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Die Sonette II 9 bis II 11 der Sonette an Orpheus werden in der Forschung als Gruppe bezeichnet. Man gibt der Gruppe gern ein Etikett, das diese Behauptung rechtfertigen soll. Die Argumente lauten "Neuzeit", "Modernisierungskritik" und
"Disparatheit der Welt". Allen gemein ist die Annahme eines Bezugs zu einer außerliterarischen Wirklichkeit.
Dem Sternbild in Rilkes Sonetten an Orpheus soll im Folgenden sich über die Formel der "Rettung der Phänomene" genähert werden. Das Motiv der Sterne sowie des Weltraums findet sich an zentralen Stellen innerhalb des Zyklus. Der Anordnung der Sterne zur Konstellation kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. In Rückbezug auf die antike Direktive der Rettung der Phänomene lassen sich so das erkenntniskritische Potenzial von Konstellationen sowie deren geschichtliche und poetologische Relevanz innerhalb der Sonette aufzeigen. Die Theorie Walter Benjamins wird hierfür die entscheidenden Termini bieten.
Rilke hat die Nähe des Mittelmeers biographisch und lyrisch immer wieder gesucht, wie in seltener Verschmelzung von Schreib- und Lebensraum die auf Schloss Duino an der Levante bei Triest anspielenden "Duineser Elegien" (1923) zeigen. Auch verdankt er dem Mittelmeer poetologische Impulse, die seine Lyrik seit den "Neuen Gedichten" (1907) prägen, etwa das Nachdenken über die fragile Beziehung zwischen dinglich-konkreter Anschauung und deren sprachlicher Entsprechung und Benennung. Das im Januar 1907 auf Capri entstandene "Lied vom Meer" bündelt derartige Impulse, um sie in der raffinierten Synthese sprachlicher Figuren zugleich auf den Prüfstand zu stellen.
Die Sonette an Orpheus sind in vieler Hinsicht verschlüsselt und treiben damit bestimmte Züge Rilkescher Dichtung auf einen Höhepunkt. In den hier behandelten zwei Sonetten wird die existentielle Fragestellung in poetologische Überlegungen überführt: in den "Übergangsjahren" zu den späten großen Zyklen experimentierte Rilke auch schon mit einer besonderen Natur- und Raumerfahrung bzw. mit der Setzung eines neuen Objekt-Subjekt-Verhältnisses, in dem ihre Übergänge und ihre gegenseitigen Wandlungen eine tastende Artikulation erfahren und damit die sich von konkreten Bezüglichkeiten immer mehr entfernenden Formulierungen, wie sie dann in den Sonetten an Orpheus auftreten, allmählich einleiten.
"In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch." Musik und Verwandlung in Rilkes "Sonetten an Orpheus"
(2014)
Die Nähe der Sonette an Orpheus zur Musik ist kaum zu übersehen. Schon der im Titel genannte Adressat des Zyklus bürgt für eine gewisse Musikalität. In Ovids Metamorphosen, die Rilke als literarische Quelle für den Orpheus-Mythos dienten, ist die Musik bekanntermaßen von zentraler Bedeutung: Tiere, Pflanzen und Steine versammeln sich, um dem orphischen Gesang zuzuhören, Orpheus bewegt durch seinen Gesang Hades und Persephone dazu, seine Frau Eurydike aus der Unterwelt freizugeben, und nachdem er von den Mänaden zerrissen wurde, musizieren Kopf und Leier weiter. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn Rilke in sämtlichen Sonetten, die an Orpheus gerichtet sind, also jeweils im Anfangs- und Endsonett beider Teile, die Musik bzw. den Gesang ins Zentrum rückt.
Die Gleichgültigkeit der Natur gegenüber der menschlichen Existenz wird bei Rainer Maria Rilke in seiner letzten Schaffensphase in der Schweiz mit einer ähnlichen Radikalität sprachlich-dichterisch kompensiert wie er früher das restlose Hineinbilden (nicht Abbilden!) der Welt in das Sprachkonstrukt nach den Vorbildern von Baudelaire, Rodin und Cézanne – um hier nur die wichtigsten zu nennen – vom eigenen Sprachinstrument forderte. Ich nehme an, daß Rilkes späteste Dichtung und Poetologie nur in engster Verbindung mit dem Konzept des Verzichts ausgelegt werden kann. Exemplarisch für die Poetik dieses lyrischen Ausgleichs im Kontext des spätesten Werkes ist die Sinnfigur der Fontäne, die Produktionsweise und Funktion der dichterischen Bilder illustriert und eine immanente Reflexion auf den Sinn und die Zielvorstellungen des dichterischen Schaffens enthält.
Poetik der Gelassenheit. Zur mystischen und poetologischen Fundierung von Rilkes Armut-Konzeption
(2014)
Blickt man auf Rilkes Künstlerbild des armen und unbehausten Mystikers, Mönchs und Propheten, wird das Wechselspiel von Armut und Reichtum im übertragenen Sinn bestimmend: In der Nachfolge Nietzsches kennzeichnen den heiligen Künstler einerseits sein Arm- und Verlassen-Sein und seine Demutsgesten; andererseits
erfährt er gerade im Zustand der Armut den inspirativen Anstoß für ein kreatives Wirken und durch seine reichhaltige, gottgleiche Kunstproduktion eine Nobilitierung.
"Des Armen Haus ist wie des Kindes Hand". Gefäß und Getränk oder Leere und Fülle in Rilkes Dichtung
(2014)
Die Kinderhand als das Bild für das "allerleiseste Empfangen", für das Offensein für einen Anspruch, den niemand herausfordern und niemand erwarten kann, hat eine Tradition in Rilkes Werk, das vor dem Stunden-Buch entstanden ist und es spinnt sich bis ins Spätwerk hinein fort. Die Gleichzeitigkeit von Leere und Fülle als von Gefäß und Getränk immer zugleich ist wohl nirgends so spielerisch und daher dauernd umgesetzt wie in den Sonetten an Orpheus, wo Wein, Kelter und
derjenige, der trinkt, alle eins und in sich doch unterscheidbar sind. Im Bekenntnis zum Hier darf die Unterscheidung nicht aufgegeben werden. Diese lebt aber vom Ununterschiedenen: die Erfahrung des Ununterschiedenen
als eine Erfahrung der "inspiratio" fasst Rilke mit der Gefäß-Metapher.
Der Goldregen im Park von Ulsgaard ist nicht nur eine ("schön blühende, giftige") Pflanze. In der bildenden Kunst (Tizian, Rembrandt, van Dyck, Klimt) ist die auf Ovid zurückgehende Geschichte der Königstochter Danaë oft dargestellt worden.
Die von ihrem Vater in einen Turm Verbannte wird von Zeus in Form eines Goldregens besucht und wird die Mutter des berühmten Helden Perseus. Rilkes Anlehnung an die mythische Tradition wird durch die kreative Anverwandlung besonders
gewinnend und die Begegnung der Liebenden erhält geradezu hintergründig eine erhebende Weihe. Der zurückhaltende Anschluss an den Mythos ist einer Erfahrung angemessen, die sprachlich allenfalls vergleichsweise ("wie"), im Kontrast ("nichts") oder als Möglichkeit ("vielleicht") fasslich erscheint. Die Begegnung von Mutter und Sohn am Fenster des Hauses in Ostia feiert Augustinus als Werk der göttlichen
Vorsehung, die Begegnung des Neffen und der Tante verklärt der Rilkesche Malte zu einem alle Erwartung übertreffenden aber willkommenen Glück: "Schöne, schöne Abelone." Die Deutung der Briefe als Liebesbriefe ergab sich für Malte nachträglich ("wie ich es jetzt sehe") und sie war die Konsequenz aus der Begegnung im Park schließlich.
André Gide, Rainer Maria Rilke, Franz Kafka und Robert Walser haben den verlorenen Sohn literarisch in der Moderne beheimatet: Gides "Le retour de l’enfant prodigue" erschien 1907, Rilkes "Legende vom verlorenen Sohn" 1909/10 als Schlusskapitel des "Malte Laurids Brigge" im Vorabdruck in der "Neuen Rundschau". Dort las Kafka den Text noch bevor der Roman im Mai 1910 im Inselverlag vorlag und ehe auch Rilkes Übersetzung von Gides "Rückkehr des verlorenen Sohns" 1913 erschien. Kafkas "Heimkehr" entstand im Winter 1923/24 in Berlin, blieb allerdings unpubliziert im Nachlass. Von Robert Walser sind zwei "Verlorene Söhne" überliefert: 1917
erschien eine "Geschichte vom verlorenen Sohn" in der "Neuen Zürcher Zeitung", 1928 das Prosastück "Der verlorene Sohn" im "Berliner Tageblatt". All diesen Texten ist gemeinsam, dass sie das biblische Gleichnis (Lukas 15,11-32) neu erzählen. Sie lösen Erzählverlauf, Erzählsituation und Handlungskette auf und knüpfen sie neu. Damit errichten sie jeweils unterschiedliche, von der Vorlage ganz verschiedene Bezüge
des Subjekts im Verhältnis zu seiner Umwelt. Die Versionen von Gide, Walser und Rilke sollen im Folgenden vergleichend betrachtet werden.
Zu dem Erzähltyp der Schulzeit-Erinnerungen, die sich als ungerufene Reminiszenzen aus der eigenen Ferne oftmals an markanten biographischen Zäsuren zu melden pflegen, trägt Rilkes im Spätsommer 1919 hoch zu Soglio im Bergell entstandene Prosastudie Ur-Geräusch (in der Notation mit einem Bindestrich zwischen beiden Wortbestandteilen) eine bemerkenswert technisch gehaltene Skizze bei, in deren
Mittelpunkt die eindrucksvolle Demonstration des seinerzeit neuartigen Abspielgerätes des Phonographen vor einer staunenden Schulklasse steht, welcher auch der
junge René Maria angehörte. Der vom Lehrer zu didaktischen Zwecken mit primitiven Mitteln nachgebaute Apparat, bei dem ein Stück Pappe, trichterförmig gebogen, an der Öffnung mit einer Membran verklebt und in der spitz zulaufenden Mitte mit der Borste aus einer Kleiderbürste bestückt worden war, konnte
sodann gegen eine mit Kerzenwachs bezogene Walze gerichtet werden und, den Schalldruck der erzitternden Membran aufnehmend und weitergebend, in das noch halbweiche Wachs rund um die sich drehende Walze bleibende Linien einkerben, um auf diese Weise tatsächlich Phonographie zu treiben, mithin nichts anderes als das Aufschreiben der erklungenen Stimme.
Zu Karl dem Kühnen gibt es sowohl einen Berner Bezug als auch einen Malte-Bezug. Der Schweizer oder Berner Bezug ist, daß der "Fall" Karls des Kühnen, sein "Untergang", wie es in den "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" heißt, entscheidend
vorbereitet wurde durch zwei Schlachten, die er gegen die Eidgenossen verloren hatte, bei Grandson und Murten, nicht weit von Bern, beide 1476. Im "Malte Laurids Brigge" spielen diese Schlachten zwar keine Rolle (auch die Schlacht
bei Nancy, von Anfang Januar 1477, die den Fall und den Tod Karls brachte, interessiert nur in ihren Folgen), es wird aber mit den "Hörnern von Uri" auf diese Ereignisse und deren zentrale Bedeutung angespielt. Der zweite Schweizer oder
Berner Bezug sind die Teile der Burgunder Beute, die mit dem Lager der Feinde bei Grandson in die Hände der Sieger gefallen waren und die zum Teil im Historischen Museum in Bern aufbewahrt werden.
Die französischen Gedichte Rilkes können trotz einiger Interpretationen, die ausschließlich die späteren Gedichte betreffen, noch weitgehend als oeuvre inconnue bezeichnet werden, dies gilt im besonderen Maße für die vor 1923 entstandenen Gedichte, die im Allgemeinen als wenig interessant gelten. Dass das 1920 in Bern entstandene Gedicht "Nénuphar" durchaus literarische Qualitäten hat, soll im Folgenden
gezeigt werden.
Die Bedeutung dieser Gegenstände ist an ihre Besitzerin geknüpft, nach ihrem Tod sind sie wertlos geworden. Malte setzt sich mit der für ihn schmerzlichen Notwendigkeit auseinander, dass sich demgegenüber das, was er schreibt, mit neuen Bedeutungen füllen wird, weil es etwas "Großes" ist, ein zusammenhängender Text, ein "Gewebe". Er selbst fühlt sich bei dieser Vorstellung "zerbrochen", denn dauerhaft scheint er selbst kein fester Teil seines Werks zu sein.
Dass Rilkes Besuche im Bernischen Historischen Museum nachvollzogen werden können, ist dem Umstand zu verdanken, dass auch dessen annotierter Museumsführer dank der Schenkung von Nanny Wunderly-Volkart ins Rilke-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek kam. Dieser Führer durch das bernische historische Museum diente Rilke auf seinen Rundgängen durchs Museum.
Rilkes Leben in der Schweiz
(2014)
"Die Schweiz" ist im Zusammenhang mit Rilke zugleich ein großes und ein kleines Thema. Ein kleines Thema ist es, wenn man bedenkt, dass Rilke nur die letzten acht Jahre seines Lebens in diesem Land gelebt hat. Eben diese Jahre des Erfolgs und der Qual waren es aber auch, die für seine Größe entscheidend wurden, zumindest dann, wenn man davon ausgeht, dass alles Vorhergehende wie "Das Stundenbuch", "Das Buch der Bilder", ja sogar beide Teile der "Neuen Gedichte" und der große Roman "Malte Laurids Brigge", die "große" Arbeit nur vorbereiteten. Dies mag eine Überzeichnung sein; jedenfalls aber wird man sagen können, dass die Welt, die sich Rilke in der Schweiz erschloss, in vieler Hinsicht Neuland für ihn war.
In den folgenden Überlegungen geht es hauptsächlich um ein unpubliziertes Konvolut Rilkes von 26 Seiten mit dem Titel "Remarques à la suite de la traduction des 'Cahiers de M. L. Brigge'", das sich in der Stadtbibliothek von Colmar befindet. 'Unpubliziert' muss allerdings insofern eingeschränkt werden, als Auszüge daraus von Maurice Betz in seinem Erinnerungsbuch "Rilke vivant. Souvenirs, lettres, entretiens" (erschienen 1937 bei Emile-Paul frères in Paris, deutsch unter dem Titel "Rilke in Frankreich. Erinnerungen, Briefe, Dokumente" 1938 bei Reichner in Wien) verwendet wurden. Hier ist nicht der Ort, im Detail auf die Zitiermethode von Betz einzugehen. Es steht aber außer Zweifel, dass Betz bewusst die oft sehr kritischen Passagen von Rilkes Bemerkungen zur Übersetzung des Malte unterdrückt hat. Es geht ihm dabei offensichtlich um die Rechtfertigung seiner Übersetzung.
Das Hauptinteresse dieses Beitrags gilt - nach einer biographischen Einbettung - dem brieflichen Austausch zwischen Catherine Pozzi und Rilke, der bis heute nur in französischer Sprache vorliegt. Im Anschluß daran wird ein wichtiger Aspekt des Verhältnisses Rilke-Valéry wenigstens kurz berührt. Angeregt wurde der Beitrag durch eine Bemerkung des Dichters und Übersetzers Philippe Jaccottet, wonach es sich bei Rilkes schrankenloser Bewunderung für Paul Valéry um einen gewissen Mangel an Klarsicht ('lucidité') handle; er, Rilke, habe den Abgrund übersehen, der ihn, im Wesentlichen, vom französischen Dichter trenne. Dies kann man auch anders sehen.
Rilke über Rilke
(2010)
Im Sommer 1925 hat Rainer Maria Rilke in Paris dem Journalisten Frédéric Lefèvre ein Interview gewährt. Erschienen ist es ein Jahr später in 'Les Nouvelles Littéraires, Artistiques et Scientifiques' vom 24. Juli 1926, unter dem Titel "Une heure avec R.-M. Rilke, le plus grand lyrique d’Autriche". Es wurde, geringfügig verändert wieder abgedruckt in einem Sammelband von Interviews mit anderen Persönlichkeiten, den Lefèvre 1927 veröffentlichte. Unmittelbar nach Erscheinen des Interviews brachten, im Juli und August 1926, die 'Süddeutsche Zeitung' und die 'Neue Leipziger Zeitung' Auszüge: "Eine Stunde mit Rainer Maria Rilke", übersetzt von Fritz Adolf Hünich, Rilkes erstem Bibliographen; Maurice Betz nahm einen Auszug in den Band "Rilke vivant" auf. Das Interview ist auch später nicht in Vergessenheit geraten, wurde aber nie näher auf seine Entstehung und seine Besonderheiten hin angesehen.
Rilke und Paris - von allen "topographischen" Themen, die man mit dem Leben und Werk eines "deutschsprachigen Dichters aus Prag" in Verbindung bringen kann, ist dieses wohl das vielseitigste, beziehungsreichste. Es ließe sich in zahlreiche Einzel- oder Unterthemen aufgliedern - systematisch, chronologisch, biographisch, werkgeschichtlich. Und es würde viele Jahre aus dem Zeitraum zwischen 1902 und 1925 erfassen müssen; zusammenhängende Jahre und auseinanderliegende. Wir beschränken uns dieses Mal auf ein einziges Jahr - 1925 - und auf einen einzigen, den größeren Teil dieses Jahres umfassenden Aufenthalt Rilkes in der französischen Metropole. Es war der letzte, den noch zu erleben dem Dichter vergönnt gewesen ist. Eine solche Beschränkung ist berechtigt. Denn in mehrfacher Hinsicht unterschied sich dieser ereignisreiche Aufenthalt grundlegend von allen vorangegangenen Lebensabschnitten, in denen Paris dem Dichter immer vertrauter, gelegentlich aber auch ermüdender geworden war. Indem wir diese Unterschiede berücksichtigen, vermögen wir zugleich den einzigartigen Charakter von "Rilke in Paris 1925" zu bestimmen und ihn abzuheben von allem, was Rilke zuvor in Paris zu erfahren wußte.
Rilke in meiner Familie
(2010)
Als Rilke starb, war ich neun Jahre alt. Mein Vater war Franz Hessel, ein Dichter, ein Schriftsteller und ein großer Übersetzer. Er hat Marcel Proust ins Deutsche übersetzt, eine große Balzac-Ausgabe betreut und war dem Rowohlt-Verlag jahrelang verbunden. Es ist mir aufgefallen, dass seine Generation ungefähr die Generation von Rainer Maria Rilke ist, und im Zusammenhang mit Rilke denke ich an drei, vier weitere Menschen aus dieser Generation, die mit meinem Vater in Verbindung standen.
Impressionen (Sommer 1925)
(2010)
Begegnung mit Rilke 1925
(2010)
Rainer Maria Rilke hatte die Prinzessin Marthe Bibesco (1888-1875) am 23. Januar 1925 in ihrer Pariser Wohnung besucht. Anlaß war die Rückgabe eines Bändchens von Racines Werken. Die Prinzessin hatte es während des Ersten Weltkriegs bei einem Besuch der Fürstin von Thurn und Taxis in ihrem böhmischen Schloss Lautschin aus der Bibliothek ausgeliehen und auf eine Gelegenheit gewartet, das Werk zurückgeben zu können. Nun sollte Rilke der Überbringer sein. Die französische Schriftstellerin und Tochter des rumänischen Außenministers Jean Lahovary hatte ihre Erinnerung an den Besuch im Oktober 1951 formuliert. Rilke hat ihre Werke mehrfach empfohlen.
[...]
Der französische Literaturkritiker und Übersetzer Charles Du Bos (1882-1939) aus dem Umkreis der Zeitschrift "Nouvelle Revue Française", ein Bekannter von Rudolf Kassner, hatte sich seit 1923 für Rilkes Werk begeistert. In seinem Journal hielt er den Eindruck eines Besuchs fest.
Ernst Zinn begann in den 30er Jahren mit der Konzeption einer philologisch einwandfreien Werkausgabe und wurde damit zum "Begründer der Rilke-Philologie", wie Michael von Albrecht es in seinem Nachruf auf Ernst Zinn 1990 formuliert hat. Doch was war es, was Ernst Zinn an Rilke fasziniert und an ihn gebunden hat? Schließlich wählte er nicht die Germanistik zu seinem eigentlichen Beruf, sondern wurde 1936 mit einer Arbeit zum "Wortakzent in den lyrischen Versen des Horaz" promoviert. Horaz und Rilke - bei aller Vielfalt im Werk Ernst Zinns bilden sie doch so etwas wie die Brennpunkte seines Schaffens. Was ist es, was ausgerechnet diese beiden Dichter verbindet?
Säkularisierung
(2014)
Blumenbergs Kritik an der Kategorie der Säkularisierung hat schon zu Lebzeiten große Aufmerksamkeit erfahren und wird bis heute mit seinem Namen verbunden. Sie betrifft verschiedene für Blumenbergs Werk zentrale Problemzusammenhänge: die Deutung der Neuzeit ebenso wie die Logik historischer Entwicklungen, die Erörterung rhetorischer Funktionen von Theorie ebenso wie die Selbstbehauptung gegen den theologischen Absolutismus. Im weiteren Sinn steht Blumenbergs Krititk der Säkularisierung dabei im Kontext der in der Forschung höchst kontrovers diskutierten Frage, welche Bedeutung seiner gleichermaßen konstanten wie kritischen Bezugnahme auf die religiöse Tradition und auf theologische Diskurse für sein Denken zukommt.
Ende
(2014)
Das Ende ist einer der Orte, an denen sich bei Blumenberg verschiedenen Argumente und Diskurse auf höchst spannungsreiche Weise verbinden und an denen sich daher zeigen lässt, dass sein Denken nicht in der einen oder anderen These aufgeht, sondern gerade auf die Verbindung abzielt. Wenn er etwa einmal seinen eigenen Ansatz als "Phänomenologie der Geschichte" charakterisiert, so zeigt die Frage nach dem - zugleich denknotwendigen und unzugänglichen - Ende der Geschichte, wie wenig selbstverständlich jene Zusammensetzung von Phänomenologie einerseits, Geschichte andererseits ist. Sie impliziert nicht nur, auch nach dem Ende der Geschichtsphilosophie über das Ganze der Geschichte nachzudenken, sondern emphatisiert auch die Erinnerung als die zentrale Fähigkeit, mit der eigenen Endlichkeit umzugehen.
Die folgende Auseinandersetzung mit der "Wahlverwandtschaften"-Abhandlung versteht sich nicht allein als Beitrag zur Rezeption Benjamins in der Literaturwissenschaft, zumal diese von Burkhardt Lindner und Vivian Liska bereits auf umfassende Weise nachgezeichnet worden ist. Ihr geht es vielmehr darum, in der kritischen Auseinandersetzung mit dem zwiespältigen Echo, das Benjamin in der Literaturwissenschaft gefunden hat, eine poetologische Dimension in seinen Schriften aufzuweisen, die in der doppelten Bedeutung als Theorie und Praxis der Dichtkunst noch heute für die Literaturwissenschaft wie die philosophische Ästhetik von Bedeutung ist. Wie zu zeigen sein wird, sind Benjamins "Wahlverwandtschaften" für die Philologie wie die Philiosophie noch immer zu entdecken.
Den folgenden Ausführungen geht es nicht primär um eine Exegese des Trauerspielbuches und auch nicht um die traurige Geschichte seiner Rezeption, die Klaus Garber und Uwe Steiner an anderer Stelle dargestellt haben. Sie zielen eher darauf ab, aus Benjamins Denken relevante und immer noch kaum abgegoltene Perspektiven für das Verstehen des Barock zu erarbeiten und insbesondere eine Alternative zur weitgehenden Verdrängung oder Einhegung der Religion in der literaturwisenschaftlichen Erforschung der frühen Neuzeit zu entwickeln. Denn Benjamins Überlegungen zur Kratürlichkeit, die sich immer wieder in verschiedenen Konstellationen des Trauerspielbuches finden, stellen das freilich problematisch gewordene Religiöse präzise in das Zentrum der barocken Spiegelstruktur.
Wenn man in der Bibelkritik nach Figuren der Fälschung sucht, muß man eine Reihe verwandter Phänomene wie Betrug, Plagiat, Textverderbnis, Kopie usw. miteinbeziehen: jene Konzepte, die an die Stelle der Fälschung treten, ihr aber oft zum Verwechseln ähnlich sehen. Zu untersuchen ist daher, wie die Frage, ob die Bibel oder Teile von ihr echt oder gefälscht sind, nicht nur immer wieder anders beantwortet, sondern auch immer wieder anderes gestellt wird. Im folgenden werden daher an vier Autoren - Baruch de Spinoza, Jean Astruc, Hermann Samuel Reimarus und David Friedrich Strauß - vier Aspekte der Fälschung thematisiert: Fälschung als Grenzsetzung, Materialität der Fälschung, Urfälschung und schließlich die doppelte Aufklärung der Fälschung.
Die deutsche Literatur boomt wie lange nicht mehr. Das belegen nicht nur Zahlen wie die Menge verkaufter Bücher oder die Anzahl der Zuhörer bei einer Lesung von Stuckrad-Barre, sondern auch das vielerorts geäußerte Gefühl, daß es nun doch weitergehe, daß man die Nachkriegsliteratur einschließlich G. Grass und P. Handke, M. Walser und C. Wolf hinter sich gelassen habe. Es gibt also irgendwann seit 1989 eine deutsche Popliteratur oder auch, bescheidener, "Literaturpop" (Stuckrad- Barre), an deutsche, aber vor allem an amerikanische Traditionen anschließend und von relativ hoher Medienwirksamkeit. Allein die Vielfalt der Diskussionen über eine gewisse Sorte von Texten, die - vage genug und keineswegs unumstritten - unter dem Begriff 'Pop' verhandelt werden, indiziert einen Innovationsschub, den man nicht zu hastig als schamlose Anbiederung der Literatur bei der allgegenwärtigen Kulturindustrie verteufeln sollte. Damit ist nicht gesagt, daß diese Literatur gut oder wichtig sei, bloß weil sie (vielleicht) neu ist, wohl aber, daß die Kritik nicht unter das Niveau der Texte zurückfallen sollte; neu heißt ja noch nicht 'weiter'; das Neue ist zunächst einmal das Andere: "A cat is not a deficient dog." Man darf erwarten, daß der neuen Popliteratur vor allem dort (wissenschaftlich) angemessen begegnet wird, wo man jenseits des Fortschrittsparadigmas operiert und Pop weder als Ausverkauf denunziert noch als jüngste Avantgarde feiert. Noch vor allen Versuchen ihrer formalen oder inhaltlichen Bestimmung bezeugt sich diese Literatur als neu durch den Generationswechsel, den die fraglichen Autoren selbstbewußt und aufrührerisch vollziehen und kommentieren.
Suspense
(2016)
Überraschung und 'suspense' hebt Hitchcock anhand zeitlicher Kategorien voneinander ab. Dabei ist es ein Zukunfts- und ein Wissensmodell in einem, welches Überraschung und 'suspense' systematisch trennt, da Zukunftswissen ausschließlich den 'suspense' charakterisiert - und organisiert. Zeichnet sich 'suspense' als ein über einen Informations- und Wissensvorsprung (des Rezipienten) zeitlich wohl konstruiertes Interim (des Filmemachers) aus, das die Zukunft einer Explosion als vorhersehbaren Fluchtpunkt der Gegenwart festlegt, so hat die Überraschung nicht viel mehr als eine Art präsentische Ekstase zu bieten. Das Fehlen sowohl an Wissen als auch an Zukunft lässt sie in den Augen des Regisseurs zu einem dilettantischen und drittklassigen 'thrill' verkümmern. Zukunftswissen, verstanden als "Wissen in Zukunft", so wird man aus Hitchcocks Anekdote - zugleich aber auch über diese Anekdote hinaus - schließen dürfen, macht die Gegenwart unweigerlich zur Zwischenzeit. Als solche hat sie bei Hitchcock einen klar determinierbaren Anfang und ein ebenso klar determinierbares Ende.
In diesem Aufsatz möchte ich untersuchen, wie die Rahmen- und Binnengeschichten in 'Marathon, Eis und Schnee', 'Safari' und 'Johanna' räumlich gestaltet sind, und welche Rückschlüsse die Gestaltung von Räumlichkeit in diesen Texten auf Felicitas Hoppes Poetologie erlaubt. Dabei gehe ich davon aus, dass sich eine Analogie ausmachen lässt zwischen der Raumordnung, der Zeitordnung und der narrativen Ordnung von Rahmen- und Binnenebenen, die auch für Hoppes übriges Werk charakteristisch ist: In allen diesen drei Aspekten bestehen Grenzen, die sich jedoch im Erzählen als zunehmend permeabel erweisen.
Als Auftakt zu diesem Sammelband, nicht als wissenschaftlichen Beitrag im engeren Sinn, biete ich hier eine leicht überarbeitete Fassung des Vortrages, mit welchem ich bei der Konferenz Geschichts(er)findungen. Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne die Autorin im Namen der Subfaculty of German in Oxford willkommen geheißen und ihr zum Büchnerpreis gratuliert habe, der ihr im Oktober 2012 von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verliehen worden war. Ich möchte dabei insbesondere kurz auf Felicitas Hoppes ersten Roman 'Pigafetta' (1999) eingehen und ihn sowie sie als Reisende in den Kontext anderer deutscher und österreichischer Schriftstellerinnen beziehungsweise Schriftsteller stellen, die ebenfalls die Welt bereist haben. Sollte mir dabei ein Fehler unterlaufen, möge mir Frau Hoppe verzeihen und sich an Rainer Maria Rilkes (1875-1926) Worte erinnern: "Ruhm ist schließlich nur der Inbegriff aller Mißverständnisse, die sich um einen neuen Namen sammeln."
In transkulturellen Texten der Gegenwart finden sich Praktiken der Übersetzung, Diskurse über Translationsprozesse, aber auch künstlerische Auseinandersetzungen mit übersetzten Texten. In Olga Grjasnowas 'Der Russe ist einer, der Birken' liebt spricht die Protagonistin Mascha, die Übersetzungswissenschaften im Doppelstudium studiert, mehrere Sprachen und ist zugleich - durch ihre biographische Herkunft, ihre Freundschaften und Liebesbeziehungen und durch ihren Beruf - in mehrere kulturelle Kontexte eingebunden. Durch diese vielfachen Transgressionen ist Übersetzung daher im Text auch als Transkonzept präsent.
Am "Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik", so Wolfgang Preisendanz, bilde sich bei Heine eine Kunstprosa aus, die Einspruch gegen Hegel erhebt und das Fortleben nicht mehr schöner Kunst in Gestalt moderner oder realistischer Kunst verbürgt. Ob Heine seiner Hegel-Bewunderung zum Trotz als Kronzeuge neuer, moderner Kunst gelten darf, sei dahingestellt. Eine Entscheidung darüber hinge nicht zuletzt von dem an ihn angelegten Modernebegriff ab. Der geläufige - mit Heine als Übergang - zeugt jedenfalls 'contre coeur' vom Rechtfertigungszwang, den Hegels Diktum zumindest auf Literarhistoriker immer noch ausübt. Doch nur bedingt kann Heine ihren Absichten dienlich sein. Dass er selbst, trotz gelegentlich ausgedrückter Hoffnungen, denen zufolge "die neue Zeit […] auch eine neue Kunst gebären […], sogar eine neue Technik" hervorbringen würde, doch eher pessimistisch in die Zukunft des "greisen Europa" sah und die Frage zu bejahen geneigt war, die er am Ende des Berichts über die Gemäldeausstellung von sich wies: "Oder hat es überhaupt mit der Kunst und mit der Welt selbst ein trübseliges Ende?", soll im Folgenden als ein Aspekt seiner Formel vom Ende der Kunstperiode erhellt werden.
Wer waren die Literaturwissenschaftler, die bei der Gründung 1914 an die Universität Frankfurt am Main berufen wurden, die das akademische Leben der Stadt Frankfurt in der Weimarer Republik mitprägten, die nach 1933 in Frankfurt weiterhin Literaturwissenschaft betrieben oder die vertrieben wurden? Ein zweisemestriges interdisziplinäres Lehrforschungsseminar am Fachbereich 10 (Neuere Philologien) hat anlässlich des Jubiläums zum 100-jährigen Bestehen der Universität im Jahr 2014 Antworten auf diese Fragen gesucht. Das Ergebnis ist eine virtuelle Ausstellung mit 20 Porträts (Goethe Universität Frankfurt am Main, 2017). Diese Ausstellung war jedoch nur ein Teil einer Reihe von Veranstaltungen, die sich im Jubiläumsjahr der Frankfurter Universität mit den Literaturwissenschaften in Frankfurt befassten.
In diesem Beitrag untersuchen wir Entwicklungstendenzen von Infrastrukturen in den Digitalen Geisteswissenschaften. Wir argumentieren, dass infolge (1) der Verfügbarkeit von immer mehr Daten über sozial-semiotische Netzwerke, (2) der Methodeninflation in geisteswissenschaftlichen Disziplinen, (3) der zunehmend hybriden Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine und (4) der explosionsartigen Vermehrung künstlicher Texte ein erheblicher Anpassungsdruck auf die Weiterentwicklung solcher Infrastrukturen entstanden ist. In diesem Zusammenhang beschreiben wir drei Informationssysteme, die sich unter anderem durch die Interaktionsmöglichkeiten unterscheiden, die sie ihren Nutzern bieten, um solchen Herausforderungen zu begegnen. Dabei skizzieren wir mit VienNA eine neuartige Architektur solcher Systeme, welche aufgrund ihrer Flexibilität die Möglichkeit bieten könnte, letztere Herausforderungen zu bewältigen.
Ist es möglich das Konzept des Ritornells in eine Philosophie des Spiels einzubinden und mit Benjamins Philosophie der Zweiten Technik, in deren Zentrum bekanntermaßen das Spiel steht, so zu verbinden, dass das Spiel als Teil der Technik erscheint und die Ästhetik ihrerseits als Teil dieses Spiels? Dieser Frage geht Astrid Deuber-Mankowsky in ihrem Beitrag in Form eines spielerischen Versuchs nach. Elemente dieses Versuchs sind die Texte von Deleuze und von Deleuze und Guattari zum Konzept des Ritornells und der dazugehörigen Philosophie der Wiederholung, Benjamins verstreute Ansätze zu einer Philosophie der Technik und der Videofilm "Seeing Red" der US-amerikanischen Experimentalfilmemacherin Su Friedrich. "Seeing Red" spielt mit dem Genre des Diary Films in der sich ausbreitenden Vlog-Kultur. Der Film ist jedoch, wie Deuber-Mankowsky zu zeigen unternimmt, mehr als ein Spiel mit Genres: Su Friedrich betreibt das Filmen selbst als ein Spiel im Sinne des Ringelreihen-Spiels von Deleuze und Guattari: als eine Passage und als eine Bewegung der Intensivierung, als ein Spiel mit Wiederholungen und ein Abschreiten von Variationen. Dies lässt sich freilich nur dann mit dem Begriff der Technik verbinden, wenn Technik nicht instrumentell - und das heißt, auch nicht anthropozentrisch - gedacht wird, sondern, wie Benjamin vorschlägt, in der Nähe zum Spiel, das, wie er schreibt, als "Wehmutter jeder Gewohnheit" auftritt. So ist es von der kleinen Variation nur ein Schritt bis zur unermüdlichen Wiederholung der Versuchsanordnung, welche das Experiment auszeichnet.
Hatte Heidegger noch davon gesprochen, dass der Stein "weltlos" sei und auch "Pflanzen und Tiere […] gleichfalls keine Welt haben" und als "Zeug" und "Verlässlichkeit" zu einer Welt gehören, die sich dem Bewusstsein öffnet, verstehen Deleuze und Guattari das 'faire monde' gerade als eine dezentrierende Relationalität, ein Werden hin zur Welt in ihrer Vielfältigkeit und Unbestimmtheit, ja eine Bewegung des abstrakt und nichtwahrnehmbar Werdens. Julia Bee greift in ihrem Beitrag diese Idee auf und versteht Spiel als einen Modus der Praktiken des 'worlding', als ein "Anders-Werden". In Anlehnung an Brian Massumi wird das als ob des Spiels nicht als nachahmender Bezug auf eine bestehende Realität, sondern als Abstraktion und ein Mehr verstanden, das eine Ebene der Virtualität eröffnet. Am Beispiel von "Begone Dull Care", einem Animationsfilm von Norman McLaren und Evelyn Lamberts, beschreibt Bee ein solches "vibrierendes, pulsierendes und ständig transformierendes Feld der tanzenden Wahrnehmung".
Lisa Handels Beitrag geht in der Lösung des Spiels von seiner Bezogenheit auf ein Subjekt oder ein Leben, das über Bewusstsein verfügt, wohl am weitesten. Das führt Handel allerdings nicht zur mythischen oder religiösen Idee des kosmischen Spiels, sondern zu einem 'earthly play', wie sie es mit der Biologin Lynn Margulis formuliert. Im Zentrum der Evolutionstheorie von Margulis steht die These, dass komplexe Formen des Lebens aus einer Symbiose von einzelligen Lebewesen entstehen und dass dies auch die Anwesenheit von bakterieller Fremd-DNA im Cytoplasma der Zellen mit Zellkern erkläre. Ontogenese ist damit aber nicht mehr als eine Autogenese und wurzelförmige Entwicklung darstellbar, sondern als ein Werden-Mit, ein Spiel heterogener Lebewesen. In "Zoo City", einem Cyberpunk-Roman von Lauren Beukes, in dem es um die Ausbreitung prekärer symbiontischer Existenzweisen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren geht, sieht Handel eben diese Heterogenese in einem literarischen Spiel ausbuchstabiert.
Das Spiel erscheint bei Wiemer als jenes Element in der Geschichte des Wissens, das die Birfurkation des Wissens in Kulturwissenschaften auf der einen und Naturwissenschaften auf der anderen Seite unablässig befragt. Der beste Beweis dafür ist die Irritation und Faszination, welche spielende Maschinen, wie etwa im Fall des Computerschachs oder lebendige Automaten wie das Computerspiel "Game of Life", in beiden Wissenskulturen auslösen. Zugleich jedoch weist Wiemer auch darauf hin, dass der Begriff des Spiels mit der Spaltung des Wissens in Kultur- und Naturwissenschaften selbst eine Spaltung erfuhr, ja, dass er, wie er am Beispiel der Spieletheorie von Johan Huizinga verdeutlicht, selbst zur Begründung des Begriffs der Kultur herangezogen wurde, wodurch das "kulturalistische Spielverständnis" doppelt untermauert wurde. In einem Durchgang durch die Philosophiegeschichte des Spiels stellt Wiemer dar, dass im 20. Jahrhundert eine Traditionslinie wiederauflebte, die dem kulturalistischen, auf das Bewusstsein und den Menschen bezogenen Spielverständnis unter Bezugnahme auf Heraklit und vermittelt über Heidegger einen kosmologischen Begriff des Spiels gegenüberstellte. So sieht Eugen Fink das Spiel als kosmisches Gleichnis, wenn es ohne Spieler gedacht wird. Diesen kosmologischen Spielbegriff sucht Wiemer in der Folge für die mögliche Beantwortung der Frage nach der Schwierigkeit fruchtbar zu machen, spielende Maschinen zu denken.
Mit einem entschiedenen Plädoyer dafür, einen Begriff des Spiels zu wahren, der von der Beteiligung eines Bewusstseins nicht absieht, endet Andreas Beinsteiners Beitrag. Er arbeitet am Begriff des Spiels, wie er ihn in den späteren Arbeiten von Martin Heidegger findet, eine spezifische Konstellierung zwischen Spiel und Medium heraus. Wenn für Heidegger die Vorstellung einer Gegebenheit oder physis damit verbunden ist, dass sie dem "Anwesenden die Anwesung" gibt, kommt ihr schon immer eine mediale Qualität zu. Allerdings entzieht sich Medialität dann zugunsten dessen, was sie erscheinen lässt. Sie liefert eine Bühne für das Spiel des Seienden. Auch wenn dies nicht so verkürzt zu verstehen ist, wie es dann in Gadamers Idee des "Spielplatzes" wieder auftaucht, der antitechnische Zug des Arguments ist kaum weniger deutlich. Die Möglichkeit zur Irritation, Unterbrechung, Dysfunktionalität oder gar Handlungspotenz wird der Technik von Heidegger nicht zugesprochen.
Die Brisanz der Frage nach den Denkweisen der Spielgrenzen eröffnet sich, sobald man sich klar macht, dass mit der Entgrenzungsbewegung digitaler Spiele, wie Raczkowski einleitend bemerkt, sich auch das Ludische als Kulturphänomen transformiert. Die Richtung dieser Transformation wiederum zeigt sich, wenn wir uns vor Augen halten, dass die sogenannte Spielifizierung unserer Gesellschaft als Gamifizierung bezeichnet wird, Game aber im Zeitalter der Digitalisierung der Spiele der Name für eine Spielumgebung geworden ist, die sich durch Scoring und Flow, mithin durch die Quantifizierung und Rationalisierung der Spiele und ihrer Vergnügen auszeichnen. Wir sind damit an eben jenem Punkt angelangt, an dem sich das Nachdenken über die Transformation des Spiels mit der Feststellung von Alexander Galloway und Eugen Thacker überkreuzen, nach der die mit der Elementarität des Netzwerks einhergehende Veränderung der Umwelt uns dazu auffordere, eine Klimatologie des Denkens auszuarbeiten. Raczkowski kommt nach einem Durchgang durch die unterschiedlichen Positionen, die in der Kontroverse um den Zauberkreis eingenommen wurden, zu dem Schluss, dass der Magic Circle als Erklärungsmodell in den gegenwärtigen Entwicklungen selbst an seine Grenzen komme, als Grenzfigur jedoch für die Computerspielforschung entscheidend bleibe.
Der Beitrag von Jasmin Degeling führt zurück zu den Foucault'schen Denkweisen des Spiels. Es ist wohl bekannt, dass Foucault das Spiel in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Subjektivierungsprozesse und in seinen Überlegungen zu einer Ästhetik der Existenz mit Fragen der Selbstbildung und Entunterwerfung in einen Zusammenhang brachte. Statt jedoch an diese Diskussion über die Theorien der Selbsttechnologien anzuknüpfen, verfolgt Degeling die Rhetorik des Spiels zunächst zurück bis in die 1960er Jahre und untersucht sie exemplarisch an drei Schauplätzen. Sie beginnt mit der Diskussion von Foucaults Auseinandersetzung mit Kants Anthropologie (1961), in der das Spiel ganz zentral ist, und setzt ihre Untersuchung mit der Analyse der "Ordnung des Diskurses" (1970) fort. Vor dem Hintergrund der Rolle, welche die Rhetorizität des Spiels in den Denkweisen von Foucault einnimmt, liest sie schließlich den späten Aufsatz "Subjekt und Macht" (1982) auf das Verhältnis der "Spiele der Macht" zu den "Spielen der Wahrheit" hin. Dabei gelingt ihr der Nachweis, dass die Kunst der Kritik in der Ästhetik der Existenz die Lösung des Handlungsbegriffs von seiner Bindung an die Zweckrationalität voraussetzt. Wie der Bezug auf die pragmatische Philosophie und der Bezug auf Begriffe wie Übung oder eben Spiel möglich sind, ohne sich dabei auf ein autonomes Subjekt zu beziehen, verdeutlicht Jasmin Degeling in einer erhellenden Kritik an Christoph Menkes Auslegung des Foucault'schen Konzeptes der Ästhetik der Existenz.
Einen neuen, von der klinischen Erfahrung ausgehenden Zugang zum Verhältnis von Psychoanalyse, Spiel und Technik eröffnet Monique David-Ménard, indem sie die Übertragung als eine Technik auslegt, die im Spiel ihren unruhigen Grund hat. Sie leitet ihre Antwort auf die Frage "Was haben wir außer dem Spiel, um aus dem Trauma aufzutauchen?" ein, indem sie Verdichtung, Verschiebung, Umkehrung, kurz jene Prozesse, welche die Regeln der Traumdeutung bilden und die Freud allesamt als Arbeit beschrieb, als Spiel auslegt. Sie sind Spiel, weil sie einen Prozess beschreiben, in dem Szenen in einer paradoxen Verbindung zueinander in Beziehung gesetzt werden. Eben so, wie Freud das Spiel in Bezug auf Relationen von Lustprinzip und Todestrieb in ihrer Funktion für die Kur beschrieb. In einem zweiten Schritt stellt David-Ménard die Verbindung von Kur und Spiel an einem Fallbeispiel dar, um an diesem Beispiel zu verdeutlichen, wie Sprachspiele im Prozess der Übertragung eine Änderung von widersprüchlichen Triebdispositiven einleiten. Dabei taucht der Begriff des Dispositivs, wie im dritten Teil deutlich wird, keineswegs zufällig auf. In einer dichten Lektüre von Michel Foucaults Definition von Aussagen und deren Analyse zeichnet David-Ménard hier im Detail nach, wie Foucault in seiner Definition der Aussage Sprachspiel und Technik unter dem Begriff der Operation zusammenführte und sie damit zugleich von der Bindung an ein Subjekt als auch von der Bindung an eine Ontologie löste. Damit gelang es Foucault, so David-Ménard, die Entstehung von Neuem und von Veränderung allein unter Bezugnahme auf den Begriff der diskursiven Praxis als ein Spiel von Operationen zu beschreiben, in dem ein Zwischenraum geschaffen wird. Eben diese Auslegung der diskursiven Praxis als ein Spiel von Operationen lässt sich, wie Monique David-Ménard zum Schluss zeigt, auch auf die Kur anwenden. Damit erscheint die Kur selbst als ein geregeltes Spiel, in dem die Analysandin, die Analytikerin mit ein wenig Glück ebenso mitspielen wie die Triebe und die Sprache, mit dem Effekt, dass sich die Triebe in ein neues, paradoxes Dispositiv verwandeln.
Stephan Trinkaus bezieht sich in seinem Beitrag auf Winnicott und auf eine Zeit des Spiels, nämlich die Vorgängigkeit einer Leere oder eines Falles, die oder der nie erfahren werden konnte und doch in der Weise der Nachträglichkeit wirksam ist. Sigmund Freud hatte diese Zeitlichkeit der Psyche entdeckt, in der immer etwas im Spiel ist, das nicht hat stattfinden, nicht sich hat aktualisieren können. Das Spiel eröffnet sich als Zeit zwischen den Reihen der Vergangenheit und der Gegenwart, die nie ganz verschweißt sind, oder auch zwischen den Reihen der Subjekte und der Objekte, die nie ganz getrennt sind und nie ganz in eins fallen, wie Trinkaus sagt. Spiel ist "ein Geschehen im Übergang von Nichtexistenz und Existenz". Entlang des mit einem tödlichen Sprung endenden Spiels des Jungen Edmund in Roberto Rossellinis "Deutschland im Jahre Null" entwirft Trinkaus die Theorie des Spiels als ein Halten des Nichts. In dieser spezifischen Ökologie des Spiels verlässt Winnicott die objekttheoretischen Entwürfe der Psychoanalyse, seien sie mit dem Konzept des Narzissmus verbunden oder mit Melanie Kleins Objekttheorie, um Spiel als Begegnung des Ichs mit seiner eigenen Unmöglichkeit zu verstehen. Weshalb Winnicott auch davon sprechen kann, "dass Spielen an sich schon Therapie ist". Von hier aus geht Trinkaus aber noch einen großen Schritt weiter, indem er in Anschluss an Maurice Blanchot das Alltägliche in seiner Subjekt- und Objektlosigkeit als eigentliche Zeit des Spiels ausmacht: Zeit und nicht Raum, weil das Halten weniger begrenzt als ermöglicht. Das führt Trinkaus schließlich zu Karen Barads Ontologie der Unbestimmtheit: "I am one with the speaking silence of the void."
Spiel:Zeit
(2017)
Wenn Spiel sich nicht mehr, wie Gadamer in Anlehnung an Martin Heidegger noch glaubte, räumlich begrenzen lässt, wenn es sich also nicht mehr als ein Spiel- oder Zwischenraum zwischen von Arbeit oder Ritual bestimmten Räumen verstehen lässt, dann löst sich die Zeit des Spiels von ihrer räumlichen Einfassung. Schon Hamlet gelingt es nicht mehr, das 'time is out of joint' durch ein abgegrenztes Spiel im Spiel zu richten und Zeit wieder genealogisch einzuhegen, wie Reinhold Görling in seinem Beitrag schreibt. Entlang der maßgeblichen kulturwissenschaftlichen und psychoanalytischen Theorien des Spiels im 20. Jahrhundert entwickelt er einen Vorschlag für eine Ökologie des Spiels, womit nicht eine Umweltlichkeit des Spiels, sondern eine eigene Weise der Bezogenheit gemeint ist. Gregory Bateson, Donald W. Winnicott, Daniel Stern und Gilles Deleuze sind die wichtigsten Referenzen, mit denen die Zeit des Spiels als 'différance', als Wirken der Differenz von Reihen und als Dramatisierung der Idee im Sinne von Deleuze verstanden wird. Entgrenztes Spiel, das seine eigenen Regeln erfindet, schafft sich selbst ein leeres Feld. Manchmal reicht ein zweideutiger Pfiff des Schiedsrichters, wie Görling am Beispiel eines unterbrochenen Fußballspiels zeigt. Entgrenztes Spiel ist Werden und Veränderung, oft auch ohne Intention der Beteiligten. Wären nicht alle 'interfaces' oder Benutzeroberflächen durchsetzt vom Spiel, es wäre zum Beispiel kaum denkbar, dass sich die Technik der Computer so schnell und so umfassend in unsere alltäglichen Verrichtungen, in unsere Tagträume wie in unsere Arbeitsprozesse eingemischt hat.
Gibt es Spiel, gibt es auch Zwischenraum. Spiel bringt Dinge in Relation und verändert sie dadurch. Kein Gelenk funktioniert ohne Spiel. Spiel bedeutet Bewegung: räumlich, zeitlich, modal. Sitzt eine Schraube fest, gibt es zu wenig Spiel zwischen Metall und Holz. Differenz und Wiederholung sind zeitliches Spiel. Innere und äußere Welt, Fiktion und Realität, Regel und Übertretung: alle aufeinander bezogenen Differenzen der Wahrnehmung von Wirklichkeit befinden sich in einem Verhältnis des Spiels. Mit Immanuel Kant wissen wir, dass unsere Vermögen zueinander in einem Verhältnis des Spiels stehen, mit Donald W. Winnicott wissen wir, dass Spiel zur Herausbildung der Differenz zwischen Subjekt und Objekt gehört, mit Victor Turner, dass wir ohne Spiel kein Verhältnis von Individuum und Kollektiv kennten, mit Peter Fongay, dass wir ohne Spiel nie zu einer Erfahrung der Intersubjektivität kämen. Doch wäre es nicht an der Zeit, den Begriff des Spiels nicht mehr nur auf das Subjekt und seine Vermögen zu beziehen? Gibt es eine spezifische Medialität des Spiels, die es sinnvoll macht, das Verhältnis jeden Ereignisses zu seiner Umgebung als Spiel zu beschreiben?
In ihrem Beitrag geht Karin Harrasser unter dem Titel "Treue zum Problem" der Frage nach, ob und wie sich das Konzept des situierten Wissens von Donna Haraway mit dem Konzept der Kosmopolitik von Isabelle Stengers verbinden lasse. Treue zum Problem wird dabei zum Begriff für eine Erkenntnishaltung, in der theoretische und wissenschaftliche Problemstellungen aus konkreten Anlässen und Situationen generiert werden. Wie man sich das konkret vorzustellen hat, führt Harrasser am Beispiel des Films von Werner Herzog vor: "Wo die grünen Ameisen träumen".
Didier Debaise entwickelt ausgehend von der Philosophie von Alfred North Whitehead eine spekulative, nicht anthropozentrische Theorie des Subjektbegriffs. In der Tradition der Kritik an einem phänomenologisch gedachten Begriff des Subjekts stellt Debaise einen kosmologischen Begriff des Subjekts vor, der einer Bindung an Kategorien wie Intentionalität, Bewusstsein und Repräsentation vorgängig ist und der anstatt vom Bewusstsein von einem universalen Begriff des Empfindens ausgeht. Das Subjekt ist in diesem kosmologischen Ansatz nicht mehr der Ursprung der Empfindungen, sondern der Effekt eines Prozesses, es ist ein Subjekt, das als Superjekt sich selbst voraus ist.
Marie-Luise Angerer fragt in ihrem Beitrag "Die 'biomediale Schwelle'. Medientechnologien und Affekt" nach den Konsequenzen, die es hat, wenn die Medientechnologien sich nicht mehr als Objekt oder als Gegenüber zur Erscheinung bringen, sondern sich - wie im Fall der "fehlenden Zeitspanne", den sie von Helmholtz bis Brian Massumi nachvollzieht - in den Prozess selbst einschreiben, mit dem die Wahrnehmung wissenschaftlich beschrieben wird. Mit Canguilhem auf der einen und Haraway auf der anderen Seite lotet sie die neue Situation aus, die sie als post-biological condition beschreibt.
Liebe, Situation, Sprache
(2013)
Ali Benmakhlouf behandelt "Die Abenteuer des Kontextprinzips" bei Wittgenstein und Frege und zeigt in überzeugender Weise, dass auch und gerade die Logik nicht davon ausgeht, dass es ein nicht situiertes rationales Wissen geben könnte. Das Kontextprinzip ist als Prinzip der Objektivität erforderlich, um sicherzustellen, dass die beurteilbaren Inhalte auch kommunizierbar sind.
Unter dem Titel "Die Begrenzung der Wissensfelder bei Kant, Canguilhem und Foucault" fragt David-Ménard nach der Beziehung, die zwischen der Problematik der Grenzen des Wissens und dem In-Rechnung-Stellen der Illusionen besteht, von denen sich das Wissen - folgt man der Richtung der kritischen Philosophie Kants - abzugrenzen hat.
Vom Vitalen zum Sozialen : Überlegungen zu einem politischen Wissen im Anschluss an Canguilhem
(2013)
Muhle geht von der Frage nach dem Verhältnis des Begriffs des Lebens und der sozialen Normen aus, das Canguilhem als eines der Mimesis des Vitalen durch das Soziale beschreibt und führt daran anschließend ihre Annahme aus, nach der Foucault aus dieser Verhältnisbestimmung von Vitalem und Sozialem einen entscheidenden Impuls für die Ausformulierung seiner Biopolitik gewonnen habe.
Christoph F. E. Holzhey beschäftigt sich in seinem Aufsatz "Kippbilder des Vitalen" mit dem Verhältnis von Wissen und Leben bei Canguilhem und Haraway. Im Begriff des Kippbildes stellt er Canguilhems Beschreibung des Lebens als einer "dialektischen Essenz" den Vorschlag gegenüber, das diskursiv konstituierte Leben als etwas zu denken, das ohne Vermittlung zwischen verschiedenen Aspekten oszilliert und seine Einheit allein im Phänomen oder im Namen Leben findet.
Astrid Deuber-Mankowsky untersucht den Begriff des Lebens, der in Canguilhems Epistemologie der Biologie und seinem Verständnis der Technik sowie in Haraways Schriften zu den technisch geprägten Biowissenschaften vorausgesetzt wird, und findet die Verbindung zum Politischen in der Spannung zwischen Anthropomorphismus und Anthropozentrismuskritik.
Von Canguilhem zu Haraway
(2013)
Vor dem Hintergrund der Geschichte des physikalischen Objektivitätsbegriffs zieht die Physikerin und Epistemologin Françoise Balibar in ihrem Beitrag "Von Canguilhem zu Haraway" einen Vergleich der unterschiedlichen Konzepte der Objektivität von Haraways situiertem Wissen und Canguilhems regionaler Epistemologie. Dabei erinnert sie daran, dass Objektivität im physikalischen Sinn nicht, wie Haraway unterstelle, auf eine repräsentationale Identität der Objekte ziele, sondern dass das Objekt der Physik durch die Beziehungen generiert werde, die sich zwischen Tatsachen herstellen.
Detailliertere Auseinandersetzungen mit dem weit verzweigten Werk Canguilhems finden sich bei Haraway nicht. Und somit scheint es angemessen, wenn sie selbst resümiert: "Canguilhem war für mich nicht wirklich ein 'Einfluss', aber er war ganz bestimmt ein Teil der Ideenwelt, die für mich wichtig war, damals wie heute." Welche Stellung Canguilhem in dieser 'Ideenwelt' zukam (und zukommt), ist damit freilich nicht gesagt, und das ist der Ansatzpunkt des vorliegenden Beitrags. Diese Studie geht der Frage nach, in welcher Weise sich konstruktive Beziehungen zwischen der Tradition der Historischen Epistemologie und der aktuellen Wissenschafts- und Technikforschung herstellen lassen. [...] Im Folgenden wird das Spannungsfeld zwischen Historischer Epistemologie und Wissenschafts- und Technikforschung mit Blick auf die dort bislang kaum genutzten Potentiale der Medienwissenschaft erkundet. [...] Vor diesem Hintergrund erfolgt die Argumentation der vorliegenden Studie in zwei Schritten. Der erste, epistemologische Schritt geht von einer Sichtung der bisherigen Beiträge zum Verhältnis von Haraway und Canguilhem aus, die bislang vor allem im philosophischen und philosophiehistorischen Register verblieben sind. Dabei ist Haraways Figur des Cyborgs und das von Canguilhem prominent thematisierte Verhältnis von Maschine und Organismus in den Mittelpunkt gestellt worden, aber nur vereinzelt wurde der Rückbezug auf die historisch gewachsene Materialität der wissenschaftlichen und (medien-)technischen Praktiken vollzogen. [...] Im zweiten, historischen Teil dieses Beitrags wird die Frage erörtert, auf welche Weise Wissenschaft und Technik zur Herstellung und Verbreitung dessen beigetragen haben, was Haraway als eine bestimmte "Vision" der wissenschaftlich-technisch bestimmten Realitäten bezeichnet. Das historische Beispiel dafür sind die Projektionsvorrichtungen, mit denen die Lebenswissenschaftler des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert versuchten, ein neues Bild des Lebens zu schaffen.
So sehr der Begriff des "situierten Wissens" zur Zeit in Mode ist, so sehr wirkt der Begriff der "Region" veraltet, ja sogar ein wenig überholt, ruft doch der "epistemologische Regionalismus" in Frankreich die 1960er und 1970er Jahre in Erinnerung: die Jahre Bachelards, Canguilhems und Foucaults. Doch die Tatsache, dass 2011 am ICI Berlin Institute for Cultural Inquiry eine Tagung zum Thema "Situiertes Wissen und regionale Epistemologie" stattfand, belegt ohne Zweifel, dass diese Fragestellung das Verfallsdatum doch noch nicht überschritten hat. [...] Es ist wohl sinnvoll, zunächst die Vorgeschichte des Begriffs der Region in der Epistemologie in aller Kürze darzustellen, bevor mit Gaston Bachelard und Georges Canguilhem die beiden Autoren ins Gedächtnis gerufen werden, die ihn am prominentesten verkörperten. Danach soll auf die Werke von Michel Foucault und Louis Althusser eingegangen werden, die diese Bezugnahme auf den Regionsbegriff erneuerten und zugleich transformierten. Es bietet sich des Weiteren an, die Kontexte dieser Verwendungen hinzuzuziehen, denn schließlich ist doch sicher das Mindeste, was man mit dem Begriff der Region tun kann, ihn zu kontextualisieren. Dabei wird sich zeigen, dass dieser "französische" Zugang zum Begriff der Region und die angelsächsische Frage nach der "Uneinheit" ('disunity') der Wissenschaften sich in gewisser Hinsicht berühren.
Wie wird das Leben zum Objekt des Wissens? Und wie gestaltet sich das Verhältnis von Leben, Wissenschaft und Technik? Donna J. Haraway und Georges Canguilhem verstehen diese Fragen als politische Fragen und Epistemologie als eine politische Praxis. Die besondere Aktualität von Canguilhems Denken leitet sich aus der von ihm gestellten Frage her, wie sich eine Geschichte der Rationalität des Wissens vom Leben schreiben lässt. Haraway bezieht sich nicht explizit auf Canguilhem, schließt jedoch an die von ihm gestellte Frage an.
Abseits : Nachwort
(2014)
In der Einleitung wurde bereits dargelegt, dass und warum es nicht einfach ist, philosophischer und anderer Kehrseiten so habhaft zu werden, dass sie Kehrseiten bleiben. Wendet man sich einer Kehrseite zu, erscheint das vormals Abgekehrte zugewandt. Aus der verdeckten Kehrseite ist eine Ansichtsseite geworden, die ihrerseits eine neue, abgewandte Kehrseite haben wird und haben muss. Was Luhmanns Systemtheorie 'Zwei-Seiten-Form' nennt, bei der sich jede Unterscheidung aus einer markierten Innen- und einer nicht markierten Außenseite zusammensetzt, wird für den, der sich für Kehrseiten interessiert, schnell zum Dilemma
Pseudomorphose
(2013)
Der Sprachgebrauch verleitet dazu, Pseudomorphosen als bloß täuschenden Anschein jenes Gestaltwandels zu verstehen, der sich in (echten) Metamorphosen vollzieht. Dort tut sich tatsächlich etwas, aber die Pseudomorphose tut nur so, als ob. Allerdings zeigt schon die echte Metamorphose, der das Christentum nach Blumenberg den Garaus macht, auch beim alten Heiden Goethe noch oder schon pseudomorphotische Züge. Wenn alles Blatt ist, darf man legitimerweise fragen, ob da überhaupt etwas metamorphorisiert. Als Metapher geht die Pseudomorphose auf Oswald Spengler zurück, der sie der für historische Sedimentierungs- und Verwerfungsprozesse seit dem 19. Jahrhundert so ertragreichen Mineralogie entlehnt hat.
Das literarische Internet lässt sich auch als ein Raum des experimentellen Storytelling bezeichnen. Die Verlinktheit der digitalen Welt und ihre Möglichkeiten sowie Gefahren wurden zur Inspiration oder zum Thema von Experimenten, die untersuchten, welche Geschichten, Stories dadurch entstehen und wie sie digital erzählt werden können, beziehungsweise wie die RezipientInnen an dem Erzählen auch teilnehmen können.
Der österreichische Autor Clemens J. Setz erregte bereits in relativ jungen Jahren die Aufmerksamkeit der literarischen Welt. Ab seinem 26. Lebensjahr wurden ihm bedeutende literarische Auszeichnungen verliehen. Seine Bücher zeichnen sich durch einen experimentellen Zugang zur narrativen Struktur aus, indem er beim Schreiben technische Möglichkeiten der Neuen Medien verwendet, kanonisierte Texte umschreibt und durch tiefe Einblicke in das Innere seiner Figuren Tabus bricht. In seinen Prosawerken gelingt es ihm, die dringlichsten Probleme von Individuum und Gesellschaft zu benennen. Die Schicksale und Einstellungen seiner ProtagonistInnen wirken kontrovers, weshalb sein literarisches Schaffen ambivalent rezipiert wird.
Laborsituationen, Sinnbewegungen : Poetologie des Experiments bei Ann Cotten und Oswald Egger
(2019)
Der Beitrag ist eine Annäherung an die Poetologie des Experiments im Werk von Ann Cotten und Oswald Egger. Drei Aspekte der Poetologie - Definition von Dichtung, Anschaulichkeit des Gedichteten, Ich-Verdichtung – stehen dabei im Vordergrund; die Analyse wird durch Bezüge zu poetologischen Aussagen von Ernst Jandl, Monika Rinck und Ferdinand Schmatz begleitet.
Das Werk der österreichischen Autorin Brigitta Falkner beruht auf einem unerschöpflichen Prozess der Grenzüberschreitung und der Hybridisierung. Daraus folgt u. a. eine Erweiterung der Grenzen des Literarischen: Biologie, Mathematik, Physik und andere Wissenschaften werden überraschende Akteurinnen in der neuen 'Ordnung der Dinge', die Falkner in ihren Produktionen verwirklicht.
Das Palindrom, ein seit der Antike geübtes anagrammatisches Buchstabenspiel, galt einerseits als magische und numinose Praxis, andererseits, vor allem in der Moderne, als bloßes l'art pour l'art. Wie die Form als hintersinniges experimentelles Genre genützt werden kann, zeigt Brigitta Falkners Band 'TobrevierSCHreiverbot' (1996): Hier erweist sie sich als ironisches, satirisches und (sprach-)philosophisches Bild-Text Medium mit inhärenter autoreflexiver Bedeutung.
Der Aufsatz stellt die Frage nach dem Zusammenhang von Topografien und experimentellen sprachlichen Verfahren bei Gert Jonke mit Blick auf seine Textsammlung 'Himmelstraße - Erdbrustplatz oder das System Wien' (1990) und interpretiert die Topografie Wiens beziehungsweise die Raumsemantiken, wie sie in dem aus Fragmenten eines Wien-Romans entstandenden Band Jonkes auftauchen, als Modelle. Die Topografie und der Raum haben, so die These, für Jonkes eigentümliche Bedeutungserweiterungen, -verschiebungen und Gegenüberstellungen eine modellierende Funktion und geben seine semantischen 'Experimente' gleichsam methodisch genau vor. Anhand verschiedener Begriffe von 'experimenteller Literatur' wird gezeigt, dass Jonkes Texte sich trotz ihrer widersprüchlichen Zuordnungen zur (post-)experimentellen Literatur mit Fragmenten einer wissenschaftlichen Sprache und Denkweise auseinandersetzen.
Die vorliegende Arbeit untersucht die Motivation des Wechsels von der Lyrik zur Prosa im Frühwerk von Thomas Bernhard und bemüht sich zu zeigen, wie sich die 'neue' Gattung als Experimentierraum sprachlicher Konstruierbarkeit einer literarischen Wirklichkeit und die Existenzialphilosophie als neues Ausdrucksmittel des leidenden Subjekts erweist. Beide bilden die Voraussetzungen für den neuen Bernhard'schen Ton, der sich im Roman 'Frost' (1963) zum ersten Mal zeigt. Das Experimentelle im Romanerstling Bernhards ist soziologisch motiviert und äußert sich sowohl erzähltechnisch als auch konzeptuell in der 'experimentellen Sprache' des Malers Strauch.
Paul Celans Beziehung zur Avantgarde, genauer zur experimentellen Poesie, war ambivalent. Sie gehörte einerseits deutlich zu seiner dichterischen Entwicklung und Herausbildung seiner eigenen poetischen Sprache bis hin zu seiner Spätdichtung; andererseits genügte ihr reiner Ausdruck nicht seinen hohen ethisch-humanistischen Ansprüchen. Doch das, was oft auch in Celans Gelegenheitsdichtung als bloßes, harmloses, ja humorvolles Sprachspiel aussah, wird in seiner 'gültigen' Dichtung zu einem ernsten Instrument der Provokation und Warnung, das eine komplexe poetische Narrenmaske entstehen lässt. Der Beitrag versucht Celans Beziehung zur experimentellen Lyrik aufgrund der Vielschichtigkeit eben dieser dichterischen Narrenmaske zu durchleuchten.
Oswald Wieners sogenannter 'Roman' gilt als Kultbuch. Gleichzeitig ist es ein total 'klugscheißerisches' Buch. Ich möchte dem Gewaltpotential dieses Werkes nachspüren: Mündet dieses in einen destruktiven anti-humanistischen Karneval (M. Bachtin) und trachtet den Menschen (als sprach- und dialogbegabtes Wesen) zu vernichten? Oder sucht es als Kunstwerk doch noch den 'Dialog' mit seinen RezipientInnen?
Einfach (.) raffiniert : Friedrich Achleitners 'einschlafgeschichten' und 'und oder oder und'
(2019)
In Friedrich Achleitners Miniaturen 'einschlafgeschichten' (2003) und 'und oder oder und' (2006) schlägt sich das Multitalent eines Analytikers, eines genauen Beobachters und eines (neo-)avantgardistischen Künstlers nieder. Die Überschneidungen zwischen dem Beruf eines Architekturtheoretikers und der Rolle des Autors prägen auch die thematische und strukturelle Ebene der Texte. Im Einklang mit der Poetik der Wiener Gruppe ist das Grundelement im Baukasten der Sprache nicht die Metapher, sondern das Wort. Das stark reduzierte Textformat sowie die Ausweitung des Sprachexperimentes auf alle Sprachebenen und deren gezielte Vermischung lassen allerdings den konstruktivistischen Eifer und Ernst der Konkreten Poesie hinter sich.
Der Beitrag setzt sich mit Theatertexten der Wiener Gruppe auseinander und untersucht diese hinsichtlich ihres experimentellen Status. Bei der Analyse werden jene Themen aufgegriffen, die die Wiener Gruppe selbst beschäftigten: die Frage nach den Möglichkeiten der Abbildung von Wirklichkeit (insbesondere durch Sprache), das Verhältnis zwischen Zeichen und seiner Bedeutung sowie die Relation zwischen Realität und
Fiktion.
In dem vorliegenden Beitrag werden die markantesten intertextuellen Bezüge der beiden Kasperlstücke 'kasperl am elektrischen stuhl' (1962) von Konrad Bayer und 'Kasperlspiel vom Meister Siebentot' (1955/1965) von Albert Drach vergleichend analysiert. Die jeweilige Neukontextualisierung der Grundkonstellation des Spiels im Spiel in Kombination mit einer Hanswurst/Kasperl-Figur, die auf Ludwig Tiecks "Kindermärchen" 'Der gestiefelte Kater' (1797) zurückgeht, aber auch auf Arthur Schnitzlers Bursleske 'Zum großen Wurstel' (1901/05) Bezug nimmt, wird auf literarische Formen des Experimentellen hin untersucht. Dabei werden zwei grundlegend unterschiedliche Positionen des literarischen Experiments in den zwei Jahrzehnten nach 1945 sichtbar.
L. W. Rochowanski (1885 Zuckmantel - 1961 Wien) war auf mindestens vier scheinbar disparaten Gebieten künstlerisch tätig: als Herausgeber und Verfasser von Mundartliteratur, als Programmatiker des avantgardistischen Theaters und Tanzes, als expressionistischer Autor und als Förderer und Vermittler von angewandter Kunst aus Österreich. Im Beitrag wird zum einen die expressionistisch-avantgardistische Position Rochowanskis im Theaterbetrieb und als Autor beleuchtet. Zum anderen wird darauf hingewiesen, dass die scheinbar disparaten künstlerischen Betätigungen Rochowanskis in anthroposophisch beeinflussten Menschen- und Kunstauffassungen eine gemeinsame Wurzel haben.
Dieser Beitrag befasst sich mit der Entwicklung von Wissen und Praktiken der Dada-Bewegung im Hinblick auf die 8. Dada-Soirée in Zürich am 9. April 1919. Innerhalb der Dada-Gruppe sticht insbesondere die Figur von Walter Serner hervor, der mit anderen als VertreterInnen der Dada-Bewegung mit zentralen Themen dieser Avantgarde auftritt, wie zum Beispiel: der Ablehnung der Autorschaft, der Vermischung von Kunst und Leben, mit Spiel oder Nihilismus als Reaktion auf den Krieg oder dem propagandistischen Element.
Die Vogelperspektive lässt sich als ein experimenteller Standpunkt im Sinne des Erprobens eines den menschlichen Maßstäben nach ungewöhnlichen Blickes sowie eines Wagnisses fassen. Als solche hat sie sich nicht nur über weite Strecken der Literaturgeschichte, sondern auch für theoretische Annäherungen als Garant eines gesellschaftskritischen Standpunkts erwiesen, der ebenso dem Zirkus und v. a. seinen TrapezartistInnen und SeiltänzerInnen zugeschrieben wird. Durch Stichproben in Franz Kafkas, Erwin Herbert Rainalters und Milo Dors einschlägigen Texten wird im Beitrag diese kanonisierte Auffassung des 'Blicks von oben' auf den Prüfstand gestellt, und zwar wiederum im Sinne einer Versuchsanordnung.
Walter Benjamin spricht von 'wolkigen Stellen' in Kafkas Texten, die - stark vereinfacht gesagt - die Abkehr von 'unserer' bekannten, sinnlichen erfassbaren Welt und den Übergang in eine (wieder nach Benjamin) 'obrige' anzeigen. Diese 'wolkigen Stellen', an denen oft Kafkas 'Verwandlungen' stattfinden, sind sprachlich markiert: Hier endet der nach Kafka 'vergleichsweise' Gebrauch der Sprache, die ,empirische‘ Ebene wird verlassen und eine 'parabolische' (nach Fülleborn) erreicht.
Der Aufsatz beschäftigt sich mit der tschechischen Aufnahme der deutschsprachigen Literatur um 1900 und ihrem Anteil an der Profilierung des literarischen Experiments. Tschechische Übersetzungen und Buchausgaben dieser Zeit zeichneten sich der deutschen Literatur gegenüber durch einen traditionellen Zugang aus, durch den die eigentliche deutschsprachige Moderne eher ausgeschlossen wurde und die ausgewählten Werke im Geiste des Parnassismus interpretiert und modifiziert wurden.
Die im Band behandelten 'Experimentierräume in der österreichischen Literatur' reichen wie das literarische Experiment als Programmatik bis in die Romantik zurück. Insbesondere in Österreich steht seit Wittgenstein und seiner intensiven Rezeption in der Moderne und dann wieder nach 1945 vor allem die Sprache als Material literarischen Experimentierens im Vordergrund. Die Übertragung des naturwissenschaftlichen Versuchs auf die literarische Produktionsweise wurde in diesem Sinne eingehend diskutiert und auch im speziell österreichischen Kontext reflektiert. In diesem Band soll der Begriff des Experimentellen jedoch nicht nur auf die Sprache selbst, sondern auch auf ihre Inhalte und über die diesbezüglich relativ gut beforschte Lyrik hinaus auf andere Formen der Literatur bezogen werden. Die Erprobung neuer literarischer Strategien und Techniken rückt die experimentelle Literatur in die Nähe der Avantgarde; im vorliegenden Buch sollen die beiden Begriffe, deren kleinster gemeinsamer Nenner das Innovative darstellt, jedoch klar von einander abgegrenzt werden.
In dieser Studie wird Ernst Jandls experimentelle Dichtung unter Einbeziehung seiner komplexen Sprachwelt und verschiedener Interpretationsansätze beschrieben. Um seine poetologischen Überlegungen und Schreibverfahren zu erfassen, werden einige zum Kanon gehörende Texte vorgeführt. Dabei wird von den selbstreferenziellen Positionen des Autors und den diversen Untersuchungen aus der Sekundärliteratur ausgegangen, die vordergründig die innovatorischen Qualitäten der Dichtungen hervorheben.
In einer wissenspolitischen Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit gegenwärtiger Realismuskonjunkturen entfaltet Eva Geulen in ihrem exemplarisch kritischen Beitrag hermeneutische "Schwierigkeiten mit Raabes 'Frau Salome'". Um den Text mit seiner Abundanz willkürlicher Allusionen und Wissensreferenzen nicht einfach historistisch aufzulösen, hebt Eva Geulen das auf Goethe rekurrierende Motiv der Haut in seiner doppelten Determinierung durch Natur und Kultur heraus und analysiert es im Hinblick auf seine Konsequenzen innerhalb des literarischen Textes. Dort führt es zu einer Egalisierung der im Text versammelten Exzentriker, ein Befund, der, so die Bilanz der poetologischen Ökonomie Raabes durch Eva Geulen, in keinem vernünftigen Verhältnis zum literarischen Ergebnis steht.
Der Beitrag von Patrick Eiden-Offe schließlich verlässt den Komplex der Wissenschaftssprache und untersucht Deutsch als Literatursprache in der Hymnik Friedrich Hölderlins. Man könne Hölderlins Werk mit gutem Recht auf die Frage festlegen, "wie und ob überhaupt das Deutsche eine Sprache der Dichtung sein oder werden kann". Ähnlich wie die Wissenschaft und ihre Sprache werde Deutsch von Hölderlin dabei nicht als eine "Gegebenheit", sondern als eine "Aufgabe" betrachtet, die die eigene Lyrik maßgeblich (mit) zu realisieren habe. Hölderlin lasse dieses Projekt in eine komplexe geschichtsphilosophische Reflexion ein, die seine hochartifizielle Sprache der 'Natur' gerade wieder (oder überhaupt erst) nahebringen solle. Dass ein solches literarisches Programm strukturelle Affinitäten sowohl zur Grimm'schen Sprachwissenschaft als auch zum (system-)philosophischen Bemühen um Verständlichkeit und Popularität birgt, ist evident.
Birgit Griesecke wendet sich einem Aphorismus Georg Christoph Lichtenbergs und dessen späterem Stellenwert in der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins zu. Wenn Lichtenberg die Philosophie als "Berichtigung des Sprachgebrauchs" verstanden wissen wolle, bette er diese Idee in eine Satzkonstruktion ein, die "aus einem rhetorischen Manöver ein Erkenntnisinstrument macht", indem sie performativ gerade unterschiedliche Sprachgebräuche in Szene setze. Komme der Aphorismus Lichtenbergs Sprachdenken entgegen, so kündige Wittgenstein diese Form über ein Zitationsverfahren, das nicht auf Pointierung, sondern auf Reihung ziele, unter der Hand wieder auf. In seinem "Experimentalsinn" stehe Wittgenstein Lichtenberg freilich nicht nach.
Der Entwicklung einer sprachwissenschaftlichen Terminologie bei Jacob Grimm gilt das Interesse von David Martin. Für das Problem sowohl des Deutschen als auch der Wissenschaftssprache bilde Grimm insofern ein schlagendes Beispiel, als eine potentielle Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache die (frühe) Sprachwissenschaft zwangsläufig vor besondere Herausforderungen habe stellen müssen. Grimms Lösung dieses Problems bestehe nun darin, eine solche Differenz gar nicht erst aufbrechen zu lassen, das Subjekt dem Objekt der Erkenntnis regelrecht 'auszuliefern' und weniger "über die Sprache" als "mit ihr" zu sprechen. Dadurch komme es bei Grimm zwar durchgehend zu einer Annäherung der Darstellung an ihren Gegenstand, doch dürfe diese über die tendenzielle Artifizialität insbesondere seiner Fachausdrücke nicht hinwegtäuschen. Grimm untersuche eine Sprache, "die er zu deren Beschreibung zugleich entdeckt und erfindet".
Dass der schlechte Leumund der Rhetorik um 1800 keineswegs zu deren flächendeckendem Verschwinden geführt hat, zeigt der Beitrag von Andreas Keller. Da die Rhetorik sich selbst traditionellerweise immer schon habe unsichtbar machen müssen, um wirken zu können, und da so gut wie jede sprachliche Äußerung rhetorisch verfasst sei, könne allerdings so oder so nur die Analyse des jeweiligen "Wahrnehmungsgrad[s] ihrer Auffälligkeit und Dominanz" verlässliche Auskunft über ihr Fortleben erteilen. Auch wenn insbesondere das auf Innerlichkeit verpflichtete Ideal der Bildung um 1800 vielfach in Konkurrenz oder Opposition zur Rhetorik geraten sei, habe es schnell Versuche vor allem im Rahmen der Pädagogik gegeben, eine "adressatenaktivierende Bildungsrhetorik" zu entwickeln. Zwar stelle die Systemphilosophie deren Hauptgegner dar, doch könne man die Rhetorik mit gutem Recht als "verborgene[ ] Leitdisziplin auch im 19. Jahrhundert" bezeichnen.
Genau wie Schlegel wandte sich auch Adam Müller in seinen ebenfalls in Wien gehaltenen Reden und Vorlesungen an ein Publikum, das nicht auf die institutionalisierte Gelehrsamkeit beschränkt blieb. Müllers Überlegungen zur Wissenschaft untersucht Peter Schnyder unter dem Gesichtspunkt ihres komplexen Gegenwartsbezugs. Habe 'Gegenwart' bis weit in das 18. Jahrhundert hinein primär eine räumliche Relation gemeint, komme es in Müllers Gebrauch des Begriffs zu einer systematischen Amalgamierung von Raum und Zeit, da Wissenschaft in seinen Augen auf ihren Adressatenkreis möglichst direkt einzuwirken habe. Bezeichnenderweise teile Müller die Rhetorikaversion Kants und weiter Teile der Philosophie durchaus nicht, vielmehr bedürfe es ihm zufolge einer neuen Rhetorik, um eine möglichst große "Wechselwirkung zwischen der Gegenwart des Redners und derjenigen des Publikums" erzielen zu können. Freilich stellten solche Überzeugungen einen ähnlichen performativen Selbstwiderspruch dar wie bei Fichte, denn Müller habe stets "aus einem zuvor sorgfältig konzipierten Manuskript" gelesen.