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Choks, Reflexe, Asja : zu Benjamins 'Vertiefung der Apperzeption' im russischen Avantgarde-Film
(2010)
Walter Benjamin hatte vor allem zwei Themen im Kopf, als er sich Ende 1926 in Moskau aufhielt: Asja Lacis und die russische Avantgarde. Seine Geliebte Asja Lacis allerdings war infolge eines Nervenzusammenbruchs in einem Sanatorium untergebracht und somit für Benjamin kein guter Zeitvertreib. Umso mehr widmete er sich seinem anderen Interesse, traf Vertreter der russischen Avantgarde - neben Schriftstellern auch den Theaterregisseur Vsevolod Mejerchol'd - ging allabendlich in Theatervorstellungen oder ins Kino. Benjamins 'Moskauer Tagebuch' weist einige der Orte aus, die er sah, viele aber auch nicht. Die meisten Gedanken galten ja bekanntlich der sich ihm immer wieder verweigernden Asja. So ist nicht verwunderlich, dass in seinen Aufzeichnungen nur die berühmtesten Filme Erwähnung finden: Sergej Ejzenštejns 'Panzerkreuzer Potëmkin', Dziga Vertovs 'Sechster Teil der Erde', Vsevolod Pudovkins 'Mutter', Lev Kulešovs 'Nach dem Gesetz'. Die schlechten Filme bleiben ungenannt. Doch es erstaunt gerade angesichts seiner Kino-Umtriebigkeit, dass Benjamin in einem Artikel "Zur Lage der russischen Filmkunst" 1927 schrieb: "Die Spitzenleistungen der russischen Filmindustrie bekommt man in Berlin bequemer zu sehen als in Moskau." Er schien damit nicht nur den Erfolg des Avantgarde-Films in Russland zu ignorieren, sondern vor allem den Höhenflug eines Films, der im Winter 1926 gerade anhob - genau in der Zeit also, als Benjamin in Moskau war. Im November kam 'Die Mechanik des Gehirns' als erster so genannter 'Kulturfilm' in die Kinos, eine populärwissenschaftliche Dokumentation über Ivan Pavlovs Reflexlehre, entstanden unter der Regie von dem Benjamin sicherlich bekannten Avantgarde-Filmemacher Vsevolod Pudovkin. Und diese Ignoranz wiederum verwundert umso mehr, wenn man den Kulturfilm vor dem Hintergrund Benjamins damaliger Interessen sieht - Asja und die Avantgarde oder auch: Kindererziehung und politisierte Kunst. Ich werde im Folgenden einer Sache nachgehen, mit der sich Benjamin scheinbar nicht beschäftigt hat und will versuchen zu klären, weshalb seine Auseinandersetzung mit dem Kulturfilm nicht offensichtlich stattgefunden hat, sondern fast unmerklich und wie es doch möglich ist, diese Auseinandersetzung zu entdecken. Dann, so die These für meine folgenden Ausführungen, erscheint auch Benjamins "Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" mit seinen zentralen Begriffen 'Chok', 'Zerstreuung' und 'vertiefende Apperzeption' in einem neuen, im sozialistischen Sinne geradezu materialistischen Licht. Um diese nicht offensichtlichen Zusammenhänge darzustellen werde ich die Filmpraxis des von den russischen Pädagogen so intensiv propagierten Kulturfilms mit Begriffen Benjamins, also mit seiner Theorie vergleichen. Dies ist natürlich schon dort geschehen, wo Benjamin sich selbst auf Filme bezieht, wie auf Ejzenštejns 'Panzerkreuzer Potëmkin' oder Vertovs 'Mann mit der Kamera'. Die Herausforderung an den folgenden Ausführungen ist, dass Benjamin selbst über 'Die Mechanik des Gehirns' schwieg, und das vielleicht aus gutem Grund, doch darüber lässt sich nur spekulieren.
Dieselbe Zeit, derselbe Raum - zwei grundverschiedene Regisseure und damit Erfahrungswelten. Sergei Loznitsas und Aleksandr Rastorguevs Dokumentarfilme der 2000er Jahre sind politische, poetische, punktgenaue Interventionen in die Gegenwart der 'kleinen Menschen' und damit in unsere Gegenwart. Das Buch widmet sich diesen dokumentarfilmischen Meisterwerken, die methodisch Verdrängtes und Übersehenes, planmäßig Vergessenes behutsam sichtbar machen und dabei immer wieder den Krieg in den Blick nehmen. Dokumentarische Filmästhetik erscheint hier in ihrer sozial-, geschichts- und kulturwissenschaftlichen Relevanz. Im post- und kontrafaktischen Zeitalter des allgegenwärtigen medialen Überflusses, inmitten der Fernseh-, YouTube- und virtuellen Realität, erfüllen, begründen, ermöglichen oder schlichtweg erkämpfen die Filme und ihre Autoren verlorengegangene Räume für Widersprüche und Fragen, die mal in ihrer Ambivalenz, mal in ihrer spröden Eindeutigkeit ihren Aussagewert haben. Wider die marginale Rezeption rückt die Publikation die Regisseure in den Raum der interdisziplinären wissenschaftlichen Forschung und stellt die Filmarbeiten als gleichwertige Formen der Wissens- und Erfahrungsproduktion vor. Bei all ihrer Unterschiedlichkeit katapultieren die Filme die Zuschauenden in ebenjene bekannte, aber nicht erkannte, weil nicht gesehene, übersehene, nicht wahrgenommene Hyperrealität ihrer Alltagswirklichkeit. Weder der Autor noch das Werk noch die Zuschauenden sind aus dem jeweiligen historischen oder soziopolitischen Diktum herauslösbar oder gar gänzlich frei.
Die vorliegende Magisterarbeit untersucht verschiedene Formen der Darstellung von Geschichte im Film mit Hilfe der Filmphilosophie von Gilles Deleuze. Ausgangspunkt der Betrachtung sind zunächst die vielfältigen Ansätze der Regisseure des Neuen Deutschen Films, auch und gerade bei der Thematisierung von (deutscher) Geschichte die klassische Unterscheidung zwischen dokumentarischen und fiktionalen filmästhetischen Strategien aufzubrechen. Inwiefern sich diese Vorgehensweise und die dabei entstehenden neuen “Deutschlandbilder” (Anton Kaes) mit Deleuze’ Konzept des Zeit-Bildes (l‘image-temps) in Beziehung setzen lassen, wird hier am Beispiel der Filmtheorie Alexander Kluges und dem unter dessen maßgeblichen Einfluss kollektiv produzierten Film “Deutschland im Herbst” von 1978 diskutiert. Knapp zwanzig Jahre später beschäftigte sich Heinrich Breloers als Fernseh-Großereignis konzipierter Zweiteiler “Todesspiel” erneut mit den Ereignissen des Deutschen Herbstes. Auch hier mischen sich dokumentarische und fiktionale Elemente im Rahmen des “Doku-Fiktion”-Formates, das in seinen Erzählstrategien jedoch umso stärker auf das klassische Modell des Bewegungs-Bildes zurückgreift. Andres Veiels “Black Box BRD” von 2001 und Christopher Roths “Baader” von 2002 knüpfen dagegen - nicht zuletzt in expliziter Ablehnung einer konventionalisierten Fernsehästhetik - erneut an das von Deleuze vor allem für das europäische Nachkriegskino mit dem Begriff des Zeit-Bildes beschriebene Modell einer aufgebrochenen Narration und einer Sinn-Resistenz der visuellen Bilder an: Kontraste und Widersprüche fordern den Zuschauer zur Reflexion über das Dargestellte auf; “Wahrheit” wird hier entweder als von subjektiven Interessen geleitete Sichtweise (“Black Box BRD“) oder als gesellschaftlich konstruierter Mythos (“Baader“) gezeigt. Mit Hilfe der von Nietzsche inspirierten Thesen Deleuze’ zum Wahrheitsmodell des Bewegungs-Bildes einerseits, den “Mächten des Falschen” im Zeit-Bild andererseits versucht die vorliegende Arbeit so zugleich zu zeigen, inwiefern den verschiedenen Bildarten im Hinblick auf die Darstellung von Geschichte notwendig eine politische Komponente innewohnt: Während die verschiedenen Formen des Bewegungsbildes eine bereits konstituierte Gemeinschaft vorgeben, der sich anzuschließen die Filme durch Identifikation ermöglichen, scheint das Zeit-Bild eine wesentlich demokratischere Form des “Wir” zu eröffnen: Es emanzipiert den Zuschauer durch das Miteinander des Aufzeigens der in einer bestimmten Sichtweise versteckten Interessen und der im gleichen Atemzug vorgenommenen, als solche jedoch stets kenntlich gemachten "Parteiergreifung" der Filme zu einem an deren Herausbildung und steten Neuerschaffung gleichberechtigt beteiligten Mitglied dieser Gemeinschaft.
Der Dokumentarfilm befand sich Ende der 70er Jahre in einer gewissen Stagnation. Selbst in einer internen Schrift der Hauptverwaltung Film/ Abt. Wissenschaft - und diese kritische Bemerkung deckt sich mit vielen Stimmen der anläßlich des 40. Leipziger Dokfilm-Festivals herausgegebenen Textsammlung "Weiße Taube auf dunklem Grund" - wurden künstlerische Defizite zugestanden: "Trotz der Anwendung neuer Techniken sind weiterhin keine Entwicklungsperspektiven der Gattung Dokumentarfilm zu erkennen. In seinen besten Erscheinungsformen hat sich das auf der Ebene von gutem Journalismus, soziologischer Sondierungen, politischer Kommentare oder poetischer Reflexionen stabilisiert [...] Der Dokumentarfilm wartet auf einen neuen Pionier, der es vermag, frische und interessante Visionen der Welt, in der wir leben, zu geben."
Mit dem Kommen der ersten „Gastarbeiter“ Ende der 1950er Jahre hat sich die BRD zu einem Einwanderungsland entwickelt. Die im Zuge der Anwerbevereinbarungen nach Deutschland übersiedelnden Migranten und ihre Familien bilden seither die größte Gruppe der in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund. Einst als Ersatzheere für den Arbeitsmarkt angeworben, sind bis in die Gegenwart hinein neue Bevölkerungsgruppen und subkulturelle Milieus in der BRD entstanden. Bis heute jedoch fehlt es in Deutschland noch immer an einer allgemein akzeptierten Einstellung, wie das zukünftige Zusammenleben von Deutschen und Einwanderern aussehen könnte. Medien verleihen der Lebenswelt von Migranten und der Einwanderungsrealität – indem sie Möglichkeiten und Grenzen zukünftiger sozialer Veränderungen ausloten und (implizit oder explizit) an die politischen und sozialen Debatten des Problems anknüpfen – nicht nur Ausdruck, sondern stellen darüber hinaus auch Realität ordnende und deutende Instanzen dar, aus denen ein Wissen über Migration erst hervorgeht.
Die filmographische Dokumentation der dokumentarischen Arbeiten über psychiatrische Institutionen und die psychiatrische Behandlung der psychischen Krankheiten steckt noch ganz in den Anfängen. Die folgende Liste gibt einen ersten Eindruck über solche Lang-Filme, die mir bekannt wurden und die das Thema im Spektrum der Fragen behandeln, die für das dokumentarische Interesse am Thema Leitlinien der Darstellung gebildet haben. Die Texte stammen zum Teil von mir, zum Teil aus Presseunterlagen, zum Teil aus den Datenbanken des Internets. Sie sollen einen Eindruck über Thema, dokumentarische Methode und Argumentationsweise geben. Für Hinweise danke ich Christine Noll Brinckmann und Gesa Rautenberg.
Der Text beleuchtet die dramaturgische Rolle der Filmmusik im Dokumentarfilm. Ausgehend von verschiedenen Dokumentarfilm-Typen sollen sehr unterschiedliche Beispiele zeigen, wie Musik und Tongestaltung verschiedenartige Erzählstrukturen, Wirkungsmechanismen und ästhetische Merkmale ausprägen. Zugleich wird ein Trend eingehender untersucht, der publikumswirksame Dokumentarfilme im Kinoformat hervorgebracht hat, zu dessen Charakteristikum es gehört, dass Musik für eine Dramatisierung des an sich Dokumentarischen und zur Immersion in Dienst genommen wird. Es zeigt sich, wie groß der Anteil der Musik daran ist, dass Wirkungsmechanismen, die dem Publikum aus dem fiktionalen Genre vertraut sind, in den Dokumentarfilm übertragen werden können und dort ebenso funktionieren. Inwieweit dies der poetischen Verdichtung dient oder einer Einfühlungsästhetik zuarbeitet und möglicherweise die Glaubwürdigkeit des abgehandelten Themas in Frage stellt, ist eine kritisch zu diskutierende, stets für den Einzelfall zu beantwortende Frage. Der Beitrag möchte über die Anwendung beim Dokumentarfilm hinausgehend dafür eintreten, Filmmusik als "tiefenwirksames" dramaturgisches Element zu analysieren, wofür die vorgestellten Kategorien Anwendung finden und als Grundlage weiterer Diskussionen verstanden werden können.
Ein Film ohne Dramaturgie? Das kann nur ein Dokumentarfilm sein. Aber wo fangen die Kriterien für einen Dokumentarfilm an und wo enden die Möglichkeiten der Dramaturgie? Die Kategorisierung möchte ich mir ausnahmsweise einmal einfach machen und den Dokumentarfilm als ein filmisches Genre bezeichnen, das sich vom fiktionalen Erzählen vor allem dadurch abgrenzt, dass es sein Material unmittelbar dem Leben entnimmt – ohne den Umweg des Drehbuchs und der Nachinszenierung. Das hat meistens zur Folge, dass man in einem Dokumentarfilm genau das nicht hat, was einen Spielfilm so stark macht: die Schlüsselszenen – Szenen also, die die Organisation einer funktionalen Dramaturgie so einfach machen.
Mit Mount St. Elias. Die längste Skiabfahrt der Welt. ist Mitte November ein Ski- und Bergfilm in den deutschen Kinos angelaufen, der schon jetzt als einer der meistgesehenen Dokumentarfilme der österreichischen Kinogeschichte gilt. Auch in Deutschland wurde der Film als Bergfilm angekündigt, der neue Maßstäbe setze. Dieser Kommentar beschäftigt sich mit den dramaturgischen Bausteinen des Erfolgs von Mount St. Elias und legt besonderes Augenmerk auf die Inszenierungsstrategien des ,Dokumentarischen‘ im Kontext des alpinen Diskurses.
Mafrouza is a twelve-hour-long documentary by French director Emanuelle Demoris, shot in a now-demolished neighbourhood in Alexandria, Egypt. Demoris is one of a long chain of western filmmakers who appeal to some form of 'taking one's time' as an instrument for - morally, politically, epistemologically - adequate representation. Based on the work of Trinh T. Minh-ha, Eduard Glissant, and Poor Theory, this chapter evaluates what happens when a film adopts a strategy of deferral in cases in which it is not clear how questions of 'doing justice' could be resolved. Using long duration and an insistence on the quotidian, Demoris's film forces us to think about the conditions that make pronouncements about character, situation, and narrative possible, continuously postponing the moment when it will become possible to say: 'this film is about …'. By setting itself up for failure, the film proposes one possible approach to the ethics and politics of visibility.
In der gegenwärtigen Literatur- und Filmtheorie findet man wenig Übereinstimmung darüber, wie solide ideologischen Bedeutungen von Kunstwerken zu bestimmen wären. Im Gegenteil, bereits die Annahme, Kunstwerke träfen bestimmte, fixierbare Aussagen, wird vielerorts grundsätzlich abgestritten. […] Ich werde diese Ansicht hier nicht diskutieren, sondern schlicht voraussetzen, daß zumindest einige Kunstwerke tatsächlich einen ideologischen Geltungsanspruch erheben. […] Michail M. Bachtins Theorie der Dialogizität [bietet] mit ihrem Leitbegriff der Polyphonie einen Ansatz, der im Laufe der letzten dreißig Jahre zwar ausgesprochen populär geworden ist, aber auch häufig mißverstanden wird. Ich möchte einige wichtige Aspekte des Polyphoniebegriffs rekonstruieren und seine Erklärungskraft an einem Fallbeispiel überprüfen. […] „Beruf Neonazi“ wurde von seinen verschiedenen Interpreten als Film mit pro-, aber auch mit antifaschistischer Tendenz verstanden. Mit Hilfe des Polyphoniebegriffs kann dieser Interpretationsstreit geklärt werden. Bonengels Dokumentarfilm ist polyphon, weil er widerstreitende Stimmen scheinbar unkommentiert zu Wort kommen läßt, aber insgesamt doch durch indirekte Formen der Mitteilung seine neonazistischen Protagonisten kritisiert.
In diesem Text werden zwei Film- bzw. Mediennetzwerke aus Kanada betrachtet, in denen prekäre Lebensbedingungen nicht nur thematisiert werden, sondern durch die Partizipation und Kollaboration von Filmschaffenden und Bürger*innen Handlungsmacht generiert werden soll. "Challenge for Change" setzte sich ab den 1960er Jahren u. a. gegen Armut ein, "Wapikoni Mobile" ist ein zeitgenössisches indigenes Vlog- und Filmnetzwerk. Beide Projekte werden als handlungsbasierte Dokumentarphilosophien verstanden. Sie werden mit Gilbert Simondon als mögliche Milieus für kollektive Individuationen konzeptualisiert. "Challenge for Change" und "Wapikoni Mobile" werden als technisch-sozial-ästhetische Milieus verstanden, in denen aktivistische und kulturelle Interventionen und Individuationen keinen Gegensatz bilden. "Wapikoni Mobile" wird zudem hinsichtlich seines Potentials für eine Filmkultur des Anthropozäns diskutiert, in der es um die Beziehung von Welt und Mensch geht, die in dokumentarischen Filmen verhandelt wird und die nicht nur abbildet, sondern ebenfalls - mit Gilles Deleuze - ein Band zur Welt knüpft.
Der Beitrag setzt sich mit der Ambivalenz des dokumentarischen Blicks zwischen Sichtbarmachung und Othering auseinander. Im Zentrum steht der 2016 in Wien entstandene Dokumentarfilm "Brüder der Nacht" von Patric Chiha, der sich mit bulgarischen Arbeitsmigranten befasst, die in Wien als Stricher arbeiten. Das Porträt der jungen Männer dehnt die Grenzen des Dokumentarischen maximal aus und begegnet dem Problem ihrer Viktimisierung auf besondere Weise. Anhand des aktuellen Beispiels werden historische Kontinuitäten und Diskontinuitäten des dokumentarischen Blicks auf prekäres Leben und soziale Armut aufgezeigt.
Das Phänomen Terrorismus ist regelmäßig Gegenstand aktueller Berichterstattung in den Nachrichten und tritt hierbei deutlich als von Medien abhängige aggressive Taktik in Erscheinung. Seit den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001 hat es in verstärkter Form eine zentrale Rolle im öffentlichen Diskurs inne. Darüber hinaus stellt der Themenkomplex ein wiederkehrendes Motiv in den Unterhaltungsmedien dar. Diese nehmen Bezug auf zeitgeschichtliche Kontexte, welche oft in fiktionalisierter Form Ver- oder wenigstens Bearbeitung finden.
Bevor ich begann, mich mit dem Thema zu beschäftigen, schien alles klar: Die Fiktion gehörte zum Spielfilm, der Geschichten erzählt, während der Dokumentarfilm in den Bereich der Nichtfiktion fiel. Doch schon mit dem Begriff der Narration oder allgemeiner gesagt des Narrativen stellte sich das erste Problem: Spielfilme werden allgemein als narrativ bezeichnet, aber von welchem Moment an sind Dokumentarfilme narrativ? – Spätestens bei der nächsten Frage fing das Karussell sich zu drehen an: Wie steht es mit der Biographie oder der Autobiographie, für die angenommen werden darf, dass zumindest die Figur historisch verbürgt ist, die im Zentrum der Erzählung steht und deren mehr oder weniger kohärente Lebensgeschichte wir lesen oder sehen? Wo beginnt da die Fiktion, wo die Narration, und wie lässt sich die "Autofiktion" historisch verankern?
Eine verlassene, öde Industrielandschaft zeugt vom Fortschritt der Vergangenheit. Wir befinden uns in der Nähe von Marseille, doch der Film könnte auch woanders beginnen. Fabrikanlagen, Schornsteine, Silos, zwischen den Rangiergeleisen wächst junges Gras, Baustellen, das Meer wirft seine Schaumkronen an den Strand - unweit davon versammeln sich Flamingos auf den Salzfeldern; der Himmel ist orangerot, dramatisch von dunklen Wolken durchzogen: die Bestandsaufnahme einer ruhigen Kamera, die in den Details der Ruinen das leise Leben sieht und überraschende Schönheiten entdeckt, ein Blick, der exakt auswählt, verweilt, dicht an den Dingen, und dann wieder über die .Landschaft oder in die Ferne gleitet. Dazu die Stimme Robert Kramers, ganz nah und behutsam, die den Prolog mit dem Satz beschließt: "J’etais en Europe et l’Europe etait en moi" ("Ich war in Europa und Europa war in mir.")
Wattstax
(2010)
„What you see is what you get“ - den Titel des Einleitungssongs seines Festival-Films gleichsam als filmisches Prinzip begreifend, sah Regisseur Mel Stuart bei den Dreharbeiten zur Dokumentation des Wattstax-Festivals etwas genauer hin. Das Ergebnis ist eine einzigartige Mixtur aus Festivalfilm und Milieustudie als Reflexion des durch die schwarze Bürgerrechtsbewegung Erreichten und nicht Erreichten. 1974 wurde Wattstax für den „Golden Globe“ in der Rubrik Dokumentarfilm nominiert.
Der frühe abendfüllende Dokumentarfilm NANOOK (USA 1922, Robert Flaherty) verdeutlicht in einer Szene metaphorisch das Verhältnis von dokumentarischen Formen des Films und Musik. Dem Hauptprotagonisten Nanook wird in dieser Szene eine Schellackplatte auf einem Grammophon vorgespielt, welche dieser nach dem erfreuten Vernehmen der Musik in die Hände nimmt, um sie an den Mund zu führen und prüfend auf sie zu beißen. Neben der – dem Hintergrund der folgenden Ausführungen förderlichen – Deutung der Szene als ein bildhaftes Aufzeigen des zu prüfenden und sich gelegentlich beißenden Verhältnisses von dokumentarischen Filmformen und Musik, weist diese Szene noch entschieden auf etwas anderes hin. Sie eröffnet nicht nur den Horizont für die Diskussion der konnotierenden und interpretierenden Wirkung von Filmmusik, sondern verdeutlicht auch das problematische Referenzverhältnis zwischen dokumentarischem Film und außerfilmischer Realität an sich. Robert Flaherty, der Regisseur des Films, verstand sein filmisches Schaffen nämlich als ein „Dramatizing Life“ (Zimmermann 2001, 6), welches, wie Witzke und Rothaus beschreiben, selbstverständlich das Nachstellen und Spielen von Szenen für die Kamera akzeptierte bzw. zur filmischen Methoden entwickelte (2003, 47/48). Diesbezüglich ist das inszenierte Beißen und der dieses bejahende und absichernde Blick von Nanook in die Kamera auch ein praktischer Verweis auf die nicht enden wollende theoretische Diskussion um das referenzielle Wesen des dokumentarischen Films, die hier jedoch nicht geführt werden soll und kann.
Marion Biet denkt in ihrem Beitrag die kuratorische Anteilnahme mit dem Dispositiv des Langzeitdokumentarischen zusammen, das sie als ein komplexes Netz aus multiplen Akteur_innen begreift, dessen Potential sie in einer Neuperspektivierung des Filmischen als intermediale Anordnung sieht. In ihren Ausführungen bezieht sie sich auf die filmische Arbeit sowie methodische Überlegungen der preisgekrönten tschechischen Langzeitdokumentaristin, Helena Treštíková und zeigt, wie "das Zuviel an Leben" und der "Exzess des aufgezeichneten Materials" (Biet) einer kuratorischen Geste gegenübersteht, die geradezu medienarchäologisches Potenzial aufweist