auf eine Beglaubigungsinstanz der eigenen Philosophie, wenn er in seiner Baseler Antrittsvorlesung programmatisch festhält: "So ruht Goethes forschendes Auge noch auf dem, was wir heute tun." Die methodische Bedeutung Goethes für Dilthey zeige sich in erster Linie an Phänomenen wie der Selbsterforschung und dem Selbstzeugnis. Es sei in letzter Instanz der eigene Lebensbegriff, den Dilthey bereits bei Goethe systematisch vorgeprägt sieht. So lasse sich "die Relativität alles Geschichtlichen" mit Goethe als Grundtendenz an das 'Leben' selbst zurückspielen und depotenzieren; so lasse sich mit Goethe das Denken als "Ausdruck des Lebens" und nicht als dessen Widerpart begreifen; und so sei das genetische Naturverständnis Goethes wegweisend für Diltheys typologische Weltanschauungslehre. Der zentrale Stellenwert der Einbildungskraft und die 'schöpferische' Opposition, die sie zu den "pragmatischen Erfordernissen der Erfahrungswelt" unterhalte, erlaube es Dilthey sogar, die Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften im Rekurs auf Goethe vorzunehmen. Die Hoffnung auf eine für Goethe symptomatische Unmittelbarkeit der Beziehung zwischen 'Erlebnis' und 'Ausdruck' - wie sie im Kompositum des 'Erlebnisausdrucks' manifest werde - untersucht Steizinger im Sinne Diltheys abschließend als "Ausgangspunkt jeder erkenntnistheoretischen Reflexion".
Die folgenden Ausführungen möchten die zentrale, bereits von Schulz-Buschhaus aufgeworfene Frage nach der Funktion des Gnosis-Rekurses in Borges' Texten erörtern und zu beantworten versuchen. Als Ausgangspunkt der Überlegungen dient uns dabei die von Schulz-Buschhaus vorgeschlagene These, dass das gnostische Rezidiv in Borges' Werk vor allem unter dem Aspekt der Transformation von Religion bzw. religiöser Weltanschauung in Fiktion, in "fabulierende Poiesis" (Schulz-Buschhaus 1983, 9), zu begreifen sei. Diese Deutung der Gnosis bzw. Gnosis-Rezeption als Poiesis gilt es im Folgenden weiter zu differenzieren und zu entfalten. Die nachstehenden Untersuchungen tun dies, indem sie die angesprochene 'poietische' Dimension des gnostischen Elements in Borges Texten in drei Hinsichten betrachten: (1.) in Hinblick auf das mythische und mythenbildende Moment des gnostischen Konzepts, das sich bereits in den Schriften der historischen Gnosis als ein erzeugendes Prinzip geltend macht und in den modernen literarischen Adaptationen fortwirkt, sowie (2.) im Blick auf den Zusammenhang von mythischer Poiesis und Sprache bzw. Sprachreflexion. Schließlich geht es (3.) darum, Gnosis als eine Lektürestrategie, als ein Verfahren der Relektüre, Kommentierung und Reinterpretation einer bestehenden Überlieferung zu begreifen, das zu einer subversiven Umkehr etablierter exegetischer Konventionen und Deutungen führen kann.
Rezension zu Christian Moser: Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne. Tübingen (Niemeyer) 2006 (= Communicatio, Bd. 36). 764 S.
Die Studie Christian Mosers gilt einer für die abendländische Literatur- und Wissensgeschichte grundlegenden Verfahrensfigur, die in der antiken Kultur ihren Anfang nimmt: der Erkundung des Selbst auf dem Weg über die Lektüre des Buchs bzw. der Bücher.
Dantes Weltengedicht, das die Jenseitsreise des menschlichen Protagonisten Dante durch die drei Reiche Inferno, Purgatorium und Paradies schildert, verfügt offenbar über eine gewaltige visionäre Faszination und Ausstrahlung, die dazu tendiert, bildkünstlerische Arbeiten sowie Aneignungen in vielfältigen visuellen Medien zu stimulieren. Nicht zufällig partizipieren zahlreiche berühmte europäische Maler, Zeichner und Bildhauer an der unabschließbaren Aufgabe, die Stationen jener Jenseitsreise der Danteschen Projektionsfigur zu illustrieren oder im Medium der bildenden Kunst zu interpretieren. Vor diesem Hintergrund verwundert es außerdem kaum, dass auch die Zeichner und Autoren von Comics, Mangas und Graphic Novels im ausgehenden 20. und 21. Jahrhundert Dantes Werke und besonders die "Commedia" als geeignetes Sujet für sich entdeckt und sie in teils komplexen Text-Bild-Gestaltungen adaptiert haben. Der japanische Mangakünstler Gô Nagai schreibt sich mit "Dante Shinkyoku" (1994–1995) in den Kontext einer globalen und transmedialen Danterezeption ein und bedient sich dabei vielfältiger Referenzen auf die europäische Geschichte der Dante-Illustration.
Dantes Weltengedicht, das die Jenseitsreise des menschlichen Protagonisten Dante durch die drei Reiche Inferno, Purgatorium und Paradies schildert, verfügt offenbar über eine gewaltige visionäre Faszination und Ausstrahlung, die dazu tendiert, bildkünstlerische Arbeiten sowie Aneignungen in vielfältigen visuellen Medien zu stimulieren. Nicht zufällig partizipieren zahlreiche berühmte europäische Maler, Zeichner und Bildhauer an der unabschließbaren Aufgabe, die Stationen jener Jenseitsreise der Danteschen Projektionsfigur zu illustrieren oder im Medium der bildenden Kunst zu interpretieren. Vor diesem Hintergrund verwundert es außerdem kaum, dass auch die Zeichner und Autoren von Comics, Mangas und Graphic Novels im ausgehenden 20. und 21. Jahrhundert Dantes Werke und besonders die "Commedia" als geeignetes Sujet für sich entdeckt und sie in teils komplexen Text-Bild-Gestaltungen adaptiert haben. Der japanische Mangakünstler Gô Nagai schreibt sich mit "Dante Shinkyoku" (1994–1995) in den Kontext einer globalen und transmedialen Danterezeption ein und bedient sich dabei vielfältiger Referenzen auf die europäische Geschichte der Dante-Illustration.
Vom Recht des naiven und von der Notwendigkeit des historischen Verstehens literarischer Texte
(1982)
Die Szene ist originell, aber vielleicht nicht ganz unwahrscheinlich: Ein siebzehnjähriger Lehrling, der im finsteren Klo einer Gartenlaube nach Papier sucht, findet dort ein Reclamheft, benutzt einige Deck- und Nachblätter für den ortsüblichen Zweck und beginnt danach aus Langerweile das Buch zu lesen, das nun nichts weiter enthält als einen, als den Text. Es sind die Briefe eines gewissen Werther, die ihm so in die Hände kommen, aber der Name sagt ihm nichts, so daß er weder besondere Erwartungen noch Vorbehalte gegen die Lektüre hat, sondern sich wirklich unvoreingenommen und in seiner Lage auch frei von Ansprüchen auf sie einlassen kann. Für eine Rezeptionsforschung, die herausfinden möchte, was im Akt des Lesens und Verstehens literarischer Texte ,eigentlich' geschieht, ist die Dokumentation eines solchen Falles fraglos ein Beispiel, das dem sonst üblichen testmäßigen Abfragen von Leserreaktionen an Zuverlässigkeit überlegen ist.
Ziemlich pregnant finden sich in [...] Zeugnissen [wie Goethe in einem Brief an Schiller, 1797 und den 1798 entstanden Versen Goethes zum "Vorspiel auf dem Theater"], die um ein vielfaches vermehrt werden könnten und auch noch um einige ergänzt werden sollen, Positionen, die ich in zwei Ausgangsthesen zusamenfassen möchte: 1. Goethes intensive Beschäftigung und oft kritische Auseinandersetzung mit dem Journalwesen, das er stets auch in das Ensemble anderer wissenschaftlich-kultureller Kommunikationsformen (Compendium, Almanach usw.) stellte. 2. Seine Bereitschaft, dennoch differenziert, ja sensibel mit dieser offensichtlich besonders wichtigen Publikationsgattung umzugehen, also sein produktiver Ansatz, der zu beweisen wäre. Eine operative Publikationsgattung steht vor uns, mit der Goethe als "Autor-Produzent" oder "Leser-Rezipient" ständig zu tun hatte. Sie war ein markanter Teil jener gesellschaftlich-literarischen Kommunikationsverhältnisse, die mit dem zeitgenössischen "Publicums"-Begriff und den modernen Begriffen "Literarischer Markt" und "Literaturverhältnisse" erfaßt werden. Diese Verhältnisse wirkten zu Lebzeiten Goethes in außerordentlich dynamischer Weise und erfuhren revolutionierende Veränderungen und Entwicklungen. Entgehen konnte man ihnen zu keiner Zeit.
"Mein mercurialisches Fabrikwesen" : die Anfänge des "Teutschen Merkur" und die Selbstverlagsidee
(2003)
Bemerkungen zum "Teutschen Merkur" aus publikationsgeschichtlicher und vor allem zeitschriftengeschichtlicher Sicht ergeben sich aus der Sache selbst, ein "Periodicum" an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert möglichst umfassend zu untersuchen. Doch eine solche Aufgabe führt zu einem Anspruch, der nur schrittweise bewältigt werden kann. Seine besondere Verlockung findet ein solcher thematischer Ansatz nicht zuletzt dadurch, daß der "Teutsche Merkur" [...] in der Tat ein exzeptionelles Beispiel in der Geschichte der deutschen literarischen Zeitschrift zu Beginn des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts darstellt. Und seine Anfänge gewinnen unter dem Aspekt der Selbstverlagsidee, die in den 70er und 80er Jahren des 18. Jahrhundens eine große Rolle in Deutschland spielt, ihren besonderen Reiz. lnsofern können diese Vorgänge über das Beispiel selbst hinaus Bedeutung erlangen. Der Fall ist deshalb so exzeptionell, weil die Gründung und ersten Schritte des "Merkur" sich in einer Zeit einschneidender Veränderungen und Entwicklungen in dem komplizierten Beziehungsgeflecht von Literaturproduktion, Literaturdistribution und Literaturkonsumtion vollziehen. Wobei die Literaturkonsumtion im weitesten Sinne das "Publikum" ins Spiel bringt und damit eine Größe, deren Einfluß auf diese Vorgänge seit den 1770er Jahren immer mehr an Bedeutsamkeit gewann. So wurde das Wechselverhältnis von literarischem Anspruch des Autors und der Art und Weise der Publikumsreaktion und -rezeption zu einem entscheidenden lndiz der literarischen Verhältnisse und prägte deshalb die gesamte Sphäre der Produktion und Vermittlung von Literatur. Und Wielands "Merkur" reagierte auf diese Entwicklungsvorgänge auf seine Art als Journal mit einschneidenden Veränderungen und Innovationen.
Über Maximilians I. "Ambraser Heldenbuch" (AH) ist eine Fülle von Spezialliteratur erschienen, die, rechnet man die überlieferungsgeschichtliche und textkritische Literatur einzelner Texte hinzu, fast einen eigenen Forschungsbericht verlangte. [...] Völlig unbefriedigend sind die bisherigen Erklärungsversuche zur Vorlagenproblematik. Hat es tatsächlich ein dem AH bis in Einzelheiten vergleiehbares Sammelwerk - das "Heldenbuch an der Etsch" - gegeben oder sind verschiedene Sammel- bzw. Einzelvorlagen Ried zur Abschrift vorgelegt worden? Wie alt waren diese Vorlagen, woher stammen sie und warum wurden alle Vorlagen - bis auf ein Fragment des Nibelungenliedes - vernichtet?
Alexander Schwieren untersucht die Bedeutung Goethes für die im frühen 20. Jahrhundert sich formierende Gerontologie. Zwar habe deren eigentlicher Gründungsvater Hans Thomae seine Disziplin ab den 1960er Jahren auf eine Wissenschaftsanmutung verpflichtet, die auf literarische und künstlerische Bezugnahmen zusehends verzichten musste, doch wirke die zentrale Rolle, die v. a. Goethes Alterswerk in der Vorgeschichte der Gerontologie gespielt habe, bis heute nach. So lasse sich in den Schriften Eduard Sprangers - vermittelt wesentlich über Dilthey - der Versuch beobachten, den späten Goethe unter entwicklungspsychologischem (und nicht etwa unter biologischem) Gesichtspunkt als einen Autor auszuweisen, der an seiner eigenen Vollendung im Alter gescheitert sei. Spranger weist dies an den Perspektiv- und Standortwechseln insbesondere von Wilhelm Meisters Wanderjahre nach, die in den Augen Schwierens wichtige Erkenntnisse der Narratologie vorwegnehmen, die Spranger selbst jedoch konsequent als entwicklungsbedingte Kompositionsschwäche begreift. Georg Simmels bekannte Gegenposition, die kategorische ästhetische Aufwertung des Goethe'schen Alterswerks, festige ebenfalls einen Diskurs, der das Alter als Entwicklungsstadium eigenen Rechts betrachte. Die Divergenz zwischen biologischer und psychologischer 'Lebenskurve', wie sie etwa in Charlotte Bühlers Unterscheidung zwischen 'Verenden' und 'Vollenden' manifest werde und wie sie auch Erich Rothackers Überlegungen zum Alter grundiere, habe die Gerontologie anfangs bewusst, später oft unbewusst oder gar uneingestanden unter dem Rückgriff auf ihre Lektüre des späten Goethe formuliert. V. a. die Vorstellung, dass das Alter ›scheitern‹ könne und dass es eine genuine 'Aufgabe' darstelle, wäre Schwieren zufolge ohne die gerontologische Beschäftigung mit Goethes Spätwerk in den 1920er und 30er Jahren kaum denkbar gewesen.
Die Habilitation des Berner Literaturwissenschaftlers Matthias N. Lorenz untersucht die intertextuelle Auseinandersetzung mit Joseph Conrads "Heart of Darkness" (1899) im deutschen Sprachraum. Intertextualität fasst Lorenz im Anschluss an Ulrich Broich und Manfred Pfister als "bewusst intendierte" und "deutlich signalisierte Beziehungen" zwischen Texten. In einem 'close reading' kommen zunächst Zeitgenossen Conrads zur Sprache. Auf eine Latenzzeit der Conrad-Rezeption in der Nachkriegszeit folgt in den 80er Jahren eine Renaissance. Das längste Kapitel ist den Conrad-Lektüren von sieben Autorinnen und Autoren aus den Jahren 1986-2012 gewidmet. Hier leuchtet Lorenz feministische, kapitalismuskritische und postkoloniale Transformationen von "Heart of Darkness" aus. Schließlich rückt das Thema der Traumatisierung von Europäern in der Konfrontation mit Gewalt in Afrika in den Mittelpunkt der Betrachtung.
Unter der aus dem deutschen Feuilleton stammenden Bezeichnung "literarisches Fräuleinwunder" wurden Ende der Neunziger Jahre deutsche Autorinnen nach außerliterarischen Faktoren unter einem Etikett zusammengefasst. Judith Hermann war eine der ersten, die vom Kritiker Volker Hage im Zuge der Veröffentlichung ihres Debüts "Sommerhaus, später" mit dem Begriff in Verbindung gebracht wurde. Charlotte Roches Debüt "Feuchtgebiete" bedeutete für Dirk Knipphals knapp zehn Jahre später das Ende des literarischen Fräuleinwunders. Einige der Autorinnen, die mit der Bezeichnung in Berührung kamen, hatten mit ihren Werken große kommerzielle Erfolge und wurden in mehrere Sprachen übertragen. Ihre literarischen Texte wurden auch für den amerikanischen Markt übersetzt und fanden Beachtung in der Presse, auch wenn die Etikettierung hier keine Rolle spielte, sondern diese unabhängig voneinander rezipiert und kontextualisiert worden sind – wie in diesem Aufsatz, der dafür in einigen Fällen auch vergleichende Seitenblicke auf die deutsche Rezeption wirft, dargestellt wird.
1978/79 fertigt der englische Bildhauer Richard Deacon eine Serie von Graphiken unter dem Titel "It's Orpheus When There's Singing". Das Zitat entstammt einer englischsprachigen Übersetzung des im Februar 1922 verfassten Gedichtzyklus "Die Sonette an Orpheus" von Rainer Maria Rilke. Wie für diesen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Begegnung mit dem bildnerischen Schaffen Auguste Rodins, so markierte die Lektüre von Rilkes Sonetten für Richard Deacon einen entscheidenden Wendepunkt in der eigenen werkbiographischen Entwicklung. Bei der (Neu-)Formulierung seines künstlerischen Selbstverständnisses bezieht sich Deacon mit Rilke auf den antiken Orpheus-Mythos von der die Körperschwellen und auch die Grenze von Leben und Tod, Beseeltem und Unbeseeltem überschreitenden Macht der Musik. Die transgressive und transformative Wirkkraft der Akustik, die der Mythos verbürgt, steht für zweierlei Entgrenzungsversuche Modell: für eine Entgrenzung der Künste, wie Rilkes Rodin-Rezeption und Deacons Rilke-Lektüre sie jeweils gezeitigt haben, und für eine diese erst bedingende Entgrenzung der Sinne, wie Rilke sie je schon als genuine Leistung der Wahrnehmung begriff und im Gedicht zu befördern strebte.
"Dieses Buch, geschätzte Leserin, geschätzter Leser", schreibt Adam Soboczynski in der Vorrede seines 2008 erschienenen Erzählbandes "Die schonende Abwehr verliebter Frauen", "enthält dreiunddreißig Geschichten, die darum kreisen, wie sich in einer Welt geschickt zu verhalten sei, in der Fallen lauern und in der Intrigen walten. Die Kunst der Verstellung, die eine jahrhundertelange Tradition hat, erlebt eine Wiederkehr." Im gleichen Jahr publiziert Ulrich Hemel einen Ratgeber für Manager, "Sich vor dem Siege über Vorgesetzte hüten", in dem er sich – genauso wie Soboczynski – auf Baltasar Graciáns "Oráculo manual" beruft. Diese Koinzidenz steht nicht alleine: Seit den 1990er Jahren gibt es eine intensive Rezeption von Graciáns "Handorakel" in populärer Literatur, etwa in der Form von sprachlich aktualisierenden Übersetzungen oder von Ratgebern für eine erfolgreiche Karriere in der Wirtschaft. Meist stellen diese Adaptionen (darunter fasse ich Übersetzungen, kommentierende Neu-Abdrucke und Texte, die sich eng auf das Oráculo manual beziehen) das Handorakel als Text vor, der dem heutigen Leser helfen könne, Erfolg zu haben, und der bisweilen erstaunlich explizit egoistische und erfolgsorientierte Ratschläge etwa zu verstelltem Verhalten gebe. So beschreibt etwa Christopher Maurer seine englische Übersetzung des "Oráculo manual", die für den Erfolg Graciáns in den 1990er Jahren entscheidend war, wie folgt: "The Art of Worldly Wisdom. A Pocket Oracle is a book of strategies for knowing, judging, and acting: for making one's way in the world and achieving distinction and perfection" und hebt die "apparent subordination of ethics to strategy" hervor, die Gracián so "disconcertingly 'modern'" mache.
Der französische Frühsozialist Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) gilt unumstritten als der "Vater der Anarchie". Auf ihn geht die positive Umdeutung des Begriffs "Anarchismus" zurück. Sein Einfluss und seine Bedeutung für die Entstehung des sog. wissenschaftlichen Sozialismus und auf die anarchistische Bewegung in Deutschland sind von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Er hat darüber hinaus, mehr noch als seine Vorläufer Claude-Henri Saint-Simon und Charles Fourier, größeren Einfluss auf den deutschen Diskurs über Sozialismus gehabt. Der Historiker Max Nettlau erklärte über seine deutsche Rezeption:
Proudhon wurde in Deutschland sehr beachtet, wo damals die radikale Philosophie um Arnold Ruge und Ludwig Feuerbach sich nach einer folgerichtigen Weiterentwicklung auf allen Gebieten sehnte, also dem die Theologie negierenden philosophischen Radikalismus, den den Staat negierenden politischen Radikalismus und die bestehenden Eigentumsverhältnisse negierenden ökonomischen Radikalismus zur Seite zu setzen bereit war.
Als Zeitraum für die Untersuchung seiner Rezeption in Deutschland bietet sich das Vierteljahrhundert von 1840, dem Erscheinungsjahr von Proudhons Studie „Qu’est-ce que la propriété?“, bis zum Jahr 1865, in dem er starb, an.
Anders als Schiller taugt Goethe, nicht zum literarischen Stichwortgeber der Befreiungskriege. Zu offensichtlich ist seine Bewunderung für Napoleon, zu gering seine Bereitschaft, sich im hohen Alter noch patriotisch zu erhitzen. Schiller konnte sich aufgrund seines unerwarteten Todes im Jahr 1805 nicht mehr selbst zur erwachenden Nationalbegeisterung äußern. Zwar soll ihm der korsische "Eroberer" und "Unterdrücker", den er an keiner Stelle seines Werkes explizit nennt, "durchaus zuwider" gewesen sein, doch ist seine Funktionalisierung für patriotische Zwecke ein postumes Rezeptionsphänomen. Gerade Schillers späte historische Dramen laden zu identifikatorischen Lektüren ein. Das von Christian Jakob Zahn vertonte Reiterlied aus Wallensteins Lager, das die Überwindung der Todesangst zur erhabenen, ich-steigernden Freiheitserfahrung verklärt, erfreut sich bei Soldaten und Theaterbesuchern über Generationen hinweg großer Beliebtheit [...] Die Schiller zugeschriebenen Merkmale bleiben über einen langen Zeitraum stabil und verbinden sich mit den verschiedensten ideologischpolitischen Gehalten. Das Bild des Dichters speist sich dabei sowohl aus der Sphäre weltlichen Heldentums wie der religiösen Verheißung. [...] Die Kanonisierung Schillers zum Nationalhelden wird durch die territoriale Streuung und fragmentierte Überlieferung seiner Lebenszeugnisse kaum gebremst. Vielmehr entsteht das Bedürfnis zur Pflege des materiellen Erbes erst aus der Dynamik der Kultgeschichte. [...] Die Erhebung Schillers zum Garanten militärischer und moralischer Überlegenheit nimmt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts offen chauvinistische Züge an. Kritik an den Klassikern erscheint in diesem Zusammenhang als Hochverrat, der das Heil der Nation gefährdet.
Daß in die Visionen des Jorge Luis Borges Reminiszenzen an Werke der bildenden Kunst eingeflossen sind, erscheint evident, wenn man etwa die Beschreibung der 'La biblioteca de Babel' (Borges 1989a, 465-471) mit den Kerkerphantasien Giovanni Battista Piranesis ('Carceri', 1745-1750) oder auch mit der Darstellung des Babylonischen Turmbaus (1563) durch Pieter Breughel d.Ä. vergleicht. Auch bestehen vielfaltige Beziehungen der Borges'schen Labyrinth-, Spiegel- und Doppelgängerphantasien zu Gemälden der Surrealisten sowie zu anderen Werken, insbesondere der modernen Kunst. Inzwischen hat Borges der bildenden Kunst gleichsam mit Zinsen zurückerstattet, was er ihr verdankt. Bildende Künstler verschiedener Stilrichtungen haben aus seinen Werken Anregungen bezogen, Borges'sche Visionen visualisiert, mit Gemälden, Photographien und Graphiken auf die Denkbilder des Argentiniers geantwortet.
Daß Texte sich auf andere Texte beziehen und jedes literarische Werk als eine Art Schnittpunkt von Linien auffaßbar ist, welche, ihrerseits aus einer komplexen literarischen Tradition kommend, in ihm zusammenlaufen, gilt nicht erst seit der rezenten Karriere des Intertextualitätsbegriffs als eine Leitprämisse der Literaturwissenschaft. Doch auch Werke der bildenden Kunst befinden sich inmitten dieses Geflechts. Sie bilden oftmals - um ein weiteres räumliches Gleichnis zu verwenden - eine "Lage", welche zwischen dem einen Text und dem anderen Text situiert ist. Solche bildlichen Zwischen-Lagen stiften auch Intertextualitätsbeziehungen eigener Art: Der spätere Text nimmt auf den oder die früheren Bezug, schließt an diese an oder stellt sich in eine historische Reihe von Texten hinein, und zwar durch Vermittlung des Bildes, welches dazwischentritt und das explizite Bezugsobjekt bildet. Indem über ein Bild oder eine Folge von Bildern gesprochen wird, werden also mittelbar und indirekt zugleich Texte thematisiert, interpretiert, fortgesetzt. Um dies zu erläutern, sei im folgenden ein Beispiel genauer in den Blick genommen - das der literarischen Rezeption der Werke William Turners. Hier wiederum möchte ich mich darauf beschränken, Prosatexte vorzustellen, statt das weite Feld der Bildgedichte zu Turners Werken einzubeziehen.
1996 gab es auf dem jährlich in Bologna stattfindenden Festival 'Il Cinema Ritrovato' eine Retrospektive zu Rudolph Valentino. In meinen Aufzeichnungen finde ich den Eindruck von Valentino in 'Camille' notiert. Ich erinnere mich, wie ich hingerissen, ergriffen war von einer Geste des Sich-fallen-Lassens vor der Geliebten, an der Geliebten. Eine Geste, von der ich versuchsweise sagen könnte, dass sich in ihr absolute Verehrung und vollständige physische Hingabe mischen. Doch ist jede Deutung unzureichend, denn die Geste ergreift mich schließlich ganz physisch, wird in der Ergriffenheit unbegreiflich. Ich suchte das damals notierte Phänomen auf einer kümmerlichen DVD-Reproduktion des Films wieder auf. Es ist der Moment, da sich der Held des Films, Armand/Valentino, aus seiner Befangenheit in noch unerwiderter Liebe auf einmal löst - jedoch eben nicht, um zu handeln, vielmehr um sich erschütternd in seiner Ohnmacht zu offenbaren. Wenn er Marguerites/Nazimovas Knie unter dem kostbaren Stoff des Kleides umfasst, den Kopf an diesen Schleier über der Haut lehnt oder schmiegt, dann hat er in der Bewegung zuvor schon auf unerhörte Weise unbedingtes erotisches Verlangen mitgeteilt. Derart ist dieser Körper, diese männliche Person, die wir sehen, dem Begehren ausgeliefert, dass jeder Akt unmöglich wird. Wohin sollte er sich auch richten? Nach außen, auf die Frau, oder auf dies Ungeheure im Innern? Was bleibt, ist das Sich-fallen-Lassen in die Passivität, in ein Niedergleiten an der Oberfläche von Marguerite, das zugleich ein Hineingleiten in das eigene Innerste ist. 'A fallen man' - der Film verweilt bei dem hingegebenen Valentino. Das löst eine Fülle von Assoziationen aus: Ein Geschlechterwechsel scheint auf - nicht die Frau, der Mann gibt sich hin, wird ein Gefallener, prostituiert sich als Schauspieler (etwas, was Fans wie Kritiker an Valentino bemerkt haben) -, ebenso erscheint eine Empathie des Mannes mit der Prostituierten. Im Kino, anders als in Alexandre Dumas' Roman, teilt sich die Anteilnahme nicht durch viele Worte mit, sondern durch Mimesis.
Kolonie und Flotte
(1918)
Zum Start einer gemeinsam geplanten Monatsschrift wünschte Siegfried Jacobsohn im September 1926 von Tucholsky den Entwurf für die erste programmatische Seite. Darüber hinaus aber - heißt es dann in Jacobsohns Brief weiter - rate er ihm, einen Artikel mit dem Titel "Der Jahrhundertkerl Heine" zu schreiben. Pompös und ausgiebig sollte dieser Artikel sein, denn es lasse sich darin "wunderschön alles sagen, was wir von der Gegenwart und Zukunft fordern". Jacobsohn sah in einem solchen Artikel Tucholskys "die Hauptsache" für die erste Nummer dieser neuen Zeitschrift, die - vorläufig - als "Das Jahrhundert" angekündigt werden sollte.
Der Vorschlag war nicht neu, denn schon ein Jahr zuvor hatte Jacobsohn seinem Freund und Autor nahegelegt, er solle doch "in einem ganz großen, ganz ernsten Aufsatz den Politiker Heine neu entdecken". Auch das bewundernd-derbe Wort vom "Jahrhundertkerl" Heinrich Heine findet sich bereits hier. Das folgende Jahrhundert, das 20., meint Jacobsohn, habe - zumindest in seinem ersten Viertel - seinesgleichen nicht hervorgebracht. Der politische Heine wird also von Jacobsohn akzentuiert, ja, eine aktuelle Charakteristik seiner Vorstellungen geradezu als eine Neuentdeckung betrachtet. Wie weit das zutrifft, sei dahingestellt - um ein zeitgemäßes Verständnis des Schriftstellers Heine bemühten sich damals auch andere. Entscheidend ist, daß es Jacobsohn dabei um Heine als eine programmatische Leitfigur ging, er hoffte - wie es in einem anderen Brief an Tucholsky heißt - auf "einen Hymnus auf Heine, der Dir und mir aus dem Innersten käme".
In einem 2015 veröffentlichten Ranking des populären Wissenschaftsportals 'postnauka' wurde in der Rubrik "die fünf wichtigsten Bücher zur intellectual history" Reinhart Kosellecks Monographie 'Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten' vorgestellt. Der Autor Ivan Boldyrev bezeichnete den Band als eines der Grundlagenwerke der deutschen Begriffsgeschichte und hob auf die Leistungsfähigkeit der historischen Semantik ab. Dass ein deutschsprachiges Buch auf die Liste kam, stellt eine große Ausnahme dar. Deutsche Titel erscheinen in diesen Rankings ansonsten nur, wenn sie in russischer Übersetzung vorliegen. Eine intensive Rezeption der Begriffsgeschichte Reinhart Kosellecks und seiner Arbeiten zu Zeitstrukturen setzte bereits vor über zehn Jahren ein. 2004 beendete der Historiker Aleksandr Dmitriev einen Überblicksartikel zur 'Intellectual History' mit der Ankündigung, dass der Moskauer Verlag 'Novoe literaturnoe obozrenie' (Neue literarische Umschau) in seinen Zeitschriften und Büchern das Thema zunächst am Beispiel der Begriffsgeschichte Reinhart Kosellecks verfolgen werde. Bereits zwei Jahre später, 2006, konstatierte Nikolaj Koposov, der Gründungsdekan des 'Smolny College of Liberal Arts and Sciences' in Sankt Petersburg, über Begriffsgeschichte werde viel diskutiert, der Ansatz selbst aber von russischen Kollegen bzw. an russischem Material nur wenig praktiziert. Mittlerweile hat sich einiges in diesem Forschungsfeld getan. Es liegen erste Übersetzungen der theoretischen Arbeiten Kosellecks sowie neun Artikel aus den 'Geschichtlichen Grundbegriffen' in russischer Sprache vor. Auch die Zahl von empirischen und theoretischen Arbeiten zur russischen Begriffsgeschichte wächst. Die Rezeption der deutschen Begriffsgeschichte und der Arbeiten Reinhart Kosellecks erfolgt - so die einhellige Meinung von russischen Autoren - im Zuge der wissenschaftlichen Neuorientierung in postsowjetischer Zeit und der Suche nach Parametern für die Forschung. Damit verbunden indet eine Internationalisierung und Öffnung der Geisteswissenschaften nach außen statt, d.h. es erfolgt eine intensivere Rezeption internationaler Historiographien und eine verstärkte Kooperation mit ausländischen Kollegen. Spezifisch für dieses Forschungsfeld ist die gleichzeitige bzw. gemeinsame Rezeption der Begriffsgeschichte bei Historikern, Philosophen, Linguisten, Soziologen und Politologen. Im Folgenden sollen die wichtigsten Institutionen, Veranstaltungen, Kooperationen und Publikationen vorgestellt und die inhaltlichen Schwerpunkte und Spezifika der russischen Rezeption Kosellecksche Arbeiten aufgezeigt werden.
Gilles Deleuze ist zwar oft als Philosophiehistoriker hervorgetreten, hat aber offensichtlich keine Heidegger-Monografie verfasst. Ebenso wenig weist sein Werk allzu viele direkte Bezugnahmen auf Heidegger auf. Vielleicht ist diese Einschätzung aber zu oberflächlich. Erst vor wenigen Jahren hat die Philosophin Janae Sholtz in ihrem bemerkenswerten Buch "The Invention of a People" eine erste ausführliche Gegenüberstellung des Denkens von Deleuze und Heidegger unternommen. [..] Das ändert zwar nichts daran, dass kein 'Heidegger und die Philosophie' aus Deleuze' Schreibmaschine vorliegt: Es motiviert aber dazu, nach weiteren Spuren des deutschen Philosophen in Deleuze' Schriften zu suchen. Das letzte mit Félix Guattari zusammen verfasste Buch, "Was ist Philosophie?" (1991), bietet hier reichlich Anhaltspunkte. Im Folgenden wird zu zeigen sein, wie darin eine dezidierte Erwiderung und Fortsetzung in Differenz von Gedanken Heideggers stattfindet: Vor allem betrifft das den Streit zwischen Welt und Erde aus dem Aufsatz "Der Ursprung des Kunstwerks" (1936; 1950). Die Kapitel vier und sieben aus "Was ist Philosophie?", obwohl sie auf den ersten Blick bezugslos erscheinen mögen, entwerfen zusammengelesen eine Erwiderung auf Heideggers so berühmten wie problematischen Anspruch an die Dichter, einem geschichtlichen Volk seine Welt zu eröffnen. Nach einer kurzen Wiedervergegenwärtigung der Grundlagen von Heideggers Überlegungen zur Kunst (II) und Deleuze' oft beiläufigen, aber in ihrer Kritik systematischen Bezugnahmen darauf (III) wird zu sehen sein, wie Deleuze und Guattari in ihrer Philosophie der (De-)Territorialisierung dabei nicht nur die Begriffe Welt und Erde verschieben: Die unerhörte evolutionäre Vordatierung eines Anfangs der Kunst beim Tier etwa entzieht Heideggers Kunstwerk-Aufsatz gezielt seine Basis; den Menschen, der dank seiner Sprache privilegiert im 'Offenen' steht und allein Welt besitzen soll (IV). Über die konkreten Konsequenzen und die manifeste Bedeutung dieser Substitution soll zum Ende nachgedacht werden (V).
Aus theoretischen und praktischen Gründen gibt es einerseits kaum eine Möglichkeit, die Rezeption von einzelnen belletristischen Büchern und von einzelnen Spielfilmen sogleich schon als Therapie im Sinne der Psychotherapie zu verstehen, andererseits aber scheint es völlig unerlässlich, Mediennutzungen grundsätzlich in einen sehr starken Zusammenhang mit Emotionen und Emotionsproblemen zu bringen - mit einer unausgesetzt notwendigen Bearbeitung von Gefühlen und Gedanken, und diese fortlaufend erforderliche Bearbeitung von Gefühlen und Gedanken kann man dann in den Gesamtkontext einer unerlässlichen Dauer-Therapie stellen.
In der Diskussion über Walter Benjamins Georg-Simmel-Rezeption werden vornehmlich das Passagenwerk und die Baudelaire-Arbeiten des späten Benjamin herangezogen. Hier werden Ansätze zu einer Theorie der Moderne und zum dem Schock der Großstadt ausgelieferten Passanten oder Flaneur entworfen, für die Simmels Philosophie des Geldes oder weitere seiner Aufsätze zur Moderne und zur Großstadt Pate gestanden haben. Auf die frühe Rezeption Simmels durch Benjamin wird dagegen eher selten oder nur flüchtig hingewiesen. Das gleiche gilt für die Diskussion nicht nur der vielen Gegensätze sondern auch über die mögliche Verwandtschaft zwischen Benjamin und Heidegger, zwei Denkern, die "sich nicht gesucht haben" und die alles trennt. Es wird - wenn überhaupt - versucht, in den Schriften zum Kunstwerk oder zur Aura oder zur Gewalt Parallelen zu entdecken, die in den meisten Fällen irreführend sind. Aus den wenigen Äußerungen Benjamins zu Heidegger lässt sich zwar nicht folgern, dass er Sein und Zeit vollständig gelesen hätte, aber drei Jahre nach dem Erscheinen des Hauptwerks seines Konkurrenten trug er sich noch mit dem Gedanken, »in einer engen kritischen Lesegemeinschaft [...] den Heidegger zu zertrümmern« (B 2,514), was ihm zeit seines Lebens nicht gelungen ist. Im vorliegenden Aufsatz möchte ich auf die frühe Rezeption von Simmel und Heidegger durch Benjamin zurückkommen und zu zeigen versuchen, wie sich das Denken Benjamins zum Problem der Zeit und zum für ihn verwandten Problem des Trauerspiels und der Tragödie in Abhebung zu den zeitgleichen Studien Simmels und des jungen Heidegger zur historischen Zeit formt. Ich möchte herausarbeiten, wie Benjamin die Problematik dieser beiden Denker verschiebt und in Richtung von Ästhetik und Religionsphilosophie bewegt und sie so in die Weite öffnet, indem er ihr eine tragische und messianische Dimension hinzufügt.
In seinen Schriften, insbesondere seinen späten des letzten Lebensjahrzehnts, prägte Stéphane Mosès die Begriffe der normativen und der kritischen Moderne innerhalb der jüdischen Tradition. Er erklärt, wie diese beiden Tendenzen im jüdischen Denken des 20. Jahrhunderts fast zeitgleich entstehen, nämlich in und nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, und wie zwei parallele Stränge nebeneinander bestehen. [...] Der Dialog von Benjamin und Scholem über Kafka gehört zu den bedeutenden Briefwechseln der Literaturgeschichte, vergleichbar demjenigen von Lessing und Mendelssohn über das Trauerspiel, der erst im 20. Jahrhundert, lange nach seinem Entstehen, wirklich bekannt und rezipiert wurde. Es ist ein großes Verdienst von Stéphane Mosès, diesen Briefwechsel von Benjamin und Scholem kommentiert und uns die Positionen der beiden Denker lebendig vor Augen geführt zu haben. Ich habe meinerseits versucht, im Sog dieses Briefwechsels das Wesentliche hervorzuheben, um Benjamin in die jüdische Moderne einzubetten. Dabei scheinen mir die Gedanken des "Zerfallsprodukts der Weisheit" und des "Gerüchts von den wahren Dingen" sowie auch der einer "theologischen Flüsterzeitung, in der es um Verrufenes und Obsoletes geht" die Diagnose vom Traditionszerfall in der jüdischen und nicht jüdischen Moderne äußerst prägnant zu begleiten.
Mit dieser umfangreichen Monografie dokumentiert Mario Zanucchi in geschlossener Form die Rezeption der Lyrik des französischen Symbolismus in der deutschsprachigen Dichtung der Moderne. Die Arbeit befasst sich mit Prozessen und Figuren der transnationalen Übernahme literarischer Formen und Motive (Transfer) und deren poetischer Anverwandlung bzw. Überformung (Modifikation): Es werden imitative, transformative und transgressive Verfahren der Textproduktion und -reproduktion berücksichtigt [...], die in Übersetzungen, Übertragungen, Pastiches, Adaptationen, Nachdichtungen, Parodien und Kontrafakturen ihren Niederschlag finden. Demzufolge orientiert sich die komparatistisch angelegte Studie methodologisch und begrifflich stark an der Intertextualitätsforschung. Sie deckt die Zeitspanne zwischen 1890, dem Erscheinungsjahr von Stefan Georges 'Hymnen', und dem Jahr 1923, in dem die 'Sonette an Orpheus' von Rainer Maria Rilke erstmalig veröffentlicht werden, ab. Von daher umfasst sie sowohl die ästhetizistische als auch die avantgardistische Moderne. Zanucchis Arbeit begegnet einem langjährigen Forschungsdesiderat schon allein deswegen, weil eine derart breit angelegte und auf einem umfangreichen Textkorpus basierende Überblicksdarstellung über die deutschsprachige symbolistische Lyrik bisher fehlte.
Alban Berg begann seine kompositorische Laufbahn als Komponist von Klavierliedern, die Teil einer quantitativ frappierenden Liedproduktion im Wien der Jahrhundertwende sind: Das Klavierlied hatte zu dieser Zeit in Wien schon eine lange, vor Franz Schubert beginnende Gattungstradition und erlebte als Gattung von besonderer Lokalbedeutung nun einen späten, abschließenden Höhepunkt. Kaum ein Oeuvre eines in Wien lebenden Komponisten dieser Zeit zeigt nicht die Anziehungskraft eines musikalischen Lyrismus. Das gilt für Wilhelm Kienzl, Julius Bittner, Carl Lafite, Joseph Marx ebenso wie für Franz Schreker, Alexander von Zemlinsky, Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton von Webern sowie für die beiden bedeutendsten Lied-Komponisten dieser Zeit - Hugo Wolf und Gustav Mahler. Ihre Liedkompositionen markieren zugleich einen zweifachen gattungsgeschichtlichen Wendepunkt, denn war Wolf der letzte, in dessen Schaffen das Klavierlied zwar noch einen alles dominierenden Rang einnahm, sich aber endgültig vom bis dahin gültigen Strophenlied-Modell ablöste und zum Deklamationslied entwickelte, so führte Mahlers Entwicklung von frühen, späterhin orchestrierten Klavierliedern zum Orchestergesang und zur Synthese zwischen Lied und Symphonik.
Eine zuverlässige Identitätskontrolle ist zu dieser Zeit noch nicht möglich. Man muss dem 33-jährigen plantation-owner glauben, der sich unter selbst gewählter Identität als "CMSealsfield" beim Gouverneur von Louisiana vorstellt, einen Wohnsitz in Louisiana angibt, Leumundszeugnisse präsentiert, sein Vorleben samt Taufnamen Carolus Magnus Postl verschweigt und diese nur in der Unterschrift des "safe conduct pass" (US-Schutzzusage) andeutet. Die administrierenden Herren, Gouverneur Henry Johnson (Louisiana, USA), Albin Eusèbe Michel de Grilleau, Kanzler des französischen Konsulats, und C. N. Morant, Kapitän des amerikanischen Vollschiffs "American", können nicht ahnen, dass sie dem Reisenden im Juni 1826 zu einer amerikanischen Identität mit dem anglophonen Namen Charles Sealsfield (1793-1864) verhelfen und ihn in die nationale 'machinery of identification and integration' einbeziehen. Indem Johnson den Status als 'US-resident' legitimiert, vermittelt er dem politischen Österreichflüchtling und Priester durch Identitätswechsel von Postl zu Sealsfield eine provisorisch gesicherte Existenz.
Dieser Akt ist mit weitreichenden Konsequenzen für Sealsfield verbunden. Er absolviert als 'Amerikaner' Sealsfield die Karriere eines deutschsprachigen 'amerikanischen' Autors von Amerika-Romanen (1833-47) und reüssiert 1844/45 als englischsprachiger 'amerikanischer' Autor unter der Fehlschreibung Seatsfield kurzfristig zum Protagonisten der amerikanischen Nationalliteratur, nachdem 'The Boston Daily Advertiser' am 20. März 1844 in Folge von Theodor Mundts (1808-1861) Urteil aus dem Jahr 18422 ihn als "The Greatest American Author" einer nationalen democratical American literature apostrophiert hat.
Emil Staiger und Thomas Mann
(2007)
Im Folgenden geht es um Emil Staigers Sicht auf Thomas Mann, um die oft fehl eingeschätzte, zutiefst ambivalente Haltung, die der berühmte Germanist gegenüber dem noch berühmteren Schriftsteller zeitlebens einnahm. Anregende Anmerkungen finden sich bereits in Thomas Sprechers Buch „Thomas Mann und Zürich“ von 1992. Diese sind aber ganz der Sicht Thomas Manns verpflichtet. Dagegen gibt es bislang keine Darstellung der Staiger’schen Beurteilung Thomas Manns. Nachfolgend werden vier Staiger-Texte aus unterschiedlichen Lebensphasen heraus gegriffen. Neben dem umstrittenen Jugendaufsatz „Dichtung und Nation“ von 1933 und der „Doktor Faustus“-Rezension von 1947 handelt es sich um zwei wenig bekannte Manuskripte aus dem Staiger-Nachlass in der Zentralbibliothek Zürich: einen Text, der vermutlich 1935 im Umkreis von Manns sechzigstem Geburtstag entstanden ist sowie die Vorlesung „Erzähler des 20. Jahrhunderts“, die Staiger im Sommersemester 1965 an der Universität Zürich gehalten hat.
"Vor einem Bild", so Arthur Schopenhauer, "hat Jeder sich hinzustellen, wie vor einem Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde; und, wie jenen, auch dieses nicht selbst anzureden: denn da würde er nur sich selbst vernehmen." Es ist, als hätte Günter Eich eben diese Aufforderung ernst genommen und in ein subversives Sprachspiel verwandelt. Sein Gedicht "Munch, Konsul Sandberg" aus dem Jahre 1963 erweist sich dabei als ebenso bemerkenswerter wie eigenwilliger Beitrag zum Thema "Text und Bild". [...]Wenn Günter Eichs Gedicht aus dem Band "Zu den Akten" von 1964 etwas aus dem Bild übemimmt, was gleichsam ins Auge springt, so ist es jene genannte Ambiguität zwischen Präsenz und Entzug, zwischen Flächigkeit und Plastizität der Gestalt, die der Text nun seinerseits, in einer Art "overkill" gleichsam, radikalisiert. Eich besingt nicht das Bild, er kokettiert nicht mit der Tradition des Bildgedichtes, er treibt und hintertreibt vielmehr die Erwartung des Lesers durch die Konstruktion eines provozierenden Sprechers. Einer solchen Konstruktion scheinen Fragen vorausgegangen zu sein, wie: Kann ein Text etwas von der Spannung und Energie, die das Gemälde ausstrahlt, "übersetzen"? Läßt sich etwas von der (Nach-)Wirkung dieses Bildes fassen, ohne in gängige Register zu verfallen, mit denen Bilder in der Regel kommuniziert werden? Kann, mit anderen Worten, das Verhältnis von Text und Bild anders artikuliert werden als im Modus der Beschreibung, eines Narrativs oder einer hermeneutischen Belehrung - Modi allesamt der Bemächtigung, der Rivalität oder der Unterwerfung?
Trotz einiger vorliegender Arbeiten zu Hofmannsthals Kunstrezeption ist die Frage nach der spezifischen Art seiner Wahrnehmung von "Bildern" und deren Bedeutung für sein Werk noch weitgehend unbeantwortet. Hier setzen die folgenden Überlungungen ein. Hoffmannsthals Interesse an bildender Kunst zeigt sich schon zu Beginn seines literarischen Schaffens: in seinem Prosagedicht "Bilder" von 1891, den Ausstellungsbesprechungen und Rezensionen [...]; später dann in seinen Einleitungen zu Mappenwerken wie Ludwig von Hofmanns "Tänzen" (1905) oder den Handzeichnungen aus der Sammlung seines Rodauner Nachbarn Benno Geiger (1920). Auch in seine Versen zu "lebenden Bildern", in den lyrischen Dramen und den Libretti, sogar in einzelnen Gedichten ist eine besondere "ikonographische" Komponente erkennbar; sie gilt im besonderen Maße für die Balette, etwa den "Triumph der Zeit", was bislang noch kaum gesehen wurde. Schließlich spiegelt sich das vitale Interesse an Kunst in den Reiseaufsätzen, in Vorträgen, Briefen und Notizen. In vielen seiner persönlichen Beziehungen (von den deutschen Zeitgenossen insbesondere zu Harry Graf Kessler, Eberhard von Bodenhausen, Alfred Walter Heymel, Julius Meier-Graefe) ist die bildende Kunst ein wichtiges kommunikativ-verbindendes Element.
In "Marsyas - Zeitschrift und Pathosformel des Expressionismus" wird auf ein spätexpressionistisches Zeitschriftenprojekt Theodor Taggers (i.e.Ferdinand Bruckner) eingegangen. Die zweimonatlich erscheinende „Marsyas“ ist ein kurzlebiger (1917-1919) Versuch, kulturpolitisch zu wirken und „eine anlagebereite Klientel für bibliophile Projekte zu gewinnen.“ Den Ausführungen zu Tagger und der Rezeption seiner Zeitschrift folgen ausgewählte Tagebucheinträge Theodor Taggers.
"Das schöne Gedicht auf den Vogel ..." : Anmerkungen zu Hofmannsthals Rezeption Walt Whitmans
(1986)
Die Bedeutung des amerikanischen Dichters Walt Whitman (1819-1892) für Hugo von Hofmannsthal im einzelnen ausmachen zu wollen, ist nicht einfach und kann auch nicht Ziel dieser Ausführungen sein. Vielmehr soll es darum gehen, Spuren zu verfolgen, die einer solchen Untersuchung dienlich sein können. Dem kurzen Überblick über die Rezeption Whitmans im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert folgen eine genauere Untersuchung des Briefwechsels zwischen Hofmannsthal und Ottonie von Degenfeld, welcher gegenüber Hofmannsthal Whitmans Gedicht "Out of the Cradle Endlessly Rocking" wohl als das "schöne Gedicht auf den Vogel, der um seine Frau klagt" erwähnte, sowie der vollständige Abdruck des Gedichtes und dessen deutsche Übersetzung von Johannes Schlaf.
Marsyas' Folter und Midas' Zorn : von der Wanderschaft eines Mythos oder: Schiedsrichterskandal
(2005)
Der Mythos des Marsyas wurde in der (Kunst-) Geschichte verändert und ständig neu erfunden. [..] Im Jahre 1968, während der Studentenrevolte, schrieb der deutsche Dichter Günter Eich (1907-1977) einen kurzen Prosatext unter dem Titel "Ein Nachwort von König Midas". Midas, der Möchtegern-Schiedsrichter, wütet gegen die Mächtigen und beschuldigt die Massen, von Apollo verführt, im Glauben, die Welt sei in Harmonie. Nachdem Marsyas zum wahren Sieger deklariert wurde, stigmatisiert Midas ihn zum Schutzpatron der Erniedrigten und der Vertriebenen - all jener Außenseiter, die in der Lage sind, zu erkennen, was falsch mit der Welt ist. In diesem Abseits von Kunst und Gewalt, beherrscht Apollo den Kunstdiskurs; was für einen Dissidenten wie Midas verloren gegangen ist, ist der "Paratext" - Epilog und Erinnerung.
Für die Literatur der Jahrhundertwende werden Werke der bildenden Kunst auf eine Weise bedeutsam, die sich wesentlich von der Kunstrezeption früherer Epochen unterscheidet: Im Zusammenhang mit den literarischen Neigungen zur Symbolisierung kommt dem Bild bzw. der BiIdhaftigkeit des Ausdrucks eine zentrale Rolle zu. Bildende Kunst als Medium visueller Vergegenwärtigung erhält einen neuen Stellenwert innerhalb des literarischen Produktionsprozesses. Am Beispiel Hofmannsthals läßt sich dies besonders gut verdeutlichen, da er sich zeitlebens intensiv mit der Kunsttradition auseinandersetzte und Bild"vorgaben" in hohem Maße in sein Werk einbezog. Diese "produktive Rezeption" (G. Grimm) der bildenden Kunst bei Hofmannsthal läßt sich durch sein gesamtes literarisches Schaffen verfolgen. Sie ist nicht nur konkret faßbar in den lyrischen Dramen und den Kunstaufsätzen. Sie ist auch erkennbar in elementaren Erfahrungen (wie dem Van-Gogh-Erlebnis in den Briefen des "Zurückgekehrten" und dem Anblick der archaischen Koren im dritten Teil der "Augenblicke in Griechenland") und schlägt sich nieder in grundsätzlichen philosophischen und kunstästhetischen Fragestellungen.
Rezension zu Eckart Goebel u. Elisabeth Bronfen (Hg.), Narziss und Eros. Bild oder Text? Göttingen (Wallstein Verlag) 2009. (= Manhattan Manuscripts, hg. von Eckart Goebel, Paul Fleming u. John T. Hamilton, Bandnummer: 2), 302 S.
'Narziss und Eros', Band 2 der 'Manhattan Manuscripts', die Eckart Goebel mit Paul Fleming und John T. Hamilton herausgibt, setzt literaturhistorisch bei Ovids Fassung des Narziss-Mythos an und geht zeitgemäß - kontextgebunden - einen großen Schritt über Freud hinaus. Anstatt sich an den Ungereimtheiten, Spannungen und Widersprüchen der Ausführungen Freuds abzuarbeiten, legt der Band ohne viel Aufhebens die Kriterien narzisstischer Persönlichkeitsstörung nach dem Diagnoseklassifikationssystem DSM-N ('Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders', Fourth Edition) der American Psychiatrie Association zugrunde, holt Eros in den Titel und bringt damit (Un)Ordnung in Ovids und Freuds Ordnungen der Geschlechter.
Der Familien- oder Generationenroman durchlief seit seiner deutschsprachigen Prägung durch Thomas Mann zwei Schübe oder "[B]oom[s]": Auf die Welle der sogenannten 'Väterliteratur' oder 'Väterbücher' der 1970er und 80er-Jahre folgte ungefähr ab Ende der 90er-Jahre eine abermalige Konjunktur der Gattung im Umfeld neu aufgeflammter Debatten über 'Vergangenheitsbewältigung', die 'Enkelperspektive' auf den Nationalsozialismus und über 'Germans as victims'. Vergegenwärtigt man sich die ungebrochene Popularität dieser aktuellen Erscheinungsform des Generationenromans, so erstaunt der prominent auf dem Buchcover platzierte Untertitel von Christoph Geisers 2013 erschienenem Roman 'Schöne Bescherung': Dieser sei 'kein Familienroman', heißt es dort. Gesetzt wird diese peritextuelle Lektüreanweisung noch dazu ausgerechnet von einem Autor, der mit seinen frühen Texten Grünsee (1978) und Brachland (1980) die vielleicht wichtigsten Familienromane der jüngeren schweizer Literatur schuf.
Statt den Untertitel zu 'Schöne Bescherung' vor diesem Hintergrund zu problematisieren, buchte ihn das Feuilleton tendenziell als nicht weiter erläuterungsbedürftig ab und taxierte den Roman gar als Schlussstein einer veritablen "Familientrilogie". Schöne Bescherung will aber eben - anders als die formalästhetisch konventionelleren frühen Romane Geisers - explizit und dezidiert 'kein Familienroman' (mehr) sein. Der Text stellt sich also keineswegs in ein Verhältnis der Kontinuität zu Brachland, dem nächstälteren Roman der angeblichen "Familientrilogie". Vielmehr kommuniziert er noch vor seinem Incipit, eben durch den trotzigen Untertitel, einen kuriosen gattungsbezogenen Abgrenzungswillen. Dieser soll im Folgenden ernstgenommen werden.
Auf dreifache Weise schreibt Schopenhauer Graciáns Lebensregeln weiter: indem er das "Oráculo manual" ins Deutsche übersetzt, indem er seinen "Spanischen Favoritautor" zitiert und indem er im Zuge seiner Gracián-Lektüre eigene Lebensregeln formuliert. Diese drei unterschiedlichen Rezeptionsweisen untersucht der folgende Beitrag. Nach einer kurzen systematischen Betrachtung von Schopenhauers Gracián-Zitaten und einigen Überlegungen zu dessen Verständnis des Oráculo manual im Kontext der 1832 abgeschlossenen Übersetzung wird der Status der Aphorismen als Lebensregeln bei Gracián und Schopenhauer diskutiert. Im Mittelpunkt steht dabei die grundsätzliche Frage nach der Rezeption der Lebensregeln selbst – wie sind sie zu lesen und zu leben?
In "Die Lesbarkeit der Welt" bescheinigt Hans Blumenberg Gracián eine "lebenslang getriebene Theorie der Lebenskunst". Das "Oráculo manual" bezeichnet er daher als "Lebenskunstwerk". Durch die "Gleichsetzung von Lebenskunst und Heiligkeit" im letzten Aphorismus – "En una palabra, santo" – sei die gesamte Aphorismensammlung "als Handreichung für das Arrangement mit der Vorläufigkeit aller Dinge" zu lesen. "Arrangement" steht hier nicht für eine künstlerische Anordnung des Lebens, sondern meint eine Lebenskunst, die darin besteht, sich mit der diesseitigen Welt zu arrangieren. Der letzte Aphorismus empfiehlt dazu nur noch die Tugend. Er wirkt wie eine salvatorische Klausel; nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass das "Oráculo manual" immer wieder als "Anweisung zum Machiavellismus der Lebenskunst" gelesen wurde und wird.
Man liest Übersetzungen im Allgemeinen als transparente Stellvertreter eines fremdsprachlichen Ausgangstextes, ohne sich des Prozesses des Übersetzens, bzw. der Übersetztheit des Textes bewusst zu sein. Was aber geschieht beim Übersetzen? Übersetzen ist immer Interpretation, so die brasilianische Translationswissenschaftlerin Rosemary Arrojo. Anhand zweier Erzählungen, "Liebe" und "Die Dame und das Ungeheuer oder die allzu große Wunde", der Autorin Clarice Lispector, ins Deutsche übersetzt von Curt Meyer-Clason und Sarita Brandt, wird nach Übersetzungsstrategien und den sich daraus ergebenden Interpretationen, nach Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Übersetzer und der Übersetzung gefragt, die aus den Zieltexten erkennbar sind, stellt man sie den Ausgangstexten gegenüber.
Cette contribution se consacre à la réception de Spitteler au sud des Alpes. Elle décrit notamment l'intérêt de Severino Filippon - germaniste et traducteur luganais - pour son oeuvre, ainsi que la perception du poète épique de Liestal dans les principaux journaux de la Suisse italienne. Il s'avère que Spitteler jouissait d'une certaine notoriété au Tessin, même s'il était loin d'être perçu de la même manière qu'un Francesco Chiesa. Cela n'était pas uniquement dû à une ignorance au sud des Alpes: dans ce contexte culturel, le massif du Saint-Gothard constituait en effet une fracture bien plus importante pour la Suisse que le "fossé" habituellement décrit.
Die Erzählungen E. T. A. Hoffmanns haben seit jeher bildende Künstler fasziniert, mit über 3000 Illustrationen von Künstlern des In- und Auslandes zählt er zu "den meist illustrierten Autoren der Weltliteratur". Dennoch sind diese Illustrationen bislang kaum aus medienkomparatistischer Sicht untersucht worden. Wie wird die Hoffmann'sche Erzählweise in das bildliche Medium übersetzt? Dieser Frage, die vorliegender Aufsatz sich stellt, ist noch kaum einer nachgegangen. [...] Wer die Illustration als 'Ideenklau' versteht, ignoriert, dass das Bild, als anderes Medium, den Inhalt des Textes verändert, transformiert. Aus diesem Grund wird dieser Aufsatz Klees "Hoffmanneske Märchenscene" und Hoffmanns "Goldenen Topf" aus medienkomparatistischer Sicht vergleichen. Im Gegensatz zu Jürgen Glaesemer, der 1986 schreibt: "Bis heute blieb der Inhalt der Hoffmannesken Szene weitgehend ungeklärt", haben zuvor bereits Jürgen Walter und Elke Riemer den Bezug des Bildes zu Hoffmanns Märchen aus der neueren Zeit erkannt. Bevor Klees Farblithographie kontextualisiert und die Beziehung zwischen Text und Bild unter die Lupe genommen wird, skizziert Pauline Preisler zunächst das Phantastische dieser Erzählung. Denn, wie sich im Folgenden zeigen wird, ist dieser Aspekt relevant für den Medienwechsel.
Mattia Luigi Pozzi liefert aus philosophiegeschichtlicher Perspektive einen Überblick über "Die Rezeption Stirners in Italien (1850-1920)". Pozzi kann zeigen, dass die Auseinandersetzung mit dem deutschen Denker eng verbunden ist mit der Ablehnung der Hegelschen Philosophie und eine starke Selbstreflexion der italienischen Zeitgenossen bewirkt. Kritik an Stirner und gleichzeitig eine starke Faszination durch dessen Theorien entwickeln sich im postrisorgimentalen Italien durch die Schlagworte Anarchismus und Individualismus. Diese werden immer wieder in Diskussionen von Schriften Stirners diskutiert. Pozzi kann zeigen, dass und wie sich die Stirner-Rezeption bis ins 20. Jahrhundert ununterbrochen fortsetzt. Sie wird auch für das Denken Benito Musselinis einflussreich.
Hinter dem kritischen und kommerziellen Erfolg literarischer Texte stehen nicht selten Autor(inn)en, verstanden als mächtige Akteure des literarischen Feldes sowie als Marken, die beim Publikum bestimmte Erwartungen erwecken und zur Gestaltung von entsprechenden Wertungsstrategien beitragen. Derartige Wertungen überschreiten nicht immer nationale Grenzen. Am Beispiel der polnischen Rezeption der deutschsprachigen Literatur kann bewiesen werden, dass die Macht der genannten Akteure kulturgeographisch begrenzt ist und dass sie im Kulturtransfer stereotypisiert werden. So lassen sich einzelne Rezeptionsfälle in Figuren ausdrücken: Metapher (Allgegenwart) - Günter Grass, Metonymie (Repräsentation) - Elfriede Jelinek, Litotes (Abwesenheit) - Daniel Kehlmann und Wolf Haas im polnischen Feld.
Im Geleitwort zu Ralph Stöwers Bonner Dissertation von 2009 ‚Erich Rothacker. Sein Leben und seine Wissenschaft vom Menschen‘ erklärt der Psychologie-Historiker Georg Rudinger über den Stand der Rothacker-Forschung: "Was in Sachen Rothacker vor allem zu tun bleibt, ist eine intensivere Geschichte seiner Rezeption"; und er fügt folgende These hinzu: "Die Geschichte der Nichtrezeption ist hier ähnlich interessant wie die der Rezeption." Mein Beitrag greift diese zweite Aussage auf und zeigt erstens, inwiefern tatsächlich von einer Nichtrezeption Rothackers gesprochen werden kann, und zweitens, was diese Nichtrezeption über das deutsche theoretische Feld der unmittelbaren Nachkriegszeit und über die Position Rothackers innerhalb desselben offenbart.
Robespierre gehört zu den historischen Figuren, die nicht so leicht ad acta gelegt werden können. Das wurde mir wieder bewusst, als ich jüngst auf zwei 2016 bzw. 2017 in Paris erschienene Bücher aufmerksam wurde. Zuerst sprang mir in einer Straßburger Buchhandlung das Buch: "Gertrud Kolmar. Robespierre [Poésies]" in die Augen. Die Herausgeberin und Übersetzerin Sibylle Muller präsentiert dort zweisprachig den 46 Gedichte umfassenden Gedichtzyklus "Robespierre" von Gertrud Kolmar sowie, nur in französischer Übersetzung, Kolmars Essay "Das Bildnis Robespierres". Entstanden sind diese Texte in den Jahren 1933 und 1934, also im zeitlichen Umkreis der Machtergreifung Hitlers. Sibylle Muller verweist in ihrem Nachwort knapp auf das 2016 erschienene Buch des Historikers Jean-Clément Martin - ein renommierter Spezialist für die Geschichte der Französischen Revolution: "Robespierre. La fabrication d'un monstre." Sie erwähnt diesen Historiker deswegen, weil er wie schon Gertrud Kolmar den üblichen Bildern von Robespierre ihre suggestive Dominanz nehmen möchte. Aufschlussreich könnte es sein, dieser möglichen Konvergenz von so unterschiedlichen Texten einmal nachzugehen. Ich möchte also ein Rendezvous zwischen zwei ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten, einer bescheidenen deutsch-jüdischen Lyrikerin und einem renommierten französischen Professor der Geschichte, arrangieren. Was Getrud Kolmar betrifft, will ich mich dabei im Wesentlichen auf ihren Essay über Robespierre beschränken und ihren Gedichtzyklus nur kurz ins Auge fassen. Ihr Drama "Cécile Renault" soll ganz bei Seite gelassen werden.
Seit gut zwanzig Jahren sind keine Zweifel mehr erlaubt: Heinrich Heine ist in seine deutsche Heimat wieder definitiv heimgekehrt, und die große Heine-Ökumene scheint angebrochen. Denn wohl erstmalig in der Geschichte herrscht heute im deutschsprachigen Raum ein universeller und ungebrochener Konsens zu dem Dichter, daß er jedem, der die wechselhafte Geschichte dieses ungezogen Lieblings der Grazien in seinem Vaterlande kennt, fast verdächtig anmuten muß: Traut man doch gerade als alter Heine-Kämpe da dem Frieden, ja bisweilen den Augen nicht. Und so triumphal der Einzug - und selbst sein Heros Napoleon hat in Düsseldorf wohl keinen triumphaleren gehalten - , den der inzwischen allseits Gefeierte beispielsweise 1997 zum zweihundersten Jubiläum in seiner Geburtstadt hielt, das mit allem gebührenden Glanz und Gloria als mediale Event und internationales wissenschaftliches Happening, gar als germanistisches Love-In begangen wurde, überkam den eingefleischten Heine-Verehrer bei aller Genugtuung dabei doch fast ein leichtes Unbehagen, ein fast nostalgisches Heimweh nach jener nicht allzu fernen, doch nun versunken
anmutenden Äone, wo, wie die verklärende Erinnerung es suggeriert, um und über den Dichter noch so aufwühlend wie aufschlußreich gestritten wurde.
Am Zentralinstitut für Literaturgeschichte (ZIL) der Akademie der Wissenschaften der DDR arbeitete seit 1976 eine von Peter Weber geleitete Arbeitsgruppe an einem "Kunstperiode" genannten Projekt, dessen Ergebnisse 1982 in einem Sammelband der vom ZIL im Akademie-Verlag herausgegebenen Reihe Literatur und Gesellschaft publiziert wurden. Den einzelnen Studien zur deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts der ProjektmitarbeiterInnen - zu Beziehungen von Ökonomie, Staatskritik und Kunstidee in der Rezeption von Adam Smith (Anneliese Klingenberg), zur frühen geschichtsphilosophischen Konzeption von Friedrich Schlegel (Gerda Heinrich), zu Goethes Theatralischer Sendung und Lehrjahren (Hans-Ulrich Kühl) und zu Problemen der Jean-Paul-Interpretation (Dorothea Böck) - war eine "Einleitung: 'Kunstperiode' als literarhistorischer Begriff" des Projektleiters vorangestellt, die in den Mittelpunkt einer vergleichsweise breiten Diskussion in der Fachöffentlichkeit geriet. Sie wurde nicht nur dadurch ausgelöst, dass Weber, der am Band 7 1789 bis 1830 der offiziellen Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart "[v]erantwortlich für den Teil 1789 bis 1794" mitgeschrieben hatte, für "die deutsche Literaturentwicklung zwischen ausgehender Aufklärung und Vormärz", für die "kein eigentlicher Periodenbegriff gebräuchlich" sei, einen Periodisierungsvorschlag machte: Kunstperiode, sondern auch durch dessen methodologische Begründung. Insbesondere diese erwies Weber als Vertreter einer der beiden Richtungen, in die sich die DDR-Literaturwissenschaft in den 1970er Jahren differenziert und auch polarisiert hatte mit "zwei verschieden akzentuierte[n] Literaturbegriffe[n]", die Wolfgang Thierse und Dieter Kliche in einer in den Weimarer Beiträgen 1985 publizierten, zunächst internen Auftragsarbeit zur Entwicklung der "Positionen und Methoden" der "DDR-Literaturwissenschaft in den siebziger Jahren" konstatierten: "ein historisch-funktionaler und ein an 'Dichtung' orientierter, denen jeweils unterschiedliche methodische Konsequenzen für die Literaturgeschichtsschreibung immanent sind". In diesem Papier erscheint der "Band 'Kunstperiode'" nach Arbeiten von Rainer Rosenberg zum Vormärz und zur literarischen Kultur der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert
Die Reaktionen auf das Werk Thomas Bernhards sind Paradebeispiele für das Missverständnis, Literatur habe unvermittelt etwas mit Politik, Philosophie oder anderen gesellschaftlichen Teilbereichen zu tun. Auch Aussagen von Bernhard selbst forcieren diesen Eindruck, gleich, ob sie in den 'faktualen' Interviews, den wenigen poetologischen Texten, den Reden zu Preisverleihungen, der meist referentiell gewerteten Textsorte Autobiographie oder in den 'fiktionalen' Texten geäußert werden: "Zu Lebzeiten war das Bild des Autors Thomas Bernhard vor allem in Österreich ganz wesentlich von Skandalen geprägt."
Inhaltlich umfassen die Themenbereiche die 'Makro-' bis zur 'Mikroebene' des Sozialen: Der Staat Österreich wird zum Ziel des Angriffs, die von Bernhard angeprangerten Kontinuitäten in nationalsozialistischer Hinsicht, der Katholizismus (die Religion), unterschiedliche Institutionen, beispielsweise das Schulsystem, die Musikausbildung, die Familie, konkrete Personen bis hin zum Leitzordner in der Auslöschung, der dann wiederum als Symbol für eine bürokratisierte österreichische und europäische 'Leitzordnerkultur' auf die Makroebene hochgerechnet wird.
Auch in der Forschung wird immer wieder die Frage nach dem Realitätsgehalt der Texte Bernhards aufgeworfen: Wieviel Dichtung, wieviel Wahrheit beinhaltet die Autobiographie, wieviel Biographie die 'Fiktion', wie ist Österreich im Text repräsentiert?
Die produktive Rezeption von Thomas Mann im Roman "Ana em Veneza" von João Silvério Trevisan (1994)
(1999)
The novel "Ana em Veneza" (1994) by João Silvério Trevisan is composed as a literary game of intertextual references to the works of Thomas Mann. Especially his tales "Enttäuschung" ("Desillusion") and "Tod in Venedig" ("Death in Venice") and his novel "Doktor Faustus" serve as models. Trevisan uses figures, motives and themes of Thomas Mann on various levels of his own literary creation, thus using elements in the works of the German writer as pattern of a "European" attitude towards art, about which he argues through his characters, seeking a specific Brazilian identity as an artist. The article surveys this productive reception of motives from Thomas Mann's works, refering to the basic ideas of the novel.
Vom Schriftexegeten, Kirchenlehrer und wahren Propheten respektive Apostel im 16. und 17. Jahrhundert, der mit Gotteshilfe Übermenschliches geleistet habe, über den Befreier der Vernunft und des Gewissens in der Aufklärung bis hin zum Nationalhelden, Heroen der deutschen Kultur und Vorbild bürgerlicher Lebensführung im 19. Jahrhundert - dies sind nur wenige Haupttransformationen, denen Luther im Laufe der Geschichte unterworfen wurde und an deren Vollzug sowie Tradierung die bildende Kunst entscheidend beteiligt war. Die Tatsache, dass sich jede Epoche, ja jede Generation "ihren eigenen Luther schuf", wurde zusammen mit der Heterogenität dieser zeitgebundenen Konstrukte spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch als ein gravierendes Forschungsproblem erkannt, das den deutschen Theologen und Kirchenhistoriker Heinrich Böhmer 1906 dazu veranlasste, ernüchtert festzustellen, dass es "so viele Luthers gibt, als es Lutherbücher gibt". In seiner herausragenden Studie zu Lucas Cranachs Bildnissen des Reformators von 1984 zeigte jedoch der Kunsthistoriker Martin Warnke, dass es bereits zu Lebzeiten und unmittelbar nach dem Tod des Wittenberger Theologen 1546 vor allem so viele Luthers gab, als es Lutherbilder gab. Cranach, der Hofmaler des sächsischen Kurfürsten, schuf mit den auffällig in ihrer Ikonografie variierenden und für die breite Öffentlichkeit bestimmten druckgraphischen Portraits ein wirkmächtiges "Image" des Reformators, das zum fundamentalen Bestandteil der protestantischen Publikationspolitik wurde und dabei zugleich gerade durch seine Mannigfaltigkeit eine mediale Angriffsfläche für das katholische Lager bot. Die Werke Cranachs, in denen das offizielle Bildnis des Theologen gleichsam generiert und autorisiert wurde, weisen differenzierte künstlerische Strategien der Sakralisierung und Heroisierung auf, welche von der Mehrzahl der etwa fünfhundert zeitgenössischen (Rollen-)Portraits Luthers kontinuierlich rezipiert und innovativ uminterpretiert wurden. Sie feiern den Wittenberger Bibelprofessor nicht nur als omnipräsenten und omnipotenten Gottesmann, sondern verklären ihn zur universellen Verkörperung der Reformation, zum personalisierten Sinnbild der neuen Theologie. Der Genese, den Facetten sowie der zeitgenössischen Rezeption dieses Phänomens in der Druckgraphik des 16. Jahrhunderts möchte der vorliegende Text anhand der exemplarischen Analyse ausgewählter Bildnisse des Reformators nachgehen.
Richtete sich das lange unter der Federführung von J.-Ph. Genet un d W. Blockmans betriebene Forschungsunternehmen zur »Entstehung des modernen Staates« vor allem auf die Epoche des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit aus, so nimmt der vorliegende Band einen strukturellen Vergleich ausgewählter Aspekte der Staatlichkeit des antiken Rom und des spätmittelalterlichen Europas in den Blick. Wie D. Nicolet in seiner Zusammenfassung treffend hervorhebt (S. 419–426, hier S. 420), wird dieser Vergleich ganz im Sinne der programmatischen Vorgaben des spiritus rector Genet (S. 3–14) vorrangig als Kontrastierung durchgeführt. Zwar verweisen einige Autoren auf mögliche Resultate einer Zusammenschau, grundsätzlich bleibt die komparative Synthese aber weitgehend dem Leser überlassen. Dieser kann sich zu ausgewählten "Strukturbereichen" – der Zeit(-wahrnehmung/-rechnung), der Raum(-ordnung), der Verwandtschaft, der (schriftlichen) Kommunikation und dem Recht – in jeweils gedrängten Synthesen und zuweilen auch in Fallstudien informieren. ...
Das Mittelalter fordert heraus – und zwar in ganz unterschiedlicher Hinsicht: Wie der vor Kurzem verstorbene Otto Gerhard Oexle aufzeigte, sehen sich gerade die Deutschen mit einem "entzweiten Mittelalter" konfrontiert. Darüber hinaus aber, so Oexle, sei die Moderne insgesamt in ihrer Genese nicht ohne ihre ambivalenten Bezüge auf die ferne Epoche zu verstehen. Diese Tragweite der Mittelalterbezüge verdeutlicht auch das zu besprechende Werk, das im italienischen Original bereits 2011 erschien und nun in einer insgesamt gelungenen, aktualisierten französischen Übersetzung vorliegt: Denn wie Benoît Grévin in seinem Begleitwort (S. 7f.) unterstreicht, erschließen sich die politischen Implikationen, die mit den Verweisen auf das Mittelalter verbunden sind, so recht erst bei einer international ausgreifenden Betrachtung. Dass für den in Urbino mittelalterliche Geschichte lehrenden di Carpegna Falconieri italienische Beispiele eine besondere Rolle spielen, tut dem Wert seiner Studie keinen Abbruch, machten die politischen Entwicklungen auf der Halbinsel diese doch zu einem wahren Labor des "Mediävalismus", dessen Untersuchung auch wertvolle Blicke auf die Nachbarn ermöglicht (S. 8). ...
Im spanischsprachigen Raum wird immer noch oft zwischen philosophischer und historiographischer Begriffsgeschichte unterschieden. Allerdings führen beide Richtungen seit einigen Jahren einen fruchtbaren Dialog miteinander. Damit schließen sie in gewisser Weise an eine Forderung Reinhart Kosellecks an. Nach seiner Einschätzung kann die "Fortführung oder Revision der Begriffsgeschichte" von "deren philosophiegeschichtlichen Wurzeln und Varianten" nicht absehen. Die von Koselleck benannte Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, damals noch umstritten, ist zu einer Art Evidenz geworden. Daher kann ein kleiner Exkurs zur editorischen Wirkungsgeschichte Kosellecks in Spanien und Iberoamerika aufschlussreich sein.