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Dimensionen des Werkbegriffs
(2022)
Ingo Meyer fragt nach Ganzheitsvorstellungen mit Bezug auf den Werkbegriff von der ästhetischen Theorie seit dem 18. Jahrhundert bis in die zeitgenössische kunst- und literaturwissenschaftliche Schulenbildung hinein. Obwohl (oder weil) das Werk an materielle Träger gebunden sei und zwingend der Realisation bedürfe, begreift Meyer es als "ontologischen Skandal". Klassische Zuschreibungen an das Werk wie 'Mikrokosmos', 'Äquilibrium' oder 'Harmonie' sowie überhaupt die aus ganz unterschiedlichen Richtungen an das Kunstwerk herangetragene Forderung nach "Kontingenzvernichtung" forderten die Frage nach seinem ontologischen Status stets aufs Neue heraus. Seinen vielleicht privilegiertesten Ausdruck findet das Problem Meyer zufolge in der Kategorie der Werkgenese, die keineswegs einfach als Produktionsästhetik (miss)verstanden werden dürfe. Die Irritation darüber, dass das Werk überhaupt 'da' sei, könne nicht mit Gattungsordnungen, Kanonisierungsreflexionen, Marketingstrategien oder klassischen Dichotomien wie Produktions- und Rezeptionsästhetik stillgestellt oder unsichtbar gemacht werden. Vielmehr gelte: "Das Paradoxe am Kunstwerk aber ist der Umstand, dass mit zunehmender Elaboriertheit seine Unbestimmbarkeit zunimmt, völlig konträr zu Handwerk oder Wissenschaft."
Stefan Willer fragt nach den Ganzheitspostulaten enzyklopädischen Wissens vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Ganzheit begreift er dabei als eine Kategorie, die von unterschiedlichen Formen der Enzyklopädie erst hergestellt werden müsse und die hier besonders intensive Verbindungen zu Phänomenen wie 'Summe', 'Gesamtheit' oder gar 'Überfülle' unterhalte. Dies zeige sich vornehmlich am Problem enzyklopädischer Ordnungsmuster, die auf "die Registrierung, Sortierung und mitunter auch Systematisierung von Wissen" abheben und sich schnell mit der Frage nach einer Begrenzbarkeit dieses Wissens konfrontiert sehen. Eine zusätzliche Schwierigkeit für Enzyklopädien stelle das Verhältnis der verzeichneten Realien zur Medialität der Sprache dar. So gelte es etwa für Diderot als ausgemacht, dass die Sprache aufgrund ihrer fehlenden Systematizität "nur eingeschränkt als Medium der Wissensdarstellung geeignet" sei. Willer beleuchtet die Affinitäten zwischen Enzyklopädie und Roman, der seinerseits oft auf "Totalisierung", auf den "Einschluss heterogener Elemente" und auf die "Überschreitung jeglicher Gattungslogik" verpflichtet worden sei, und lässt seine Überlegungen in eine Lektüre von Flauberts Roman "Bouvard und Pécuchet" einmünden, in dem die enzyklopädische Anhäufung von Wissen auf Handlungsebene zwar als ziel- und nutzlos klassifiziert werde, sie sich auf der Ebene der Textkonstitution jedoch zugleich als unabdingbar erweise. Den Anspruch auf Ganzheit oder Vollständigkeit des Wissens kündige Flauberts Roman folglich nicht einfach auf. Vielmehr stelle er einen "Widerspruch zwischen der textkonstitutiven und der poetologischen Funktion von Wissen" zur Schau.
Wissenschaft
(2022)
Georg Toepfer wendet sich Ganzheitsidealen der Wissenschaft und ihrer Theorie von der Antike bis zur zeitgenössischen Wissensgeschichte zu. Ganzheit kann dabei auf unterschiedlichen Ebenen zum Tragen kommen. Die Wissenschaft beschäftigt sich mit ihrer inneren Einheit auf methodologischer Ebene, sie fragt nach der Ganzheit oder Ganzheitlichkeit ihrer Gegenstände (im Rahmen etwa einer Überwindung des Leib-Seele-Dualismus), sie kann eine Summe aller Wissenschaften als Ganzheit in Aussicht stellen oder den Versuch unternehmen, eine Einheit oder Ganzheit der gesamten Menschheit zu befördern. Insgesamt sei festzuhalten, dass Forderungen nach einer Einheit der Wissenschaft verstärkt zu Zeiten aufkämen, in denen sich epistemologisch wie praktisch das exakte Gegenteil beobachten lasse. Auch wirke die Ganzheitsrhetorik der Wissenschaft "mitnichten integrativ", sondern arbeite im Gegen teil oft "mit massiven Ausgrenzungen". Das Ganzheitsproblem habe die wissenschaftliche Selbstreflexion oft auch hinsichtlich ihrer eigenen Visualisierbarkeit beschäftigt. Dies findet seinen Niederschlag in frühneuzeitlichen Diagrammtypen wie dem Baum, dem Haus oder dem Bergwerk, in der zweidimensionalen Landkarte der 'Encyclopédie' oder in einer von Jean Piaget noch im 20. Jahrhundert bearbeiteten Kreisfigur. Solche Formen des Ganzen offenbarten die "Simplifikation" des wissenschaftstheoretischen Zugriffs und müssten oft ganze Wissensbereiche ausschließen; im Fall Piagets etwa die kompletten Geisteswissenschaften.
Daniel Weidner untersucht die (als 'absolut' begriffene) Metapher der Welt im Werk Hans Blumenbergs und wirft in enger Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Tradition die Frage auf, ob 'Welt' im Plural überhaupt noch eine Ganzheit meinen könne. Der philosophische Zugriff auf die 'Welt' oder auf 'Welten' - ähnliches gelte mit Blick auf Blumenberg vornehmlich für den 'Horizont' - gestalte sich insofern als schwierig, als sie auf Gegenstandsebene immer implikativ bleiben müsse. Diesem Problem begegne Blumenberg mit der Ausgestaltung vierer historischer Wirklichkeitsbegriffe, die die 'Welt' in einer "Spannung von Evidenz und Mitpräsenz, von Intention und Erfüllung" situierten, und zwar als Anschauung (in der Antike), als Offenbarungsmitteilung (im Mittelalter), als sukzessive sich entfaltende "Verläßlichkeit" (in der Neuzeit) oder als Widerstand. Letzteres scheint vornehmlich für die Moderne zu gelten, der Welt und Wirklichkeit oft als ein "ganz und gar Unverfügbares" erschienen. Anschließend beleuchtet Weidner die unterschiedlichen Vorstellungen von Kunst, die Blumenberg diesen Modellen von Welt und Wirklichkeit attribuiert. Die von Blumenberg dem Roman als "formale Totalstruktur" zugeschriebene "Welthaltigkeit" entspreche dem Wirklichkeitsbegriff der Neuzeit. Durchaus also würden Wirklichkeit oder Welt Blumenberg zufolge in der Kunst tentativ erfahrbar; dies jedoch gerade nicht im Sinn der einen Totalität des vollkommenen Kunstwerks, wie es die idealistische Ästhetik in der Regel suggerierte.
Wo das Ganze als Prozess begriffen wird, droht es mitunter zu entgleiten. Im Denken des Ganzen haben sich reiche Traditionen herausgebildet, die (auch) in dieser Gefahr eine Chance sehen. Die Überzeugung einer kategorialen Ungreifbarkeit, Unbestimmtheit oder Unerreichbarkeit des Ganzen dominiert ganze Bereiche des Wissens und der Künste. Dabei scheinen solche Vorstellungen mit den Forderungen nach möglichst 'handfesten' Formen oder Bedingungen von Totalität gleichursprünglich zu sein. Tentative oder gar hypothetische Formen des Ganzen sind entsprechend oft unter dem Zeichen eines imaginierten Verlusts von Totalität formuliert worden. Dies gilt zumal mit Blick auf die moderne Kunst und Ästhetik, die das Kunstwerk als einen Mikrokosmos vorstellte, dem sein eigener Makrokosmos indes längst (oder immer schon) abhandengekommen zu sein schien.
Mit Blick auf die neuere historiographische Entwicklung plädiert Marian Füssel für eine prozessuale Betrachtung des Ganzen. Nur dies erlaube die Aufsprengung des Gegensatzes zwischen einer Mikro- und einer Makroebene von Geschichte. Angesichts der Komplexität und der wechselseitigen Durchdringung historischen Geschehens - als Beispiele nennt Füssel Handel und Krieg - sei dieser Gegensatz nicht adäquat. Zu diesem Fazit gelangt Füssel, nachdem er prominente Ganzheitsvorstellungen unterschiedlicher Schulen der Geschichtsschreibung vom Historismus über die 'histoire totale' und die Sozial- bis hin zur Mikro- und Globalgeschichte vorgestellt hat. Historische Ganzheitsvorstellungen, die auf einer Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem beruhten oder die dem Prinzip der Repräsentation verpflichtet blieben, muteten heute genauso unbefriedigend an wie solche, die undifferenziert "Fragmentierung, Dezentrierung und Pluralisierung" feierten. Die Kritik an herkömmlichen Ganzheitsvorstellungen der Historiographie ist für Füssel demnach nicht Anlass, das Ganze zu verabschieden, sondern, es zu rekonzeptualisieren. Dass auch Füssel mit dem Fokus auf den 'Prozess' jenes Phänomen als Chance für das Ganze begreift, das vormals oft als dessen Bedrohung identifiziert wurde, zeigt das Ausmaß der Umbrüche, in denen die Formen des Ganzen sich derzeit in praktisch allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen offenbar befinden.
Die Ganzheit der Epoche
(2022)
Barbara Picht beschäftigt sich mit Ganzheitsvorstellungen, die dem Begriff der Epoche im modernen Geschichtsdenken zugrunde liegen. Ganzheit wie Einheitlichkeit betrachtet Picht dabei insofern als maßgeblich, als die Epoche einerseits über ausschließlich sie selbst charakterisierende Merkmale definiert werden solle, dabei andererseits aber auch solche Züge herauspräpariert werden müssten, die eine bestimmte Epoche mit anderen verbinde. Die Behauptung der Ganzheit einer Epoche sei in der Regel mit politischen Absichten verbunden. Zum Problem für die Integrität der Neuzeit als Epoche wird die für das moderne Geschichtsbewusstsein konstitutive Vorstellung einer 'offenen Zukunft'. Das schreibe dem Selbstverständnis der Neuzeit eine grundlegende Paradoxie ein. Die Neuzeit kenne zwar einen Anfang, könne aber in einer offenen Zukunft an kein Ende kommen und deshalb auch keine - ganze - Epoche sein. Diese Schwierigkeit erweist sich Picht zufolge jedoch als Glücksfall, denn die für das Ganze der Epoche prekäre Prozessualität habe eine "historiographisch produktive Dauerunruhe" ausgelöst.
Karin Kukkonen nimmt nicht den Text als Medium ins Visier, sondern die Form des Romans, dem sie ein hohes Bewusstsein für die eigene "Unabgeschlossenheit" attestiert. Der von Georg Lukács auf die Moderne gemünzten Formel der "transzendentalen Obdachlosigkeit" trage der Roman dadurch Rechnung, dass seine Teile "nie den Eindruck eines geschlossenen Ganzen" zu erwecken versuchen. Kukkonen legt dies am Beispiel der narrativen Darstellung moderner "Protokolle" offen, die sie als Mechanismen zur Ordnung jeweiliger Lebenswelten begreift. Moderne Romane kündigten in der Regel eine "organische Logik der Lebensgeschichte" auf und verschrieben sich buchstäblich einer "sozialen, prozessualen Logik des Protokolls". Solche Protokolle könnten von Zügen und Fahr- oder Bau plänen über das Schlangestehen bis hin zur Organtransplantation reichen. Die literarische Umformung der Prozesslogik moderner Protokolle analysiert Kukkonen vornehmlich bei Zola, Sorokin und Maylis de Kerangal.
Andrea Polaschegg untersucht aus medienpoetischer Sicht die Friktionen zwischen dem Text und den philosophischen oder literarischen Ganzheitspostulaten, die an dessen Stoffe, Gegenstände oder gar Gattungszuschreibungen herangetragen werden. Den Text begreift Polaschegg als "transitorisches Medium", "das vorne beginnt und hinten endet" und das jede Bemühung unterläuft, "eine organische Einheit wechselseitiger Teil-Ganzes-Beziehungen oder eine statische Einheit aus übereinandergeschichteten Teilen zur Darstellung zu bringen". Dieser Einsicht hätten sich mit letzter Konsequenz allerdings bislang weder poetologische noch literaturwissenschaftliche Denktraditionen gestellt. Seit der Autonomieästhetik lasse sich ganz im Gegenteil eine Fülle an Versuchen beobachten, die fundamentale 'Sukzessivität' von Texten metaphorisch über konzeptionelle 'Simultaneisierungen' stillzustellen. In diesem Umfeld nimmt Polaschegg insbesondere die oft als Ganzheitsgarant dienende Metaphorik der Architektur in den Blick, die sie bis in das bekannte, den 'Aufbau' dramatischer Texte visualisierende Pyramidenmodell Gustav Freytags hinein verfolgt.
Astrid Deuber-Mankowsky wirft einen Blick auf Alfred N. Whitehead und sein 1929 erschienenes Hauptwerk "Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie". Zur Ausformulierung seines denkbar umfassenden Ziels einer "vollständigen" Kosmologie rekurriere Whitehead auf eine "systematische Philosophie des Prozesses". Whitehead sei davon überzeugt, dass die philosophische Erkenntnis sich den Ergebnissen der Relativitätstheorie und der Quantentheorie zu stellen habe und zugleich versuchen müsse, sich gegen deren Absolutheitsansprüche zu behaupten. Während die Quantentheorie gezeigt habe, dass sich kleinste Teilchen diskontinuierlich zueinander verhalten, beharre Whitehead auf der Möglichkeit, ein Ganzes zu denken und am "Prinzip der Kontinuität" energisch festzuhalten. Sein Bemühen ziele darauf ab, das berühmte, auch von Leibniz systematisch aufgegriffene Diktum "natura non facit saltus" wieder in sein Recht zu setzen. Die Spannung zwischen Kontinuität und Atomizität begreife Whitehead konsequent als "Komplementarität", ein entscheidendes Relais hierfür stelle seine Entdeckung der "realen Potentialität" dar. Anders als man vielleicht zunächst annehmen könnte, steht Whiteheads Interesse an Leibniz damit nicht in fundamentalem Widerspruch zu dem Latours, umso weniger als eine Zäsur zwischen Natur und Sozialem oder eine Einschränkung von Subjektivität auf den Menschen schon für Whitehead keine Verbindlichkeit mehr besaß.
Hanna Hamel beschäftigt sich in ihrem Aufsatz mit Latours vieldiskutierter Gaia-Konzeption. Latours Aufkündigung einer pseudoobjektiven Anschauungsform der Erde als 'Globus' und die Favorisierung der Imagination Gaias als "wüstes Gewirr" sei dem Versuch geschuldet, klassische Vermittlungsideen von Innen und Außen oder die Repräsentation des einen durch das andere kategorisch zu verabschieden. An deren Stelle trete "ein Ganzes ohne distinkte Teile, ohne polare, absichtsvolle oder gar harmonische Ordnung". Übergänge und Kreuzungen etwa von natürlichen und sozialen Ordnungen habe Latour immer schon in ihrer Prozessualität kenntlich gemacht. Es handle sich dabei stets um "zeitlich wie räumlich wirksame wechselseitige Modifikationen einer Vielzahl von Wirkmächten". Ohne Berücksichtigung dieser Größen lässt sich der Klimawandel in den Augen Latours (wie Hamels) weder bekämpfen noch überhaupt adäquat erkennen.
Siarhei Biareishyk beschäftigt sich mit Spielarten der Kritik an der platonischen Ideenlehre, die er von der epikureischen Tradition über Spinoza bis hin zu Deleuze verfolgt. Diese habe ein Denken von prozessualer und "modaler Ganzheit" ("modal whole") herausgebildet, das gerade auf die Instabilität und die Endlichkeit des Ganzen abhebe. Damit arbeite sie der Vorstellung sowohl einer möglichen Pluralität von Ganzheiten als auch der einer inneren Heterogenität jedes einzelnen Ganzen bis heute überzeugend zu. Im Gegensatz zu einem von vornherein als übersummativ konzipierten Ganzen entfalte diese Tradition Formen des Ganzen, die dynamisch sind und sich prozesshaft konstituieren. Biareishyk versteht das als Chance, Diversität und Disparatheit philosophisch fundieren zu können, ohne die Hoffnung auf Ganzheit(en) preisgeben zu müssen. Lukrez und Spinoza attestiert er auf diese Art und Weise philosophisch wie politisch ein ganz ähnliches Potential wie das, das Latour oder Cuntz in der Leibniz'schen Monadologie sehen.
Zeitliche Prozesse können Formen das Ganzen mitunter vor erhebliche Herausforderungen stellen. Das zeigt sich insbesondere dort, wo das Ganze zum Zweck einer bildlichen Veranschaulichung fixiert werden soll. Historisch betrachtet lassen sich in den Beziehungen zwischen Ganzheit und Prozessualität ähnliche Entwicklungen feststellen wie in denen zwischen Ganzheit und Teil. Forderungen nach einer maximalen Integrität des Ganzen, die im Prozess eine Bedrohung oder Gefahr wittern, erweisen sich bei genauerem Hinsehen oft erst als moderne Perspektive. Folgerichtig lehnen sich aktuelle Ganzheitskonzeptionen an frühneuzeitliche philosophische Modelle (neben Leibniz gilt dies v. a. für Spinoza) an, wenn sie auf eine programmatische Versöhnung zwischen Ganzem und Prozess abzielen.
Welt, Wort, Mensch : (Un-)Gestalten des Ganzen in Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften"
(2022)
Musil entwickelt seine literarische Ganzheitsreflexion in enger Auseinandersetzung mit der Wissenschaft seiner Zeit: von der Gestaltpsychologie bis hin zur Thermodynamik, wie Inka Mülder-Bach in ihrer Lektüre des "Mann ohne Eigenschaften" zeigt. Musils Text sei einerseits von zahlreichen Dualismen geprägt, andererseits erteile er einem 'klassischen' Verständnis von Teil und Ganzheit eine deutliche Absage. Einem Briefpartner beschied Musil 1931 kurz und bündig: "Eine Totalität lässt sich nicht durch noch so viele Einzelheiten darstellen." Zentral ist hierbei nicht zuletzt der Begriff der Darstellung. Totalität wird bei Musil in erster Linie zu einem Problem des eigenen literarischen Verfahrens. Mülder-Bach legt dar, dass das Phänomen der Ganzheit unzählige Aspekte seiner Schreibweise tangiert: vom Wortbau über die Syntax und die Metaphorik bis hin zu der für die Darstellungsebene des Romans zentralen Form des 'Gleichnisses'. Auch die politische Prekarität 'Kakaniens' oder das Geschwisterverhältnis seien als Spiegelungen und Ausdruck der Ganzheitsproblematik zu begreifen. Den Umgang mit Figuren der Vielfalt, der Vollständigkeit, der Teilung, der Verdopplung, der Mitte, der Grenze, der Symmetrie oder des Gleichgewichts sieht Mülder-Bach dabei oft in zunächst paradox erscheinende Versuche einmünden, Trennung und Verbindung irgendwie zusammenzuziehen oder gar zu vereinen. Auch die bekannte auf die Geschwister gemünzte Wendung der "Ungetrennten und Nichtvereinten" erschließe sich erst vor diesem Hintergrund. Angesichts des fragmentarischen Charakters des Romans seien alle Musil'schen Antworten auf das Ganzheitsproblem freilich als "tentativ" zu begreifen.
Sophie-C. Hartisch untersucht die Funktion der Konstellationsmetapher im Diskurs der geisteswissenschaftlichen Selbstbeschreibungen im frühen 20. Jahrhundert. Die doppelte Grundlagenkrise sowohl der Naturwissenschaften als auch der historisch arbeitenden Geisteswissenschaften bewirken in ihren Augen die Attraktivität eines Denkens in 'Konstellationen'. Mit der (streng genommen) falschen Suggestion eines sogenannten 'Sternbildes' würden abstrakte Strukturen vermeintlich anschaulich und könne Totalität als "Kippfigur zwischen Werden und Darstellung" repräsentiert werden, die die Ganzes-Teil-Problematik neu konfiguriere. Zwar verspreche die 'Konstellation', die Geisteswissenschaften mittels einer Anlehnung an die Astronomie gegen die zeitgenössischen Naturwissenschaften zu profilieren. Allerdings ist die für die Konstellation zentrale Kategorie der 'Bedeutsamkeit' (der Sterne) keine astronomische, sondern eine astrologische Vorstellung. Die als Pseudowissenschaft verpönte Astrologie wird in den Geisteswissenschaften unter der Hand zum Garanten für die Legitimität und Objektivität historisch ausgerichteter Wissenschaften.
Der Literaturwissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts gilt das Interesse des Beitrags von Eva Axer. Sie untersucht in erster Linie die Kategorie der 'inneren Form', die neben der Literatur- auch die zeitgenössische Sprachwissenschaft beschäftigte. Im Werk Wilhelm Scherers, Reinhold Schwingers und Oskar Walzels werde die 'innere Form' emphatisch als eine in sich geschlossene Sinneinheit literarischer Texte konzipiert, die den Blick auf den Aufbau und eine Beziehung der Teile untereinander indes keineswegs ausschließe. Prinzipiell werde die 'innere Form' als ein den Teilen vorgängiges Ganzes gedacht, der ein hohes Maß an Dynamik eigne. Die Hoffnung auf eine innere Einheit des Werks erweise sich in der Regel allerdings als so mächtig, dass Wechselbeziehungen zwischen Innen und Außen, materielle Bedingungen oder funktionale Beziehungen der Literatur in dieser wissenschaftlichen Tradition keine systematische Berücksichtigung finden könnten.
Carlos Spoerhase wendet sich dem Verhältnis von Teil und Ganzheit im Denken der literarischen Form zu. Für die Imagination ganzheitlicher Werke - als Paradebeispiel dient Spoerhase die Shakespeare-Apologie der Romantik - sei nicht allein die Vollständigkeit der Teile und ihr ausgewogener Bezug zum Ganzen, sondern auch die Beziehung der Teile untereinander zentral. Zwar erfolgten literarische Ganzheitsvisionen immer wieder über Analogien mit dem Menschen, der Architektur oder biologischen Systemen. In der Regel garantiere aber ein "nichtsinnliches Prinzip, das im Innern des Werkes situiert wird", erst dessen "ganzheitliche Formstiftung". Anders als es etwa die Prominenz der stabilen Unterscheidung zwischen 'System' (als Musterbeispiel geschlossener und einheitlicher Ganzheit) und 'Aggregat' (im Sinne einer lockeren Anhäufung) in der Dichtungstheorie um 1800 suggeriere, würden literarische Werke zwangsläufig keineswegs mit "maximalen Einheitlichkeitszuschreibungen" versehen. An Goethes Poetik etwa lasse sich das Bemühen um eine "Gradierung von Ganzheit" ablesen. Ganzheit ist demnach weniger eine den Teilen vorangehende oder übergestülpte Totalität. Vielmehr sind es die unterschiedlichen und vielfältigen Verknüpfungsweisen der Teile, die über Art und Konzeption der Ganzheit literarischer Werke entscheiden.
Michael Cuntz greift die Leibniz'sche Monadologie in systematischer Absicht auf. Zwar gehe es auch der Monadologie zunächst um die Organisation der Relationen zwischen Teilen und Ganzem. Allerdings trage Leibniz als "Denker des Fluiden" in diese Organisation keineswegs die heute selbstverständlich anmutenden Implikationen und Hierarchien ein. Moderne Dualismen und Binarismen, etwa der zwischen Natur und Kultur, besäßen für Leibniz noch keine Gültigkeit. Die Monaden selbst seien zudem als geschlossen und offen zugleich konzipiert. Jede Monade enthalte die Welt und alle anderen Monaden. Nicht die stabile Differenz, sondern die 'Faltung', die 'Korrespondenz' und die 'Ähnlichkeit' regelten in der Monadologie die Beziehungen. "Untrennbar und doch unabhängig von einander oder verschieden - diese vermeintlich paradoxe, komplexe Struktur der Relation" betrachtet Cuntz als deren aktuelle Provokation, über die man sich durch die für Leibniz maßgebliche Überzeugung einer 'Weltharmonie' nicht hinwegtäuschen lassen sollte. Die Monadologie könne nämlich einen bedeutenden Beitrag zur Verstärkung von Diversität wie zur Überwindung des Anthropozentrismus leisten. Hierfür sei jedoch der direkte Rückgriff auf Leibniz selbst vonnöten. Moderne Anverwandlungen seiner Philosophie etwa bei Gabriel Tarde oder Gilles Deleuze hätten die originäre Sprengkraft der Monadenlehre mitunter missverstanden, simplifiziert oder entschärft, dies gelte auch und gerade für Tardes Umstellung von der 'Harmonie' auf den 'Agon'.
Die Vorstellung eines relational organisierten Ganzen nimmt Bruno Latour zum Ausgang für eine grundlegende Kritik der modernen Imaginationen des Staates und seiner Grenzen. Diese Imaginationen beruhten auf einer fragwürdigen Konzeption des Ganzen, die fatale Folgen für die Bekämpfung des Klimawandels wie für eine adäquate Einschätzung der Migration zeitige. Es seien althergebrachte, an die Natur und den Organismus angelehnte Vorstellungen von Ganzheit und Teil, die eine Affirmation des sogenannten Staatskörpers oder auch die einer ökonomischen Marktlogik bis heute irrtümlich als unumgänglich erscheinen ließen. Gleichnisse wie das eines die Gliedmaßen ernährenden Bauches aus Shakespeares "Coriolan" oder Mandevilles bekannte "Bienenfabel" suggerierten, dass jedes Gemeinwesen sich von innen aus Teilen zusammensetzen und sich nach außen klar abgrenzen müsse. Tatsächlich aber seien Innen und Außen als fundamental durchlässige Phänomene zu begreifen. Die Idee eines solide gestuften Ganzen müsse ersetzt werden durch die Idee pluraler Ganzheiten, die aus ständig sich überlappenden und immer nur provisorisch verbundenen Elementen bestünden. Latour ist es folglich nicht um eine Diskreditierung, sondern um eine Neukonzeption sowohl des Ganzen als auch der Relationalität zu tun. Das hat massive Konsequenzen für deren Formgebung. Um der Komplexität politischer Strukturen und aktuellen Problemlagen begegnen zu können, müssten Ganzheiten als Netzwerke und nicht mehr als aus Teilen bestehende Körper vorgestellt werden.
Kulturgeschichtlich, ästhetisch und politisch brisant sind herkömmliche Imaginationen von Ganzheit oft gerade dort, wo das Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen zur Verhandlung steht. In der Regel werden die Teile dem Ganzen untergeordnet, und das Ganze wird im Gegenzug als über- oder suprasummativ aufgefasst. Es soll "mehr" sein als "die Summe seiner Teile", so lautet die bekannte Formel des Aristoteles. Diese Grundidee lässt mindestens zwei kausale wie temporale Spielarten zu. Das Ganze kann den Teilen vorangehen, es kann auf die Teile aber auch folgen oder aus ihnen resultieren, ohne seine Vorrangstellung einzubüßen. Aus diesem Grund wurde dem Ganzen oft vorgeworfen, das Partikulare zu absorbieren.