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Das schöne Wort "Weltliteratur" verdanken wir zwar nicht Goethe, wie immer wieder behauptet wird, sondern Wieland. Goethe aber verdanken wir einen Begriff von Weltliteratur, der sich nicht auf den Kanon ihrer Meisterwerke beschränkt, wie es sowohl bei Wieland als auch im heutigen Sprachgebrauch konnotiert wird. Seine Verwendung des Begriffs umfaßt alles, was durch die Beschleunigung von Handel und Verkehr an Gedrucktem grenzüberschreitend Verbreitung findet. Dazu gehört sowohl die mit der Internationalisierung der Märkte unvermeidlich ausufernde Massenware als auch das Pretiose; die "englische Springflut" genauso wie der chinesische Sittenroman des Yü-chiao-li. Das entscheidende Definitionskriterium für Goethes Begriff der Weltliteratur ist die weltweite Rezipierbarkeit. Und was das Bedeutende vom Unbedeutenden unterscheidet, ist dennoch von denselben kommunikativen Voraussetzungen abhängig. ...
The author of the study examines the relations between the poetry of the German expressionist Georg Heym (1887–1912), the Austrian expressionist Georg Trakl (1887–1914), and Czech literature, especially poetry. Both these authors are representatives of early expressionism. Heym is also known in the Czech lands through the translations of Bohuslav Reynek, František Vrba, Ivan Slavík, Ludvík Kundera and Radek Malý. Trakl's work affected the development of modern Czech poetry through translations by Bohuslav Reynek. Specific and significant manifestations of Trakl's influence can already be found in the work of Bohuslav Reynek and in the first two collections by František Halas. In varying degrees, the authors have left traces in the poetry of František Hrubín, Vilém Závada and Jan Zahradníček. The echoes of Trakl's poetry can be heard in the 1960s in the work of the poet Zbyněk Hejda.
Alles, was einen Sauer-, Nadler-, Kafka-, Schnitzler-Forscher, einen Romantik-, einen Methodologie- und Germanistik-Historiker, einen Kenner der Prager deutschen Literatur an Körner interessieren könnte, ist bereits – in früherer und neuester Zeit – von Eisner, Fischer, Wellek, Klausnitzer, Eichner, Krolop, Fliegl, Härtl, Sauder, Fohrmann gesagt worden. Freilich nicht in zusammenfassender Art etwa eines würdigenden Sammelbandes: Eine selbständige Körner-Tagung und ein Körner-Sammelband würden sich lohnen, denn auf einem solch zeitlich wie räumlich breiter abgesteckten Feld könnte man die (in den genannten Schriften manchmal nur angedeuteten) Thesen und Themen des Körnerschen Werkes breiter ausführen, die methodologischen und weltanschaulichen Kämpfe innerhalb der germanistischen Kreise seit Scherer beleuchten, die Positionen der Prager germanistischen Ordinarien innerhalb dieser Kreise absteckten, das komplizierte Knäuel der deutsch-tschechisch-jüdischen Beziehungen im Prag der Zwischenkriegszeit ansatzweise entwirren. Außerdem verdient Josef Körner, ein großer Kenner der deutschen Romantik, glücklicher Entdecker und verlässlicher Herausgeber verschollen geglaubter romantischer Texte, bissiger, brillianter Rezensent, schonungsloser Kritiker aller Verstöße seiner germanistischen Zeitgenossen gegen wissenschaftliche Sauberkeit, fleißiger Begleiter neuester Literatur und Literaturwissenschaft, Josef Körner, ein bezugsreicher Mann, der am Ende sein Leben und Werk trotzdem nicht anders bewerten konnte als einen Scherbenhaufen, verdient unsere Aufmerksamkeit und Erinnerung.
In einem 2015 veröffentlichten Ranking des populären Wissenschaftsportals 'postnauka' wurde in der Rubrik "die fünf wichtigsten Bücher zur intellectual history" Reinhart Kosellecks Monographie 'Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten' vorgestellt. Der Autor Ivan Boldyrev bezeichnete den Band als eines der Grundlagenwerke der deutschen Begriffsgeschichte und hob auf die Leistungsfähigkeit der historischen Semantik ab. Dass ein deutschsprachiges Buch auf die Liste kam, stellt eine große Ausnahme dar. Deutsche Titel erscheinen in diesen Rankings ansonsten nur, wenn sie in russischer Übersetzung vorliegen. Eine intensive Rezeption der Begriffsgeschichte Reinhart Kosellecks und seiner Arbeiten zu Zeitstrukturen setzte bereits vor über zehn Jahren ein. 2004 beendete der Historiker Aleksandr Dmitriev einen Überblicksartikel zur 'Intellectual History' mit der Ankündigung, dass der Moskauer Verlag 'Novoe literaturnoe obozrenie' (Neue literarische Umschau) in seinen Zeitschriften und Büchern das Thema zunächst am Beispiel der Begriffsgeschichte Reinhart Kosellecks verfolgen werde. Bereits zwei Jahre später, 2006, konstatierte Nikolaj Koposov, der Gründungsdekan des 'Smolny College of Liberal Arts and Sciences' in Sankt Petersburg, über Begriffsgeschichte werde viel diskutiert, der Ansatz selbst aber von russischen Kollegen bzw. an russischem Material nur wenig praktiziert. Mittlerweile hat sich einiges in diesem Forschungsfeld getan. Es liegen erste Übersetzungen der theoretischen Arbeiten Kosellecks sowie neun Artikel aus den 'Geschichtlichen Grundbegriffen' in russischer Sprache vor. Auch die Zahl von empirischen und theoretischen Arbeiten zur russischen Begriffsgeschichte wächst. Die Rezeption der deutschen Begriffsgeschichte und der Arbeiten Reinhart Kosellecks erfolgt - so die einhellige Meinung von russischen Autoren - im Zuge der wissenschaftlichen Neuorientierung in postsowjetischer Zeit und der Suche nach Parametern für die Forschung. Damit verbunden indet eine Internationalisierung und Öffnung der Geisteswissenschaften nach außen statt, d.h. es erfolgt eine intensivere Rezeption internationaler Historiographien und eine verstärkte Kooperation mit ausländischen Kollegen. Spezifisch für dieses Forschungsfeld ist die gleichzeitige bzw. gemeinsame Rezeption der Begriffsgeschichte bei Historikern, Philosophen, Linguisten, Soziologen und Politologen. Im Folgenden sollen die wichtigsten Institutionen, Veranstaltungen, Kooperationen und Publikationen vorgestellt und die inhaltlichen Schwerpunkte und Spezifika der russischen Rezeption Kosellecksche Arbeiten aufgezeigt werden.
Zarathustra in den Tropen : der Text als Spirale der Wiederholung in Nietzsche und Robert Müller
(2010)
Der Einfluss Nietzsches auf die Autoren des Fin-de-Siècle und des so genannten „Expressionistischen Jahrzehnts“ wird unumstritten von der Kritik akzeptiert. Jedoch beschränkt sich diese Einschätzung auch in den jüngsten Abhandlungen (Ester 2001) aufgrund von Thesen aus den 70er Jahren (zum Beispiel die des kanonischen Bandes von Martens von 1971) auf den Parameter des Vitalismus. Die Untersuchungen zur Rezeption Nietzsches in dieser Zeit konzentrieren sich größtenteils auf 'Also sprach Zarathustra' und ignorieren oder unterschätzen somit andere philosophische Texte des Autors. Auf jeden Fall kann man den deutlichen Einfluss Nietzsches auf den deutschsprachigen Modernismus weder auf den 'Zarathustra' und sein vorherrschendes Thema den Übermenschen, noch auf die metaphysische Dimension seiner Philosophie beschränken, ein Umstand, den auch das fiktionale und essayistische Werk des Wiener Autors Robert Müller (1887-1924) musterhaft unter Beweis stellt. 'Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs' (1915) ist ein Beispiel für einen essayistischen Roman, der nicht nur direkt von der Philosophie Nietzsches, sondern auch gerade von der jeweiligen begrifflichen und diskursiven Methodologie sowie dem jeweiligen textuellen Konzept profitiert. Es handelt sich damit um Faktoren, die auch unter dem Zeichen des Essayismus gesehen werden müssen.
Yin und Yang im Klassenzimmer? : China-Moden der 80er Jahre – mit einem kurzen Rückblick auf Brecht
(1985)
In zwei Beiträgen der Zeitschrift Diskussion Deutsch (Heft 84/1985) wurde ein Denkmodell ins Licht der Diskussion gestellt, das bis dahin eher in kleinen Zirkeln sich verborgen hatte: die Sucht, Rettung beim >Uralten< zu finden. Es war nicht, wie bei gestandenen Konservativen, das >Klassische<, es waren nicht >die Alten<, nein, das UR-Alte musste es sein, nämlich die Geheimnisse des Fernen Ostens, das Tao und Yin und Yang. Nun, zwanzig Jahre später, sind Tai Chi, Qi Gong, Bachblüten, Gaia, Heilenergien, Rebirthing, Reiki, Karmaarbeit etc. pp. zum esoterischen Alltag bzw. ist Esoterik alltäglich geworden. Das war ein Anlass, diese Miszelle wieder hervorzuholen, die damals – offensichtlich vergeblich – versuchte, jenes Denkmodell ins Licht der Kritik und damit in seiner Unreflektiertheit bloß zu stellen: westliches Denken spiegelt hier das Licht des Ostens gleichsam blind, nämlich ohne es zu reflektieren.
In this brief excursion into the poetry of Dante and Montale, Rebecca West suggests some approaches to only a few issues that emerge out of the creation of both the primary beloveds of Dante and Montale and of those feminine figures that have been characterized as ostensibly 'antitranscendental' and more secondary in their roles and meanings. As regards Montale's primary feminine figure, Clizia, West argues that she is, to use Teodolinda Barolini's term for Beatrice, a 'hybrid' poetic character, and ultimately exceeds the limits of the poetic beloved as traditionally conceived and read, not only in the courtly tradition upon which she is modelled but well beyond it. In the case of the so-called secondary 'other women' in Dante's and Montale's poetry, West seeks to show that they are much less separable from the primary feminine figures than such binaries as major/minor, transcendent/erotic, soul/body, and traditional/experimental may lead us to believe. Lastly, West considers specifically the wife-figure, in her conspicuous absence from Dante's corpus and in her late appearance in Montale's. For both poets, there are complex intertwinings, interferences, and non-dualistic patterns that form a densely textured poetic weave, in which both the primary and the secondary feminine figures provide "fili rossi" as well as not so easily graspable dangling threads of meaning. These threads have to do with the preoccupation of both poets with the possible integration of immanence and transcendence, embodiment and abstraction, and with the very limits of poetic language. West's topic is also motivated by a feminist-oriented search for modes of deciphering the figure of the feminine beloved in lyric poetry that are not conditioned exclusively by the traditional emphasis on the male poet-creator, but which allow for a shift in focus onto the female figure who is, of course, the creature of the poet's imagination and skill, but who also often takes him into regions in which the excesses (commonly associated with the female) of non-binary thought and the mysteries of alterity - the feminine symbolic sphere, in short - do not so much allow the emergence of neatly squared-off meanings as the evolution of more oblique, circular conduits of potential significance. As a specialist of modern literature, Rebecca West concentrates on Montale more than on Dante, mainly noting the Dantesque aspects of the former's poetry.
Wertherschriften
(2009)
Das Erscheinen von Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werthers" 1774 wurde zum Medienereignis und Skandalon. Es erschienen Rezensionen, die das Werk überschwenglich lobten oder – vor allem als Verteidigung des Rechtes auf Freitod – skandalisierten, es kamen Nachbildungen, Umbildungen und Parodien auf den Markt, die Geschichte wurde zum Stoff von Gedichten und Dramen, Non-books – wie man heute sagen würde – ergänzten das Angebot: Werther in Bildern als Wandschmuck, auf Porzellan, als Feuerwerk etc. Werther wurde zur Kultfigur: Man kleidete sich wie Werther, wallfahrte zu seinem (bzw. Jerusalems) Grab, manch einer ließ das Büchlein seinen Freund sein und schied gar aus dem Leben mit ihm in der Tasche.
Warum Wezel?
(2004)
Am 17. Januar 2022 jährt sich der Todestag des russischen Dichters und Schriftstellers Warlam Schalamow zum vierzigsten Mal. Mit seinen sechs Zyklen umfassenden "Erzählungen aus Kolyma" setzte er den Tausenden Toten in den Zwangsarbeitslagern des GULag ein bleibendes literarisches Denkmal. Der Jahrestag bietet nicht nur Anlass, sich mit Schalamows Ringen um eine literarische Aufarbeitung des staatlich organisierten Massenterrors gegen die eigene Bevölkerung auseinandersetzen. Ein Archivfund rückt auch seine Sorge um die Rezeption seiner Texte ins Blickfeld. Da in der Sowjetunion die Erinnerung an Terror und Gewalt tabuisiert wurde, kursierten diese zu Lebzeiten nur in Abschriften des Samisdat ('Selbst-Verlag') und blieben für das breite sowjetische Lesepublikum unzugänglich. Die ersehnte Anerkennung blieb ihm verwehrt. Mittlerweile werden seine Werke in Russland gedruckt und aus Anlass des Todestages würdigen Konferenzen seine literarische und menschliche Lebensleistung. Doch Schalamows Imperativ des Erinnerns, der Wahrung des Gedächtnisses an die stalinistischen Verbrechen trifft heute zugleich auf das Bestreben der russischen Machthaber, dieses Gedächtnis erneut mit repressiven Mitteln auszulöschen.
In der Diskussion über Walter Benjamins Georg-Simmel-Rezeption werden vornehmlich das Passagenwerk und die Baudelaire-Arbeiten des späten Benjamin herangezogen. Hier werden Ansätze zu einer Theorie der Moderne und zum dem Schock der Großstadt ausgelieferten Passanten oder Flaneur entworfen, für die Simmels Philosophie des Geldes oder weitere seiner Aufsätze zur Moderne und zur Großstadt Pate gestanden haben. Auf die frühe Rezeption Simmels durch Benjamin wird dagegen eher selten oder nur flüchtig hingewiesen. Das gleiche gilt für die Diskussion nicht nur der vielen Gegensätze sondern auch über die mögliche Verwandtschaft zwischen Benjamin und Heidegger, zwei Denkern, die "sich nicht gesucht haben" und die alles trennt. Es wird - wenn überhaupt - versucht, in den Schriften zum Kunstwerk oder zur Aura oder zur Gewalt Parallelen zu entdecken, die in den meisten Fällen irreführend sind. Aus den wenigen Äußerungen Benjamins zu Heidegger lässt sich zwar nicht folgern, dass er Sein und Zeit vollständig gelesen hätte, aber drei Jahre nach dem Erscheinen des Hauptwerks seines Konkurrenten trug er sich noch mit dem Gedanken, »in einer engen kritischen Lesegemeinschaft [...] den Heidegger zu zertrümmern« (B 2,514), was ihm zeit seines Lebens nicht gelungen ist. Im vorliegenden Aufsatz möchte ich auf die frühe Rezeption von Simmel und Heidegger durch Benjamin zurückkommen und zu zeigen versuchen, wie sich das Denken Benjamins zum Problem der Zeit und zum für ihn verwandten Problem des Trauerspiels und der Tragödie in Abhebung zu den zeitgleichen Studien Simmels und des jungen Heidegger zur historischen Zeit formt. Ich möchte herausarbeiten, wie Benjamin die Problematik dieser beiden Denker verschiebt und in Richtung von Ästhetik und Religionsphilosophie bewegt und sie so in die Weite öffnet, indem er ihr eine tragische und messianische Dimension hinzufügt.
In seinen Schriften, insbesondere seinen späten des letzten Lebensjahrzehnts, prägte Stéphane Mosès die Begriffe der normativen und der kritischen Moderne innerhalb der jüdischen Tradition. Er erklärt, wie diese beiden Tendenzen im jüdischen Denken des 20. Jahrhunderts fast zeitgleich entstehen, nämlich in und nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, und wie zwei parallele Stränge nebeneinander bestehen. [...] Der Dialog von Benjamin und Scholem über Kafka gehört zu den bedeutenden Briefwechseln der Literaturgeschichte, vergleichbar demjenigen von Lessing und Mendelssohn über das Trauerspiel, der erst im 20. Jahrhundert, lange nach seinem Entstehen, wirklich bekannt und rezipiert wurde. Es ist ein großes Verdienst von Stéphane Mosès, diesen Briefwechsel von Benjamin und Scholem kommentiert und uns die Positionen der beiden Denker lebendig vor Augen geführt zu haben. Ich habe meinerseits versucht, im Sog dieses Briefwechsels das Wesentliche hervorzuheben, um Benjamin in die jüdische Moderne einzubetten. Dabei scheinen mir die Gedanken des "Zerfallsprodukts der Weisheit" und des "Gerüchts von den wahren Dingen" sowie auch der einer "theologischen Flüsterzeitung, in der es um Verrufenes und Obsoletes geht" die Diagnose vom Traditionszerfall in der jüdischen und nicht jüdischen Moderne äußerst prägnant zu begleiten.
Vorbild, Beispiel und Ideal : zur Bedeutung Goethes für Wilhelm Diltheys Philosophie des Lebens
(2017)
Johannes Steizinger untersucht unter drei Leitaspekten die Bedeutung Goethes für die Lebensphilosophie Wilhelm Diltheys. Goethe stelle das Vorbild für Diltheys Weltanschauung dar; er diene ihm als Beispiel für die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten der Einbildungskraft; und schließlich steige die vielfach beschworene Synthese von Goethes Leben und Werk für Dilthey zum Ideal von Dichtung als einer "Steigerungsform des Lebens" selbst auf. Goethe bilde folglich nicht nur einen zentralen Gegenstand in der Entwicklung von Diltheys Ästhetik und Poetik, wie sie etwa in den unterschiedlichen Fassungen von "Ueber die Einbildungskraft der Dichter" (ab 1877) greifbar wird. Darüber hinaus beanspruche er Goethe konsequent als Lehrmeister in wesentlichen methodologischen Fragen, ja er verpflichte ihn geradezu auf eine Beglaubigungsinstanz der eigenen Philosophie, wenn er in seiner Baseler Antrittsvorlesung programmatisch festhält: "So ruht Goethes forschendes Auge noch auf dem, was wir heute tun." Die methodische Bedeutung Goethes für Dilthey zeige sich in erster Linie an Phänomenen wie der Selbsterforschung und dem Selbstzeugnis. Es sei in letzter Instanz der eigene Lebensbegriff, den Dilthey bereits bei Goethe systematisch vorgeprägt sieht. So lasse sich "die Relativität alles Geschichtlichen" mit Goethe als Grundtendenz an das 'Leben' selbst zurückspielen und depotenzieren; so lasse sich mit Goethe das Denken als "Ausdruck des Lebens" und nicht als dessen Widerpart begreifen; und so sei das genetische Naturverständnis Goethes wegweisend für Diltheys typologische Weltanschauungslehre. Der zentrale Stellenwert der Einbildungskraft und die 'schöpferische' Opposition, die sie zu den "pragmatischen Erfordernissen der Erfahrungswelt" unterhalte, erlaube es Dilthey sogar, die Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften im Rekurs auf Goethe vorzunehmen. Die Hoffnung auf eine für Goethe symptomatische Unmittelbarkeit der Beziehung zwischen 'Erlebnis' und 'Ausdruck' - wie sie im Kompositum des 'Erlebnisausdrucks' manifest werde - untersucht Steizinger im Sinne Diltheys abschließend als "Ausgangspunkt jeder erkenntnistheoretischen Reflexion".
Was lässt sich also vorerst über eine mögliche Rilke-Rezeption bei Thomas Bernhard sagen? Am ehesten kann man das Verhältnis der beiden Autoren darstellen, indem man Rilkes "Auftritte" in Bernhards Werk mit dem Dasein der verstorbenen Christine Brahe in Urnekloster vergleicht. Wäre er leibhaftig dort, er würde sich selbst sicherlich nicht in einem Spiegel erkennen, zu unterschiedlich sind Formen und Inhalte. Auch fehlt das Rilke-Portrait jedenfalls in Bernhards selbst gewählter Ahnengalerie. Es gibt allerdings einzelne Momente in den Texten, bei denen man vermeint, Rilke durch eine an sich "stets verschlossene Türe" in Bernhards Werk hineinschreiten zu sehen, gemessenen Schrittes geht er an den Figuren vorbei und verschwindet fast durchsichtig, fast unbemerkt wieder. Nur ein Geist, in dieser Welt gestorben und nicht mehr verlässlich zuhaus, ein Nachhall von einem vergangenen Zustand, dadurch aber dennoch, zumindest zwischen den Buchstaben, Zeilen und Seiten, zwischen den Buchtiteln und Klappentexten, vorhanden.
Ein rascher Blick in die einschlägigen Tertiärdarstellungen bestätigt: Kaum ein Autor von Rang, der sich nicht im Laufe seines Schreiblebens mit Kafka beschäftigt, kaum ein (Leit-)Gedanke, der nicht mit und an dem Prager Klassiker auf literarische Weise reflektiert ist - mit enorm vielgestaltigen Resultaten. Da wird Kafka, in einer für das Ende der 1990er Jahre erstaunlich anachronistisch anmutenden Geste, als notwendig unbestimmbares Originalgenie erkannt und verdrängt zugleich, ein andermal wiederum recht rigoros der eigenen Weltsicht vereinnahmt oder gar selbstbewusst vervollkommnet, dann wieder doppelsinnig getötet, zuletzt im Gestus theatralischer Bewältigungsarbeit beerdigt - und dergleichen mehr. Es scheint weniger, als lähme Kafka die Schriftsteller, wie Imre Kertész vermerkt, sondern als treibe er im Gegenteil zu emsigen, ja fieberhaft anmutenden Bezugnahmen an, die kaum unter einem gemeinsamen Nenner zu vereinen sind - nimmt man die verhandelten Themen, Motive und Topoi ins Visier. Überblickt man die Rezeptionen hingegen in ihrer generellen Fragestellung und zugrundeliegenden Motivation, können durchaus übergeordnete Strukturen festgestellt werden, wobei meiner Ansicht nach diejenige These besonders erfolgversprechend ist, nach welcher die so vielgestaltigen Bezüge zu Leben und Werk hintergründig stets das Originelle verhandeln: So bestimmt die schon frühzeitig einsetzende, vor allem vom Freund Max Brod geförderte und weiterhin außer Frage stehende Behauptung geradezu genialisch anmutender Originalität Kafkas den Rezeptionsdiskurs nachhaltig.
Wenn augenblicklich Kunst, so die These, vom ehemals hehren Podest im Idealfall origineller, zumindest aber per Gesetz unter der Vorstellung der Urheberschaft verankerter und daher sakrosankter individueller Eigenleistung zum jederzeit und von jedermann bearbeitbaren Allgemeingut wird, passiert etwas, was es so wohl noch nicht gab, und auf das wiederum Kunst selbst reagiert oder nämlich allein schon aus Gründen der Selbsterhaltung zu reagieren hat. Kunst ist, wenn man so will, gleichsam demokratisiertes Allgemeingut, wird also nicht mehr als autark vorliegendes Artefakt erkannt, welches kompromisslos für sich steht und notwendigerweise, um Kunst zu sein, für sich stehen muss. Daran gekoppelt ist eine neue Selbstverständlichkeit, mit welcher gewisse, noch zu diskutierende Ansprüche an kulturelle Erzeugnisse gestellt, gar rigoros gefordert und diese Forderungen zudem von Seiten des vormals schweigenden Publikums selbst durchgesetzt werden. Beides, die Aktionen des vordem nur rezipierenden Publikums und jetzigen (Teil-)Akteurs einerseits, die Reaktion der Kunstschaffenden andererseits, wird an dieser Stelle nachvollzogen, analysiert und eingeordnet.
Um es gleich vorwegzunehmen: Die biblische Simsonfigur lässt sich nur schwer bestimmen. Bei der Darstellung Simsons werden nämlich viele unterschiedliche, auch gegensätzliche Erzählzüge verwendet, die sich vehement gegen jede Einordnung sträuben. Insofern können im Folgenden nur einige Linien nachgezeichnet werden, die die biblischen Simsonerzählungen selbst vorgeben. Es wird sich zeigen, dass es zwei unterschiedliche Simsonfiguren gegeben hat: eine "untheologische" profane Simsonfigur, wie sie in der zunächst mündlichen Tradition vorgegeben war, und eine "theologische" Simsonfigur, für die der Verfasser bzw. spätere Redaktoren des Richterbuchs verantwortlich zu machen sind. Beide Simsonfiguren haben – wie wir sehen werden – viele, teils widersprüchliche Facetten, so dass man sie nicht auf einen einzigen festen Figurentyp festlegen kann.
Vom Recht des naiven und von der Notwendigkeit des historischen Verstehens literarischer Texte
(1982)
Die Szene ist originell, aber vielleicht nicht ganz unwahrscheinlich: Ein siebzehnjähriger Lehrling, der im finsteren Klo einer Gartenlaube nach Papier sucht, findet dort ein Reclamheft, benutzt einige Deck- und Nachblätter für den ortsüblichen Zweck und beginnt danach aus Langerweile das Buch zu lesen, das nun nichts weiter enthält als einen, als den Text. Es sind die Briefe eines gewissen Werther, die ihm so in die Hände kommen, aber der Name sagt ihm nichts, so daß er weder besondere Erwartungen noch Vorbehalte gegen die Lektüre hat, sondern sich wirklich unvoreingenommen und in seiner Lage auch frei von Ansprüchen auf sie einlassen kann. Für eine Rezeptionsforschung, die herausfinden möchte, was im Akt des Lesens und Verstehens literarischer Texte ,eigentlich' geschieht, ist die Dokumentation eines solchen Falles fraglos ein Beispiel, das dem sonst üblichen testmäßigen Abfragen von Leserreaktionen an Zuverlässigkeit überlegen ist.
Über das Leben Voltaires, das in Paris 1694 begann und 1778 endete, sind wir dank einer ungeheuren Korrespondenz von reichlich 20 000 Briefen hervorragend unterrichtet. Sein Lebensweg, sein Zeitalter und die bestimmenden Ideen der Epoche sind darin dokumentiert. Der in der Religionswissenschaft gebräuchliche Begriff 'Kulturheros' muss für den notorischen Religionsspötter daher zunächst irritierend unpassend erscheinen, was die Überschrift zum Ausdruck bringt. Für den Intellektuellen im politischen, nicht im soziologischen Sinne ist dagegen bezeichnend, dass sein Name in der Öffentlichkeit schon Gewicht hat, wenn er ungefragt und ohne Auftrag zu einer Frage Stellung nimmt, die außerhalb seiner Zuständigkeit liegt, wobei er im Namen höherer Werte für die unterlegene Seite Partei ergreift. Nicht alle Geistesschaffenden sind also schon Intellektuelle in diesem Sinne, sondern nur da, wo sie "von ihrem beruflichen Wissen jenseits ihrer Profession einen öffentlichen Gebrauch machen". Als Ahnherr dieses Intellektuellentypus aber gilt Voltaire, dem es im vorgeschrittenen Alter gelang, auf beispielhafte Weise für Wahrheit und Gerechtigkeit einzutreten. [...] Um zu verstehen, wie Voltaire zum politischen Mythos werden konnte, sollen im Folgenden einige Problemstellungen aus seinen Schriften und seinem Wirken skizziert werden.