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Am Zentralinstitut für Literaturgeschichte (ZIL) der Akademie der Wissenschaften der DDR arbeitete seit 1976 eine von Peter Weber geleitete Arbeitsgruppe an einem "Kunstperiode" genannten Projekt, dessen Ergebnisse 1982 in einem Sammelband der vom ZIL im Akademie-Verlag herausgegebenen Reihe Literatur und Gesellschaft publiziert wurden. Den einzelnen Studien zur deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts der ProjektmitarbeiterInnen - zu Beziehungen von Ökonomie, Staatskritik und Kunstidee in der Rezeption von Adam Smith (Anneliese Klingenberg), zur frühen geschichtsphilosophischen Konzeption von Friedrich Schlegel (Gerda Heinrich), zu Goethes Theatralischer Sendung und Lehrjahren (Hans-Ulrich Kühl) und zu Problemen der Jean-Paul-Interpretation (Dorothea Böck) - war eine "Einleitung: 'Kunstperiode' als literarhistorischer Begriff" des Projektleiters vorangestellt, die in den Mittelpunkt einer vergleichsweise breiten Diskussion in der Fachöffentlichkeit geriet. Sie wurde nicht nur dadurch ausgelöst, dass Weber, der am Band 7 1789 bis 1830 der offiziellen Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart "[v]erantwortlich für den Teil 1789 bis 1794" mitgeschrieben hatte, für "die deutsche Literaturentwicklung zwischen ausgehender Aufklärung und Vormärz", für die "kein eigentlicher Periodenbegriff gebräuchlich" sei, einen Periodisierungsvorschlag machte: Kunstperiode, sondern auch durch dessen methodologische Begründung. Insbesondere diese erwies Weber als Vertreter einer der beiden Richtungen, in die sich die DDR-Literaturwissenschaft in den 1970er Jahren differenziert und auch polarisiert hatte mit "zwei verschieden akzentuierte[n] Literaturbegriffe[n]", die Wolfgang Thierse und Dieter Kliche in einer in den Weimarer Beiträgen 1985 publizierten, zunächst internen Auftragsarbeit zur Entwicklung der "Positionen und Methoden" der "DDR-Literaturwissenschaft in den siebziger Jahren" konstatierten: "ein historisch-funktionaler und ein an 'Dichtung' orientierter, denen jeweils unterschiedliche methodische Konsequenzen für die Literaturgeschichtsschreibung immanent sind". In diesem Papier erscheint der "Band 'Kunstperiode'" nach Arbeiten von Rainer Rosenberg zum Vormärz und zur literarischen Kultur der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert
Totalität
(2022)
Aus dem weiten Bedeutungshorizont des philosophischen Terminus soll im Folgenden 'Totalität' vor allem als Begriff in einer bestimmten neuzeitlichen Theorietradition thematisiert werden, in der er besonders prominent ist, und zwar in der zunächst im deutschen Idealismus verwendeten, dann vornehmlich im westlichen Marxismus prominent werdenden dialektischen Philosophie, wobei Gesellschaft zum paradigmatischen Gegenstand wird. Von Hölderlin über Hegel bis zu Lukács und Adorno lässt sich die Kategorie der Totalität wiederholt als eine dem Ideal des Kunstwerkes entlehnte erkennen. Beim jungen Hegel heißt es: "Jede Philosophie ist in sich vollendet und hat, wie ein echtes Kunstwerk, die Totalität in sich." Dennoch wäre es verfehlt, den philosophischen Gehalt von 'Totalität' allein als eine Übertragung von der Kunst auf die Gesellschaft anzusehen. [...] Bei dem hier interessierenden Begriff der Totalität geht es um die vermittelt gedachte, nicht um die unmittelbar geschaute oder gefühlte Einheit der Welt. Auf andere, seltenere Verwendungen, etwa Alexander von Humboldts eher in der Anschauung gegründeten, panoramatisch auf die "Totalität der Naturanschauung" gerichteten Gebrauch, wird hier nicht näher eingegangen. Hegels berühmtes Diktum: "Das Wahre ist das Ganze" jedoch gehört ganz wesentlich zu dieser Theorietradition, auch wenn er das Wort Totalität an dieser Stelle selbst nicht verwendet. Die Bestimmung: "Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen" ist die wesentliche Denkfigur, die auch Hegel selbst später mit dem Terminus Totalität gefasst hat. Die Debatten um den Begriff sind seit den 1920er Jahren, worauf am Ende einzugehen sein wird, zugleich hochpolitisch, was die morphologische und semantische Nähe von 'Totalität' als philosophischer Kategorie und 'Totalitarismus' als politischem Schlagwort zeigt.
In der vorhandenen Sekundärliteratur zu Georg Lukács' "vormarxistischem" Frühwerk findet man allzu oft Interpretationen, die - wie Christian Schneider einmal treffend notierte - "einsinnig auf den Zügen von Lukács' theoretischer Physiognomik" insistieren, "die eine lineare Konstruktion des Gesamtbilds erlauben". Manchmal zeitigte zwar diese Forschungslinie wichtige Befunde - aus heutiger Sicht muss sie aber als unangemessen betrachtet werden, da sie den Fokus der Interpretation verengte: Unabhängig davon, von welcher ideologischen Warte aus Lukács' marxistische Wende Ende 1918 positiv oder negativ beurteilt wurde, suchte man aus dem Frühwerk hauptsächlich diejenigen Elemente heraus, die seine Entwicklung zum späteren marxistischen Werk dem Anschein nach verständlich machten. Gleichwohl kann man vielleicht nach dem Ende des Kalten Krieges ohne Vorentscheidungen an die frühen Texte Lukács' herangehen; man kann zumindest versuchen, sie neu zu verstehen, was sich eventuell von Vorteil auch für ein neues Verständnis seiner späteren intellektuellen Entwicklung erweisen könnte. Das Frühwerk Lukács' ist geprägt von einer inneren Verbindung zwischen einer starken kulturkritischen Empfindlichkeit und einem lebhaften literaturwissenschaftlichen Interesse. Lukács' Hauptidee ist einfach: Er diagnostiziert eine grundlegende Problematik der modernen Kultur, deren Widerspiegelungen an den modernen literarischen Formen "abgelesen" werden können. Letztere sind von derselben romantischen "Frivolität" wie das relativistische Zeitalter charakterisiert, in dem sie erscheinen. Diese Entsprechung zwischen der Problematik der modernen literarischen Formen und der modernen Sozial- und Kulturstrukturen war schon Lukács' Leitidee in seinem Erstlingswerk 'Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas'. In seinem zweiten Buch 'Die Seele und die Formen' - das neben der Theorie des Romans von 1916 zu den berühmtesten seines Frühwerks zählt -, versuchte er dann durch eine "metaphysische Vertiefung" die weltanschaulichen Kriterien seiner Kulturkritik der Moderne essayistisch zu untermauern. Im Folgenden möchte ich mich auf diesen Essayband konzentrieren, um - gestützt auf die Interpretationslinie, die ich anderswo umrissen habe - eine neue, umfassende Lektüre dieses Werks vorzuschlagen.
Der junge Lukács und Goethe
(2017)
Ulisse Dogà wendet sich dem Stellenwert Goethes im Frühwerk von Georg Lukács zu und widerspricht der gängigen Forschungsmeinung, die ein konsequentes Interesse von Lukács an Goethe erst mit der marxistischen Phase seines Denkens einsetzen lässt. Entgegen dieser 'paulinischen' Bekehrungsfigur weist er Goethe als problematischen und ambivalenten, durchaus aber zentralen Referenzautor bereits in Lukács' Schriften zum Drama, in der Aufsatzsammlung "Die Seele und die Formen" (1909) und in der bekannten "Theorie des Romans" (1920) aus. Anhand seiner Goethe-Lektüren zeige sich auch die verborgene Kontinuität von Lukács' Denken. Eine Identität von Subjekt und Objekt, die beim marxistischen Lukács die proletarische Revolution herzustellen habe, bilde nämlich schon im Frühwerk den Hintergrund, vor dem Goethe analysiert und beurteilt werde. Seine Überlegungen zu Goethe lasse Lukács systematisch in eine geschichtsphilosophische Reflexion formästhetischer Fragen ein. Betrachte er das Goethe'sche Drama als 'unfertig', da es "das Verhältnis von Held und Schicksal ungeklärt" lasse und die Diskrepanz zwischen Individuum und Geschichte die dramatische Form in lyrische und epische Bestandteile zerlege, so habe Goethe "Wilhelm Meisters Lehrjahre" als einen Kompromiss zwischen dem Idealismus des "Don Quichotte" und der Desillusionsromantik der "Éducation sentimentale" angelegt. Mittels der Ironie komme es hier zu einer schwierigen Versöhnung von Ich und Welt, die die zerrissene Form des Dramas im Roman heile und die Lukács sogar einen zeitweiligen Ausweg aus seiner Negation der bürgerlichen Gesellschaft aufgezeigt habe. Dies verrate auch sein Interesse an Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, die er insgesamt als gelungene Lösung und als Überwindungsversuch insbesondere kantischer Dualismen betrachte. Dauerhaft befriedigen konnten Goethes vermeintliche Apotheosen von organischer Einheit und Erfüllung Lukács in Dogàs Augen gleichwohl nicht. Da diese dem Bereich der Kunst verhaftet geblieben seien, habe die Ästhetik "den Stab der Utopie" schließlich an die (marxistische) Politik übergeben müssen.
1958 schrieb Theodor W. Adorno:
Den Nimbus, der den Namen von Georg Lukács heute noch, [...] umgibt, verdankt er den Schriften seiner Jugend, dem Essay-Band 'Die Seele und die Formen', der 'Theorie des Romans', den Studien 'Geschichte und Klassenbewußtsein', in denen er als dialektischer Materialist die Kategorie der Verdinglichung erstmals auf die philosophische Problematik prinzipiell anwandte. Ursprünglich etwa von Simmel und Kassner angeregt, dann in der südwestdeutschen Schule gebildet, setzte Lukács bald dem psychologischen Subjektivismus eine objektivistische Geschichtsphilosophie entgegen, die bedeutenden Einfluß ausübte. Die 'Theorie des Romans' zumal hat durch Tiefe und Elan der Konzeption ebenso wie durch die nach damaligen Begriffen außerordentliche Dichte und Intensität seiner Darstellung einen Maßstab philosophischer Ästhetik aufgerichtet, der seitdem nicht wieder verloren ward. Als, schon in den frühen zwanziger Jahren, der Lukácssche Objektivismus sich, nicht ohne anfängliche Konflikte, der offiziellen kommunistischen Doktrin beugte, hat Lukács nach östlicher Sitte jene Schriften revoziert; hat die subalternsten Einwände der Parteihierarchie unter Mißbrauch Hegelscher Motive sich gegen sich selbst zu eigen gemacht und jahrzehntelang in Abhandlungen und Büchern sich bemüht, seine offenbar unverwüstliche Denkkraft dem trostlosen Niveau der sowjetischen Denkerei gleichzuschalten [...].
Wenn heute - über ein halbes Jahrhundert später - diese Zeilen wie eine unverändert gültige Charakterisierung des Philosophen und Literaturhistorikers anmuten, so nicht nur, da sich mit der Auflösung der Sowjetunion und dem Ende des realen Sozialismus in Ostmittel- und Osteuropa die politischen Rahmenverhältnisse, die Lukács' Arbeit in vielfacher Weise bestimmt hatten, aufgelöst haben. Schon deutlich früher war das Werk des ungarischen Intellektuellen ins Abseits des europäischen Gedächtnisses gedrängt worden.