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Die deutsche Präposition-Artikel-Enklise bietet wie kaum eine andere Grammatikalisierung Einblicke in den Mikrobereich von Grammatikalisierungsprozessen: Klare, "zielorientierte" Verhältnisse sind hier nicht zu beschreiben, was der Grund für ihre bisher so geringe Beachtung durch die Grammatikalisierungsforschung sein dürfte. Es wurde deutlich, dass bezüglich der hier als zentral bewerteten Morphologisierung des Artikels das gesamte Spektrum von Nichtverschmelzbarkeit bis hin zu (kurz vor Flexiven stehenden) obligatorisch verschmelzenden speziellen Klitika abgedeckt ist. Diachron hat sich zwar insgesamt eine deutliche Rechtsdrift auf der Grammatikalisierungsskala vollzogen; bezüglich des Genitivartikels hat jedoch eine Degrammatikalisierung in Form von sog. retraction (gemäß Hapelmath 2004) stattgefunden, die hier in einer Demorphologisierung (Resyntaktisierung) eines Klitikons besteht. Dabei findet keine "Relexikalisierung" im Sinne einer lexikalischen Anreicherung eines bereits grammatikalisierten Elements statt (siehe hierzu Haspelmath 1999). Mittel- und frühneuhochdeutsche Verschriftungen deuten auf reichere Inventare an Verschmelzungs formen hin, doch sind hierzu diachrone Untersuchungen erforderlich. Ebenso ist der Übergangsbereich zwIschen einfachen und speziellen Klitika in sich abgestuft und weitaus komplexer gestaltet als hier dargestellt. Auch dazu besteht Bedarf an Detailanalysen unter der Fragestellung, welche der unter Abschnitt 2.2 aufgeführten Artikelfunkttonen am ehesten eine Präposition-Artikel-Verschmelzung erfordern. Einiges deutet auf den am stärksten desemantisierten (expletiven) Artikel z.B. vor Eigennamen hin. Um den Einfluss von Schriftlichkeit und Standardisierung auf Grammatikalisierungsprozesse ermitteln zu können, wurden zwei Dialekte in den Blick genommen: das Ruhrdeutsche, das die Erwartung nach deutlich fortgeschritteneren Verhältnissen erfüllt, und das Alemannische, das andere Phänomene ausgebildet hat wie etwa die Proklise des Artikels an das Substantiv, die Nullrealisierung klitischer Artikelformen und den kategorialen Umbau der vier Nominalkategorien am Artikel. Die Einbeziehung weiterer Dialekte und vor allem auch der gesprochenen "Umgangssprache" könnte weiteren Aufschluss über die Ratio dieser Grammatikalisierung liefern. Sollten flektierende Präpositionen Ziel dieses Wandels sein, so hätte dies tiefgreifende Konsequenzen für die Grammatikschreibung.
Bis heute bildet die Morphologie keinen Schwerpunkt der Dialektlinguistik. Dies wird immer wieder moniert. H. Tatzreiter (1994) kommt nach seinem Streifzug durch die "Bibliographie zur Grammatik der deutschen Dialekte" von P. Wiesinger / E. Raffin (1982) zu dem Ergebnis, "daß die Leistungskurve im grammatischen Bereich ,von der Lautlehre über die Formen- und Wortbildungslehre bis zur Satzlehre' steil abfällt" (S. 30 bzw. P. Wiesinger / E. Raffin 1982, S. XXIX). Ein weiteres Problem sieht er in der besonders durch die angelsächsische Tradition motivierten Vernachlässigung der Morphologie die zwischen der phonologischen, lexikalischen und syntaktischen Ebene ein gefährdetes Dasein fristet" (S. 30): "So lange die Morphologie sich nicht aus der 'Umklammerung' der Phonologie und Syntax lösen kann, um eigenständig als Forschungsobjekt zu gelten, wird es um die umfassende Erforschung und Darstellung schlecht bestellt sein" (S. 34).
Ergebnis: Wollte man versuchen, nach der Anzahl der zusammengestellten althochdeutschen Belege die frühmittelalterliche Ernährung zu rekonstruieren, so ergäbe sich folgendes Bild: Mit 1070 bzw. 711 Nachweisen müssen Gemüse und Obst einen enonnen Anteil an der Ernährung eingenommen haben. Gemeinsam mit Getreide bildeten sie den Grundstock der Ernährung: Getreide und Getreideprodukte sind zusammen 889-mal belegt: Mit 237 zu 134 Nennungen stellen Brotgetreide dabei 63,9%, während Grützgetreide nur einen Anteil von 36,1 % erreichen. Dieses Verhältnis entspricht genaujenem zwischen den Belegstellen für Brot (63,1%) und für breiartige Speisen (36,9%). Die insgesamt 1446 Belege für Fleischkonsum setzen sich zusammen aus dem Fleisch von Haustieren (601-mal), Wildtieren (352-mal), Haus und Wildgeflügel (376-mal) sowie 117-mal Wurst und Schinken. Fisch ist 518-mal belegt. Milchprodukte (I07-mal), Hülsenfrüchte (etwa 193-mal) und Nüsse (152-mal) sowie pflanzliche und tierische Fette (135- bzw. 147-mal) spielten eine eher untergeordnete Rolle. Von den insgesamt 5402 Nachweisen für Nahrungsmittel stellen also die überwiegend Kohlenhydrate enthaltenden Lebensmittel (Gemüse, Obst, Getreideprodukte, Hülsenfrüchte) 53 %, die überwiegend Eiweiß enthaltenden Lebensmittel (Fleisch, Fisch, Milchprodukte, Eier) 39%, und die überwiegend Fett enthaltenden Lebensmittel (pflanzliche und tierische Öle und Fette, Nüsse) 8%.
"Vor einem Bild", so Arthur Schopenhauer, "hat Jeder sich hinzustellen, wie vor einem Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde; und, wie jenen, auch dieses nicht selbst anzureden: denn da würde er nur sich selbst vernehmen." Es ist, als hätte Günter Eich eben diese Aufforderung ernst genommen und in ein subversives Sprachspiel verwandelt. Sein Gedicht "Munch, Konsul Sandberg" aus dem Jahre 1963 erweist sich dabei als ebenso bemerkenswerter wie eigenwilliger Beitrag zum Thema "Text und Bild". [...]Wenn Günter Eichs Gedicht aus dem Band "Zu den Akten" von 1964 etwas aus dem Bild übemimmt, was gleichsam ins Auge springt, so ist es jene genannte Ambiguität zwischen Präsenz und Entzug, zwischen Flächigkeit und Plastizität der Gestalt, die der Text nun seinerseits, in einer Art "overkill" gleichsam, radikalisiert. Eich besingt nicht das Bild, er kokettiert nicht mit der Tradition des Bildgedichtes, er treibt und hintertreibt vielmehr die Erwartung des Lesers durch die Konstruktion eines provozierenden Sprechers. Einer solchen Konstruktion scheinen Fragen vorausgegangen zu sein, wie: Kann ein Text etwas von der Spannung und Energie, die das Gemälde ausstrahlt, "übersetzen"? Läßt sich etwas von der (Nach-)Wirkung dieses Bildes fassen, ohne in gängige Register zu verfallen, mit denen Bilder in der Regel kommuniziert werden? Kann, mit anderen Worten, das Verhältnis von Text und Bild anders artikuliert werden als im Modus der Beschreibung, eines Narrativs oder einer hermeneutischen Belehrung - Modi allesamt der Bemächtigung, der Rivalität oder der Unterwerfung?
Die Erfahrung von Auschwitz bleibt eine offene Wunde, eine in der Zeit dauernde Frage, die auch die Gegenwart betrifft. In seinem Gedicht "Lehren ziehen" beschwört Günter Kunert die Welt der Konzentrationslager herauf, und er findet dort die Wurzeln eines Übels, das die Existenz der Menschheit bedroht. [...] In den ersten fünf Versen läßt der Dichter eine Situation wieder aufleben, die Primo Levi mehrfach in "Se questo è un uomo" (1947) beschrieben hat [...] Das von Kunert aufgerufene Bild verweist unzweifelhaft auf diese Erfahrung. Aber nach mehr als vierzig Jahren zeitlichen Abstands läd es sich auch auf mit Elementen aus der nachfolgenden Geschichte, und nicht nur der deutschen. [...] Das nur aus einer Strophe bestehende Gedicht ist Primo Levi gewidmet, wie der geklammerte Untertitel angibt, der seinen Namen zwischen lateinischer Erinnerungsformel und den Leerzeilen zum Gedichtanfang aufspannt. Das 1989 geschriebene Gedicht erinnert an den italienischen Autor, der 1987 unter nicht geklärten Umständen umkam.
Einleitung
(2005)
Das Interesse der Altgermanistik an der deutschen Glossierung lateinischer Texte verteilt sich sehr ungleich auf die Quellen. Auf der einen Seite gilt den althochdeutschen Glossen seit dem 19. Jahrhundert kontinuierliche Aufmerksamkeit, die sie als sprachgeschichtlich kostbares Quellenmaterial in ansonsten dürftiger Zeit auf sich ziehen wie literarhistorisch als Quellentyp, an dem sich die Anfange der deutschen Sprache auf ihrem Weg in Schriftlichkeit und Literaturfahigkeit verfolgen lassen. Weithin unerschlossen präsentieren sich dagegen die spätmittelalterlichen Glossenbestände, und kaum ein Interesse des Faches zeichnet sich ab, an diesem Zustand etwas zu ändern.
Facetus
(2005)
Der seit dem 13- Jahrhundert lateinisch überlieferte und wohl nicht allzulange vorher entstandene ,Facetus Cum nihil utilius' gibt sich selbst als Ergänzung der ,Disticha Catonis' aus und wird häufig mit diesem gemeinsam tradiert und mit ihm im Lateinunterricht traktiert. Da Bestand und Folge der paarweise gereimten Hexameter stärker wechseln als bei diesem, lassen sich Traditions- und Eigenanteil der Übersetzungen schwerer als dort bestimmen. Im deutschen Sprachraum entstehen Übersetzungen seit dem zweiten Viertel des 14., im Mittelniederländischen bereits im 13. Jahrhundert.
Cato
(2005)
Die im 3. oder 4. Jahrhundert entstandenen ,Disticha Catonis' sind seit karolingischer Zeit im lateinischen Trivialunterricht verankert. Dort werden sie regelmäßig als in vier Bücher unterteilte Zusammenstellung von etwas über 140 Hexameterdistichen mit kurzer Praefatio in Prosa und einer im Bestand wechselnden Reihe von Prosasentenzen traktiert. Zuvor nur vereinzelt, werden sie im 13. Jahrhundert erstmals in breitem Schub gleich in mehrere Volkssprachen Europas übersetzt. Speziell im deutschen Sprachraum begleitet eine zweite größere Welle der Textproduktion den mächtigen Aufschwung des institutionalisierten Schulunterrichts in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Im rhein-maasländischen Raum und im angrenzenden Westen bringen diese zwei übergreifenden Vorgänge zwei in Verbreitung, Faktur und Funktion verschiedene ,Cato'-Übersetzungen hervor. Sie vertreten in der Folgezeit in ihrem jeweiligen Verbreitungsgebiet bis in den sich durchsetzenden Buchdruck hinein jeweils konkurrenzlos den volkssprachigen ,Cato' ihres Raumes.
Die Krupps
(2005)
In den Text-, Kommunikations- und Medienwissenschaften gewinnt in jüngster Zeit ein Thema an Resonanz, das von den Medien selbst längst schon vorgegeben wurde: Sprachwandel im Zeichen des Medienwandels. Den damit einhergehenden und teilweise wohl auch dadurch bedingten Veränderungen in den Gepflogenheiten unseres kommunikativen Gebarens im Alltag gilt daher, beispielsweise, das Interesse der Beiträge zu dem Sammelband Medien, Texte und Maschinen, der die ersten Umrisse einer zu entwickelnden Angewandten Mediensemiotik zu zeichnen strebt. Zu ihren Aufgaben gehören freilich nicht nur die Sichtung der dort vorgestellten theoretischen Ansätze, terminologischen Vereinbarungen, methodischen Instrumentarien, nicht nur die Beobachtung der Konsequenzen technischer Innovationen für den Umgang mit den gewohnten Ressourcen täglicher Information, nicht nur die Analyse der neuartigen Gestalt polycodierter Texte und ihrer Funktionen in Bildung und Wissenschaft, nicht nur die Rekonstruktion von Entwicklungslinien traditioneller Medien etwa der Presse oder der Werbung im Übergang vom Industrie- zum Informationszeitalter, nicht nur die Veranschaulichung versprachlichter Gehalte in anderen Codes, nicht nur die Entfaltung von Perspektiven des Wissenstransfers durch Computervisualistik oder der Sinnkonstruktion an den modernen Maschinen der Kommunikation. Im Folgenden sollen einige Anregungen zusammengefasst und weitergeführt werden, den sog. neuen Genres germanistische Neugier zu widmen: Netzliteratur, Hyperfiction, Computeranimation im Film, Bildschirmästhetik im Fernsehen, Interface- und Textdesign und E-Book-Roman, denn all dies erfordert neue Lektüre- Modelle, zu deren Entwurf und theoretischer Grundlegung es einer textwissenschaftlich systematischen Erforschung bedarf der vielfältigen und sich wechselseitig befruchtenden Formen künstlerischen Ausdrucks in allen Medien und über die kulturellen Grenzen hinweg.
Führen Schriftsteller und Schriftstellerinnen auch Online-Journale? Ist die tagebuchartige Schreibe der Blogger gar Literatur? Darüber ein Urteil zu fällen, steht der Autorin als Kulturwissenschaftlerin nicht zu. Eines steht jedoch fest: Das Publizieren in einem Weblog und das Veröffentlichen über Verlage scheinen sich gegenseitig tendentiell auszuschließen. Die Schnittmenge von Autoren und Autorinnen, die »Literatur« in Blogs schreiben und solchen, welche in gedruckter Form publizieren, ist sehr klein. Anders ausgedrückt: Wer über einen Verlag Bücher publiziert, führt selten einen eigenen Weblog.
Stellt man die Frage nach den enzyklopädischen Weltentwürfen des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, so führt kein Weg am Phänomen des Hypertextes vorbei - hypertextuelle Netzstrukturen, das wissen gerade auch die Lexikologen, erweisen sich für die Darstellung komplexer Wissenszusammenhänge als besonders geeignet. So haben wir heute im Rahmen von Daten-CDs und des World Wide Web die Möglichkeit, auf Enzyklopädien zuzugreifen, die offline wie online als Hypertexte organisiert sind - etwa die Encyclopaedia Britannica.
Will Literarur "Wirklichkeit" darstellen, so sind die "Neuen Medien" ein Aspekt dieser Wirklichkeit, an dem sich die Gegenwartsliteratur abzuarbeiten hat. Die "Gegenwärtigkeit" der Gegenwartsliteratur beweist sich jedoch nicht nur daran, dass sie das Gegenwartsphänomen "Neue Medien" in ihren Darstellungsanspruch integriert, sondern, wie sie die "Neuen Medien" als Rahmenbedingung des Schreibens mit dem Akt literarischen Schreibens zu einer "Schreib-Szene" koppelt.
Archiv
(2005)
I. BEGRIFFSGESCHICHTE. Archiv (von gr. archeion bzw. lat. archivum) bezeichnet das Amtsgebäude, in dem bestimmte Dokumente (Urkunden, Akten, Amts- und Geschäftsbücher) aufbewahrt werden, die zu rechtlichen oder administrativen Zwecken erhalten werden sollen. In einem weiteren Sinne sind Archive Institutionen, die der selektiven Sammlung und der konservierenden Speicherung von Dokumenten aller Art (nicht nur schriftliche, sondern auch Bild- und Tondokumente) dienen. Im Unterschied zu Bibliotheken und Museen, mit deren Arbeit sich das Archiv zum Teil überschneidet, zeichnet sich das Archiv dadurch aus, daß das Archivgut, "nur zu einem kleinen Teil von vornherein als dauerndes Zeugnis [...] angelegt wurde" (Franz 1989,2).
Die Schnittstelle zwischen Riss und Sprung : vom herausgerissenen Manuskript zum Hypertext-Link
(2005)
Ich möchte im Folgenden versuchen, den Begriff der Schnittstelle mit dem Begriff der Hypertextualität zu koppeln. Meine Zielrichtung wird dabei eine medien- und literaturgeschichtliche zugleich sein. Das heisst: ich möchte im Horizont heutiger, elektronischer Hypertextualität die Frage aufwerfen, in welcher Form die literarischen Quasi-Hypertexte von einst das Problem der Schnittstelle thematisiert und verkörpert haben.
Edition und Open Access
(2005)
Der Wiener Kanoniker Ladislaus Sunthaim, einer der um 1500 am historisch-genealogischen Forschungsprojekt Maximilians I. tätigen Gelehrten, wurde von Fritz Eheim - unter anderem in seiner leider ungedruckt gebliebenen Prüfungsarbeit am IfÖG 1950 - als einer jener reisenden Historiker in der Zeit des Humanismus porträtiert, die unter anderem in Klosterarchiven und -bibliotheken nach verborgenen Quellenschätzen fahndeten. Im Zeitalter von Kopie und Mikrofilm ist es wesentlich einfacher geworden, an entlegene handschriftliche Quellen zu kommen. Heutzutage macht sich der reisende Historiker auf den Weg, um in anderen Bibliotheken und Forschungsinstituten umfangreiche kommerzielle Datenbanken und digitale Sammlungen zu konsultieren, die sich die eigene Institution nicht leisten kann oder will, denn ein unkomplizierter Fernzugriff ist aus urheber- und lizenzrechtlichen Gründen nicht möglich.
In seinem bemerkenswert frühen Versuch, die Wissenschaft zu beobachten, nennt Ernst Mach zwei starke Argumente für die neuen optischen Medien, insbesondere die Photographie: Sie bringen 1. neue Schaueffekte in die Welt, optimieren somit Unterhaltung; 2. liefern sie neues Material für die Wissenschaftler. Die Photographie schafft das, indem sie Unsichtbares sichtbar macht, zeigt, was sich "der natürlichen Anschauung" entzieht.
"Tell me where is fancie bred, / or in the heart or in the head." (III,2) Diese Elementarfrage des Kaufmanns von Venedig hat schon die Antike beschäftigt: Der griechische Arzt Alkmaion von Kroton lokalisierte im 6. Jahrhundert v. Chr. die Sinneswahrnehmungen, Gedächtnis und Vernunft im Gehirn, für andere war das Herz Zentralorgan der Gedanken oder das Zwerchfell. Wenn am Beginn des 21. Jahrhunderts das Gehirn als Prozessor aller unserer Verhaltensleistungen gilt, so scheint sich das Problem ein für alle Mal erledigt zu haben. "Wir gehen heute davon aus", schreibt Wolf Singer, "daß alle unsere Verhaltensleistungen, die höchsten kognitiven Funktionen und mentalen Prozesse eingeschlossen, auf neuronalen, also materiellen Prozessen in unseren Gehirnen beruhen." Glaube, Wille, Vorstellung, alles ehemals Innere des Ich, ist auf das Gesamtorgan des Gehirns verteilt.
Theatermetaphorik in Wissenschaft und Wissenschaftstheorie um 1700 : Gottfried Wilhelm Leibniz
(2005)
Francis Bacon schreibt 1620 im Novum Organum: „Es gibt endlich Idole, welche in den Geist der Menschen aus den verschiedenen Behauptungen philosophischer Lehrmeinungen wie auch aus den verkehrten Gesetzen der Beweisführung eingedrungen sind; diese nenne ich die Idole des Theaters [...].” Der Wegbereiter der empirischen Wissenschaften gebraucht die Theatermetapher zur Bezeichnung einer wissenschaftlichen Methode, die falsch ist und den Weg zur Wahrheit blockiert. Doch nicht immer stehen sich im 17. Jahrhundert Theater auf der einen, Wissenschaft und Wissenschaftstheorie auf der anderen Seite diametral gegenüber – es kommt vielmehr zu einer äußerst produktiven Begegnung zwischen ihnen.
Propagandafilme der NSDAP
(2005)
Dass dokumentarische Filme auch Propagandazwecken dienen können, war in den 20er und 30er Jahren international akzeptierter Konsens. Der nationalsozialistische Propagandafilm war, so gesehen, keine ausgesprochene dokumentarische Entgleisung. Wie die nationalsozialistische Partei und später der NS-Staat den Dokumentarfilm nutzten, um ihre Ideologie und Ziele zu verbreiten, untersucht Peter Zimmermann in diesem Beitrag. Er behandelt den nationalsozialistischen Propagandafilm von den Anfängen der Wahlwerbung über die Parteitagsfilme bis zur Verbreitung der arischen Rassenideologie. Besonderes Augenmerk legt er auf die Ästhetik der Riefenstahl-Filme mit ihrer idealisierenden Verklärung Hitlers und der NSDAP und auf die filmische Konstruktion von Feindbildern wie in Hipplers Propagandafilm "Der ewige Jude". Die einzelnen Kapitel sind Auszüge aus Band 3 des Sammelwerks "Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland".
In diesem Aufsatz geht es um die Datenbank ‚Mehrsprachigkeit’ und das System EXMARaLDA, die am SFB 538 ‚Mehrsprachigkeit’ der Universität Hamburg entwickelt werden. Da deren konzeptuelle und technische Details bereits an anderer Stelle ausführlich dargestellt worden sind (z.B. Schmidt 2004), soll der Schwerpunkt hier einerseits auf solchen Aspekten liegen, die – gemäß dem Thema des Workshops – mit allgemeineren Fragen zum Umgang mit computerverwertbaren, heterogenen linguistischen Datenbeständen zu tun haben. Andererseits soll versucht werden, aus den praktischen Erfahrungen der nunmehr vierjährigen Projektarbeit einige Erkenntnisse abzuleiten, die über den konkreten Projektzusammenhang hinaus für die weitere Arbeit auf diesem Gebiet interessant sein könnten.
Diskurspragmatische Faktoren für Topikalität und Verbstellung in der ahd. Tatianübersetzung (9. Jh.)
(2005)
The paper presents work in progress on the interaction between information structure and word order in Old High German based on data from the Tatian translation (9th century). The examination of the position of the finite verb in correspondence with the pragmatic status of discourse referents reveals an overall tendency for verb-initial order in thetic/all-focus sentences, whereas in categorical / topic-comment sentences verb-second placement with an initial topic constituent is preferred. This conclusion provides support for the hypothesis stated in Donhauser & Hinterhölzl (2003) that the finite verb form in Early Germanic serves to distinguish the information-structural domains of Topic and Focus. Finally, the investigation sheds light on the process of language change that led to the overall spread of verb-second in main clauses of modern German.
Der Beitrag geht davon aus, dass Phraseologismen zum einen als prototypische Verkörperung des ,,kulturellen Gedächtnisses" einer Diskursgemeinschaft, zum anderen als ein universelles, jeder Sprachkultur immanentes Kulturphänomen angesehen werden können. In diesem Zusammenhang setzt er sieh zum Ziel, das Spannungsfeld der Verflochtenheit von ,Kultur" und "Sprache" mit ihren Ausprägungen und Konsequenzen am Material der Phraseologie im Hinblick auf das Deutsche und das Ungarische analytisch herauszuarbeiten und mehrperspektivisch zu hinterfragen. Denn die - im Titel der Tagung hervorgehobene - Kulturgeschichte und die Phraseologie stellen eine äußerst facettenreiche Thematik dar, die eine Reihe kulturphilosophischer, kultursemiotischer, interkultureller, kognitiv-linguistischer u. a. Fragen aufwirft und sowohl einen synchronen als auch einen diachronen Betrachtungsrahmen effordert. Der vorliegende Aufsatz kann sich jedoch auf lediglich einige aktuelle theoretische, methodologische und empirische Aspekte konzentrieren und möchte in disziplinärer Hinsicht kontrastiv und kontaktlinguistisch - dabei methodologisch phänomen- bzw. belegorientiert und problernbezogen - vorgehen.
Die moderne Gesellschaft ist von Veränderungen epistemischer und institutioneller Strukturmerkmale der Wissenschaft geprägt, die ihrerseits einen Wandel in anderen Bereichen der Gesellschaft auslösen. In diesem Zusammenhang – wie auch in der neuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung überhaupt – kommt der Sprachlichkeit, dem Kulturphänomen "Wissenschaftssprache", eine eminente Rolle zu, etablierte sich doch in den letzten Jahrzehnten eine „linguistische Teildisziplin der Wissenschaftssprachforschung“ (vgl. KRETZENBACHER 1992: 1; HESS-LÜTTICH 1998). "Wissenschaft" scheint mir jedoch ein (interkultureller) Problembegriff zu sein, beispielsweise auch schon deswegen, da dieses Wort (samt seinen Ableitungen wie Wissenschaftler, wissenschaftlich, Wissenschaftlichkeit) stark kulturbedingt ist (vgl. CLYNE/KREUTZ 2003: 60); so korreliert etwa der deutsche Terminus Wissenschaft nicht mit dem englischen science etc. Das Englische kann zweifellos auf eine konkurrenzlose Karriere als wissenschaftliche Universalsprache zurückblicken: Wissenschaftler – auch deutschsprachige – bedienen sich bei der Veröffentlichung wichtiger Forschungsergebnisse zunehmend der englischen Sprache. Der Anteil der wissenschaftlichen Publikationen auf Englisch beträgt heute weltweit über 90 Prozent, während nur noch wenige Prozent des wissenschaftlichen Publikationsaufkommens deutschsprachig sind. Auch die Zahl der wissenschaftlichen Tagungen (selbst im deutschen Sprach- und Kulturraum), die ausschließlich Englisch als Konferenzsprache zulassen, nimmt stetig zu. Außerdem werden immer mehr Vorlesungen bzw. ganze Studiengänge an sonst deutschsprachigen Universitäten in Englisch angeboten. „Die Spitzenforschung spricht englisch“ – stellte der spätere Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Hubert Markl, bereits vor zwanzig Jahren lapidar fest (Quelle: DUZ, 22/2002, S. 12). Gleichwohl wird immer wieder – oft etwas euphorisch – auf Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa verwiesen, die traditionell als ein Refugium des Deutschen u.a. auch als Wissenschaftssprache galten bzw. auf weiten Strecken nach wie vor gelten. So kann exemplarisch die „Physikalische Zeitschrift der Sowjetunion“ erwähnt werden, die von 1932 bis 1937 auf Deutsch erschien. In diesem interessanten und zugleich äußerst komplexen Spannungsfeld soll es sich im vorliegenden Beitrag um das Thema ‘Sprachen in den Wissenschaften’ als Denk- und Darstellungsmedia handeln. Dabei soll zum einen die Problematik der Mehrsprachigkeit der Wissenschaften (mit besonderer Berücksichtigung des Deutschen) im mehrsprachigen, multikulturellen und kultursensiblen Kontaktraum Mittel- und Osteuropa angesprochen werden, zum anderen – weil ja auf unserer Tagung auch andere Teilareale, wie z.B. Rumänien, vertreten sind – soll der besondere Schwerpunkt auf Ungarn liegen. Hauptziel der Erörterungen besteht darin, die Entwicklung der in dieser Region wirksamen Wissenschaftssprachen diachron herauszuarbeiten, den derzeitigen Stand für die Bereiche Sprachen in der akademischen Lehre, Forschungssprachen (d.h. Sprachen der Forschungskommunikation) und Publikationssprachen – auch mit Hilfe empirischer Daten – mehrperspektivisch zu dokumentieren und aktuelle Tendenzen reflektorisch aufzuzeigen.
Wert/Preis
(2005)
Die im Industriezeitalter und im globalen Mittel beobachtete Erwärmung der unteren Atmosphäre zeigt ausgeprägte regional-jahreszeitliche Besonderheiten (IPCC 2001, SCHÖNWIESE 2003, 2004). Dies gilt in noch höherem Maß für den Niederschlag (vgl. Kap. 3.1.2 und 3.1.8). Die Vermutung, dass eine solche Erwärmung zu einer Intensivierung des hydrologischen Zyklus führt, was im Prinzip zunächst richtig ist (vgl. Kap. 3.1.2), erweist sich jedoch als viel zu simpel, wenn daraus einfach auf eine generelle Niederschlagszunahme geschlossen wird. Dies gilt sogar innerhalb einer so kleinen Region wie Deutschland. Denn obwohl Deutschland im Mittel überproportional an der »globalen« Erwärmung teilnimmt (SCHÖNWIESE 2003, 2004), zeigen die Langzeitänderungen des Niederschlages im Detail ganz unterschiedliche Charakteristika. Dabei kann die hier vorgestellte Beschreibung der in Deutschland beobachteten Niederschlagtrends subregional noch wesentlich verfeinert werden, vgl. z.B. Analyse für Sachsen (FRANKE et al. 2004), da der Niederschlag eine nur geringe räumliche Repräsentanz aufweist (SCHÖNWIESE & RAPP 1997). Zeitliche Änderungen von Klimaelementen lassen sich nun in ganz unterschiedlicher Weise betrachten. Am meisten verbreitet sind lineare Trendberechnungen, wie sie auch einem Teil der hier vorliegenden Studie zugrunde liegen. Es können aber auch Trends anderer statistischer Kenngrößen als des Mittelwertes von Interesse sein, z.B. der Varianz. Häufigkeitsverteilungen, die in normierter Form Wahrscheinlichkeitsdichtefunktionen heißen, erlauben die Bestimmung solcher Kenngrößen in Form der Verteilungsparameter. Wird unter Nutzung geeigneter Verteilungen (z.B. Normal- oder Gumbelverteilung, vgl. unten Abb. 3.1.6-4) eine statistische Modellierung der jeweils betrachteten klimatologischen Zeitreihe vorgenommen, werden Aussagen über die Unter- bzw. Überschreitungswahrscheinlichkeiten bestimmter Schwellenwerte möglich, in verallgemeinerter Form für beliebige Schwellen und Zeiten (TRÖMEL 2004). Da dieser extremwertorientierte Aspekt von großer Wichtigkeit ist, soll auch ihm hier nachgegangen werden (vgl. alternativ Kap. 3.1.7 und 3.1.10). Die im Folgenden verwendeten Daten sind jeweils Monatssummen des Niederschlages 1901–2000 an 132 Stationen in Deutschland (teilweise unter Einbezug einiger Stationen in den angrenzenden Ländern), einschließlich der daraus abgeleiteten Flächenmittelwerte (sog. Rasterdaten; Quelle: Deutscher Wetterdienst, siehe u.a. MÜLLER-WESTERMEIER 2002; vgl. weiterhin RAPP & SCHÖNWIESE 1996, dort auch Hinweise zur Homogenitätsprüfung, sowie RAPP 2000).