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Innerhalb des kulturellen Kontextes des vereinten Italien ist die unmittelbare Nähe von Wissenschaft und Unterhaltung von primärer Bedeutung. Einer der Gründe dafür war die "Theatralisierung der Wissenschaft" - ein Phänomen, das im neunzehnten Jahrhundert weit verbreitet war. In den 1860er und 70er Jahren gab es besonders in Mailand eine große Anzahl von Vorführungen, bei denen Phantaskope eingesetzt wurden und die sich außerordentlicher Beliebtheit erfreuten. Die überraschende Wirkung phantasmagorischer Aufführungen wurde durch Phänomene wie Magnetismus und Spiritismus verstärkt. Beide Kuriosa verbreiteten sich zu jener Zeit in Italien und stellten eine strikte Scheidung zwischen Wissenschaft und Unterhaltung in Frage. Im Folgenden werden die aufschlussreichsten Äußerungen dieser kulturellen Situation in einer Reihe populärer und politischer Zeitschriften der 1860er und 70er Jahre untersucht. Dabei ist von Interesse, dass mittels eben dieser Zeitschriften zum ersten Mal phantastische Literatur Eingang in die literarische Szene Italiens fand. Untersucht werden insbesondere Formen des Phantastischen, die durch die Interpretation von Phantasmagorien in einer Auswahl nicht-fiktionaler Texte noch verstärkt wurden. Es wird deutlich, dass in Italien zu dieser Zeit Phantasmagorien-Vorstellungen mit der politischen Rhetorik eng verwoben waren.
Voltaires Verwirrung
(2011)
Ausgehend von einer Anekdote über den 80 Jahre alten Voltaire hebt Fabio Camilletti die Wiederholungserfahrung als zentralen Aspekt des Unheimlichen hervor. Den Philosophen Voltaire, der durch den Anblick eines abendlich betenden Mädchens plötzlich beunruhigt und schockiert wird, versteht Camilletti als eine vielsagende Figur der ängstlichen Verzauberung. Dieser Begebenheit folgend untersucht der Beitrag das Unheimliche im Primitivismus des 19. Jahrhunderts und macht deutlich, dass die jeweiligen Bestrebungen, die Vergangenheit wiederzubeleben, mit Rückgriff auf die Struktur des Verdrängungsprozesses interpretiert werden können.
Dinge besitzen eine Ausstrahlung, sie können bezaubern und erschrecken, faszinieren und bannen. Diese Erfahrung machen Menschen nicht nur mit 'auratischen' oder 'authentischen' Kunstwerken, auch im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit scheinen Dinge ein Eigenleben zu führen. Nachdem konstruktivistische Zugänge versuchten, ihnen genau dieses auszutreiben, kehrt es seit einiger Zeit wieder: in der Rede von der Aktivität der Objekte und der Macht der Dinge. Dies lässt sich mit der Vokabel 'Fetischismus' ideologiekritisch brandmarken oder kulturtheoretisch verherrlichen. In diesem Beitrag wird ein anderer Weg beschritten. Zu Beginn konstatiert er eine Sehnsucht nach dem unmittelbaren Gegebensein der Dinge und präsentiert sodann einen Zugriff, der diesen Befund berücksichtigt, ohne auf den Bereich des Sakralen zurückzugreifen: sei dies in magischer, mythischer oder fetischistischer Form. Vielmehr baut er auf die Phantasmagorie, die sich im Profanen ansiedelt und es erlaubt, systematisch Ästhetik und Ökonomie, Technik und Politik aufeinander zu beziehen. Die Ausführungen laufen auf die These hinaus, dass sich mit der Phantasmagorie eine kritische Alternative zum Fetisch formulieren lässt, welche die profane Moderne mit ihren produktiven Möglichkeiten und Risiken in all ihrer Ambivalenz auf den Begriff zu bringen vermag.
Die Städtebünde, um die es hier gehen soll, nämlich die erste lombardische Liga der Sechziger- bis Achtzigerjahre des 12. Jahrhunderts einerseits und der Rheinische Städtebund der Jahre nach 1254, haben früh und immer wieder die Aufmerksamkeit der nationalen und internationalen Geschichtsschreibung gefunden. Es kann deshalb nicht das Ziel der folgenden Überlegungen sein, diesen ausführlichen, in vielen Punkten allerdings oft streitigen Forschungen neue Erkenntnisse im einzelnen hinzuzufügen. Die hier beabsichtigte Gegenüberstellung und der Vergleich haben allerdings sehr viel weniger häufig und intensiv stattgefunden. In dieser Hinsicht ist vor allem – und fast allein – eine Tagung und ein Sammelband des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte zu nennen, der sich in die Reihe der Rückblicke auf den Konstanzer Frieden des Jahres 1183 zwischen Friedrich Barbarossa und den lombardischen Städten einreiht, aber thematisch dem Thema "Kommunale Bündnisse Oberitaliens und Oberdeutschlands im Vergleich" gewidmet ist. ...
Das Aufkommen der Biopolitik als Dispositiv der Moderne beschreibt Michel Foucault als Effekt einer Reihe von Transformationen, verbindet es allerdings an dieser Stelle nicht explizit mit den wissenschaftlichen Entdeckungen Darwins. Die Eingliederung des Menschen in das Kontinuum der lebenden Organismen ist aber eine der bedeutsamsten Konsequenzen von Darwins Theorie von der Abstammung des Menschen. Wenn parallel zu oder auch in Abhängigkeit von dieser Transformation des biologischen Wissens der Mensch als lebendiges Wesen sich auch politisch zu verstehen beginnt, stellt sich dann freilich die Frage, als was er dies tut. Wird dann der Organismus, das Individuum als biologische Entität zugleich zum politischen Subjekt? Und bedeutet dies dann eine Erweiterung des personellen, intellektuellen und vor allem ethischen Subjektbegriffs auf lebende Wesen, die zumindest potenziell die Grenzen des Menschengeschlechts überschreiten? Oder bedeutet diese fundamentale Umwälzung der Biopolitik ganz im Gegenteil eine objektivierende, Politik, Recht und Ethik auf Wissenstechnik einschränkende Verwaltung von lebenden Einheiten, deren Subjektstatus sich auf die Teilbedeutung des Unterworfenseins einengt? Foucaults eigene Rede von der Sorge eines administrativen Apparats um die Lebensvollzüge von Bevölkerungen legt Letzteres nahe. Jedoch bleibt seine grundsätzliche Formel vom Eintritt des Lebendigen in die Sphäre des Politischen und Historischen gegenüber beiden Auslegungen offen.
Alle Menschen sind sterblich; doch was sie verbindet, trennt sie zugleich. Denn der Tod ist zwar gewiss, aber sein Eintreten unbestimmt; nur dass wir sterben werden, ist sicher, nicht wie, wo oder wann. "Mit der Gewißheit des Todes geht die U n b e s t i m m t h e i t seines Wann zusammen", betonte Heidegger im § 52 von 'Sein und Zeit'; und gerade die Differenz zwischen Gewissheit und Unbestimmtheit generiert den Tod als die "eigenste Möglichkeit" des Daseins. Denn wir sterben nicht gemeinsam, sondern allein, in verschiedenen Augenblicken. Selbst Katastrophen oder Unfälle, ja sogar die Todesarten der Liebe - Tristan und Isolde, Romeo und Julia - respektieren eine Reihenfolge. Die mögliche Solidarität der Lebenden gegen den Tod wird also von vornherein durchkreuzt: in der fatalen Evidenz des Überlebens, Spur der Unfähigkeit, den eigenen Tod widerspruchsfrei zu imaginieren. So oft "wir den Versuch dazu machen", beobachtete Freud, ein Jahr nach Beginn des Ersten Weltkriegs, "können wir bemerken, daß wir eigentlich als Zuschauer weiter dabeibleiben." Im Innersten sind wir von unserer Unsterblichkeit überzeugt; folglich können und werden wir länger leben als die Personen an unserer Seite; folglich können und werden wir länger leben als unsere Eltern, Freunde oder Feinde. Schon im Begriff des Überlebens artikuliert sich das Wissen von drohender oder bewältigter Gefahr, aber auch das Wissen vom - manchmal gefürchteten und erlittenen, manchmal gewünschten, ersehnten oder bewirkten - Sterben der anderen. Der Tod ist asymmetrisch und ungerecht, Ausdruck opaker Natur, die das Repertoire kultureller Deutungen und Rituale außerordentlich strapaziert und erweitert, um dennoch das Versprechen einer natürlichen Gleichheit der Sterblichen stets zu blamieren, unabhängig davon, wie viele Verfassungen und Manifeste der Menschenrechte es bekräftigen.
Ich werde zu zeigen versuchen, dass der Begriff 'Überleben' bei Foucault zwar nicht besonders auffallend ist, aber doch immerhin in einer signifikanten Weise verwendet wird, und ich werde argumentieren, dass die von Charles Darwin populär gemachte Spencersche Wendung 'survival of the fittest', die das Leben und Überleben-Wollen im Register der Biologie und damit im kalten Licht eines genealogisch-evolutionären Denkens bezeichnet - ich werde sie kurz diskutieren -, auch Foucaults Begriffsverwendung formatierte: Als ein kleiner, ambivalenter Index am Rand seiner Texte, der zum einen auf Theorien verweist, die Foucault als "Bio-Politik" kritisierte, der zum anderen aber die "kalte" Systematik der Diskursanalyse und ihre stille Verwandtschaft mit Theorien der Lebenswissenschaften anzeigt. In jedem Fall aber bezog Foucaults Begriffsverwendung sich auf einen Denkhorizont, der von Darwins schillerndem 'catchword' eröffnet wurde.
Philosophieren heißt überleben lernen. Ursprünglich schien das Gegenteil der Fall. Bei den Stoikern hieß philosophieren sterben lernen. Doch auch sterben lernen hieß natürlich überleben lernen. Die stoische Einübung in den Tod war letztlich eine Entmächtigungsstrategie, mit der die überwältigenden täglichen Ängste in Bann gehalten werden sollten - eine elitäre, weil intellektuelle Strategie, denn sie setzte darauf, - vermeintliche - Fehlurteile zu entlarven. Wer sich vor dem Sterben fürchtet, erliegt, so die Logik dieser Philosophie, nur einer falschen Einschätzung dessen, was wirklich furchtbar und fürchtenswert ist. Hans Blumenberg hat das Ensemble der Mächte, die uns in Furcht schlagen, unter den Sammelbegriff eines "Absolutismus der Wirklichkeit" gebracht. Damit meinte er schon die archaische Situation, in der "der Mensch die Bedingungen seiner Existenz annähernd nicht in der Hand hatte und, was wichtiger ist, schlechthin nicht in seiner Hand glaubte. Er mag sich früher oder später diesen Sachverhalt der Übermächtigkeit des jeweils Anderen durch die Annahme von Übermächten gedeutet haben." Es geht dabei um die Umwandlung von Angst in Furcht, also von einem unspezifischen Ohnmachtsgefühl angesichts der Vielzahl von Bedrohungen, die oft auch nicht versteh- und erklärbar sind, in eine durchschaubare Macht, der das Übel zugeschrieben und die so auch ein Stück weit gebannt werden kann. Auch wenn der Mensch keine Waffe gegen die wirkliche Gefahr in Händen hält, so glaubt er es doch zumindest und wird durch diese Waffe handlungs- und überlebensfähig - ein, wenn man so will, narratives Placebo. Vorgeschobene imaginative Instanzen sind für Blumenberg, was der Lebensangst abhilft.
Auch wenn die Zukunft dem Menschen nicht bekannt ist, gehört sie zu den Aspekten, die den Horizont für Bildung ausmachen. Kinder und Jugendliche sollen sich so bilden, dass sie zukunftsfähig werden. Selbst wenn sich nicht genau angeben lässt, was zu einer zukunftsfähigen Bildung gehört, besteht kein Zweifel darüber, dass Frieden, Umgang mit kultureller Diversität und Nachhaltigkeit zu 'den' Bedingungen zukunftsfähiger Bildung gehören. Alle drei Bereiche sind miteinander verschränkt. Wenn Fragen des Friedens bearbeitet werden, spielen Probleme der kulturellen Vielfalt und der Nachhaltigkeit eine Rolle. Eine Erziehung zur Nachhaltigkeit ist ohne Berücksichtigung kultureller Vielfalt und sozialer Gerechtigkeit nicht möglich. Dass alle drei Aufgabenfelder von höchster Aktualität sind, ist offensichtlich. Es gilt eine 'Kultur des Friedens, der kulturellen Vielfalt' und 'der Nachhaltigkeit' zu entwickeln. Damit sind grundlegende gesellschaftliche Veränderungen impliziert, bei deren Realisierung dem Bereich der Erziehung und Bildung und insbesondere der Schule eine wichtige Aufgabe zukommt. Im Weiteren möchte ich drei zentrale Aufgabenfelder einer zukunftsfähigen Bildung skizzieren. Dabei werde ich zunächst bei meinen Ausführungen zur Friedenserziehung auf Diskussionen zurückgreifen, die in den 1970er Jahren begonnen wurden, aber bis heute nichts an Aktualität verloren haben.
Im Folgenden möchte ich Aspekte der Dynamik des Überlebensbegriffs anhand der Untersuchung einiger kultureller Stränge verfolgen, die sich in der westdeutschen Survival-Bewegung der 1980er Jahre kreuzen. Da es keine umfassende Darstellung und auch keine akademische Literatur zum Thema gibt, möchte ich vor allem einen ersten Versuch der Eingrenzung und Lesart der Survival-Bewegung vorschlagen und untersuchen, welcher Überlebensbegriff hier zum Tragen kommt.
Paul Baran, 1926 in Polen geboren, als Zweijähriger in die USA gekommen, hatte nach Abschluss seines Studiums Ende der 1940er Jahre bereits Erfahrung in der Entwicklung des ersten kommerziellen Computers UNIVC gemacht. 1959 trat Baran in den Dienst der RAND Corporation und war mit der Beforschung von Konzepten der Dezentralisierung von Kommunikationsnetzwerken betraut. "On Distributed Communications Networks" stellte das erste Ergebnis seiner Arbeit dar und erschien in der Reihe der Arbeitspapiere des RAND. Obwohl 1962 Computer gerade erst zwanzig Jahre existierten, extrem teuer waren, raumfüllende Ausmaße hatten und ihre Vernetzung exotische Technologie darstellte, kulminiert Barans Konzept bereits in der visionären Frage: "Is it time now to start thinking about a new and possibly non-existant public utility, a common user digital data communication plant designed specifically for the transmission of digital data among a large set of subscribers?"
1925 ließ Ernst Troeltsch einen "modernen Theologen" sagen, dass "das eschatologische Bureau heutzutage zumeist geschlossen [sei], weil die Gedanken, die es begründeten, die Wurzel verloren haben". Zurückzuführen sei diese Entwertung der Eschatologie auf die Integration der Idee des Fortschritts in den christlichen Erlösungsgedanken. Der Frage, ob diese Diagnose für die Theologie zutraf, kann hier nicht nachgegangen werden. In unserem Zusammenhang ist sie nur deshalb interessant, weil die Dependance des eschatologischen Bureaus in der philosophischen Fakultät der Heidelberger Universität ein Jahr später in einer heiklen Angelegenheit tätig werden musste. 1926 wurde Alexander Koschewnikoff, ein junger Russe, der seit dem Sommersemester 1921 Philosophie und Orientalistik in der süddeutschen Universitätsstadt und seinem Wohnort Berlin studiert hatte, von Karl Jaspers mit einer Arbeit über 'Die religiöse Philosophie Wladimir Solowjews' promoviert. 1930 erschien ein zwanzigseitiger Auszug der Doktorarbeit in einer in Bonn erscheinend en 'internationalen Zeitschrift für russische Philosophie, Literaturwissenschaft und Kultur'. Laut Koschewnikoff war für Vladimir Solov'ev (1853-1900), den vielleicht bedeutendsten russischen Philosophen des 19. Jahrhunderts "von Anfang an eine religiös-mystische Weltauffassung charakteristisch". Diesen religiösen Charakter habe seine Philosophie bis zuletzt beibehalten und auch seine Geschichtsphilosophie wesentlich geprägt: "es wird ein zu verwirklichendes Zukunftsideal [...] aufgestellt, und die 'tatsächliche' Geschichte als eine dazu mit Notwendigkeit führende Entwicklung konstruiert". Bei der Aufstellung dieser "Zukunftsideale" hat die Kenntnis der tatsächlichen Geschichte keine nennenswerte Rolle gespielt. Insofern habe Solov'ev nicht Geschichtsphilosophie im modernen Sinne des Wortes betrieben, sondern "Geschichtskonstruktion". Koschewnikoff unterscheidet in Solov'evs Geschichtsauffassung drei Perioden: eine slawophile, eine katholische Periode und den Standpunkt der letzten Schrift Solov'evs, der 'Drei Gespräche'.
Dass offensichtlich gerade eine ästhetische Praxis Hoffnung verspricht auf Bewältigung, sei sie Literatur, bildende Kunst oder sei sie Filmemachen, zeigen so exemplarische und so unterschiedliche Belege wie die Lyrik eines Paul Celan, die Prosa eines Primo Levi, die Zeichnungen eines Zoran Mušič oder beispielsweise die von Avraham Lavi initiierte Dokumentarfilmarbeit über seine jahrzehntelange Suche nach der Schwester. Dass diese Referenzliste um Überlebende, die in einer Art Selbstanalyse und -therapie der überstandenen Vergangenheit künstlerisch beizukommen versuchen, sich ohne Schwierigkeiten erweitern ließe, muss nicht besonders erwähnt werden. Gleichwohl ist die Umsetzung solch perennierender Leid-Erfahrung in Kunst nicht schon Garant einer dauerhaften Errettung.
Ausgehend von Šalamovs Poetik und mit Blick auf die Positionen von Solženicyn und Semprún sollen im Folgenden einige Aspekte des vielschichtigen Problemfeldes 'Überleben und Schreiben' diskutiert werden. Dabei geht es mir, das sei betont, nicht um einen Vergleich zwischen dem sowjetischen GULag und den nationalsozialistischen Konzentrations- beziehungsweise Vernichtungslagern. Ein solcher Vergleich war auch von keinem der drei Autoren intendiert, selbst wenn sich deren Refl exionen mitunter auch auf die europäischen Terrorpraktiken des 20. Jahrhunderts insgesamt erstreckten. Die Art und Weise, wie das Überleben in literarischen Texten thematisiert wird, hängt eng mit der Frage nach den poetologischen Konsequenzen zusammen, nach Möglichkeiten und Grenzen des Sprechens über das Erlebte, nach der Modellierung des Lagers in fiktionalen Räumen. Mit Ausnahme von Solženicyns 'Archipel GULAG', in dem gestützt auf zahlreiche mündliche und schriftliche Berichte von Überlebenden der "Versuch einer künstlerischen Untersuchung" des GULag-Systems als Ganzes unternommen wird, handelt es sich bei den nachfolgenden Beispielen um literarische Darstellungen des Lagers aus der Perspektive eines Einzelnen. Die literarische Rekonstruktion des im Lager Erlebten verlangte jedem Schreibenden ethische und ästhetische Entscheidungen ab.
In einem 1936 geschriebenen Beitrag, der in dem Band 'Ausdruckswelt' (1949) erschienen ist, bezeichnet Gottfried Benn die letzte Zeile aus Rilkes 'Requiem' als einen "Vers, den meine Generation nie vergessen wird". Das Gedicht, 1908 entstanden und ein Jahr später gedruckt, schließt mit den Worten: "Wer spricht von Siegen -, Überstehn ist alles!" Der Vers ist durch Benn zum geflügelten Wort geworden. Vorausgegangen waren allerdings zwei Weltkriege mit Millionen von Toten und Verwüstungen großer Teile Europas. Dennoch ist in Benns Bekenntnis von Trauer oder Demut nichts zu spüren. Vielmehr verweist es auf einen Gedanken von Nietzsche, in dessen Schriften das Überleben als Leistung des willensstarken Individuums aufgefasst wird. "Ein wohlgerathner Mensch", so Nietzsche in seiner 1889 verfassten Autobiografie 'Ecce homo', "erräth Heilmittel gegen Schädigungen, er nützt schlimme Zufälle zu seinem Vortheil aus; was ihn nicht umbringt, macht ihn stärker". Die Feststellung ist Teil von Nietzsches Idee eines 'Willens zur Macht', die den Willen zum Leben einschließt. Sie hat neben der physischen und psychischen eine intellektuelle Seite, die man als glückliche Verabschiedung der Vergangenheit bezeichnen kann. Schon Marx hat den Gedanken in der Einleitung seiner 'Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie' (1843/44) mit Blick auf die griechische Literaturgeschichte formuliert. An konkrete Erfahrung gebunden wird er in Elias Canettis Studie 'Masse und Macht' (1960). "Dieses Gefühl der Erhabenheit über die Toten", so heißt es hier, "kennt jeder, der in Kriegen war. Es mag durch Trauer um Kameraden verdeckt sein; aber dieser sind wenige, der Toten immer viele. [...] Wem dieses Überleben oft gelingt, der ist ein 'Held'. Er ist stärker. Er hat mehr Leben in sich. Die höheren Mächte sind ihm gewogen." Ernst Jünger hat das glückliche Überleben von Kriegen im Sinne Nietzsches immer wieder zum Thema seiner Tagebücher gemacht. Während Benn die nihilistische Dimension in den Mittelpunkt stellte, wie sein Rückblick 'Nietzsche nach 50 Jahren' (1950) deutlich werden lässt, nahm Jünger die optimistischen Impulse des Werkes auf. Dabei hat er, vor allem in seinen späteren Schriften, die Idee des Überlebens vom Ausnahmezustand auf den Alltag und zugleich auf die Zukunft übertragen. Wie Nietzsche wollte Jünger nicht nur glücklich in der Zeit überleben, sondern plante auch ein immaterielles Fortleben im Gedächtnis der Nachwelt. Voraussetzung dieser doppelten Überlebensidee ist ein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft.
Vielfältig sind die Definitionen, die das Überlebensparadigma im Sinne eines die Weltsicht prägenden Denkmusters zu erfassen versuchen, und verschieden sind die Aspekte, die der Betrachter in seiner Auffassung jeweils als die dominierenden pointiert. Nichtsdestoweniger wurzelt das moderne Verständnis vom 'Überleben' zuletzt im evolutionistischen Diskurs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Unter dem evolutionistischen Diskurs sind nicht bloß Darwins Werke zu verstehen, sondern vielmehr die Konstellation von Autoren, Diskursen, Berichtigungen, Anregungen, Ergänzungen, die sich um Darwins Evolutionstheorie drehen und die den Namen Darwinismus tragen. Anders ausgedrückt: Unsere Auffassung des Überlebensbegriffs ist in diesem Diskurs verfangen und kann von ihm nicht restlos loskommen. Dies gewinnt an höchster Evidenz in den Reflexionen über das Überleben von kulturellen Artefakten, die in Analogie zu den Exemplaren bestehender Spezies als Resultat einer 'natürlichen' Auslese gedeutet werden. Unter den unzähligen Beispielen einer Übertragung des Auslesegesetzes von der biologischen auf die kulturelle Evolution mag hier die Reflexion von Hans Blumenberg vorgeführt werden, denn sie bietet viel mehr als eines der rein evolutionistischen Modelle, die eine Erläuterung des kulturellen Überlebens präsentieren. Kein weiterer Autor hat meines Erachtens in der Nachkriegszeit solch einen anspruchsvollen Versuch unternommen, das Darwinsche Evolutionsgesetz jenseits der Fehlschlüsse des Sozialdarwinismus wiederherzustellen und es für die kulturelle beziehungsweise ästhetische Anthropologie fruchtbar zu machen. Des Weiteren erzielte Blumenberg mit seiner theoretischen Berichtigung zuletzt die Beschreibung eines humaneren Modells der kulturellen Produktion, dessen ethische Dimension im Folgenden auszuloten ist. Das Heranziehen einiger Betrachtungen über Primo Levis narrative Erfahrung dient anschließend dazu, die ethische Grundproblematik herauszudestillieren, die das Verbleiben in diesem - obschon korrigierten - Überlebensparadigma in Hinblick auf das historische Gedächtnis impliziert.
Vom Überleben des Wunsches als Todestrieb : Nachträglichkeit, Subjekt und Geschichte bei Freud
(2011)
Es ist nahe liegend, sich zum Thema 'Überleben' mit Freuds Schrift 'Jenseits des Lustprinzips' von 1920 zu beschäftigen, mit der traumatischen Neurose und mit Freuds Diktum, dass das Ziel des Lebens der Tod sei. Beginnt Freud doch damit, dass er gerade durch das Leiden derer, die den Krieg (oder einen schweren Unfall) überlebt haben, dazu kommt, ein Jenseits des Lustprinzips zu postulieren, einen Todestrieb einzuführen, da der traumatische Wiederholungszwang dem Lustprinzip so sehr zu widersprechen scheint, geht es doch um die Perpetuierung des Leidens, um die Wiederholung von etwas Schrecklichem. Ich möchte jedoch im Folgenden einen Umweg beschreiten und mit einer Konstellation aus den Anfängen der Psychoanalyse beginnen, von der sich ebenfalls sagen lässt, dass sie das Überleben behandelt, allerdings in einem gänzlich anderen Kontext, dem der Konstitution des Psychischen. Die Rede ist vom Befriedigungserlebnis und dem unbewussten Wunsch - zwei Konzepte, die für Freuds Denken um 1900 zentral sind.
Der vorliegende Essay beschäftigt sich, aus einiger Distanz, mit jenem 'Dilemma des Zeugnisses', wie es von Giorgio Agamben und Jean-François Lyotard formuliert wurde: 'Die Mordopfer sind tot. Wer spricht für sie, wer soll das Verbrechen bezeugen?' Die Absicht dieses Beitrags ist es, einige aus meiner Sicht unglückliche Diskursarten, die in Verbindung mit diesem Dilemma stehen, zu kritisieren.
"Der Beredsamkeit der Sieger den Hals umdrehen" : jüdischer Humor als Strategie zum Überleben
(2011)
Es ist kein Zufall, dass Freud ausgerechnet in der ostjüdischen Kultur ein Arsenal an Witzen entdeckt, entlang dessen er Witz-Techniken und ihre psychische Begründung darstellt. Die Vehemenz, mit der er den Umstand, dass es sich bei seinen Beispielen hauptsächlich um Witze aus der Kultur der Ostjuden handelt, als nebensächlich und erklärungsbedürftig zugleich kennzeichnet, um ihn dann aber doch weitgehend unbegründet zu lassen, legt die Annahme einer hier verschwiegenen Beziehung zwischen der Besonderheit des Witzes und jener "Herkunft" gerade nahe. In 'welchem' Verhältnis aber stehen Witz und Humor zur jüdischen Überlieferungskultur? Eine Frage, die sich auch Rabbiner und Philosophen stellten, darunter Marc Alain Ouaknin, dessen Reflexionen zum jüdischen Humor dieser Beitrag grundlegende Impulse verdankt. Seine Beobachtung einer methodischen Nähe zwischen Textstrategien von Talmud und Midrasch und gewissen Techniken des jüdischen Witzes lässt sich leicht erweitern zu der Annahme einer Koinzidenz von einem in diesen Witzen zeichenstrategisch und thematisch auftauchenden Verständnis jüdischer Überlieferungsdynamik und Vorstellungen des Zusammenhangs von Interpretation und Sinnerneuerung, wie sie in jenen Quellen der jüdischen Tradition gründen. Den Ort der Witze und humorvollen Anekdoten, von denen hier die Rede sein wird, kennzeichnen nun mindestens zwei besondere Situationen: Sie entspringen den unmittelbaren Erfahrungen jüdischen Lebens in Osteuropa, das bereits vor seiner Vernichtung fortwährend mit wechselnden Verfolgungs- und Unterdrückungssituationen konfrontiert war, und dem Kontinuum seiner kulturellen und religiösen Herkunft und Tradition.
Im Sinne einer Musikhistorie als "Plural von Zusammenhängen" (H. Blumenberg), deren sich überkreuzende Fäden der narrativen Bündelung durch Hörer und Chronisten bedürfen, erweist sich Schönbergs "Überlebender aus Warschau" als ein Scharnierstück der von politischen Verwerfungen durchsetzten Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Die Einbeziehung des die Dignität kultureller und religiöser Selbstbehauptung symbolisierenden Glaubensbekenntnisses setzt kompositionsgeschichtlich einerseits eine national-religiöse Tradition fort, denkt man etwa an die Schlüsselstellung, die das Zitat von Luthers Choral "Ein feste Burg" in nicht wenigen Werken des 19. Jahrhunderts einnimmt. Andererseits resultiert auch die Wirkung des 'Survivor' - wie Reinhold Brinkmann im Zeichen der um und nach 1968 leidenschaftlich ausgetragenen Diskussion der politischen Aussagekraft musikalischer Werke betonte - aus der Aktivierung des politischen Textinhalts durch eine dezidiert musikalische Konzeption: Die dem "Shema Yisrael" vorausgehende musikalische Steigerung lässt sich als kompositorisches Modell bereits im apotheotisch angelegten Schluss von Schönbergs 'Gurreliedern' ("Erwacht, erwacht ihr Blumen zur Wonne") nachweisen. Auf dynamischer Ebene ist diese Klimax der Takte 72-80, die es buchstäblich darauf anlegt, den Hörer zu überwältigen, durch das anziehende Tempo (von Viertel=60 bis Viertel=160) und ein Crescendo zum dreifachen Forte, rhythmisch durch die aus der Erzählerstimme in das Orchester überspringenden triolischen Figuren, sowie tonal durch ein chromatisches Wechselspiel zwischen den vier Ausprägungen des übermäßigen Dreiklangs und der dadurch ebenfalls erforderlichen Transposition der Reihenformen bestimmt. Schönbergs ideelle Besinnung auf die Religion stützt sich kompositorisch somit ein Stück weit gerade auf ihr säkularisiertes Gegenstück - jene musikalischen Überhöhungen, die das Zeitalter der "Weltanschauungsmusik" in Form einer bisweilen hypertrophen Kunstreligion zelebrierte. Die Erinnerung des "Überlebenden" wird so auf den "grandiose moment" des musikalischen Widerstands konzentriert, während Schönberg eine gleichwertige Einbeziehung des Erzählertexts in das motivisch- tonale Gefüge der Komposition dezidiert ausschließt. Trotz dieser historischen Verortung steht der von Adorno als "autonome Gestaltung der zur Hölle gesteigerten Heteronomie" beargwöhnte 'Survivor' zugleich aber nicht nur ideengeschichtlich, sondern durchaus auch kompositionstechnisch - wie hier an Kompositionen von Schönbergs (posthumem) Schwiegersohn Luigi Nono gezeigt werden soll - mit avancierten Beispielen einer 'musique engagée' der 1960er Jahre in Verbindung.
Die Erfindung des Kinos hat man in Frankreich treffend kommentiert mit den Worten: "La vie est prise sur le vif." Durch die Wiedergabe der sichtbaren Wirklichkeit in bewegten Bildern wird der Eindruck des Lebendigen nicht wie auf Gemälden und selbst noch auf Fotografien buchstäblich festgehalten; vielmehr erscheinen die aufgenommenen Menschen und Dinge in dem Augenblick, da sie als bewegte und ebenso flüchtige Bilder auf die Leinwand projiziert werden, wie zu neuem Leben erweckt. An die Stelle des Gewesenen tritt das Gegenwärtige. Wenn Malerei und Fotografie aus dieser Perspektive als Medien der Verewigung bezeichnet werden können - so der Film als ein Medium steter Aktualisierung. Aufgrund dessen ist er aber auch in der Lage, eine dem Zuschauer überaus nahegehende Darstellung des Tötens zu geben. Insofern er fotografischen Realismus und lebendige Bewegung, theatralische Inszenierung und literarische Erzählweise kombiniert, kann er eindrucksvoller als alle anderen Medien das Publikum in Angst und Schrecken versetzen. Genau diese als besonders sinnlich gerühmten (oder gerügten) Qualitäten lassen es fraglich erscheinen, ob der Film geeignet ist, einen Einblick in den tiefsten Abgrund der Historie zu gewähren. Wenn grundsätzliche Bedenken gegen eine mögliche Darstellung der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager geäußert werden, dann gelten sie insbesondere dem Film. Niemand würde mehr behaupten, dass etwa die Literatur das nicht könne oder nicht dürfe; Art Spiegelmans 'Maus' hat den Schriftgelehrten unterdessen vor Augen geführt, dass selbst eine graphic novel, nämlich ein Comic, als eine durchaus angemessene Form der Darstellung in Betracht kommen kann. Eine vergleichbar breite Zustimmung hat der Film, zumal der fiktionale, bisher nicht erreicht.
Überleben? : nach Auschwitz
(2011)
Es geht tatsächlich auch beim Nachdenken über 'Überleben' um Erfahrung und den Begriff der Erfahrung, einen qualitativen Begriff der Erfahrung, der ja in den Sozialwissenschaften immer wieder droht, aufgeweicht zu werden beziehungsweise diffundiert zu werden durch die Übermacht einer rein quantifizierbaren Empirie. Aber im Kern der Sozialforschung, gerade in ihrem kritischen Kern, steht die Kategorie der 'Erfahrung'. Erfahrung ist auch etwas, was über Personen vermittelt wird und vermittelt werden kann. Erfahrung kann auch die engen Grenzen überschreiten, die eine Aufklärung kennzeichnet, die sich bloß auf Texte bezieht. Erfahrung kann diese Grenzen überwinden. Auch die Enge kann überwunden werden, dass nur das mitgeteilt und auch verstanden werden kann, was individuell erlebt worden ist und in der Kommunikation zwischen unterschiedlichen Subjekten überschritten werden kann. Zwar haben Horkheimer und Adorno immer einen Schrecken gehabt, wenn sie das Wort 'Kommunikation' gehört haben, aber hier geht es auch tatsächlich um eine Überschreitung, eine Überschreitung der Grenzen des Individuums.
Jesus als Märtyrer
(2011)
Zu definieren, was einen Märtyrer ausmacht, ist für das Altertum ebenso wichtig wie für die Moderne. Was meinen wir mit dem Begriff 'Märtyrer', wenn wir Jesus von Nazareth so nennen? Liegt dabei der Schwerpunkt auf dem historischen Jesus und den Motiven für seinen gewaltsamen Tod, den er erwartet haben mag? Oder sollten nicht eher die frühen Textteile des Neuen Testaments, die die Reaktionen der Anhänger Jesu auf dessen gewaltsamen Tod und seine Rechtfertigung schildern, den Ausgangspunkt für unsere Analyse bilden? Natürlich verfügen wir im Falle Jesu über keine Internetquellen, kein Videomaterial, keine Interviews mit dem Märtyrer vor seiner Tat. Wir haben nur kanonische und apokryphe Texte. Deshalb beginne ich bei meiner Diskussion über Jesus als Märtyrer mit einer Definition des Martyriums, die sich auf die zweite oben angeführte Möglichkeit stützt. Sie fußt auf antiken jüdischen und christlichen Texten, von denen allgemein angenommen wird, dass ihre Rezipienten sie als Beschreibungen des Lebens und Leidens von Märtyrern verstanden; die Berichte, die solches erinnern sind schriftlich festgehalten (Abschnitt 1). Danach kehre ich zur ersten Definitionsmöglichkeit zurück und konzentriere mich kurz auf die Person des historischen Jesus, um mit Hilfe der antiken jüdischen und christlichen Märtyrerberichte herauszufinden, was wir möglicherweise über Jesu eigene Sicht auf seinen nahen Tod als den eines Märtyrers wissen können (Abschnitt 2). Im letzten Abschnitt widme ich mich den Passionsberichten des Neuen Testaments. In der Forschung wurden diese Narrative häufig mit den Erzählungen der antiken Märtyrer verglichen, diese wurden sogar als Modell herangezogen, um den Ursprung des Passionsberichts zu rekonstruieren. Sei dieser Ansatz plausibel oder nicht, auf jeden Fall spiegeln die Passionsberichte auf faszinierende Art und Weise die dialogische Gegenüberstellung von Märtyrer und Gegner wider, die so oft das Herzstück der Prozess- und Folterszenen antiker jüdischer und christlicher Märtyrererzählungen darstellt. So gibt es offensichtlich gute Gründe, diese beiden Textgruppen zu vergleichen (Abschnitt 3).
Im Folgenden werden die wichtigsten Fragen und Probleme, die die Genealogie der modernen Lesarten und 'rewritings' der Fesselung Isaaks aufwirft, sowie einige interessante Funde, die ich in meiner Studie skizziert habe, vorgestellt. Zum Schluss soll eine zentrale Frage erhoben werden: Wann genau wurde Isaak, das Möchtegern-Opfer im Buch Genesis, "der Grundpfeiler unseres religiösen Bundes" in Yehoshuas Worten, als Grundpfeiler des sog. modernen säkularen Nationalismus wiedererfunden?
Zum Repertoire sozialistischer Helden und Märtyrer gehört die Figur des Kindermärtyrers, die auch in der sowjetischen Kultur seit den 1920er und 1930er Jahren Hochkonjunktur hatte. In der Presse, der Literatur wie im Film wurden zahlreiche Geschichten über Kinder und Jugendliche erzählt, die an die 'lichte Zukunft des Kommunismus ' glaubten und bereit waren, selbstlos ihr Leben für diese zu opfern. Solche Geschichten über jugendliche Opfer zählten - wie traditionell in vielen Kulturen und Gesellschaften - zu den zentralen Gründungs- und Opfermythen des Sowjetsystems. Das Selbstverständnis der Sowjetmacht als Schöpferin einer neuen Weltordnung, das radikale Zerstörungspraktiken zu legitimieren schien, war mit einer Neuordnung des gesamten symbolischen Kapitals russischer Geschichte verbunden. Einerseits wurden tradierte Symbole den veränderten Bedingungen angepasst und semantisch umcodiert, andererseits wurden den Anforderungen der Ideologie entsprechende neue Zeichen und Symbole in Umlauf gebracht. Mit den realen wie fiktiven Märtyrerfiguren wurden insbesondere in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Oktoberrevolution von 1917 wirkmächtige Symbole zur Regulierung der für die Menschen nahezu täglich spürbaren Gewalt bereitgestellt. Die Märtyrerfigur als kulturelles Deutungsmuster funktionierte offenbar weiterhin - ungeachtet der radikalen Absage der Sowjetmacht an die Religion - als propagandistisches Instrument und ermöglichte Verknüpfungen (wie z. B. von Gewalt und Kult, Tod und Verehrung, Opfer und Quasi-Sakralem).
Freud soll als Theoretiker des Gedächtnisses produktiv gemacht werden. Was sich seinem Bild Roms methodisch abgewinnen lässt, ist als Aufhebung zeitlicher Struktur auch deren Überführung in räumliche Schichten. Wenn alles simultan ist, so gibt es keine Abfolge, und die Analyse kann darum nicht von Entwicklungen, sondern von Schauplätzen sprechen. Diesen kommt in der kulturwissenschaftlichen Arbeit eine herausragende Bedeutung zu, auch die folgende Untersuchung zu Geschichten und Gestalten einer Märtyrerin: der Heiligen Cäcilie, zu ihren narrativen und pikturalen bzw. plastischen Figurationen wird Freuds Modell folgen. Auch bedingt dies eine Darstellungsweise, die - wie schon diese methodischen Überlegungen - über Umwege führt. Nicht zuletzt lässt Freuds implizite Idee einer häretischen Form der Auferstehung der Toten, die ins Bild der 'Ewigen Stadt' eingetragen ist, auch die väterlichen Heilsversprechen als labil erscheinen, sodass es nicht ausgemacht ist, was passiert, wenn die Toten ihre Gräber verlassen.
Jahr 2004 hat der katholische Theologie- und Politikwissenschaftler Hans Maier darauf hingewiesen, dass der Begriff des Märtyrers bemerkenswert "säkularisierungsresistent" sei. Nach Maier ist der Begriff des Märtyrers weiterhin religiösen Kontexten vorbehalten. Seine Meinung mag angesichts der Renaissance des Märtyrerbegriffs seit den Anschlägen vom 11. September 2001 vordergründig einleuchten. Im Folgenden soll dagegen gezeigt werden, warum Maiers These von der 'Säkularisierungsresistenz' des Märtyrers fragwürdig ist. Ich werde dabei weniger das an sich zu problematisierende Konzept der Säkularisierung diskutieren, sondern zu zeigen versuchen, dass Maiers These begriffsgeschichtlich ihre Tücken hat – zumindest wenn man bereit ist, zu akzeptieren, dass die Begriffsgeschichte von 'Märtyrer' nicht auf ihre antiken Ursprünge zu reduzieren ist. Vielleicht ließen sich Maiers Überlegungen zur 'Säkularisierungsresistenz' des Märtyrers im Hinblick auf die Ausdrucksseite des Begriffs bestätigen. Auch daran zweifle ich, kann und will dem hier aber nicht nachgehen. Stattdessen möchte ich exemplarisch zeigen, inwieweit Bertolt Brecht schon im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in seinem Lehrstück 'Die Maßnahme' die Märtyrerfiguration säkularisiert hat - eine Technik, die gleichzeitig Modi der Sakralisierung kennt, deswegen auch als Dialektik begriffen werden kann und in der deutschen Dramengeschichte ihrerseits nicht neu ist. Brechts Säkularisierung berührt allerdings ausschließlich die Inhaltsseite des Begriffs 'Märtyrer', den Ausdruck selbst verwendet er nicht. Maier hat außerdem eine deutliche Politisierung des Märtyrerbegriffs in den letzten Jahren diagnostiziert. Auch dem möchte ich widersprechen. Schon Brechts Drama steht entschieden im Zeichen der Politisierung des Märtyrers. Dass zudem auch die personalisierte Politisierung des Märtyrertums keine neue Idee ist, werde ich im zweiten Teil mittels einer Untersuchung von Heiner Müllers 'Mauser' und seiner Büchner-Preisrede darlegen. Müller hat das messianische Potential der 'Maßnahme' mit 'Mauser' einerseits kritisiert. Das hat bei ihm andererseits aber nicht zu einem völligen Verzicht auf Märtyrerfigurationen geführt. Mitte der 1970er Jahre hat er zu einer Rekontextualisierung der Märtyrerfiguration angesetzt, indem er sie – im Unterschied zu Brecht - personalisierte und dadurch eine Art revolutionäre Hagiographie etablierte. Auch die Politisierung geht dementsprechend nicht auf die selbsternannten islamistischen Märtyrer zurück, sondern ist eine ältere Idee. Wie alt sie ist, kann im Rahmen dieser Studie nicht erörtert werden. Wahrscheinlich existierte sie schon in der christlichen Antike.
Nichts zeigt deutlicher als das Märtyrerdrama, wie sehr Theatralität und Darstellung dem Martyrium inhärent sind, wie aber auch die Figur des Märtyrers spezifische Formen von Theatralität generiert. Dem Märtyrer als Zeugen ist immer schon eine bestimmte Art des Zeigens eigen, er muss nicht nur leiden, sondern dieses Leiden auch zur Schau stellen. Im Fall des Schauspieler-Märtyrers gehen dabei Sein und Schein ineinander über, was man sowohl als Kritik der Scheinhaftigkeit und Eitelkeit der Welt lesen kann - wird doch selbst der Mensch hinter der Maske, der Schauspieler Philemon, als neue Maske entlarvt - als auch als Einbruch von Präsenz in diese Welt, der als Konversion dramatisiert wird. Auf diese zielt das Stück denn auch letztlich ab, denn das abschließende Bekenntnis des Arrianus ist über die Rampe hinweg an die Welt gerichtet: So wie der Schauspieler Philemon den Märtyrer Arrianus hervorbrachte, so soll das Schauspiel nun auch sein Publikum zur Konversion überreden, auf die das Jesuitendrama wesentlich abzielt. Das Martyrium wird, gerade wenn es theatral dargestellt wird, noch mehr Zeugen produzieren. Die Doppelfigur des Schauspieler-Märtyrers ist damit zugleich reflexiv und performativ, sie ist weder eine Auflösung des christlichen Ernstes in bloßes Spiel, noch eine bloße Authentifizierungsgeste des Theaters, weil sie sich eben als Doppelfigur einer solchen Profilierung entzieht und gerade in ihrer Doppeldeutigkeit höchst folgenreich für die europäische Theatralität der Neuzeit ist. Denn vermittelt über diese Figur schreiben sich Elemente der christlichen Tradition in das neuzeitliche Theater ein, die auch dort noch wirksam sind, wo sie nicht mehr direkt religiös semantisiert werden. Das gilt, wie im Folgenden zunächst allgemein umrissen werden soll, (1) insbesondere für das dem Märtyrer spezifische Verhältnis von Körper, Person und Wort, für die Beziehung von Theater zu seiner 'Wirklichkeit' und schließlich für den Raum des Theaters selbst oder für das Theater als Medium. Entfaltet werden kann das an einer Reihe von Stücken, die den Schauspieler als Märtyrer und den Märtyrer als Schauspieler behandeln: (2) an Lope de Vegas 'Lo fingido veradero' (gedruckt 1622), (3) an Jean Rotrous 'Le Veritable Saint Genest' (1645) und (4) an Desfontaines 'L’illustre Comedien' aus demselben Jahr. In ihrer motivischen und zeitlichen Nähe entfalten sie nicht nur die verschiedenen Möglichkeiten, die der Doppelfigur des Märtyrer-Schauspielers innewohnen, sondern zeigen auch bereits in nuce, dass die Theatralisierung des Märtyrers dessen religiösen Anspruch keineswegs relativiert, sondern ihn eher in sich einschließt.
"'Nichts ist wahr. Alles ist erlaubt.' Die letzten Worte von Hasan-i Sabbah . Und was ist das wahrste Kennzeichen des Menschen? Geburt und Tod. Der Alte zeigte seinen Attentätern die Freiheit von Wiedergeburt und Tod. Er schuf wirkliche Wesen, für die Raumfahrt bestimmt." Wenn wir die Reise durch den Raum hier als Metapher für die Überwindung der verlässlichen, wenngleich durch den Menschen wahrgenommenen Naturgesetze verstehen, vermittelt Burroughs uns eine recht präzise Vorstellung einer von den Assassinen ausgehenden Bedrohung, die weit über die unmittelbaren Folgen ihrer Angriffe hinausgeht. Sie sind nicht menschlich, nicht an die Endgültigkeit des Todes gebunden und immun gegen die Drohung, für ihre Handlungen getötet zu werden - dem letzten Mittel zur Aufrechterhaltung der Rechtsordnung - und destabilisieren damit die binären Unterscheidungen zwischen dem Weltlichen und dem Jenseits, Wahrheit und Falschheit, Gut und Böse. So bedeuten sie an sich, d.h. nicht allein durch ihre Attentate, sondern auf einer symbolischen Ebene, eine Gefährdung für die Grundlagen des Sozialen. Während solche Störungen in der Regel gerne mit einem Anderen, beispielsweise der Tradition selbstaufopfernder Gewalt im Nahen Osten oder den bösen Absichten der 'Schurkenstaaten', identifiziert werden, scheint mir, dass die Krise, die sich in den Berichten über die Assassinen und andere Selbstmordattentäter ausdrückt, nicht in erster Linie als Eindringen von etwas zu verstehen ist, das von außerhalb 'unserer' Kultur kommt, sondern vielmehr ein spezifisch westliches Problem betrifft, das mit der Aufklärung und den bürgerlichen Revolutionen einsetzt. Um diese recht gewagte These zu überprüfen, möchte ich zunächst mit Hilfe neuerer historischer Studien zu den Nizari - der ismailitischen Sekte, der der Alte vom Berg zugerechnet wird - einige der wichtigsten Behauptungen diskutieren, die über die Assassinen im Umlauf sind. Anschließend folgt ein kritischer Blick auf Joseph von Hammer-Purgstalls 1818 erschiene 'Geschichte der Assassinen', einen der zentralen Texte in der Entwicklung der modernen Assassinen-Legende.
Bilder von Gewalt, Krieg und Zerstörung steigen auf, wenn der Blick sich auf die arabische Welt richtet. Auch die arabische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts ist von diesen Themen geprägt. Nicht nur viele arabische Gegenwartsromane handeln von körperlicher und politischer Gewalt, von Zensur, Krieg, Verletzung der Menschenrechte und staatlichen Repressionen, auch in der zeitgenössischen arabischen Dichtung spielen diese Themen eine wichtige Rolle. Was hier auffällt, ist eine oft provokante Aufarbeitung von Krieg, Gewalt und Tod, in der das poetische Ich als pathetisch überhöhte Leidensfigur auftritt. "Leidend die Welt zu überwinden", dem erfahrenen Unrecht mit leidenschaftlichem "Gegenleiden" zu begegnen, diese von Erich Auerbach christlicher Weltfeindschaft zugeschriebene Lebenshaltung scheint auch das Motto vieler Gedichte arabischer Autoren zu sein. Die Qualen an sich und der Welt werden nicht selten apokalyptisch dramatisiert, das eigene tragische Ende erscheint als Selbstopfer und so letztlich als moralischer oder auch transzendentaler Sieg, bei dem der Autor sich als Christus am Kreuz, als Zarathustra oder Prophet und damit als Erlöserfigur imaginiert, umgeben von blutigen Horrorszenarien der Gewalt und Angst. Warum zeugen so viele zeitgenössische Gedichte, Romane und Dramen mit derart drastischen Bildern von Krieg, Gewalt und Tod, und welche Funktion haben diese Themen in der Literatur und in der Gesellschaft? Handelt es sich bei den oft pathetischen Selbststilisierungen um narzisstischen Manierismus und maßlose Selbstüberschätzung, oder sind sie vielleicht eine erschütternde, aber schlicht angemessene literarische Antwort auf eine kaum mehr zu ertragende, rücksichtslose und grausame Realität in der arabischen Welt? Um diesen heiklen Fragen auf den Grund zu gehen, sollen in diesem Beitrag einige Gedichte und einige literarische Grenzfiguren untersucht werden.
Angesichts des Schicksals ihrer Imame ist es kaum überraschend, dass die Schia den frühesten und expressivsten Märtyrerkult im Islam entwickelte: Die mutmaßlichen Gräber des zum Herrn der Märtyrer ('sayyid al-schuhada') verklärten Husain und seiner Gefährten bei Karbala entwickelten sich schon bald zu Anlaufstätten für Trauer- und Gedächtnisrituale ihrer Anhänger. Gemeinsam mit den Grabstätten der nachfolgenden Imame sowie denen vieler weiterer, männlicher und weiblicher, Nachkommen der Familie Alis wuchs hier im Lauf der Jahrhunderte ein regional weit verzweigter Märtyrer- und Heiligenkult heran, der an den schon in vorislamischer Zeit im Nahen Osten weit verbreiteten Totenkult anknüpfen konnte und maßgeblich dazu beitrug, die Oppositionsbewegungen der Schia in der lokalen 'Volkskultur' zu verankern. Die Tatsache, dass 'Frauen', vor allem durch rituelles Weinen, gerade beim Trauerkult eine herausgehobene öffentliche Rolle spielen konnten, scheint die Breitenwirkung dieser Bewegungen ebenso begünstigt zu haben wie die bedeutende Rolle Fatimas in der Legitimitätsstruktur der Schia. Obwohl die Figur Alis der zentrale politisch-theologische Angelpunkt der Schia ist und obwohl auch sein Tod alle Ingredienzien eines Märtyrertods enthält und mehrere schiitische Feiertage das Andenken des Herrschers der Gläubigen ('amir al-mu’minin') pflegen, sind die wichtigsten Rituale der Schia dennoch auf seinen jüngeren Sohn Husain ausgerichtet, dessen heroischer Untergang bei Karbala im Irak mit 72 seiner Verwandten und Gefährten gegen eine Übermacht von mehreren tausend Soldaten des Kalifen Yazid I. (reg. 680–683) bis heute mit ausgedehnten Gedächtnis- und Trauerfeiern begangen wird. Nicht zufällig wurden die religiösen Versammlungsräume der Schia unter dem Namen "Husainiya" bekannt.
Die Geschichte der Folter und die der Märtyrer, das zeigt nicht erst Gallonio, gehen Hand in Hand. Bereits im Mittelalter bezeichnete 'cruciatus' auch die Folter und die Pein, ebenso wie das mhd. 'Marter' aus dem Leiden Christi über das Blutzeugnis die Bedeutung Folter entwickelt hat. Rein begrifflich landeten somit die Passion und das Martyrium wieder dort, wo sie ihren Ausgang genommen hatten: in der Geschichte des Rechts und seiner Zeugen. Im Martyrium ist immer schon ein gewisser Juridismus am Werk: Es beginnt mit einer Konfrontation vor Gericht, vollzieht sich in einer spezifischen Verbindung von Zwang und Zeugenschaft und bezeugt zuletzt, in seiner eschatologischen Dimension, die Hoffnung auf eine weltgeschichtliche Wiederherstellung des Rechts. Vergleichbar aber sind Folter und Martyrium auch darin, dass sie beide 'diskursive Praktiken' im strengen Sinn darstellen: Beide bestehen in einem Sprechakt, der durch einen Akt körperlicher Gewalt beglaubigt werden muss. Erst unter der Folter kommt das Bekenntnis oder Geständnis ganz zu sich, und so sehr die Marter und das Martyrium gerade über die sprachlose Evidenz der Schmerzen 'sprechen' machen, so sehr produzieren sie weitere Diskurse: Zuvorderst entstehen Protokolle der peinlichen Befragung oder des Bekenntnisses; und zuletzt wird ein rechtsgültiges Urteil oder aber die kanonische Beurteilung darüber zu den Akten genommen, ob es sich um einen Pseudomärtyrer, um ein gescheitertes Martyrium oder um einen wahren Blutzeugen gehandelt hat. In beiden Fällen sind es Schmerzen oder Leiden, die positiviert und - nach Maßgabe einer weltlichen oder geistlichen Macht - in einer Wahrheit aufgehoben werden. Somit ist selbst jene Selbstautorisierung, die die 'confessores' der ersten Stunde auszeichnet, nur von Gnaden einer Diskursgewalt, welche rechtsgültige Verbrecher 'ex post' in Leidende ('pathontes') und diese in Zeugen ('martyres') verwandelt. Im Archiv der Märtyrer lässt sich dieses Zusammenwirken unterschiedlicher Diskurspraktiken schon am Grundstock der frühchristlichen Märtyrerakten studieren: Zuweilen als Briefe verfasst und als solche an die gesamte expandierende Christenheit adressiert, vermischen sie Augenzeugenberichte und Dokumente, Urkunden und Fälschungen, Glaubensunterweisungen und Erzählungen, Protokolle und authentische Textzeugen. Stets präsentieren sie eine juristische Fallgeschichte und statuieren aus ihr ein heilsgeschichtliches Exempel. Als Gallonios Kollegen an der Wende zum 17. Jahrhundert die Märtyrerakten historisch-kritisch bearbeiteten, vereinigten sie die verstreuten Textzeugnisse und brachten die diskursive Ordnung der Blutzeugnisse auf den neuesten Stand. Martyrologie ist so gesehen immer auch eine fortlaufend aktualisierte Ableitung der Heils- aus der Rechtsgeschichte.
Ziel des Beitrags ist es, am Musterfall von Andreas Gryphius' 'Catharina von Georgien' (1657) - einem der bedeutendsten Texte der europäischen Barockliteratur - die politischen Implikationen zu beleuchten, die das Leiden der Märtyrerin im Trauerspiel des 17. Jahrhunderts begleiten. Den Leitfaden bildet dabei das Konzept der politischen Körperschaft, das Ernst H. Kantorowicz als Element der theologischen Herrscherlehre des Spätmittelalters beschrieben hat. Im Trauerspiel von Gryphius ist der Leib der Märtyrerin, so die These, keineswegs nur das Sinnbild einer am Modell der 'passio Christi' ausgerichteten Leidensgeschichte, sondern zugleich ein 'body politic' mit mystischer Bedeutung. Gryphius erzeugt diese Koinzidenz, indem er die Rollen der Königin, die als Interimsherrscherin amtiert und die des Opfers, das für den christlichen Glauben auf dem Scheiterhaufen stirbt, zusammenführt. Catharinas Leidensgeschichte erfüllt eine politische Mission, denn die blutige Zeugenschaft, die sie durch ihre 'passio' ablegt, dient dem Zweck der Sicherung eines übergeordneten Systems der Macht, das sie stellvertretend für ihren Sohn als Thronerben im Interregnum repräsentiert. Den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bildet daher die Frage nach dem politisch-theologischen Hintergrund des Martyriums, das Catharina von Georgien bei Gryphius durchleidet.
Trotz einer kaum noch zu überschauenden Menge ikonographischer Studien zu einzelnen Heiligen und Ansätzen zu einer medienspezifischen Anschauung wie Cynthia Hahns Analyse der illustrierten Heiligenlegenden, fehlt eine nach verschiedenen Bildträgern, ihren Orten, Funktionen und Rezipienten differenzierende Bildgeschichte des Heiligen Leibes, die nach dem Verhältnis von Repräsentationsstrategien, Präsenzinszenierungen und narrativen und argumentativen Bildstrukturen und Rahmungen zu fragen hätte. Stattdessen gerät die Frage nach der Inszenierung von Gewalt bevorzugt und verengend in den Blick. Es sind vor allem Martyrien jungfräulicher Heiliger, die 'pars pro toto' für die Alterität mittelalterlicher visueller Kulturen zu stehen scheinen, in denen die Künste auf die Allgegenwart von Gewalt, Angst, Schmerz und Tod und auf eine schaulustige Betrachtermentalität reagiert hätten, "that did not shrink from blood and gore." Doch ein solches Spiegelverhältnis zwischen tatsächlichen Gewalterfahrungen und Bildproduktionen erscheint zu einfach gedacht, denn dargestellte Gewalt ist immer konstruierte, ästhetisch vermittelte Gewalt. Während die hagiographische Forschung zu einem differenzierteren Verständnis der Ästhetik und rhetorischen Funktion von Gewaltdarstellungen in Märtyrerinnenlegenden gelangt ist, sind die diesbezüglichen Leistungen der mittelalterlichen Bildmedien in der Kunstgeschichte noch nicht in vollem Umfang gewürdigt worden. Um diese formenden und sinnstiftenden Grenzziehungen gegenüber der an sich rohen Gewalt des Martyriums geht es mir auch im wahrsten Sinne des Wortes, denn ich suche sie an einer medialen Schnittstelle auf, dem Übergang eines Kopf- und Büstenreliquiars zu einer dem Körper ganz unähnlichen Sockelzone, in und an der Bilder u. a. darüber berichten können, wie die im Reliquiar geborgene Reliquie 'produziert' wurde.
In der Literatur jüdischer Autoren des letzten Jahrhunderts steht die Darstellung des Martyriums in drei spezifischen, sehr unterschiedlichen Kontexten: in Werken der literarischen Moderne, die die Übernahme der religiösen Traditionen verhandeln - hierzu gehört wohl auch noch Philip Roths Erzählung - im Umkreis der Literatur in und nach Auschwitz und in literarischen Texten zur Geschichte oder Befindlichkeit des Staates Israel. Am Beispiel eines literarischen Bezugs auf die Märtyrertradition aus jedem dieser Umfelder - im Werk Franz Kafkas, Nelly Sachs' und David Grossmans - gilt es nunmehr, jeweils die Korrelation von Verschriftung und interreligiösem Subtext herauszulesen.
"Bilal war aufrichtig im Glauben und rein im Herzen. Umayya [einer der führenden Männer in Mekka] brachte Bilal oft, wenn die Mittagshitze am größten war, hinaus in das breite Tal von Mekka, warf ihn auf den Rücken, ließ einen mächtigen Stein bringen und ihm auf die Brust legen. Dann sagte er zu ihm: "Dies geht so weiter, bis Du stirbst oder Muhammad verleugnest und zu den Göttinnen Lat und Uzza betest." Bilal aber sagte in dieser Bedrängnis: "Einer! Einer!" [und bekannte sich damit zum einzigen Gott]." Dieser Ausschnitt aus dem 'Leben des Propheten' von Ibn Ishaq (85/704–159/767) handelt von Verfolgungen einiger der ersten Anhänger Muhammads in Mekka. Der Bericht über die Folterung des Sklaven Bilals enthält zentrale Elemente, die auch aus den Darstellungen der Martyrien während der Christenverfolgung der ersten nachchristlichen Jahrhunderte bekannt sind: die Forderung seitens der Verfolger, von der neuen Religion, die als eine Infragestellung der überlieferten Ordnung verstanden wird, abzufallen und das standhafte Bekenntnis des durch Folter geprüften Gläubigen. Was in diesem Fall fehlt, ist der Tod: Bilal wurde von einem der einflussreicheren Gefährten des Propheten freigekauft und dadurch gerettet. Er erlangte später Ansehen als der erste Gebetsrufer des Propheten und nahm unter dessen Nachfolgern an den Eroberungsfeldzügen in Syrien teil, wo er sich niederließ und schließlich starb.
Mit einer vergleichenden Lektüre der 'Passio Sanctarum Perpetuae et Felicitatis' (203 n. Chr.) und des 230 Jahre früher entstandenen Berichts über den Tod der Lucretia in Livius' erstem Buch der 'Römischen Geschichte' (27 v. Chr.) soll hier eine kulturgeschichtliche Konstellation in den Blick genommen werden, vor deren Hintergrund die verbreitete These von der Singularität des christlichen Märtyrerkonzepts befragt werden kann. Durch eine genauere Betrachtung jener Elemente, die die beiden Todesfälle und -erzählungen von Lucretia und Perpetua verbindet, wird die - nicht selten fraglose, oft unausgesprochene - Auffassung problematisiert, dass erst mit den durch die 'Märtyrerakten' überlieferten Begebenheiten die 'eigentlichen' Märtyrer auf die Bühne der Geschichte getreten seien. Zudem können im Lichte der Verbindungen beider Figurationen deren Unterschiede Kontur gewinnen und damit dann auch jene spezifischen Elemente, die für die Herausbildung der christlichen Märtyrerkultur signifikant sind.
Im Oktober 2000, knapp vier Jahre vor dem Beitritt Litauens zur Europäischen Union, veranstaltete das Goethe-Institut zusammen mit dem Polnischen Kulturinstitut in der litauischen Hauptstadt Vilnius ein "Gipfeltreffen der Nobelpreisträger" mit den Autoren Wisława Szymborska, Czesław Miłosz, Tomas Venclova und Günter Grass. Bei dem Treffen in der vom 20. Jahrhundert so sehr gezeichneten historischen Barockstadt mit ihrer komplexen und wechselvollen Geschichte ging es um das Spannungsfeld zwischen Erinnern und Vergessen.
1902 erschien Theodor Herzls utopischer Roman Altneuland im Verlag Hermann Seemann in Leipzig, schon im selben Jahr die hebräische und ein Jahr später die russische Übersetzung. Der Journalist, Autor und Begründer des politischen Zionismus hatte – inspiriert durch seine Palästinareise im Jahr 1898, auf der er u. a. mit dem deutschen Kaiser zusammentraf – seit 1899 an dem Text gearbeitet. Herzl schildert in dem Roman eine neue zionistische Gesellschaft in Palästina und führt hier das eher skizzenhafte Bild seiner 1896 erschienenen Broschüre Der Judenstaat weiter aus. Hier soll besonders auf diejenigen Aspekte des Romans eingegangen werden, die das jüdische Gemeinwesen in Palästina als ein 'kleines Europa' im Nahen Osten schildern. Zudem sollen die topographischen Begebenheiten im Roman und deren Bezüge zur israelischen Geographie, Gesellschaft und Kultur untersucht werden.
Der 'tellurische Charakter' des Partisanengenres : jugoslavische Topo-Graphie in Film und Literatur
(2011)
Künstlerische Verarbeitungen des jugoslavischen Partisanenkampfes, vom Vrhovni štab und damit der Führung der Kommunistischen Partei Jugoslaviens (KPJ) bereits 1943 zum künstlerischen Desiderat des neu zu formierenden Staates Jugoslavien erklärt, finden sich in der Literatur schon zu einer Zeit, in der der Zweite Weltkrieg nicht beendet war. Der letztlich nicht länger als drei bis vier Jahre geführte Partisanenkrieg setzt sich auf diese Weise ein frühes Denkmal, das den Ausgang des Krieges vorwegnimmt und eine wechselseitige Beförderung von historisch-politischem Ereignis und seiner künstlerischen Darstellung in Jugoslavien initiiert. In den Nachkriegsjahren erfährt das neue Genre eine explosionsartige Vervielfachung, zu der ab dem ersten jugoslavischen Film, dem Partisanenfilm Slavica (1947, Regie: Vjekoslav Afrić, Avala Film), neben der Literatur auch das Kino beiträgt. Das Partisanengenre spielt – von diesen beiden, nachfolgend stark interagierenden Medien popularisiert1 – in der jugoslavischen Selbstkonzeption und im Entwurf eines gemeinsamen 'süd-slavischen' (jug = Süden, Jugoslavija = Südslavien) Territoriums eine zentrale Rolle. Es ist gerade das raumgestaltende und ‑umgestaltende Potential des Partisanennarrativs, das ich mit Carl Schmitts Begriff aus seiner Charakterisierung des Partisanenkrieges als "tellurischen Charakter" bezeichnen möchte, das die außerordentliche Genre-Karriere ermöglicht hat. Dieses Tellurische, das am Partisanengenre im Folgenden herausgearbeitet wird, kehrt in Partisanenrevivals gegenwärtig vielgestaltig wieder und speist sein topographierendes Umgestaltungspotential in nach-jugoslavische wie auch globale Kontexte ein.
Im Folgenden werden zunächst punktuell symbolische und literarische Codierungen des Schwarzmeerraumes aus russischer bzw. sowjetischer Perspektive skizziert, um dann erneut auf Brodskys Entwurf einer mentalen Topographie in "Flucht aus Byzanz" zurückzukommen. Die (sowjet-)russischen Erfahrungen und Einschreibungen konnotieren den gesamten Essay. Brodskys antiöstliches Pathos erweist sich vor dem autobiographischen Hintergrund als eine antiimperiale Geste, als Abrechnung mit der Unfreiheit des Sowjetimperiums.
Beirut und Berlin, die libanesische und die deutsche Hauptstadt, weisen – neben zahlreichen evidenten Unterschieden – eine Reihe von Parallelen auf, die im Zusammenhang mit Krieg und Teilung, Zerstörung und Wiederaufbau ihres Stadtzentrums stehen. Ähnlich wie die Gegend um den Potsdamer Platz in Berlin nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und in den Jahrzehnten der deutschen Teilung war das Beiruter Stadtzentrum im Laufe des Bürgerkriegs (1975−1990) zu einer Art Niemandsland geworden. Als Schauplatz heftiger Kämpfe war es bereits zu Beginn des Krieges weitgehend zerstört und in der Folge von Bewohnern wie Geschäftsleuten verlassen worden. [...] Im Anschluss an einen kurzen Exkurs zur Geschichte des Beiruter Stadtzentrums werden im Folgenden einige Ausschnitte aus der Debatte vorgestellt. Auf der einen Seite wird es um die Wiederaufbaupläne gehen, um die mit hohem Aufwand betriebene Medien-Kampagne und das Vorgehen der mit dem Wiederaufbau betrauten Immobilienfirma sowie um den Widerstand, den dies hervorrief. Auf der anderen Seite werden künstlerische Positionen, Einwände und Gegenentwürfe vorgestellt: Am Beispiel zweier in den 1990er Jahren erschienener Romane wird illustriert, wie das Beiruter Stadtzentrum als Schauplatz für Debatten dient, in denen Fragen von Identität, Erinnerung und Verantwortung verhandelt werden.
Das im Norden Ägyptens an der Küste des Mittelmeers gelegene Alexandria gehört zu denjenigen Städten, deren Name auch literaturhistorisch einschlägig ist. Der von gegenwärtigen Besuchern meist als schäbig und heruntergekommen erlebten modernen Großstadt steht dabei das literarisch überhöhte Bild einer levantinisch-kosmopolitischen Gesellschaft gegenüber, die von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts in voller Blüte stand.
Der in Pamuks Memoiren zentrale Begriff 'hüzün' lässt sich nicht einfach mit Melancholie übersetzen. Im Gegensatz zu dem individuell erlebten Gefühl der Melancholie – im Türkischen verwendet Pamuk hier den dem Französischen entlehnten Begriff 'melankoli' – beschreibt 'hüzün' ein kollektives Gefühl, das die Stadt in ihren Bewohnern auslöst. 'Hüzün' ist die Reaktion auf die Schwarzweißatmosphäre der Stadt an einem grauen Wintertag, Ausdruck der Schicksalsergebenheit ihrer Bewohner und gleichzeitig ein Gefühl, das der Anblick der Ruinen der einstmaligen osmanischen Hauptstadt im Betrachter hervorruft. Pamuks Werk zeichnet das Bild der Istanbuler als eine affektive, durch 'hüzün' verbundene Gemeinschaft. [...] Die Memoiren veranschaulichen die Faszination, die für Pamuk mit den melancholischen Porträts der Stadt in der westeuropäischen wie der türkischen Literatur, Kunst und Fotografie verbunden ist. Sie verfolgen, wie der Autor sich 'hüzün' als Quelle literarischen Schaffens zu eigen macht. Ob und zu welchem Zweck Pamuk, wie Kemal und Tanpınar vor ihm, 'hüzün' zu einem kollektiven, nationalen Affekt stilisiert, soll im Folgenden untersucht werden.
Den Kaukasus als einen Grenzraum anzusehen ist in der Forschung über die russische Kaukasusliteratur längst Konsens. Trotzdem wurde er auf die raumsemantische Spezifik der Grenze hin kaum untersucht. Während die sowjetische Literaturwissenschaft den Kaukasus als Thema bzw. Topos der russischen Literaturgeschichte betrachtete, hat die primär westliche Forschung der letzten Jahre die russische Kaukasusliteratur im Orientalismusdiskurs verortet. Harsha Ram erweitert den Kontext, indem er diese Literatur im Rahmen einer Poetik des Imperiums untersucht. Ohne den Anspruch zu erheben, die Poetik der Grenze erschöpfend zu behandeln, möchte ich im folgenden das kaukasische Kapitel der Poetik der Grenze in der russischen Literatur thematisieren. Dabei werde ich exemplarisch die Semantik des Grenzraums im 'Kaukasussujet' bei Aleksandr Puškin (1799-1837), Aleksandr Bestužev-Marlinskij (1797-1837) und Michail Lermontov (1814-1841) untersuchen.
Vom wüsten Raum zur affektiven Provinz : westliche Semantisierungen östlicher Landschaft 1800−1960
(2011)
In Europa meint die Zuschreibung der Himmelsrichtung stets mehr als eine rein kartographische Situierung. Was als "Osten" bezeichnet wird, unterliegt historisch ständigen Verschiebungen, bei denen sich eine enge Kopplung zwischen geographischer und semantischer Dimension verfolgen lässt. Bei dieser beweglichen Grenzziehung nimmt Deutschland einen besonderen Platz ein: Das Land erscheint in Selbst- wie Fremdbeschreibungen als Hybrid zwischen Ost und West und unterhält gleichzeitig eine eigene Faszinationsgeschichte mit der Figur des Ostens, die zwischen Abwehr, Okkupation und Identifikation schwankt. Es bildet daher den Ausgangs- oder vielmehr Durchgangsort, um im Folgenden die semantischen Wanderungen im (westlichen) Blick auf östliche Landschaften nachzuzeichnen. Die Etappen reichen von der Wahrnehmung der Gegend um Berlin als wüsten Raum um 1800 bis zur affektiven Besetzung der ehemaligen deutschen Gebiete in Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Aus geographischen Provinzen werden dabei Provinzen des Gedächtnisses.
Völker-Gastfreundschaft
(2011)
Ich werde von zwei Sprichworten ausgehen: Ein georgisches Sprichwort sagt: "Stumari vtisaa" - "Der Gast ist von Gott". Ein russisches Sprichwort sagt dagegen: "Nezvannyj gost’ chuže tatarina" - "Ein ungeladener Gast ist schlimmer als ein Tatare". Ich will damit nicht sagen, dass Georgier bessere Gastgeber sind als Russen. Hinter der scheinbaren Differenz zwischen den beiden Konzepten von Gastfreundschaft steht eine Gemeinsamkeit - in beiden Fällen wird die Souveränität aufgegeben. Ein Georgier aber betont das Freiwillige der Übergabe dieser Souveränität: Er tritt das Hausrecht dem Gast ab, so wie er es dem Gott überlassen würde und lässt ihn für eine bestimmte Zeit über die Hausordnung walten. Das russische Sprichwort betont dagegen die feindliche Übernahme: Der ungeladene Gast stört die Ordnung des Hauses, so wie der Erzfeind, der Mongole.
In meinem Vortrag geht es um Gastfreundschaft als kulturologisches Konzept. Mein Fokus wird sich auf die russische und sowjetische Konzeptualisierung der einer speziellen Art der Gastfreundschaft richten, bei der die für die Beziehung "Gastgeber - Gast" konstitutive "Fremdheit" durch eine Differenz im Lebensstil und nicht durch die Zugehörigkeit / Nichtzugehörigkeit zu Familie, sozialer Gruppe, Staat oder Ethnie definiert ist. Ich meine das Phänomen des "stranničestvo", d.h. einer für die russische Kultur spezifischen Form des wandernden, wohnsitzlosen Lebens, welches christlich-religiöse Ursprünge im Kontext des Altgläubigentums hatte, aber im Lauf der russischen Kulturgeschichte auch zahlreiche sozial motivierte Varianten herausgebildet hat. In der russischen nationalen Kulturgeschichtsschreibung des späteren 19. Jh.s wurde diesem Phänomen eine für den Verlauf der Nationalgeschichte, für die Herausbildung einer nationalen Identität und für die Konstituierung des russischen "Volkes" als Akteur der Nationalgeschichte zentrale Bedeutung zugeschrieben. Ich möchte der Frage nachgehen, welche Art von Gastfreundschaft im Zusammenhang dieser nationalen Konzeptualisierungen des "stranničestvo" entworfen wurde, welche Funktion dieser Gastfreundschaft als Komplement oder sogar Element dieses Verständnisses von "stranničestvo" zugeschrieben wurde und welche Bedeutung dies im Kontext der diskursiven Konzeptualisierung Russlands als Imperium hatte.
Nachdem das letzte sowjetische Staatsoberhaupt Michail Gorbatschow 1986 die Perestroika und die Glasnost, d.h. die Meinungsfreiheit in der UdSSR, verkündete, wurde der gesamte Sowjetstaat innerhalb weniger Jahre zum Schauplatz ethnischer und nationaler Spannungen. Den Untergang des multinationalen Imperiums war von Konflikten und militärischen Auseinandersetzungen zwischen den einst 'brüderlich' miteinander lebenden und für den Kommunismus aufbauenden Völkern begleitet. Nun kämpften sie sogar mit aller Brutalität gegeneinander. Die einstigen Nachbarn und Freunde erhoben sich gegeneinander, als ob sie auf den Moment gewartet hätten, ihren Hass freizusetzen. Der ethnisch motivierte Hass war nicht selten der erste Ausdruck der Meinungsfreiheit. Die Sowjetunion, die sich 70 Jahre lang als festgefügte Union "freier" und "brüderlicher" Völker inszenierte, zerbrach genau an dieser Stelle - am Konzept der Völkerfreundschaft. Besonders schwer betroffen war der gesamte Kaukasus, wo in Berg-Karabach auch der erste bewaffnete Konflikt ausbrach. Die ethnisch-kulturelle Vielfalt dieser Region wurde den dort lebenden Völkern zum Verhängnis. Die Situation ließe sich treffend mit den folgenden Worten Primo Levis beschreiben: "Viele, ob Individuen oder Völker, können mehr oder minder bewusst dem Glauben anheimfallen, dass 'jeder Fremde ein Feind ist'". Die Feindschaft, die der Entfremdung entsprang, ent-fremdete die Menschen voneinander vor allem hinsichtlich ihrer Herkunft und ihrer ethnischen Zugehörigkeit. In den ehemaligen Teilrepubliken betrachtete man nun die autonomen Republiken oder Gebiete als tickende Minen im Körper eines nach Unabhängigkeit strebenden Landes, die man daher als erstes unschädlich machen sollte. Diejenigen "nationalen Minderheiten", die über keine administrativ-territorialen Gebilde innerhalb der Republiken verfügten, ursprünglich aus anderen Sowjetrepubliken stammten oder die sich auf Grund ihrer Abstammung einem anderen, jetzt eigenständigen Land zuordnen ließen, wurden nun zu 'Gästen' erklärt.
Die offizielle Rhetorik der "unverbrüchlichen Freundschaft" ("nerušimaja družba") und der Brüderlichkeit zwischen den Völkern der Sowjetunion vermochte bereits zu Sowjetzeiten nur schwer zu verbergen, dass Konzept und Praxis der sowjetischen "Völkerfreundschaft" keineswegs identisch waren. Die angestauten Spannungen entluden sich nach dem Zerfall der Sowjetunion in Spannungen, die sogar den Charakter bewaffneter Auseinandersetzungen annehmen konnten. (Davon war im Beitrag von Giorgi Maisuradze die Rede.) Zur Ambivalenz der sowjetischen Nationalitätenpolitik gehörte, dass die nationalen Kulturen durchaus eine Förderung erfuhren, ihre Entfaltung jedoch den machtpolitischen Interessen und dem ideologischen Rahmen untergeordnet wurde. Und schließlich gab es eine reale Praxis des Zusammenlebens im Raum des Sowjetimperiums, die von vielen Menschen in ihrem Alltag als reale Freundschaft erlebt wurde. Der Zerfall der Sowjetunion wurde daher von vielen Sowjetmenschen als ein dramatischer Verlust erlebt. Es geht mir nachfolgend aber nicht darum, die Nachwirkungen des Konzepts der sowjetischen (in ihrem Kern stalinschen) "Völkerfreundschaft" oder Nationalitätenpolitik bis heute zu untersuchen. Vielmehr will ich an einem Text aus der russischen Literatur der 1970er - 80er Jahre und des vom gleichen Autor aus der postsowjetischen Perspektive und somit gleichsam als Postscriptum zu lesenden Textes untersuchen, auf welche Weise in beiden der traditionelle russisch (bzw. sowjetisch)-georgische literarische Freundschaftsdiskurs fortgeschrieben oder aber, im Gegenteil, unterlaufen wird. Bei dem Beispieltext handelt es sich um Andrej Bitovs "Georgisches Album" ("Gruzinskij al’bom") und den von ihm 2003 ursprünglich als Vorwort zur deutschen Ausgabe geschriebenen Essay "Wofür wir die Georgier geliebt haben" ("Za čto my ljubili gruzin").
Im Rahmen einer Verständigung über Freundschaftskonzepte und -praktiken unter den komplexen Bedingungen sowjetischer und postsowjetischer Kulturpolitik - sowie ihrer russisch-imperialen Vorläufer und besonders ihrer georgischen Neben- und Gegengeschichte - scheint der vorliegende Beitrag auf den ersten Blick nicht ganz zum Thema zu gehören. Er behandelt die sehr spezifische Vorstellung von Gastfreundschaft, wie sie sich bei Pierre Klossowski findet, einem französischen Autor mit deutsch-schweizerischem biographischen Hintergrund. Die Verbindung zum Diskussionszusammenhang des hier dokumentierten Symposiums ergibt sich in der Tat nicht auf der Ebene des kulturhistorischen Kontakts, wohl aber auf dem von Klossowskis konzeptueller Reflexion: einer Reflexion, die das Imperativische der Gastfreundschaft, ihre 'Gesetzmäßigkeit', mit einer gewissen hartnäckigen Konsequenz und zugleich auf verspielt-fantastische Weise zuende denkt.
"Die Gesetze der Gastfreundschaft" - "Les lois de l’hospitalité" -, so lautet die Überschrift eines der ersten Abschnitte in Klossowskis 1953 erschienenem Roman "Roberte ce soir". Dieselbe Überschrift, "Les lois de l’hospitalité", wählte Klossowski einige Jahre später auch für den Zyklus, zu dem er den "Roberte"-Roman mit seinen beiden folgenden Romanen, "La révocation de l’Édit de Nantes" (1959) und "Le souffleur" (1960), zusammenfasste. Nicht um den Zyklus als ganzen, sondern nur um den kurzen Text soll es hier gehen, der als eine Art von Traktat in die Anfangspassagen des "Roberte"-Romans eingelassen ist. Dieser Text ist schwierig und sonderbar. Er behandelt Gastfreundschaft als ein Problem zugleich dialektischer und erotischer Natur, kaum jedoch als kulturelle Praxis. Daher versteht sich mein Beitrag als eine Art Zwischenruf, als Intervention von Klossowskis voraussetzungsreichem Denken und Schreiben in die Theoretisierung kultureller Praktiken. In diesem Zusammenhang kann die Beschäftigung mit Klossowski womöglich eine produktive Irritation bewirken.
Allein in der Morphologie (Flexion und Wortbildung) gibt es derzeit etwa ein Dutzend "Baustellen", die systematisch Zweifelsfälle generieren. Sie bilden für den universitären Unterricht – und zwar für den grammatisch-deskriptiven wie auch für den sprachhistorischen – ein ungemein ertragreiches und auch beliebtes Thema. wie die eigene Erfahrung mit mehreren entsprechenden Veranstaltungen lehrt: Die Studierenden – meist künftige Lehrerinnen – lernen, dass sprachliche Regeln variabel sein können, doch keineswegs beliebig. Diese Einsicht reicht jedoch nicht: Man kann gerade anhand von Zweifelstallen zeigen. dass Regeln nicht per se existieren (oder womöglich von der Linguistik oder der Grammatikografie am Schreibtisch erstellt werden), sondern dass sie entstehen und vergehen können, also veränderlich sind, auch. dass sie Funktionen haben, die uns – den Sprachbenutzern – zugute kommen. Zieht man sprachhistorisches Wissen hinzu. so wird in den meisten Fällen deutlich, dass Zweifel stalle Sprachwandel im Verlauf darstellen und dass sie der Optimierung von etwas dienen, also vermehrte Funktionalität herstellen. Damit kann man auch der öffentlichen Gleichsetzung von Sprachwandel mit Sprachverfall entgegenwirken. Das Bewusstsein dafür, dass sich Sprache auch heute wandelt, überrascht viele: Man begreift Sprache viel zu oft als statisch. Zweifelfälle lassen sich auch leicht in schriftlichen Korpora wie dem DWDS oder Cosmas vom IDS und per Google finden. In den Grammatiken werden sie sehr heterogen. oft widersprüchlich behandelt. Mit solchen Recherchen lässt sich eine Unterrichtseinheit gut beginnen. Auch zu Ende der Sekundarstufe lassen sich Zweifelsfälle in den Grammatikunterricht integrieren, wenngleich sprachhistorisches Wissen nicht vorausgesetzt werden kann. Es gilt jedoch ein Verständnis für die Veränderlichkeit von Sprache zu wecken, und zwar nicht bezüglich der viel stärker beachteten Lexik, sondern der Grammatik. Schüler wie Studierende entwickeln schnell Interesse an Zweifel stallen, wenn man sie statt zur Frage nach Richtig versus Falsch zur Frage nach dem Woher und Wohin und vor allem nach dem Warum leitet, also dazu, echtes Verständnis für Grammatik zu entwickeln. Dichotomisches, normatives Denken wird überführt in skalares, jenseits von starren Normen befindliches. In einem letzten Schritt wird der Schluss zu ziehen sein, dass echte Zweifelsfälle keine Fehler sind: Beide Varianten sind akzeptabel.
Im Folgenden soll der […] Zweifelsfall adjektivischer Parallel- vs. Wechselflexion von diesen Seiten beleuchtet werden. Dabei wird deutlich, dass er nicht nur für Schule und Universität. sondern auch für die Grammatikografie Anregungen und Fragen aufwirft: Statt fester Regeln ergeben sich nur mehr oder weniger deutliche Tendenzen.
Gerade im scharfen Wind der ökonomischen wie auch kulturellen Globalisierungsverhältnisse sind [...] die Kulturwissenschaften nicht mehr allein als nationale Unternehmungen in ihren jeweiligen Wissenschaftstraditionen gefordert. Im Zeichen eines globalen Projekts transnationaler Kulturforschung sind sie vielmehr darauf angewiesen, die Übersetzungsperspektive auch auf sich selbst anzuwenden. Eine der zentralen Fragen wird sein: Gibt es Anzeichen für eine globale Sprache, für ein globales Vokabular als Bedingung der Möglichkeit eines solchen Projekts transnationaler study of culture, in das die verschiedenen regionalen Blickwinkel der Welt eingehen? Oder wird dieses Vorhaben erst dann seiner transnationalen Absicht gerecht, wenn gerade auch lokale Wissensregister und die unterschiedlichen Verortungen in kulturspezifischen Wissenschaftstraditionen dazu aufgerufen sind, an der übersetzerischen Herausbildung eines solchen Vokabulars mitzuwirken?
"An die Grenzen des Erzählbaren", so wird es gedeutet, gelangt Josef Winkler in seinem Roman "Friedhof der bitteren Orangen" (Harig 144-45). Mit drastischen Formulierungen wie "Horrortrip" und ''Höllenfahrt'' wird diesem Text die bittere Note in der Lektüre und Interpretation immer wieder neu zu- und eingeschrieben. Zur bitteren Note des Geschriebenen gesellt sich in den Lesarten signifikant der biografische Bezug auf die sexuelle Orientierung und wird mit dieser intrinsisch korreliert. Tendenziell ist von einem Text die Rede, indem sich "der Homosexuelle [in heiliger Obszönität] zu seinem Kreuzweg [bekennt]" (145). In der hier angebotenen Lektüre Winklers werden jedoch Fragen der Repräsentation eines schwulen Lebensentwurfs oder schwuler Erfahrungen keine Rolle spielen. Auch die Beziehung von Homosexualität und Literatur, also die Beziehung zwischen der sexuellen Orientierung Winklers und seinem Text, liegt nicht im Fokus des Interesses – was allerdings nicht bedeutet, dass jegliche Form von Wirkkraft aus dieser Orientierung komplett verneint werden soll; sie wird aber nicht Teil des hier angebotenen Arguments sein.
Argumentiert wird hier aus dem theoretischen Horizont der Queer Studies – präziser noch der Postcolonial Queer Studies – heraus, wobei die vorliegende Analyse "quer" zu einer solchen Interpretation steht. Queere und postkoloniale Terminologie überschneiden sich in diesem Unterfangen. Sowohl das queere als auch das postkoloniale Projekt zielen darauf ab, binäre Oppositionsstrukturen zu unterlaufen und zu entkräften, für Offenheit, Hybridität und Polyvalenz zu plädieren und Räume zu eröffnen, in denen vielfältige, prozesshafte Identitätskonzepte denkbar und lebbar werden.
Im Folgenden werde ich [...] das moderne Theater aus mediologischer Warte perspektivieren, wobei ich in drei Schritten vorgehe. Zunächst wird es mir darum gehen, Johann Christoph Gottscheds Reform des Theaters als Zurichtung dieser Kunstform für das Gutenberg-Zeitalter zu skizzieren. Wenigstens hindeuten möchte ich sodann auf Lessings, Goethes und Schillers Ansätze zu einer Reflexion der medialen 'Verfasstheit des Theaters, um schließlich die volle Ausbildung eines modernen Medientheaters in Ludwig Tiecks Märchenkomödie "Der gestiefelte Kater" aufzuzeigen.
Als Adalbert Stifters Roman „Der Nachsommer“ 1857 erscheint, hat das Bild der klassischen Antike, wie es durch Winckelmann und Goethe einen hohen Grad der Verbindlichkeit erhalten hatte, längst an Faszination und normativer Kraft eingebüßt. Im Gefolge des Historismus, der jeder Epoche ihr Eigenrecht zuerkannte, waren historische Vorstellungen an die Stelle normativer getreten. In Stifters „Nachsommer“ ist davon freilich nur wenig zu spüren. Der Roman wendet sich ostentativ gegen aktuelle Zeittendenzen und scheint für ein Festhalten an einer zeitlos-idealen Antike einzutreten. Die ausführlichen Gespräche, die der Ich-Erzähler Heinrich Drendorf mit seinem Gastgeber Risach über antike Kunst führt, wiederholen und zementieren überkommene Auffassungen. In Superlativen beschwört Risach Größe und Einfachheit der antiken Kunst; er nennt die griechische Dichtung „das Höchste“ und „was die Griechen in der Bildnerei geschaffen haben, [...] das Schönste, welches auf der Welt“ überhaupt bestehe. Stifters Antike orientiert sich, wie in der Forschung einhellig anerkannt, an Leitvorstellungen Winckelmanns, und die im „Nachsommer“ geführten Kunstgespräche treten in die Spuren der ästhetischen Debatten des ausgehenden 18. Jahrhunderts.
Allein in einer entlegenen Klassikerausgabe des Jahres 1921 findet man, was man in der Forschungsliteratur vergeblich sucht: den Versuch, Friedrich Hölderlins „Hyperion“ und Carl Rottmanns griechische Landschaftsbilder einander anzunähern oder zumindest zu vergleichen. Rottmanns Gemälde und Hölderlins Roman werden zu Recht zu den eigenwilligsten und produktivsten Schöpfungen des deutschen Philhellenismus gezählt, und doch ist – soweit ich sehe – in der literaturwissenschaftlichen und kunsthistorischen Forschung noch nie nach einem engeren Zusammenhang zwischen beiden Werken gefragt worden. Trennt Hölderlins Roman, der in zwei Teilen 1797 und 1799 erschien, und Rottmanns Gemäldezyklus, der in den Jahren 1838 bis 1850 entstand, tatsächlich ein allzu großer zeitlicher Abstand? Zeichnen beide Werke gänzlich verschiedene Bilder Griechenlands, sodass sich jeder Vergleich verbietet?
Das christliche Bild im 19. Jahrhundert zeigt, so die These dieses Aufsatzes, dass Verwissenschaftlichung nicht notwendigerweise historistische Entidealisierung bedeuten musste – wie eben auch die Lektion der historisch-kritischen Bibelforschung nicht unweigerlich zu einer Relativierung der Heiligen Schrift führen musste. In der ästhetischen Konstruktion der biblischen Antiken wurden Evidenz und Imagination zu komplementären Repräsentationsstrategien, die einen gemeinsamen Ursprung jenseits der Unterscheidung zwischen geschichtlicher Wahrheit und archäologischem Wissen hatten. Eine christliche Kunst musste diese historische Wahrheit, die eben keine wissenschaftlich positivistische sein sollte, sichtbar machen. „Das Göttliche kann sich in der Knechtsgestalt begränzter Zeit und Körperlichkeit nicht völlig offenbaren“, formulierte Karl Schnaase im Jahre 1862 diesen Grundsatz eindringlich, „es will mehr geahnt und geglaubt als gesehen sein“. Zwischen archäologischer Treue und kunsthistorischer Tradition, mimetischer Sinnlichkeit und abstrakter Idee erfüllt die Kunst ihre ureigene Aufgabe des Sichtbarmachens im Bewusstsein einer eingeborenen Unmöglichkeit. Die Welt der biblischen Antike wird so zum experimentellen Feld eines erfolgreichen Scheiterns.
Im Spektrum der Epochen, von denen der Historienroman im 19. Jahrhundert erzählt, spielt die Antike eine untergeordnete Rolle. Ihr vorgezogen werden die großen Zeitalter der nachantiken europäischen Geschichte: das hohe Mittelalter, die Renaissance, die Frühe Neuzeit und die Revolutionsepoche um und nach 1800. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, lange nach der sogenannten „Scott-Ära“ in den 1820er Jahren, in denen sich der historische Roman in ganz Europa zur beliebtesten Erzählform entwickelt, wird häufiger über die Antike erzählt. So steigt die Zahl der Romane, welche die antike Geschichte thematisieren, gegen Ende der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts langsam und kontinuierlich an bis zu einem Höhepunkt in den 1880er Jahren, um danach wieder leicht zurückzufallen. Auch in den 1880er Jahren bleibt die jährliche Publikationsrate von Romanen über das Altertum freilich im einstelligen Bereich und damit deutlich unterhalb der Quote je- ner Texte, die sich späteren historischen Zeiträumen widmen. Themen aus der Phase zwischen Barockzeitalter und beginnendem 19. Jahrhundert dominieren die gesamte Epoche; bestimmend ist die Tendenz zu jüngeren Zeitabschnitten, zur modernen Geschichte.
Das Spannungsverhältnis zwischen poetischer Einbildungskraft und positivistischer Wissenschaft, zwischen Imagination und Evidenz, wird wohl an keinem anderen literarischen Genre des 19. Jahrhunderts so augenfällig wie am historischen Roman. Schon in der Gattungsbezeichnung verbinden sich die Lizenzen der Fiktionalität, die der Roman gewährt, mit einem wie auch immer gearteten Anspruch auf historische Faktizität. Die unüberschaubare Menge der historischen Romane, die im 19. Jahrhundert entstand, spiegelt in den vielfältigen Sujets und Figuren nicht nur die Interessen- und Problemlagen ihrer Entstehungszeit wider, sondern liefert im Zeitalter des ästhetischen Historismus ganz unterschiedliche Beispiele von textuellen Verfahren, die das Verhältnis von Imagination und Evidenz sichtbar machen.
The concept of the “magic circle” (Johan Huizinga) defines the stage and the specific performative conditions for magic to work. This concept which was applied by Huizinga to spaces such as the courtroom, the church or the theatre is extended in this essay to the page of the literary text. It is argued that something of the age-old magic of oral poetry is preserved in contemporary German memory fiction that stages an encounter with dead family members. In novels by Peter Härtling (Nachgetragene Liebe) and Uwe Timm (Am Beispiel meines Bruders) a repressed past is emotionally revisited and at the same time exposed to new reflection in the light of hindsight. The therapeutic setting of “family constellation” is introduced as another manifestation of the magic circle in our contemporary world in which latent traumas are acted out and worked through in a cathartic process.
Mit dem Anbruch der Moderne sind es verstärkt Persönlichkeiten von besonderer geistiger Größe, die als erinnerungswürdig etabliert werden. Dazu zählt in besonderem Maße die Gruppe der Künstler, die aufgrund des erstarkten Geschichtsbewusstseins im 18. Jahrhundert mehr und mehr als „Erinnerungsmarken“ im kulturellen Gedächtnis verankert werden. […] Im Hinblick auf bedeutende Dichterpersönlichkeiten erweitert sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Form des ehrenden Andenkens auf entscheidende Weise. […] Aus der Schaffung von „Gedächtnisräumen“ wie Dichterhaus, Museum oder Ausstellung resultiert nicht nur eine neuartige Topographie des Dichtergedenkens, sondern auch eine neue Form institutionalisierter Erinnerungskultur. Während das Dichterhaus authentische Lebens- und Wirkungsräume vergegenwärtigt, gibt das Dichtermuseum anhand ausgewählter Exponate einen Überblick über eine individuelle Lebensentwicklung oder eine bestimmte Werkperiode. Die Ausstellung wiederum widmet sich unter einer inhaltlichen Perspektive biographischen oder thematischen Fragestellungen. Waren solche Gedächtnisräume ursprünglich vielfach ein Ort der Erbauung, ist inzwischen längst ein Bildungsauftrag dieser Institutionen in den Vordergrund getreten. Das „Bewahren und Behalten“ ist zur funktionalen Voraussetzung der pädagogischen Vermittlung geworden.
Der Beitrag streift einige in der Forschung um die Prager deutsche Literatur feststehende Erklärungsmuster und Klischees (die Prager deutsche Literatur sei im Ganzen eine „jüdische Literatur“ gewesen, die radikal akkulturierende Haltung der älteren Prager Generation, der scharfe Umbruch um 1910, die „Rückkehr zu jüdischen Wurzeln“, die Prager deutsche Literatur als Erbin der „menschenschöpferischen“ und kabbalistischen Mystik der Renaissance, Max Brod und den Prager Zionismus, die typisch jüdischen Komponenten im Werk Prager deutscher Autoren) und erwägt bei jeder der genannten rezeptiven Behauptungen deren empirisch-faktografische Messbarkeit bzw. deren – auf den Texten der Prager deutschen Literatur selbst fußende – „Mythen-Trächtigkeit“.
Die Auseinandersetzung mit freimaurerischen Themen hat in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bekanntlich auch in Texten ihren Niederschlag gefunden, die sich an Schnittstellen der freimaurerischen Literatur und des Schaffens literarisch-philosophisch etablierter Autoren befanden, als solche später mitkanonisiert und als repräsentativ für freimaurerische Problemlagen ausgelegt wurden. [...] Das historisch Kontingente - das Enttäuschende des Logenalltags - wird durch dessen nicht-freimaurerische Theorie nicht nur korrigiert, sondern restlos beseitigt. In dem Maße, wie sich das Geheimnis als inhaltslos zu erkennen gibt, wird Freimaureltum zum leeren Namen. Womit jedoch ein Soziales, das von geheimen Gesellschaften dauernd akzentuierte Bewusstsein, Gesellschaft zu sein verloren geht. Für die freimaurerische Quantitätssteigerung von Soziabilität - für deren spezifische Verschärfung der Zwischenlage zwischen Individuum und Gesellschaft - hat, so die hier zu entwickelnde Ansicht, nicht die (eh unzugängliche) historische Praxis des Freimaurertums an sich einzustehen. Es muss da noch mehr geben, z.B. andere Sprach- und Theorieregister, die gewissermaßen zwischen dem historisch Kontingenten und dem allgemein Historischen zu liegen kommen. Hier gilt es anzusetzen. Gesucht wird ein Verständnis, nicht des Sozialen im Allgemeinen, vielmehr der Ausgestaltung des Sozialen unterhalb makrosoziologischer Perspektiven. Eine Erfassung des Institutionellen, das nicht lediglich mit der Geschichte von Logen, aber auch nicht mit dem Prinzip selbst zusammenfällt, eher zu deren Schnittstelle wird. An der sich die organisatorische Potenz der Institution als eines Dritten (das nicht nur Ritual und auch nicht nur Literatur ist) entäußert. Unter diesem Blickwinkel werden im Folgenden Herders Annäherungen ans Problem des Freimaurertums gesichtet und ausgewertet.
An talentierten Literaten hat es im klassischen Weimar sicherlich nicht gemangelt - aber auch an streitbaren Männern (und Frauen) nicht. Mag der Literatur- und Bildungskanon des 19. Jahrhunderts hierüber einige zeit hinweggetäuscht haben, es wurden - spätestens mit Anbruch der Sozialgeschichte - auch andere Karten aufgedeckt, womit nicht lediglich die auf beiden Seiten der deutsch-deutschen Grenze verlaufende literaturhistorische Entdeckung des Klassenkamfes gemeint ist, vielmehr dessen spätere, macht- und institutionspolitische Aspekte berücksichtigende Version der beachtung 'feiner Unterschiede'. [...] Es ist klar geworden, dass es sich im wirkmächtigsten Dichterbund der deutschsprachigen Literaturgeschichte um ein Tun "nicht füreinander, sondern sehr viel mehr gegen die anderen" handelte; dass sich hinter der Nachbarschaft „die Front Schillers und Goethes gegen den Rest der dichtenden Welt, besonders gegen Weimaraner und jene in Jena“ - Berlin, Halle etc. - verbarg. [...] Die nachfolgenden Überlegungen sind einer der literarischen Episoden dieses Konflikts gewidmet.
Was ist „deutschmährische Literatur“? Versuch der Definition eines unselbstverständlichen Objektes
(2011)
Trotz geringem gesellschaftlichem Auftrag beschäftigt sich die „Olmützer Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur “ seit 1998 mit dieser Literatur und ist seit ihrer Gründung einem Rechtfertigungszwang ausgesetzt, der durch bloßes heuristisches Forschen nicht befriedigt werden kann. Alle in der Arbeitsstelle entstandenen Aufsätze, Studien, Dissertationen, Sammelbände gehen – mehr oder weniger dezidiert, mehr oder weniger polemisch – auf den Legitimierungszwang ein und versuchen ihr Objekt zu definieren, dem etwaigen Publikum plausibel zu machen und die Beschäftigung mit ihm zu rechtfertigen. Abhängig vom Thema einzelner Studien werden verschiedene Akzente gesetzt, doch manche Punkte wiederholen sich leitmotivisch. Diese neuralgischen Stellen müssen erst bedacht und beschrieben werden, bevor ein definitionstüchtiges Fazit formuliert werden kann.
Alles, was einen Sauer-, Nadler-, Kafka-, Schnitzler-Forscher, einen Romantik-, einen Methodologie- und Germanistik-Historiker, einen Kenner der Prager deutschen Literatur an Körner interessieren könnte, ist bereits – in früherer und neuester Zeit – von Eisner, Fischer, Wellek, Klausnitzer, Eichner, Krolop, Fliegl, Härtl, Sauder, Fohrmann gesagt worden. Freilich nicht in zusammenfassender Art etwa eines würdigenden Sammelbandes: Eine selbständige Körner-Tagung und ein Körner-Sammelband würden sich lohnen, denn auf einem solch zeitlich wie räumlich breiter abgesteckten Feld könnte man die (in den genannten Schriften manchmal nur angedeuteten) Thesen und Themen des Körnerschen Werkes breiter ausführen, die methodologischen und weltanschaulichen Kämpfe innerhalb der germanistischen Kreise seit Scherer beleuchten, die Positionen der Prager germanistischen Ordinarien innerhalb dieser Kreise absteckten, das komplizierte Knäuel der deutsch-tschechisch-jüdischen Beziehungen im Prag der Zwischenkriegszeit ansatzweise entwirren. Außerdem verdient Josef Körner, ein großer Kenner der deutschen Romantik, glücklicher Entdecker und verlässlicher Herausgeber verschollen geglaubter romantischer Texte, bissiger, brillianter Rezensent, schonungsloser Kritiker aller Verstöße seiner germanistischen Zeitgenossen gegen wissenschaftliche Sauberkeit, fleißiger Begleiter neuester Literatur und Literaturwissenschaft, Josef Körner, ein bezugsreicher Mann, der am Ende sein Leben und Werk trotzdem nicht anders bewerten konnte als einen Scherbenhaufen, verdient unsere Aufmerksamkeit und Erinnerung.
Wer wüsste nicht, was ein Märchen ist, eine irgendwie sehr alte, mündlich überlieferte und formelhaft erzählte Geschichte von kleinen Helden, die inmitten von selbstverständlichen Wundern und bösen Widersachern groß herauskommen und am Ende belohnt werden. Märchen, das sind für uns vor allem Zaubermärchen, die dem Wunderbarem ganz beiläufig Raum lassen und dem Prinzip der poetischen Gerechtigkeit folgen, wo der Beste die Schönste bekommt und alles gut ausgeht. Sie haben etwas, das sie mit Mythen und Träumen verbindet, schon weil ihre Figuren aus alter Zeit zu stammen scheinen, stark typisiert sind und entweder arme Leute oder gleich König und Königin darstellen. Mit den immer selben Figuren und Handlungsmotiven erzählen Märchen einfach und meist knapp entlang des Geschehensverlaufs. Ereignis reiht sich an Ereignis;psychologische Begründungen fallen hier aus. Alles passiert auf der Oberfläche der Handlung geradezu unmittelbar. Und die, die in solchen einfachen Formen erzählen, das sind Leute aus dem Volk, besonders die Frauen, genauer noch eher die alten und die vom Lande. Schließlich sind Märchen für Kinder da. "Kinder brauchen Märchen" wurde die deutsche Ausgabe des Erfolgsbuchs des deutsch-amerikanischen Psychoanalytikers Bruno Bettelheim überschrieben, und das haben dann viele bis heute übernommen. Weil Märchen gut ausgehen und das Wunder wie eine Selbstverständlichkeit behandeln, fördern Märchen die kindliche Kreativität und Moralität wie keine andere Gattung. Märchen sind also gut und machen ihre kleinen wie großen Leser glücklich. Von alledem sind wir überzeugt.
Während Kästner und Schwabe die damals als relevant betrachteten Reiseliteraturen verzeichnen, beginnt sich diese Textgattung ihrerseits fundamental zu wandeln. Sie wird zu Literatur in einem engeren schönen Sinn, der mit den praktischen Anforderungen an diese Gattung nur noch wenig zu tun hat. Die Unwägbarkeiten der Reise treten zurück. Das Stichwort, unter dem dieser Wandel zumeist verzeichnet wird, ist das der Subjektivierung. Gemeint ist jener Moment im Übergang zur Neuzeit, an dem es scheint, als sei die Literatur der herausragende Ort, an dem der Mensch ganz bei sich selbst ist. Während er sonst überall nur entweder Standesbürger ist, Wirtschaftssubjekt oder Untertan, ist er in den Künsten und besonders in der Literatur nur Mensch. Paradigmatisch dafür steht ein Buch, das Erfolgsbuch des r8. Jahrhunderts neben Jean-Jacques Rousseaus Jahrhundertroman Nouvelle Héloïse: Gemeint ist Laurence Sternes Roman A Sentimental Journey Through France and ltaly, 1768 zum ersten Mal erschienen und in die europäischen Sprachen zumeist noch im selben Jahr übersetzt, so auch ins Deutsche durch Johann Joachim Christoph Bode. Anders als es der Titel erwarten lässt, tritt in Sternes Roman die Reisewirklichkeit hinter die angedeuteten, zumeist amourösen Begegnungen des Helden zurück. Kutschfahrten sind hier ebenso wie Gasthäuser Anlässe für verliebte Treffen und empfindsame Andeutungen, haben aber mit den praktischen Fährnissen des Reisens kaum mehr etwas zu tun. Alles ist hier ins Subjektive gewendet. Diese Wendung der Reise nach innen ist die eine Seite der Veränderungen in der Gattung der Reiseliteratur.
Gerhard Lauers Beitrag […] beschreibt den besonderen Fall eines romantischen Dichters, dem die „romantische Kunst selbst […] zum Problem [wird]“ weil sie seiner Meinung nach zu wenig Religion beinhalte, und der sich deshalb entscheide, nicht mehr autonomer Dichter zu sein, sondern als „Schreiber […] nur noch Religion zu betreiben.“ Das Ergebnis dieser Tilgung der Kunst zugunsten der Religion seien dann Brentanos über viele Jahre „in Dülmer Abgeschiedenheit“ angefertigten Aufzeichnungen der „gottseligen Anna Katharina Emmerick über das bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi“. Doch kehre [a]uf der Rückseite des Wunsches kein Autor mehr zu sein, kein Werk mehr zu schreiben und keine Kunst mehr zu betreiben, sondern nur noch der Religion zu dienen, […] die spezifische moderne Ästhetisierung nur wieder. Im Rahmen einer sozialgeschichtlichen und literatursoziologischen Kontextualisierung von Brentanos Text weist Lauer auf die umfassende Ästhetisierung und Verbürgerlichung der Lebenswelt hin, die auch eine Ästhetisierung der Religion umfasse. Doch brauche nicht nur die Religion die Kunst, „um im Staat die vergesellschaftende Wirkung zu entfalten“, ebenso brauche die Kunst auch die Religion, „um gesellschaftlich bedeutsam sein zu können. Das ist das neue Muster des 19. Jahrhunderts und auch das Muster Clemens Brentanos.“
Koreferenzielle Pro-Formen im Deutschen und Italienischen : Analyse von Korpora gesprochener Sprache
(2011)
Gegenstand dieses Beitrags ist die vergleichende Untersuchung von deutschen und italienischen verweisenden Pronomen. Für das Deutsche wird die Alternanz zwischen der/die/ das (im Folgenden d-Pronomen; vgl. Ahrenholz 2007 und Wiltschko 1998) und Personalpronomen betrachtet. Für das Italienische werden Demonstrativ- und Personalpronomen (freie und klitische) untersucht. In vorherigen Forschungsarbeiten wurde auf semantische, syntaktische und pragmatische Bedingungen hingewiesen, die das Vorkommen von d-Pronomen anstatt anderer Pronominalformen wie z.B. den Personalpronomen im Deutschen stark begünstigen (vgl. dazu Ravetto 2009). Ziel dieser Arbeit ist, zu überprüfen, ob in den zwei Vergleichssprachen ähnliche Tendenzen bzw. Bedingungen zu beobachten sind, die mit der Wahl der jeweiligen verweisenden Form verknüpft sind.
Neue Vorschläge in der Valenzlexikographie am Beispiel des spanisch-deutschen Verbvalenzwörterbuchs
(2011)
"Alle Museen, nur nicht die Kunstmuseen, sind Friedhöfe der Dinge", schreibt Boris Groys in seinem Buch 'Logik der Sammlung', denn was in Museen gesammelt wird, "ist seiner Lebensfunktion beraubt, also tot. Das Leben des Kunstwerks beginnt dagegen erst im Museum". Doch gilt dies auch für das literarische Kunstwerk? Offensichtlich nicht. Literarische Kunstwerke muss man lesend erfassen: unter einem Baum sitzend, auf einem Sofa liegend, im Stehen, während man auf den Bus wartet. Literatur kann man nicht betrachten wie ein Bild, wie eine Skulptur – sie besitzt als ein Objekt, das sich erst im Vollzug von Leseakten konstituiert, zunächst einmal überhaupt keinen Bildcharakter und mithin überhaupt keinen Ausstellungswert: Ein Buch, das man nur anschaut, bleibt tot. Erst wenn man es aufschlägt, darin blättert, darin liest, wird es lebendig. Mit einem Wort: Bei einem Text gibt es nichts zu sehen! Ein Umstand, der auch von einigen Ausstellungsmacherinnen schmerzlich bemerkt wird. [...] Umso dringlicher stellt sich die Frage, wie sich Literatur – sei es in Form von Büchern, sei es in Form von Texten, die vor, nach oder neben der Buchwerdung von Literatur existieren - im musealen Bühnenrahmen in Szene setzen lässt: Wie kann das Museum zu einem "Schauplatz" von Literatur werden?
Was zeigt man, wenn man 'Literatur' zeigt – und was zeigt sich im Rahmen dieser "Schau"?
Logik der Streichung
(2011)
Was meinen wir eigentlich, wenn wir sagen: Ein Wort, ein Satz, ein Abschnitt, eine Seite wurde gestrichen. Was ist, mit anderen Worten, das Synonym dessen, was wir als Streichen bezeichnen? Es gibt verschiedene Möglichkeiten: Man kann das Streichen als ein Löschen, als ein Tilgen begreifen. Oder aber als Spur eines korrigierenden Überarbeitens: eines Umschreibens im Sinne des Ersetzens und Kürzens, aber auch im Sinne eines Überschreibens.
Schreiben hat den Charakter eines intentionalen Aktes – es setzt die willentliche Entscheidung zur Produktion und zur Positionierung einer Buchstabenfolge voraus. Auch das Streichen hat den Charakter eines intentionalen Aktes – nämlich die bereits produzierten Buchstabenfolgen willentlich zu verneinen, sie zu verwerfen. Almuth Gresillon spricht im Kapitel "La rature " ihres Buchs "La mise en ceuvre" von der "existence double", die der graphischen Materialitat der Streichung einen ambivalenten Charakter verleiht.
Diese doppelte Existenz der Streichung - worin besteht sie?
Erstens: Streichungen hinterlassen sichtbare Spuren auf dem Papier.
Zweitens: Schreibspuren werden durch eine Streichung nicht annulliert.
Im 48. Kapitel von Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" lesen wir folgende Beschreibung des deutschen Finanzmagnaten und 'Großschriftstellers' Paul Arnheim: "Die Ausflüge in Gebiete der Wissenschaften, die er unternahm, um seine allgemeinen Auffassungen zu stützen, genügten freilich nicht immer den strengsten Anforderungen. Sie zeigten wohl ein spielendes Verfügen über eine große Belesenheit, aber der Fachmann fand unweigerlich in ihnen jene kleinen Unrichtigkeiten und Mißverständnisse, an denen man eine Dilettantenarbeit so genau erkennen kann, wie sich schon an der Naht ein Kleid, das von der Hausschneiderin gemacht ist, von einem unterscheiden läßt, das aus einem richtigen Atelier stammt. Nur darf man durchaus nicht glauben, daß das Fachleute hinderte, Arnheim zu bewundern." Auch wenn es so scheinen mag, als werde mit diesem Zitat der Rahmen der romantischen Schöpfungsästhetik gesprengt: Hier klingen einige Leitmotive nach, die 'um 1800' die Auseinandersetzung um den 'wahren Künstler' bestimmen. So könnte man fragen, ob der Großschriftsteller Arnheim in der zitierten Passage nicht nur als Dilettant, sondern auch als Virtuose markiert .wird. Als dilettantischer Nicht-Fachmann genügt er nicht immer den "strengsten Anforderungen", zeichnet sich aber durch ein "spielendes Verfügen" über sein angelesenes Wissen aus. Deutet der Umstand, dass ihn die Fachleute bewundern, darauf hin, dass Arnheims "spielendes Verfügen" als virtuose Verbindungsgabe Ansehen findet, auch wenn die Nahtstellen die Dilettantenarbeit erkennen lassen? Und warum wird die Dilettantenarbeit mit der Naht der Hausschneiderin in Analogie gesetzt? Ganz abgesehen davon, dass mit der Maßschneiderei generell das Problem der Angemessenheit aufgeworfen wird: Warum sollte die Hausschneiderin schlechter nähen als das richtige Atelier?
Das Phänomen Pornografie hat viele Seiten. Man kann die soziale Zirkulation von Pornografie untersuchen, kognitive Voraussetzungen und Folgen ihres Konsums erklären, Rechtsnormen für den Umgang mit ihr aufstellen oder Darstellungsverfahren und Inszenierungsformen pornografischer Werke beschreiben. Dem letztgenannten Aspekt gelten die folgenden Überlegungen. […] Es wird keiner der üblichen Gründe in Anspruch genommen, um sich mit Pornografie zu beschäftigen – nämlich die Pornografie insgeheim in etwas anderes, Unproblematischeres zu verwandeln oder sie ästhetisch oder politisch aufzuwerten oder aber sie ideologiekritisch zu entlarven. Ich möchte Pornografie weder feiern noch verwerfen, sondern beschreiben. Mein Interesse gilt der Art und Weise, wie schlichte pornografische Interneterzählungen von Amateur-Autoren gemacht sind. Die Machart von Pornografie ist von ihren gesellschaftlichen Funktionen und psychologischen Wirkungen zu unterscheiden und verlangt nach eigenständiger Untersuchung. Denn die Zuweisung von Funktionen und Wirkungen hängt davon ab, wie Pornografie als sinnhaftes Phänomen konstituiert und angeeignet wird.
Figur
(2011)
Wenn literarische Geschichten ('mythoi') gemäß der Bestimmung des Aristoteles "menschliche Handlungen" darstellen ('mimesis praxeōs'; Aristoteles 1982, 1449b), dann sind die Akteure dieser Handlungen zweifellos ein zentrales Element von Erzählungen, genauer gesagt: eine Grundkomponente der erzählten Welt (Diegese). Die Bewohner der fiktiven Welten fiktionaler Erzählungen nennt man 'Figuren' (engl. 'characters'), um den kategorialen Unterschied gegenüber 'Personen' (oder 'Menschen') hervorzuheben. Autoren fiktionaler Texte erfinden Figuren, Autoren faktualer Texte berichten von Personen. Aus diesem Unterschied folgen einige Besonderheiten, die Figuren. Fiktionaler literarischer Welten sowohl von der Darstellung realer Personen in faktualen Texten wie auch von der Wahrnehmung realer Personen in unserer Alltagswelt unterscheiden.
Figuren müssen nicht menschlich oder menschenähnlich sein. Viele literarische Akteure besitzen phantastische Qualitäten, die mit dem Begriff einer Person unvereinbar sind – man denke an die tierischen Handlungsträger in Fabeln. Selbst unbelebte Dinge wie Roboter in der Science Fiction oder die titelgebenden Protagonisten des Grimmschen Märchens "Strohhalm, Kohle und Bohne" können in der Fiktion zu Handlungsträgern und damit zu Figuren werden. Gibt es überhaupt eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Textelement als eine Figur gelten kann? Das einzige unerlässliche Merkmal für den Status einer Figur ist wohl. dass man ihr Intentionalität, also mentale Zustände (Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Wünsche, Absichten) zuschreiben können muss.
Erzählen
(2011)
Was ist Erzählen? Erzählen ist eine sprachliche Handlung: Jemand erzählt jemandem eine Geschichte. An dieser Handlung lassen sich – in Analogie zu der linguistischen Grundeinteilung zwischen der Pragmatik, Semantik und Syntax der Sprache – drei Dimensionen unterscheiden.
(a) Erstens ist das Erzählen eine Sprachhandlung, die in einem bestimmten Kontext zwischen einem Erzähler und einem oder mehreren Rezipienten stattfindet. Diese Kommunikation kann unterschiedlich gestaltet sein, beispielsweise als mündliches Erzählen mit kopräsenten Gesprächsteilnehmern oder zerdehnt als schriftlicher Kontakt zwischen räumlich und zeitlich voneinander entfernten Autoren und Lesern. Die Praxis des Erzählens kann unterschiedlichen Funktionen dienen: Man kann erzählend informieren, unterhalten oder belehren, moralisch unterweisen, geistlich stärken oder politisch indoktrinieren, Erzählgemeinschaften bilden, individuelle oder kollektive Identität en stiften usw. Pragmatische Aspekte des Erzählens stehen insbesondere bei der Untersuchung nicht-literarischer ›Wirklichkeitserzählung en‹ (Klein/Martínez 2010) im Vordergrund, also beim Erzählen in institutionellen, quasi-institutionellen und alltäglichen Situationen, etwa Gerichtserzählungen, Predigten, Krankheitsgeschichten beim Arzt oder Therapeuten, journalistischen Reportagen oder dem Klatsch unter Arbeitskollegen.
(b) Eine zweite Dimension der Erzählhandlung umfasst das, was mitgeteilt wird: den Erzählinhalt, nämlich bestimmte Figuren, Schauplätze und Ereignisse, die sich zu einer Geschichte zusammenfügen.
(c) Drittens schließlich ist das ›Wie‹ des Erzählens von Interesse, die Gestaltungsweise der Erzählung. Dazu gehören rhetorische und stilistische Mittel, aber auch die verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten der Erzählstimme, etwa der aus dem Text erschließbare ›Standort‹ des Erzähler s (der sich innerhalb innerhalb oder außerhalb seiner eigenen Geschichte befinden kann), das Verhältnis zwischen dem Zeitpunkt des Erzählens und dem Zeitpunkt der erzählten Handlung oder auch die Perspektive der Darstellung. Während die erste Dimension den pragmatischen Kontext des Erzählens umfasst, betreffen der Erzählinhalt (das ›Was‹) und die Erzählweise (das ›Wie‹) textinterne Aspekte.
At the time when the East appears as sunrise in Insayif's novel, when it appears as Arabic word, as text image in the German text, memories gain contour in the same way as words do. It is all about words and memories in the text, it is about (not) being able to speak, it is about losing language and memory, it is about writing, speaking and reciting within the realm of the in-between of languages and cultures. Emanating from the first-person narrator the text unfolds nuances and facets of life stories as textures of memories, as language- and sound tissues quasi. Referring to those poetic and rhetorical aspects of the text, I undertake a reading that is based on postcolonial and deconstructive approaches as well as on theories of memory. My reading tries to both react to the demands and specificities of Insayif's text in all of its various facets of betweenness as well as to fathom perspectives that might be significant for the 'Zeitenwende'.
Judith Butlers Konzept der Performativität, das sie in "Das Unbehagen der Geschlechter" (1990) und "Körper von Gewicht" (1993) entwickelt. beleuchtet den Prozess der Konstruktion der Geschlechtsidentität und zugleich deren Destabilisierung über Begriffe und Strategien wie 'Parodie', 'drag' oder 'cross-dressing', die auf eine wiederholende Imitation dieser Identität verweisen. Der performative Akt der Nachahmung wird von Butler als kulturelle Simulation gefasst. die die Vorstellung eines 'natürlichen' Originals allererst hervorbringt. Ähnlich und ebenso signifikant ist dieses Moment der Imitation als Simulation Homi Bhabhas Konzeption der kolonialen mimikry eingeschrieben. In seinem Aufsatz "Von Mimikry und Menschen" geht es darum aufzuzeigen. wie die verschiebende Wiederholung europäischer Normen durch die Kolonisierten – der Vorgang. den er als 'mimikry' bezeichnet – die imaginäre Identität der KolonisatorInnen destabilisiert und damit auch in gewissem Maße subvertiert.
Professionelle Fehlerkompetenz von Lehrkräften – Wissen über Schülerfehler und deren Ursachen
(2011)
Die Ergebnisse nationaler und internationaler Vergleichsstudien rücken das Thema Bildungsqualität in den letzten Jahren vermehrt in den Blickpunkt öffentlicher und wissenschaftlicher Diskussion und führen zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit Bedingungen des Ge- bzw. Misslingens von Schülerlernen. Als bedeutsamer Einflussfaktor auf den Lernerfolg wird dabei die Lehrperson bzw. deren Kompetenz ausgemacht (vgl. bspw. Blömeke, Kaiser & Lehmann 2008; Lankes 2008; Schaper & Hochholdinger 2006; Zlatkin-Troitschanskaia, Beck, Sembill, Nickolaus & Mulder 2009). In der Folge dieser Diskussion werden deshalb nicht mehr nur Leistungs- und Kompetenzerwartungen als Standards für Lernende, sondern auch für Lehrende definiert (vgl. bspw. Terhart 2006). Die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragen sind allerdings nicht neu (vgl. z.B. Cochran-Smith 2001), stellt doch das Expertenparadigma bereits seit den 1980er Jahren eine der zentralen Leitlinien der empirischen Bildungsforschung dar. ...
Im Marktflecken Thannhausen bei Augsburg, der in einer adligen Enklave im markgräflich Burgauischen Mindeltal lag, existierte um 1600 eine für diese Zeit beachtlich große jüdische Landgemeinde, die mit ihren etwa dreißig Haushaltungen nach der Vertreibung der Juden aus Günzburg und Burgau 1617/18 die zahlenmäßig stärkste Gemeinde in Schwaben darstellte. An Chanukka des Jahres 5372, Anfang Dezember 1611 christlicher Zeitrechnung, kam dort ein Rechtsstreit zwischen der jüdischen Gemeinde zu Thannhausen und ihrem Schtadlan Kofman vor ein jüdisches Schiedsgericht. Es ging um die Entlohnung Kofmans für eine Mission, auf die ihn die Gemeinde im Frühsommer desselben Jahres nach Prag entsandt hatte, um bei der Ortsherrschaft ihre Interessen zu vertreten. Der Prozess, der zu den wenigen Schiedsgerichtsverfahren dieser Zeit gehört, deren Protokolle weitgehend erhalten sind, soll hier untersucht werden; dabei wird jedoch weniger das Verfahren oder der Gegenstand des Prozesses als solcher, die Auseinandersetzung um Kofmans Lohn, im Mittelpunkt stehen, als vielmehr der Konflikt um die Interpretation der Rolle des Schtadlan, des Fürsprechers der Gemeinde bei der Obrigkeit, durch die beiden Prozessparteien. Die Deutungen, wie sie in den Aussagen der Prozessbeteiligten artikuliert werden, weichen in erheblichem Maße von der in der Forschung vorherrschenden Darstellung des Amtes des Schtadlan in der Frühneuzeit ab – ebenso wie die Definition der Tätigkeit, die der bekannteste Fürsprecher des 16. Jahrhunderts, Josel von Rosheim, in seiner Korrespondenz und in seiner Chronik für sich verwandte. Aussagen der Beteiligten, Auftraggeber und Funktionsträger, sollen hier also auf die Frage nach Amt, Funktion und Titel des Schtadlan im 16. Jahrhundert im Lichte ihrer jeweiligen subjektiven Wahrnehmung der Vorgänge hin analysiert werden.
Seit einigen Jahren ist nicht nur eine Oszillationsbewegung zwischen Theoriekonjunktur und Theorieabgesang zu beobachten, sondern auch die stete Klage über Theoriemoden zu hören, die dazu führen, dass bestimmte Schlüsselbegriffe inflationär gebraucht – und damit gleichsam ver-braucht werden. Schlüsselbegriffe, die weniger für ein konzises Forschungsprogramm, sondern eher für ein Bündel von Herangehensweisen und Aufmerksamkeitsfokussierungen stehen: Zeichen, Diskurs, Differenz, System, Medium, Performanz, Körper, Materialität fungieren als "Travelling Concepts'', die den Prozess der Theoriebildung in Gang halten, dabei allerdings auch deutliche Verschleißspuren davontragen – so wie, um im Bild zu bleiben: der Reisekoffer. Freilich treten nicht nur Begriffe, sondern (Blumenberg lässt grüßen!) sehr häufig auch Metaphern die Reise auf den verschlungenen Wegen der Kulturforschung an. Diese Metaphern sind mehr als Vehikel, sie sind Motoren, genauer gesagt: Katalysatoren von Theoriebildungsprozessen, durch die sowohl Gegenstandsbereiche als auch Herangehensweisen (und damit verbunden: Fragestellungen) modelliert werden. Zwei dieser Metaphern möchte ich im folgenden Untersuchen: Hybridität und Aufpfropfung.
The conference paper interprets Spinoza's concept of “sola scriptura” as a reductio ad absurdum of historicalcritical approaches to text interpretation. It shows that despite Spinoza's emphasis on the revelatory function of scripture and despite his claim that there is only one method of reading it, he intently and distinctly undermines this very hermeneutics as unreliable and incompatible with both reason and truth. The text follows the central intuition that for Spinoza, this insuffiency of hermeneutics accounts for its political potential, as a means of uncoupling politics and theology.
Versetzen, Einfügen, Einwachsen – das sind die Umschreibungen der Aufpfropfung als einer Agrartechnik, mit der seit der Antike […] Pflanzen veredelt werden. Veredeln heißt dabei zum einen: Kultivieren, impliziert also eine qualitative Steigerung durch einen technischen Eingriff; zum anderen bedeutet Veredeln aber auch Konservieren: durch ein Verfahren der nicht-sexuellen, künstlichen Fortpflanzung Kopien herstellen und so das Veredelte in Kopie bewahren. Die Reproduktion fungiert mithin als eine Art ›Massenspeicher‹ des bereits Kultivierten. […] Im Folgenden möchte ich […] der Frage nachgehen, inwiefern sich Kultur als Pfropfung und Pfropfung als Kulturmodell begreifen lässt: In welcher Weise und in welchem Zusammenhang wurde und wird die Aufpfropfung als Metapher für kulturelle Prozesse, Praktiken und Produkte in Dienst genommen? Wie setzt sich der Begriff des Pfropfens gegen den momentan fast inflationär gebrauchten Begriff des Hybridisierens ab? Welchen intellektuellen Mehrwert bringt der Rekurs auf den Pfropfungsbegriff für poetologische, philosophische, interkulturelle, aber auch wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen? Anders gewendet: Was trägt das Aufpfropfungsmodell zum Verständnis von Kultur als Kulturprozess bei?