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Shoah heute : komparatistische Perspektiven auf eine kulturanalytische Frage im 21. Jahrhundert
(2022)
Rezension zu Susanne Rohr. Von Grauen und Glamour. Repräsentationen des Holocaust in den USA und Deutschland. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2021, 386 S.
Gregor J. Rehmer. Die dritte Generation der Shoah-Literatur. Eine poetologische Definition am Beispiel deutscher und US-amerikanischer Texte. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2021, 479 S.
Der Text verfolgt die Spur der Mutter in der Lyrik Paul Celans und im Independent-Comic Art Spiegelmans. Ausgehend von dem Versuch, diese Spur auch über die explizite textliche und bildliche Auseinandersetzung mit dem Thema hinaus strukturell nachzuzeichnen, wird angedeutet, auf welche Weise psychoanalytische Befunde zu einer Theorie des literarischen Sprechens über Traumata beitragen können.
Dennis Bock stellt in seinem Beitrag "'Denn es geht hier nicht um Mögen oder Nichtmögen. Die Muselmänner stören ihn, das ist es' - Erzählungen über Muselmänner in der Literatur über die Shoah heraus", wie durch die narrative Variation der im Rahmen der Shoah-Literatur inventarisierten Figur des Muselmanns und dem mit ihr verbundenen konventionalisierten Narrativ ein Störpotential erzeugt wird, das den Fokus auf die Berührbarkeit eines Tabus legt. Es ist die Berührbarkeit des Todes, die durch die erzählerische Identifikation mit einer zwischen Leben und Tod begriffenen Figur evoziert wird, und dergestalt einen Reflexionsprozess in Gang setzt.
Alin Bashja Lea Zinner fokussiert in ihrem Aufsatz ein Tabu innerhalb der literarischen Aufarbeitungsgeschichte der NS-Verbrechen. In "Das Tabu der sexuellen Gewalt in der Holocaust-Literatur" stehen die literarischen Werke des Holocaust-Überlebenden Yehiel DiNur im Zentrum der Aufmerksamkeit, die mit einem Vexierspiel aus Faktualität und Fiktionalität die sexuelle Ausbeutung von Häftlingen entlarven und sich aufgrund dessen in ihrer Rezeptionsgeschichte Anfeindungen und Vorwürfen der pornographischen Ausschlachtung und Proftigier ausgesetzt sahen.
Ilse Aichingers 'Spiegelgeschichte' ist einer der schon früh zum Klassiker avancierten Prosatexte der österreichischen Nachkriegsliteratur. Nachdem Aichinger seit Anfang des Jahres 1948 gut eineinhalb Jahre daran gearbeitet hatte, erschien der Text erstmals in drei Fortsetzungen im August 1949 in der Wiener Tageszeitung, 1952 folgte die Publikation in der Rede unter dem Galgen betitelten Ausgabe von Hans Weigel. Isoliert man das erzählte Geschehen aus der von einer anonymen Du-Stimme anachronisch erzählten Analepse, erzählt man die spiegelverkehrt vergebenen Informationen im Text also 'realistisch' nach, so hat man es zunächst mit einem recht simplen plot zu tun: Eine junge Frau erlebt mit dem frühen Verlust ihrer Mutter und der damit einhergehenden Verantwortung für ihre jüngeren Brüder eine schwere Kindheit, verliebt sich, träumt von einer guten Zukunft, wird ungewollt schwanger und lässt von einer Kurpfuscherin eine Abtreibung vornehmen, an deren Folgen sie stirbt. Aichinger verweigert ihrer Geschichte aber einen solchermaßen linearen Verlauf und unterminiert alle traditionellen "Parameter der realistisch-mimetischen Schreib- und Leseweise", indem sie logische wie chronologische Denkmuster aushebelt. Ihre Geschichte beginnt mit einem Irrealis, nämlich der Imagination des Tot-Seins: Die im Krankenhaus im Sterben liegende Protagonistin antizipiert die eigene Begräbnissituation, schickt sich selbst aus ihrem Grab wieder hinaus und vergegenwärtigt sich ihr Leben stationsweise raffend jeweils gegenchronologisch vom Grab, über die Leichenhalle, das Sterbebett, die Abtreibung, die Liebesgeschichte, den ersten Geschlechtsverkehr, die Schulzeit und die Kindheit bis zu ihrer Geburt.
Rezension zu Karr, Ruven (Hg.) (2015): Celan und der Holocaust. Neue Beiträge zur Forschung. Hannover: Wehrhahn, 190 S., ISBN 978-3-86525-431-3
Am 9. November 2013, zum 75. Jahrestag der sog. Reichskristallnacht, fand an der Universität des Saarlandes das Symposium Paul Celan und der Holocaust statt, das im Untertitel versprach, 'Neue Perspektiven' auf Leben, Werk wie Wirkung dieses bedeutsamen Dichters zu eröffnen. Insgesamt neun Beiträge versammelt der Band, der im Anschluss an die Tagung entstanden ist, darunter Artikel von so ausgewiesenen Celan-Forschern wie Barbara Wiedemann, Lydia Koelle oder Paul Sars. Alle neun verbindet dabei das Ziel, Celan einer wiederholten literaturwissenschaftlichen Lektüre zu unterziehen, und Holocaust, Erinnerung und Zeugenschaft in seinem Werk neu bzw. komplexer einzuordnen. Auch zeitgeschichtliche und biographische Gesichtspunkte der 1950er und 1960er Jahre sollten berücksichtigt werden. Nicht zuletzt verdienten einige Aspekte der Aufnahme und kreativen Umwandlung von Celans Holocaust-Dichtung die Aufmerksamkeit der Forscher.
Jósef Tarnawa, ein Überlebender von Auschwitz, in Großaufnahme in einem Sessel. Er zeigt seine verblasste, eintätowierte Häftlingsnummer: Es ist die Nummer 80064. Er berichtet von deren Entstehung. '80064': so auch heißt dieses Video, 2004 gedreht von dem international renommierten wie auch umstrittenen polnischen Künstler Artur Zmijewski. Mit der Großaufnahme des Überlebenden ruft der Film fast schon vertraute Bilder videographierter Augenzeugenschaft auf, denken wir nur an die gefilmten Interviews der Yale Archives for Holocaust Testimonies oder Claude Lanzmanns Film 'Shoah'. Doch dann weitet sich die filmische Einstellung und wir werden gewahr: Der Überlebende sitzt in einem Tätowierstudio. Der Filmemacher Artur Zmijewski kommt nun selbst ins Bild; er redet auf den Überlebenden ein, will ihn bewegen, seine Häftlingsnummer hier im Studio zu erneuern, sozusagen: 'nachgravieren' zu lassen. Joséf Tarnawa sträubt sich, doch Zmijewski lässt nicht locker. Es folgt ein quälendes Streitgespräch kreisend um die Erneuerung der Nummer; es endet damit, dass der Überlebende seinen Widerstand aufgibt. Die Nummer wird nachtätowiert.
Was Szondis Überlegungen zur kritischen Entscheidung in der Lektüre verdeutlichen, ist die Spezifik eines, mit Hartman gesprochen, "intellektuellen Zeugnisses" in der Literatur. Hartmans intellektueller Zeuge "zeugt für den Zeugen, er empfängt aktiv Wörter, welche die Dunkelheit des Ereignisses widerspiegeln." Die Aufgabe in der Begegnung mit solchen Wörtern, mit solcher Literatur ist, Szondis Theorie und Praxis der kritischen Lektüre zufolge, nicht die Erhellung dieser "Dunkelheit" oder die Übersetzung der hermetischen Sprache in diskursive. Denn die Hermetik ist nicht Ausdruck eines persönlichen Traumas, dessen dunkle Sprache in den Zeugenstand, auf die von Sigrid Weigel "Zeugenschaft" genannte Ebene gehoben werden könnte. Es geht, im Gegenteil, darum, das Zeugnis im "beschädigten Raum der Sprache" anzuerkennen, in dem sich auch der intellektuelle Zeuge, der Philologe des Zeugnisses bewegt. Aufgabe der entscheidenden Lektürepraxis – die, in Weigels Worten, "Erzeugnis" und "Zeugnis" in der Lektüre scheidet – ist, die beschädigte Sprache zu restituieren, als Erfahrungsraum wiederherzustellen und so das Gesagte als Zeugnis von Wirklichem, als Zeugnis historischer Wirklichkeit hören zu können. Die aus Szondis Celan Lektüre abgeleitete von mir sogenannte Philologie des Zeugnisses ist eine Methode, solcher Entscheidung, Erfahrung und Erkenntnis in Literatur zu begegnen und dabei eine kritische Literaturwissenschaft zu betreiben, die der Versuchung widersteht, nur Wissenschaft zu sein und nur davon sprechen zu können, was sie beweisen kann.
Im Folgenden soll das Potential eines interdisziplinären narratologischen Theorietransfers an autobiographischen Holocausterzählungen unter Verwendung von Konzepten aus psychologisch orientierten Theorien erprobt werden: der Begriff der Positionierung aus der psychologischen Konversationsanalyse (discoursive psychology) und das Konzept der Glaubwürdigkeitsmerkmale aus der Gerichtspsychologie. Mit diesen Ansätzen sollen zwei charakteristische Merkmale autobiographischen Schreibens beschrieben werden, nämlich seine Zeitstruktur und sein Faktualitätsanspruch.
The early 20th century is associated with many terrible events in Europe's wartime history. The loss of historical awareness and the attempt to reconcile oneself with the wartime past is the subject of many novels. The theme of alienation and deracination as a result of the horrors of war is treated by W. G. Sebald in his novel 'Austerlitz'. The hero of the novel, having experienced the horrors of the Holocaust, is condemned to a lifetime of remembering, which uncovers terrible secrets that were never meant to be revealed.
The poetic language of the Nobel Prize winner Nelly Sachs has already been examined from several points of view. Nelly Sachs has often been mentioned in connection with Klopstock and Hölderlin owing to her 'high tone' (cf. e.g. Paul Hoffmann's article 'On Nelly Sachs' Pathos' from 1994).
However, even earlier than the style which Hoffmann characterized as the "seed of the concise, hermetic late style with a more moderate pathos", literary techniques other than pathetic speech can be found in the work of Nelly Sachs. In the poems 'WE ARE SO sore', 'SOMEONE COMES', 'A PUNCH' behind a hedge, there is a laconic style, far removed from all hermeticism, which is able precisely to depict the impact of the Shoah on its survivors. This style seems to be cognate with Kaschnitz's late elliptical works, Celan's "greyer language", and Bachmann's laconic poems, all from the 1960s. It is this particular style that is examined in this article.
"Nel regno oscuro" is the first part of a planned trilogy inspired by the "Divine Comedy", integrating the Middle European style of Giorgio Pressburger's previous works with the attempt to engage with the first part of Dante's poem. The role of Virgil, Dante's guide in the "Inferno", is taken by Sigmund Freud, and the journey of the melancholic protagonist begins as psychoanalytic therapy to enable him to come to terms with the loss of his father and his twin brother, but soon turns into a journey through the realm of the dead which, like the "Divine Comedy", takes the shape of a series of encounters with the shades of historical figures. Thus Dante's descent to hell metamorphoses into a phantasmagoric voyage to the most intimate and obscure dimensions of the human psyche as well as a journey through the tragic events of history in the twentieth century - and the Shoah in particular. The combination of the personal, the collective, and even the universal is one of the most interesting aspects Pressburger takes from Dante's poem. In the following analysis Manuele Gragnolati explores how both Dante's "Divine Comedy" and Pressburger's "Nel regno oscuro" place personal and collective suffering at the centre of their own narratives and stage writing as a political, ethical, and possibly 'salvific' way to deal with this dual suffering, even as they differ in their concepts of identity and selfhood on the one hand and in their models of history on the other.
Mehr als einmal hat Ilse Aichinger in den vergangenen Jahrzehnten ihre Vorliebe für Joseph Conrad bekannt: "Ich lese immer wieder Joseph Conrad, obwohl mich weder die Gegenden noch die Handlungen seiner Romane im geringsten interessieren", erklärte sie beispielsweise in einem Interview von 1996. Bereits in einem Fragebogen von 1993 hatte sie auf die Frage nach ihrem "Lieblingsschriftsteller: Joseph Conrad" genannt, und, daß er "zu meinen Liebsten gehört", unterstreicht Aichinger nochmals in einem weiteren Interview zehn Jahre später. Diese gelegentlichen, aber kontinuierlich wiederholten Äußerungen verweisen auf eine bemerkenswerte literarische Genealogie (auf Conrad beziehen sich unter anderen Andre Gidé, T. S. Eliot, Graham Greene, Ernest Hemingway ebenso wie zahlreiche Autoren der Gegenwartsliteratur, so etwa Italo Calvino, V. S. Naipaul, J. M. Coetzee, W. G. Sebald).
Histórias da Arquitetura ou Arquiteturas da História : uma Leitura de "Austerlitz", de W. G. Sebald
(2011)
Na tradição literária do século XIX, as imagens romanescas da arquitetura e da decoração de interiores estavam ligadas a uma tentativa de cópia fiel do real, sob pretexto de um pretenso apagamento do caráter representativo da própria linguagem. No entanto, W. G. Sebald, no romance "Austerlitz", faz um diferente uso dessas metáforas, com grande rendimento ético e estético: nas linhas arquitetônicas e nas construções civis, a personagem Austerlitz, especialista em arquitetura capitalista, entrevê a estrutura de um massacre de proporções abissais, que culminou na shoah. Por trás da racionalidade instrumental e do fascínio do iluminismo, a cidade capitalista carrega em sua imanência – tal qual na página do romance escrito por Sebald – um olhar oblíquo para a destruição perpetrada em nome de um suposto ideal de pureza, racionalismo e ordem. Assim, o romance de Sebald, por meio da metáfora arquitetônica, revela o horror do massacre contra os judeus na Alemanha no século XX, mas sem recorrer a uma estetização do mal que comprometeria a própria reflexão acerca dos descaminhos humanos.
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu forderte immer wieder von der Soziologie ein, dass sie "eine Soziologie der Perzeption der sozialen Welt umfassen [muss], das heißt eine Soziologie der Konstruktion der unterschiedlichen Weltsichten, die selbst zur Konstruktion dieser Welt beitragen." Diese Weltsichten der sozialen Akteure unterscheiden sich in Abhängigkeit von deren unterschiedlichen Positionen im sozialen Raum, d. h. sie entsprechen jeweils den objektiven Unterschieden des Sozialraumes und finden ihren Niederschlag auf allen Ebenen sozialen Handelns und Lebensstils. Mit den vorliegenden Ausführungen möchte Maja Suderland dieser Aufforderung Bourdieus nachkommen und den Versuch unternehmen, eine Rekonstruktion der "Perzeption der sozialen Welt" an Hand einer literarischen Habitusanalyse durchzuführen und damit einen kleinen Teil zur Soziologie der Konstruktion von "Weltsichten" beizusteuern. Die hierbei verwendeten literarischen Beispiele stammen aus so genannter Holocaustliteratur, die sich entweder autobiografisch oder aber auf autobiografischer Basis fiktional mit den Erfahrungen während eines Extremfalls des Sozialen befasst. Daher gibt uns diese Literatur nicht über die Weltsichten "gewöhnlicher" Akteure Aufschluss, sondern über solche, von denen wir zumeist annehmen, dass wir sie wegen der besonders extremen Umstände in den Konzentrationslagern gemeinhin gar nicht als "Handelnde" im eigentlichen Sinne betrachten können. Mit der Analyse soll daher nicht allein dem Bourdieuschen Habituskonzept Plausibilität nachgewiesen und ein Plädoyer für die Methode der literarischen Habitusanalyse gehalten werden, sondern zugleich den KZ-Häftlingen, deren Äußerungen hierbei analysiert werden und mit deren "Perzeption der sozialen Welt" sich Maja Suderland befasst, ihr Status als soziale Subjekte und Akteure - und damit ihre Menschenwürde - zurückgegeben werden. Im Folgenden wird nach einigen einführenden theoretischen und methodologischen Überlegungen anhand zwei ausgewählter empirischer Beispiele aus der Holocaustliteratur eine literarische Habitusanalyse vorgestellt und gezeigt, in wie weit eine solche Analyse tatsächlich Aufschluss über die "Weltsichten" sozialer Akteure geben kann und zu deren Rekonstruktion beiträgt. Einige abschließende Überlegungen sollen das Ergebnis zusammenfassen und zur weiteren Diskussion anregen.
The poem "Zurich, zum Storchen" by Paul Celan is often read as a document on the tension between Celan and Nelly Sachs, which resulted particularly from their different attitudes to the Shoah. However if the poem is read in connection with the cycle "Die Niemandsrose" and with Celan’s poetological thinking at this time, Celan’s opposite standpoint means much more than a theological discussion: it serves for the affirmation of human presence.
The article studies the German-speaking poetess Nelly Sachs, who received the Nobel-Prize for literature in 1966, together with Shmuel Agnon. In order to shed light upon the behind the decision of the jury, an overview on life and work of the author will be given and a number of poems will be analyzed.
Rezension zu Axel Dunker: 'Die anwesende Abwesenheit'. Literatur im Schatten von Auschwitz, München (Wilhelm Fink) 2003. 333 Seiten.
Vom Mainzer Germanisten Axel Dunker, seit langem ein ausgewiesener Spezialist in Sachen Literatur zum "Dritten Reich", liegt nunmehr seine 2001 in Mainz eingereichte Habilitationsschrift ''Die anwesende Abwesenheit'. Literatur im Schatten von Auschwitz' gedruckt vor. Darin beschäftigt er sich mit der Frage: Wie lässt sich der Holocaust künstlerisch verarbeiten und darstellen?