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Von häuslicher Gewalt in der deutschsprachigen Literatur zu sprechen, grenzt an sich an eine Übertreibung angesichts der wenigen Beispiele, die der Kanon enthält. Das gilt umso mehr, wenn man vor 1945 sucht, das heißt zu einer Zeit, in der sich jener Bruch mit dem Vaterland noch nicht vollzogen hatte, der auch literarische Brüche mit Vätern, Müttern und auch Kindern nach sich ziehen sollte (ich denke hier an Peter Weiss' 'Abschied von den Eltern' [1961], Ingeborg Bachmanns 'Malina' [1971] oder auch an Elfriede Jelineks 'Die Klavierspielerin' [1983]). Die längste Zeit wurden körperliche Auseinandersetzungen in der Familie nicht wirklich als Gewalt registriert. Wir müssen aber auf den Realismus warten, dass eine breitere literarische Strömung - und nicht nur vereinzelt ein Autor wie Kleist - die noch relativ neue Institution der Literatur für prosaische Alltagsgeschehnisse öffnet und sich damit auch dem Gemeinplatz der Familie kritisch und als ästhetische Herausforderung annähert. Fredric Jameson gab jüngst zu bedenken, dass erst dann ein neuer Zugang zum Realismus möglich sei, wenn man gleichzeitig die Genealogie des Erzählens und ihre drohende Auflösung in literarischen Repräsentationen von Affekten im Auge behalte. Und wirklich präsentieren realistische Texte ganze Archive, um die Komplexität und Rhetorizität von Affekten im Allgemeinen und von Aggressionen im Speziellen zu studieren. Ein bekannter Text des deutschsprachigen Realismus, der das Phänomen der häuslichen Gewalt in dieser Weise reflektiert, ist Adalbert Stifters Erzählung 'Granit' aus der Geschichtensammlung 'Bunte Steine' (1853); jenen, die an den Grenzen des Kanons lesen, wird Theodor Storms Novelle 'Ein Doppelgänger' (1887) in den Sinn kommen; wohl jeder denkt an Gerhart Hauptmanns naturalistische Studie 'Bahnwärter Thiel', die im darauffolgenden Jahr erschien. Und wenn wir noch Robert Walser als späten realistischen Autor ansehen, dann stellt 'Der Gehülfe' (1908) einen der denkwürdigsten Texte zum Thema häuslicher Gewalt dar.
Diese begrenzte, wenn auch in keiner Weise vollständige Beispielreihe zeigt, dass Gewalt in der Familie längste Zeit ein Un-Thema war - was natürlich nicht bedeutet, dass es sie nicht gab oder gibt. Vielmehr kann die Seltenheit ihres literarischen Vorkommens entweder als Zeichen dafür gedeutet werden, dass häusliche Gewalt ein so alltägliches Phänomen darstellte, dass es nicht weiter erwähnenswert war oder aber, dass häusliche Gewalt ein solches Tabu war, dass sie nicht thematisiert werden konnte.
Im vorliegenden Beitrag soll der Film "Zvizdan"/"Mittagssonne" aus dem Jahr 2015 des kroatischen Regisseurs Dalibor Matanić vorgestellt werden. Der in Deutschland bekannteste Film Matanićs ist vermutlich der Film "Fine mrtve djevojke"/"Schöne tote Mädchen" (Matanićs zweiter Film aus dem Jahr 2002). Bei "Fine mrtve djevojke" handelt es sich um einen sog. 'Independent'-Film, mit dem dieser im Jahr 1975 in Zagreb geborene Regisseur die Homosexualität in einer sehr provinziellen, kleinbürgerlichen Umgebung Zagrebs behandelte. Mit diesem Film gewann Matanić auf dem Filmfestival in Pula im Sommer 2002 alle drei Hauptpreise - den der Jury, den des Publikums und den der Kritik. Mit seinem Film "Zvizdan" gewann der Regisseur 2015 in Cannes den Ersten Preis in der Kategorie "Un certain regard". Aber auch mit anderen seiner Filme positioniert sich der durchaus kontroverse Regisseur in die erste Liga der kroatischen Filmemacher und schreibt an einer Geschichte des europäischen filmischen Realismus mit. Das ausgewählte Film-Beispiel des gefeierten Regisseurs wird im Folgenden im Hinblick auf seinen Realismusgehalt analysiert.
Daß die Fachbegriffe der Literaturwissenschaft so unterschiedlich klar sind, hat mir ihrer ganz verschiedenen Reichweite, ihrem ganz unterschiedlichen Gegenstandsumfang zu tun. Zwar wollen alle diese Begriffe Ordnungen in die Welt der literarischen Erscheinungen hineintragen, sie uns gliedern, sortieren, überschaubar machen, aber es ist nicht dasselbe, ob es sich dabei um einen Korpus bloß von Wörtern und Sätzen handelt, zwischen denen es offen zutage liegende Übereinstimmungen gibt, oder um einen Korpus von ganzen Werken, deren einzige sichere Gemeinsamkeit zunächst vielleicht nur die ist, daß sie dem gleichen Jahrhundert entstammen. Ist in dem einen Fall der Begriff nur der identifizierende Name für eine so oder so zu erkennende Gesetzmäßigkeit (weshalb hier auch oft für dieselbe Erscheinung gleichzeitig deutsche wie fremdsprachliche Ausdrücke zur Verfügung stehen), so ist er in dem anderen Fall so etwas wie das Summenzeichen eines weitläufigen und vielleicht nie ganz abgeschlossenen Erkenntnisprozesses, auf das man zum Zwecke der Verständigung gleichwohl nicht verzichten kann. Es nützt in diesem Falle deshalb auch nichts, wenn man sich bei Unklarheiten nur mit dem Begriff selbst beschäftigt. Der Versuch, ihn 'genauer zu definieren', wie es dann heißt, führt in der Regel nur dazu, daß er sich von diesem Erkenntnisprozeß ablöst und damit seine Signifikanz erst recht verliert. Gesichert werden kann ein solcher Begriff - soweit er sich überhaupt sichern läßt - nur dadurch, daß man die Ursachen der Unklarheit aufdeckt, daß man also in die Geschichte des Begriffes zurückgeht und noch einmal prüft, in welchen Grenzen seine Bedeutung festliegt und von wo an es mit dem Verständnis und Einverständnis schwierig wird.
Manchmal bedeutet schon das Vorbringen einer Frage, sich in ein polemisches Verhältnis zu bestimmten Vorstellungen zu setzen, auch wenn man das nicht will und es für das eigene Überlegen als einen Nachteil ansieht, daß da eine Welt von Widerspruch zu gewärtigen ist. Die Frage nach der Bedeutung des tatsächlich stimmenden Details für die Literatur ist eine solche Frage, scheint es doch - wie lange schon? - eine gesicherte Überzeugung zu sein, daß die Übereinstimmung des literarischen Werkes mit wie immer beglaubigten Tatsachen nichts zu bedeuten hat, nichts jedenfalls für dessen Kunstcharakter, oder wenn doch, dann nichts Gutes. Wie also beginnen, ohne sogleich den gesammelten Zorn auf diese Frage zu ziehen? Versuchen wir es an dem Punkt, an dem die wissenschaftliche Diskussion selber offenbar noch am ehesten Mühe gehabt hat, dieser Auffassung Geltung zu verschaffen: in der Auseinandersetzung mit der Literatur des Realismus und mit dem Realismusbegriff überhaupt.
Editorial
(2016)
In den Filmen "Old Joy", "Wendy and Lucy" und "Certain Women" werden die zentralen Themen der US-amerikanischen Regisseurin Kelly Reichardt um Armut und Prekarität als Beschäftigung mit Zeitlichkeit deutlich. Der Artikel interessiert sich weiterführend dafür, wie diese Fragen in ihren Filmen auch als queer gelesen werden können. Hierfür werden verschiedene Bewegungen untersucht, die chrononormativen Zuschreibungen entgegenstehen und potentielle Öffnungen und Gefüge zeitigen. Es handelt sich um filmische Unterbrechungen und kleine Brüche, die eine Unklarheit, Abweichung oder Übertretung und die Neuformulierung von Zeit(ver)läufen und Räumen erlauben. Damit offenbart sich ein filmisches Denken, das sich im Bild selbst, in der Kameraführung oder durch Verbindungen in der Montage äußert.
In hermeneutischen Zugangsweisen zu literarischen Texten spielt das Ganze eine doppelte Rolle: Zum einen scheint hermeneutisches Verstehen grundsätzlich nach einer wie auch immer gearteten Form von Ganzheit zu tendieren, sei es nur in irgendeiner Form des Zusammenhanges, sei es als „Sinn des Ganzen“, wie die stärkste Formulierung dieser Tendenz lautet. Zum andern kommt bei literarischen Texten, dies schon bei Aristoteles und dann verstärkt seit der Kunstperiode, die Utopie des ästhetischen Ganzen ins Spiel. Diese doppelte Rolle veranschaulicht zum Beispiel eine aktuelle hermeneutische Publikation des Komparatisten Horst-Jürgen Gerigk („Lesen und Interpretieren“, 2002, 30): „Wir müssen das Ganze kennen, um eine ausserfiktionale Begründung einsehen zu können. Das wiederum bedeutet, dass durch das Denken der poetologischen Differenz immer das Ganze fixiert wird. Ja, der Sinn des Ganzen kann sich nur erschließen, wenn die innerfiktionalen Sachverhalte auf ihre außerfiktionale Begründung angesehen werden.“ Die Postmoderne hingegen hat, in Weiterführung der Moderne, das Ganze, als ästhetische wie als hermeneutische Kategorie ideologiekritisch verworfen und ihr den Befund der Fragmentarizität entgegengehalten. Die Notwendigkeit dieser Kritik soll nicht grundsätzlich bestritten werden. Doch lässt sich das künstlerische Ideal des Ganzen in Produktion und Rezeption von Kunst gänzlich verwerfen? Ist es nicht eher so, dass Spielarten von Ganzheit weiterhin, wenn auch eine theoretisch unbewältigte, weil tabuisierte Rolle spielen? Aus dieser Frage ergibt sich das Forschungsziel, die Kategorie des Ganzen in einem ersten Schritt, von Neuem zu beobachten. Dies soll hier anhand eines konkreten Materials, der zwei Fassungen des „Grünen Heinrich“, geschehen. Die Novellentheorie operiert mit einer bestimmten Spielart von Ganzheit: Eine Novelle soll ein überschaubares, auf einen Punkt zentriertes Geschehen enthalten. Die Formel der „merkwürdigen Begebenheit“ oder die Rede vom Wendepunkt ist Ausdruck dieser Vorstellung, die mit Aristoteles Bestimmung des Dramas eng verwandt ist. Diese Vorstellung eines geschlossenen Handlungs-Geschehens findet sich im „Grünen Heinrich“ thematisiert; so ist davon die Rede, dass eine Handlung in ein erbauliches Ende einmünden sollte (5. Kapitel), und in Äußerungen Kellers zum „Grünen Heinrich“ ist von der „Endabsicht“ die Rede, die er mit dem ganzen Buch verfolge. Dass die literarische Großform, welche das Buch darstellt, den ästhetischen Postulaten der Novellentheorie aber nicht genügen kann und will, wird mehrmals thematisiert und verteidigt. Insbesondere wird dies in der ersten Fassung auch in einem Vorwort thematisch, welches in der zweiten Fassung wegfällt. Die zweite Fassung, welche Keller Ende der 70er Jahre herstellt, stellt den Versuch einer Verbesserung der ersten dar; in der Umschreibung des ganzen Textes in die erste Person dokumentiert sich Kellers Wunsch zur Vereinheitlichung. In welchem Verhältnis steht diese ungewöhnliche zweite Autorisierung mit der zeitgenössischen Novellentheorie und deren Utopie eines künstlerischen Ganzen?
Eine dreifache Bewegung der Emanzipation appelliert im 19. Jahrhundert an eine realistische Darstellung: Die Befreiung und Gleichstellung von Frauen, Jüd:innen und der Arbeiter:innenklasse wird von realistischen Texten teils protegiert, teils bekämpft. Am Beispiel von sowohl vor- als auch nachrevolutionären Romanen und Erzählungen Fanny Lewalds entwickelt der Beitrag ein intersektionales Verständnis von Realismus, das dieser politischen Seite des Begriffs Rechnung trägt. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, dass realistische Poetiken mit der Verfahrensweise intersektionaler Textbeobachtungen eine Gemeinsamkeit in der Privilegierung der Referenzebene der 'erzählten Welt' besitzen. Wie aber können sich mehrere strukturell divergente Erfahrungswelten innerhalb derselben erzählten Welt artikulieren, ohne in ihrer konfliktuellen Heterogenität nivelliert zu werden? Während "Jenny" (1843) als Versuch über die Phänomene doppelter, aber auch wechselseitiger Diskriminierung subalterner Akteur:innen gelesen werden kann, wirft der Beitrag am Beispiel der Novellen "Der dritte Stand" (1845) und "Auf Rother Erde" (1850) die Frage auf, welche poetologischen Konsequenzen sich aus jener intersektionalen Problematik ergeben, der sich Lewald auch in diesen beiden Novellen systematisch verschrieben hat. Anknüpfend an Überlegungen Susan Lansers geraten dabei u.a. das Geschlecht der Erzählinstanz und die Poetik des Dialogs in den Blick. Wie damit gezeigt werden soll, gehört der nur intersektional fassbare Streit um die Wirklichkeit zu den entscheidenden Voraussetzungen sowie den formalen Problemstellungen des Realismus.
Mit seiner Bascombe-Trilogie, deren mutmaßlich abschließender Teil vor kurzem erschienen ist und von weiten Teilen der Kritik, national wie international, hymnisch bejubelt wurde, hat Richard Ford für ein wahres Ereignis in der erzählenden Literatur um das Jahr 2000 gesorgt. Um die Bedeutsamkeit der drei Romane "The Sportswriter" (1986), "Independence Day" (1995) und "The Lay of the Land" (2006) herauszustreichen, hat man sie immer wieder mit einem anderen berühmten Romanzyklus der amerikanischen Literatur verglichen, mit John Updikes vier "Rabbit"-Romanen (erschienen in den Jahren 1960 bis 1990). Liefert Updike ein Sittenbild Amerikas von der Eisenhower-Ära bis zur Präsidentschaft von Bush sen., so Ford eines der achtziger und neunziger Jahre. Darüber hinaus könnte man Fords drei Bascombe-Romane auch mit anderen Zeit- und Gesellschaftsromanen neueren Datums in Zusammenhang bringen, etwa mit jenen von Philip Roth und Jonathan Franzen. Und man könnte noch weiter ausholen: Im Grunde steht Ford in der Tradition der großen Realisten des 19. Jahrhunderts und ihrer Gesellschaftsromane. Wie sie porträtiert er anhand einer fiktiven Handlung und eines fiktiven Figurenarsenals den "zeitgeist" einer gegebenen Epoche. Die Bascombe-Romane stellen geradezu ein Paradebeispiel dafür dar, was Erich Auerbach in seinem Mimesis-Buch zu einem zentralen Kriterium für literarischen Realismus erklärt hat: die Bewegtheit des politisch-gesellschaftlichen Hintergrundes, die in und zwischen den Zeilen zu spüren sein müsse.
Wenn es Ziel des literarischen Realismus ist, die Wirklichkeit darzustellen, dann stellt Theodor Storms Novelle 'Der Schimmelreiter' (1888) ein paradigmatisches Beispiel für diese Bewegung dar. Der Text ist nicht nur darin exemplarisch, dass er ein überlegenes Niveau an sozialer und psychologischer Wirklichkeitsnähe erreicht, sondern auch dadurch, dass er die eigentlichen Vorgänge und Begrenzungen, die jeder Darstellungsgeste eigen sind, dramatisch inszeniert. Storms Novelle legt die Sehnsüchte bloß, die Frustrationen und Opfer, die jeden Versuch, vorsprachliche Erfahrungen in sprachliche Form zu verwandeln, zwangsläufig begleiten. Anhand der unvergesslichen Schilderung seines Protagonisten, Hauke Haiens, der nahezu eigenhändig den Dorfbewohnern mehr bewohnbares Land verschafft, macht Storm die überzeitliche, mythische Konfrontation des Menschen mit dem unbändigen Meer zur Allegorie für das realistische Projekt. Vermittels eines allegorischen Schemas wird Hauke Haiens hydrotechnische Arbeit mit Storms literarischen Bemühungen parallelisiert. Diese miteinander verbundenen Aufgaben sind beide geographisch, insofern sie Einschreibungen in die Erde durch technē sind und das im doppelten Sinne des Wortes: als Technik und Kunst. Genauso wie der Deichgraf dem Meer mehr ertragreiches Land für seine Nachbarn entreißt, integriert der Schriftsteller mehr Wirklichkeit für seine Leser; genauso wie das neue Land durch den sorgfältigen Deichbau gesichert wird, ist die Erzählung durch eine Reihe vielschichtiger Rahmen geschützt; und genauso wie die erworbene Siedlung von Überschwemmungen bedroht bleibt, schließt die Geschichte, um beständig zu sein, ein widerspenstiges Element in sich ein, welches das ganze Unternehmen motiviert wie aber auch gefährdet. Dieser letzte Punkt wirkt sich vernichtend auf das realistische Darstellungsprojekt aus, das ja einen Sinngehalt artikulieren will, also eine Artikulation anvisiert, die sich direkt auf das Bild der Küste bezieht, genauer auf die Linie, welche Land und Meer voneinander trennt.
Aktualität und Relevanz realistischer Schreibverfahren in der Gegenwartsliteratur anhand einer Dorfgeschichte zu veranschaulichen, klingt erst einmal nicht nach einer guten Idee. Gerade die Dorfgeschichten haben der realistischen Prosa des 19. Jahrhunderts den Ruf eingetragen, altbacken, naiv und kitschig zu sein. Schauplatz der Handlungen ist üblicherweise ein bäuerlich-dörfliches Milieu, das detailreich und mit Rückgriff auf Oppositionspaare wie gut vs. böse beschrieben wird. Als formprägend gelten die heute kaum noch bekannten "Schwarzwälder Dorfgeschichten" Berthold Auerbachs (1843 ff.). Aber die Literaturwissenschaft hat gerade dieses Thema jüngst neu für sich entdeckt.
Durch den unbeirrbaren Blick in Roberto Bolaños Roman "2666" auf eine Serie von horrenden Gewaltverbrechen soll die komplexe Struktur einer transnationalen, spätkapitalistischen Wirklichkeit ans Licht gebracht werden, die sich einer rein gegenständlichen Anschauung entzieht und bestenfalls in Metaphern von Kreisläufen, Transaktionen und Kapitalflüssen vorstellbar ist. Die realistische Leistung besteht nun darin, dass eine Schicht dieser sozio-ökonomischen Wirklichkeit, die in beinahe sofortige Vergessenheit zu fallen droht, den Leser_innen immer wieder aufs Neue interessant gemacht wird - und zwar allein durch ihre minimal variierte Wiederholung.
Realismus revisited
(2016)
Während sich unsere Wirklichkeit medial, technologisch und politisch rasant wandelt, macht Realismus wieder von sich reden. In der Philosophie liest man vom spekulativen oder neuen Realismus, Politiker werben um mehr Realismus, in den Sozialwissenschaften beginnt man am Primat des Konstruktivismus zu zweifeln, und auch in der Literatur hat Realismus Konjunktur. Das Semesterthema des ZfL widmet sich der Rückkehr des Realismus und seinen unterschiedlichen Manifestationen. Dabei geht es uns nicht nur um Sichtung und Analyse der aktuellen Realismus-Diskurse, sondern auch um ihre mehr oder weniger latenten Vorgeschichten. In ihnen spielt der künstlerische Realismus seit langem eine besondere Rolle.
Die Beziehung von res und verba ist ihrem Grunde nach eine sprachphilosophische. Sie handelt von jenen Dingen, die überhaupt der Sprache zugänglich sind, bzw. von jenen Gegenständen, welche durch ihre Artikulation erst zu Dingen der Sprache werden. Der Fokus der Überlegungen konzentriert sich auf die Organisation des Verhältnisses von res und verba, für das über Jahrtausende hinweg in erster Linie die Rhetorik zuständig gewesen ist. Diesem liegen allerdings tatsächlich zwei sprachphilosophische Annahmen zugrunde, die von gegensätzlichen Voraussetzungen ausgehen.
Sophies Briefe in den "Poggenpuhls" von Theodor Fontane: Selbstkommentar als Programm des Realismus
(2020)
Ziel dieses Artikels ist, die Kapitel elf und zwölf des Romans "Die Poggenpuhls" zu untersuchen, der von Theodor Fontane im Jahr 1896 veröffentlicht wurde, und zu überprüfen, ob die Briefe, die in diesen Kapiteln präsentiert werden, als ein selbstreferentieller Kommentar zum Roman selbst gesehen werden können. Dafür werden andere Texte vom Autor herangezogen und analysiert, wie "Unsere lyrische und epische Poesie", ein Aufsatz, in dem Fontane ein Programm für den Realismus in der deutschen Literatur entwirft und das Werk zeitgenössischer Dichter kommentiert; "Effi Briest", ein Roman, der ebenfalls 1896 im Buchformat erschien; und Kommentare des Autors selbst, die in Briefen an Freunden und Kritikern zu finden sind. In ihren Briefen beschreibt die Figur Sophie den ihr erteilten Auftrag, drei Gemälde in einer protestantischen Kirche zu malen. Sie beschreibt und rechtfertigt die biblischen Motive, die von ihr für die Aufgabe abgelehnt werden, um danach diejenigen zu beschreiben, die sie darstellen möchte. Dabei begründet sie ihre Wahl und gibt ihren Schaffensprozess wieder. Es wird vertreten, dass diese Kapitel den Aufbau des Romans sowie die Beziehung zwischen Form und Inhalt im Text begründen, und dass sie versuchen, dessen Rezeption zu lenken, indem mögliche Vorwürfe im Voraus abgewehrt werden.
Wir können unter den Vorzeichen des nicht mehr ganz so jungen aktuellen Jahrhunderts von einem "Realismus der Globalisierung" sprechen. Doch scheint der Erzähltext, im speziellen der Roman als Leitmedium von alternativen Weltentwürfen, gegen die Dominanz der visuellen Narrative (z.B. TV-Serien wie "The Wire") im Sinne einer zeitgenössischen Ästhetik des Realen eine seiner letzten Domänen zu verlieren. Welche Rolle kann die Literatur angesichts dieser weit fortgeschrittenen Verschiebung des medialen Feldes noch spielen? Welche Eigenständigkeit kann sie darin behaupten?
Das Ziel einer in zwei Teilen konzipierten Untersuchung soll es sein, diese beiden Fragen am Beispiel der Romane "Alle Tage" (2004) und "Der einzige Mann auf dem Kontinent" (2009) von Terézia Mora exemplarisch und – mit Blick auf die Hauptthese auch experimentell für die Literatur – zu beantworten. Der erste Teil dieser Untersuchung, in welcher der Roman "Alle Tage" im Zentrum steht, liegt hiermit in einer ersten Fassung vor.
Zwischen 1843 und 1888 veröffentlichte Fanny Lewald 24 teils mehrbändige Romane, 27 Bände Novellen und Erzählungen, eine sechsbändige Autobiographie, fünf Reisetagebücher, zahlreiche Feuilletons, Erinnerungen an bekannte Persönlichkeiten, frauenemanzipatorische Schriften und soziale Appelle in Zeitungen und Zeitschriften - ein umfangreiches Werk. Über den Zeitraum von annähernd einem halben Jahrhundert spiegeln ihre Schriften die wechselvolle deutsche Geschichte wider - Vormärz, Märzrevolution 1848, Restauration, Reichseinigung, Kaiserreich - ebenso wie die Geschichte der deutschen Literatur von jungdeutscher Tendenz- und Reflexionsliteratur bis hin zum poetischen Realismus und Naturalismus. Denn mit zahlreichen romantheoretischen Äußerungen, die sich sowohl in ihren Prosawerken wie in Briefen und anderen nichtfiktiven Schriften finden lassen, macht Fanny Lewald wie wenige andere Autorinnen des Vormärz ihren poetologischen Standpunkt deutlich. Früh- und Spätwerk der Autorin sind, bezogen auf ihr erzählerisches Konzept und die Gestaltungsweise, sehr unterschiedlich. Doch in einem Punkt bleibt sich Fanny Lewald treu - ihre Prosa bleibt lebensnah, zeitlebens favorisiert sie den sozialen und psychologischen Roman.
Zwei Thesen sollen in diesem Aufsatz entfaltet werden: Die erste besagt, dass im Poetischen Realismus von Stifter bis Fontane, Raabe und Storm – analog zur deutschen Wirtschaftslehre des 19. Jahrhunderts – die Smith zugeschriebene Position einer Präzedenz des ökonomischen
Egoismus bestritten und an dessen Stelle der Gesamtnutzen als wirtschaftliches Movens in den Vordergrund gestellt wird. Sozusagen in Umdrehung der smithschen These werden Geschäftsmänner geschildert, die das ökonomische Wagnis eingehen, sich vorderhand um die Gesamtverfassung der Gesellschaft zu kümmern und damit belohnt werden, dass sie selbst reich werden. Freilich halten, wie die zweite These besagt, diese Behauptungen einer zweiten Lektüre nicht unbedingt stand. Bei Stifter, so soll gezeigt werden, bleibt die vom Kopf auf die Füße gestellte These Smith' ein rein rhetorisches Phänomen, weil ihr zwar nicht widersprochen, sie jedoch, mangels Gegengewicht durch den Icherzähler, auch nicht verifziert wird. Diese Tendenz verstärkt sich in den heterodiegetisch erzählten Romanen/Erzählungen Storms, Fontanes und Raabes, die als Gegenmodell des moralischen Geschäftsmanns nicht mehr nur den Smithianer, sondern dessen Radikalisierung und historischer Nachfolger, den Spekulanten, notieren. Diese Texte gehen das narrative Risiko ein, gegen ihre eigene Argumentation eine innere Verwandtschaft zwischen moralischem Geschäftsmann und Spekulant zu insinuieren und damit Letzteren nachhaltig aufzuwerten.
Anhand der Konstruktion von Joan of Arc in Saint Joan untersucht dieser Artikel, wie George Bernard Shaw die Position einer Außenseiterin nutzt, um seine geschlechtspolitischen und ästhetischen Ziele zu verdeutlichen. Im Vergleich mit älteren Darstellungen der französischen Nationalheldin wird Shaws spezifische Rezeption des Jeanne-d’Arc-Mythos skizziert und dargestellt, wie Shaw Joans geschlechtliche Differenz als Fortsetzung seiner Kritik an Geschlechternormen entwickelt. Aufbauend darauf präsentiert Shaw Joan zudem als mentale Ausnahmefigur, über deren Visionen ein anderer Begriff des Realismus stark gemacht wird, mit dem Shaw sein eigenes schriftstellerisches Wirken identifiziert.