Refine
Year of publication
- 2012 (153) (remove)
Document Type
- Part of a Book (153) (remove)
Language
- German (153) (remove)
Has Fulltext
- yes (153)
Keywords
- Rilke, Rainer Maria (24)
- Literatur (14)
- Bibel (12)
- Freud, Sigmund (11)
- Ausdruck (8)
- Psychoanalyse (8)
- Sakrament <Motiv> (8)
- Deutsch (7)
- Katastrophe <Motiv> (7)
- Das Sakrale (6)
Institute
Im Folgenden sollen mehrere Gedichte Flemings vorgestellt werden, [...]. Anhand ihrer möchte ich einen Gemeinplatz der Forschung diskutieren, der besagt, dass Fle ming mit "verbundenen Augen gereist" sei. Damit ist gemeint, dass er seine Gedichte nur nach der literarischen Tradition ausgerichtet und dafür die Beschreibung von Natur und Menschen in Russland und Persien ausgespart habe. Dagegen werde ich einwenden, dass Flemings – unbestrittene – Ausrichtung nach der literarischen Tradition die Thematisierung der eigenen Erfahrung nicht unbedingt ausschließt. In diesem Zusammenhang lege ich mein Augenmerk auf die bisher unbeachteten Titel der jeweiligen Gedichte und zeige, dass über sie – und zwar mittels eines scharfsinnigen literarischen Bezugs auf Scaligers Epigramm-Theorie – ein direkter Bezug zu den Orten und Zeitpunkten der Reise aufgebaut wird. Dementsprechend sind die Gedichte aus dem kontrapunktischen Zusammenspiel von reisebezogenem Titel und (mehr oder weniger) reiseunabhängigen Versen zu lesen.
Kein literarisches Plagiat geschieht ohne ausreichenden Grund. Wenn Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen (1622–1676) das Szenario aus Johann Michael Moscheroschs (1601–1669) "Schergen-Teuffel", dem ersten der Wunderlichen und Wahrhafftigen Gesichte Philanders von Sittewald", in ein Kapitel des Simplicissimus überführt, dann animiert ihn dazu der vielsinnige Überraschungseffekt, dass ein böser Geist die Rolle des guten Helden einnimmt. Bei Moscherosch erklärt nämlich dieser 'genius malignus' einem exorzierenden Pater und den Umstehenden, dass nicht der vor ihnen stehende Mensch von ihm besessen sei, wie es vielleicht den Anschein habe, sondern andersherum; er, der böse Geist, sei von diesem Menschen besessen [...]
München und Bayern; Leipzig und Dresden; Graz und Bratislava: Vor dem Hintergrund des Deutschen Kriegs und seiner Koalitionen bezeichnen alle Ortsnamen die vom preußischen Standpunkt aus Feindliche und damit auch den „Orient“ in dem Sinn eines „großen Anderen“, den Edward Said an den „westlichen“ Diskurspraktiken herauspräpariert hat. Unter diese Funktion, als „Synonym des Exotischen, Weiblichen und Geheimnisvollen“ zu dienen, sind natürlich auch die Sexualisierungen des Orients zu verrechnen, die ihren Ausdruck im Topos von der Hure Babylon gefunden haben, wie ihn Johannes der Täufer schon bei Wilde gegen Salome richtet. Wildes bzw. Strauss' Salome gibt ein case study nicht nur für den Orientalismus, sondern auch für die Erste Frauenbewegung her. Salome, die sich schon in den Evangelien mit ihrer Mutter erfolgreich gegen einen Patri- und Tetrarchen verbindet, usurpiert hier, bei Wilde und Strauss, eine männliche Rolle, die bis in die Macht- und Sexualsymbolik des Blicks reicht. Solch eine Entmächtigung des männlichen Blcks durch die Frau taucht im Doktor Faustus in einer anderen, obendrein noch französischen „Judenoper“ wieder auf […].
Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive haben Aleida und Jan Assmann den Prozess der Kanonisierung, die "Stillstellung des Traditionsstroms", seine Fixierung und Bannung zunächst in die Schrift, sodann in die Wörtlichkeit, verschiedentlich als Indiz und Kriterium für einen sich abzeichnenden Übergang von rituellen zu textuellen Prinzipien kultureller Kohärenz erklärt. Dabei ist entscheidend, dass sich aus der doppelten, einerseits die Überlieferung bewahrenden und andererseits die "normativen und formativen Werte einer Gemeinschaft " verkörpernden Funktion kanonischer Texte eine Spannung ergibt, die als Grundlage für die Etablierung von Auslegungskulturen gelten kann. In dem Maße, in dem das, was nicht vergessen werden darf, das zeitlos Geltende auf die Forderung nach Aktualisierung des Erinnerten für eine stetig sich verändernde Gegenwart trifft, bedürfen kanonische Texte der Interpretation, welche zwischen beidem zu vermitteln vermag. Zugleich gilt aber, dass aufgrund des für die Kanonbildung charakteristischen Vorgangs der "Schließung" von Text, der Abgrenzung des "Kanonischen" vom "Apokryphen", des "Primären" vom "Sekundären ", "alle kommentierenden Eingriffe und Zusätze" in den Bereich jenseits der Kanongrenzen verbannt sind, in den "Metatext: den Kommentar". Der in allen Einzelheiten festgeschriebene und zu bewahrende, zugleich aber vielfach mündlich und schriftlich kommentierte Text der hebräischen Bibel ist für dieses Verhältnis von Statik der kanonischen Schrift und Dynamik der kommentierenden Auslegung ebenso Zeugnis wie das im christlich-patristischen Kontext beobachtbare Wuchern vielsinniger Exegese und Kommentierung bei gleichzeitigem fortgesetztem Bemühen um den Bibeltext in seinem Wortlaut. In beiden Fällen zeigen aber die kontroversen Diskussionen um die Grenzen des Kanons auch, dass dessen Festlegung und Unterscheidung vom Kommentar ein Problem darstellt. Führt man etwa die äußerst komplexe und vieldiskutierte Frage nach dem Gewicht der schriftlichen Gestalt bzw. der mündlichen Überlieferung des Kanons im Judentum ins Feld oder bedenkt man die patristischen Nöte hinsichtlich der Übersetzungsproblematik, dann nimmt sich die skizzierte assmannsche Unterscheidung allzu schematisch aus. In historischen Zusammenhängen, in denen der kanonische Status heiliger Schrift für die Konsolidierung und Aufrechterhaltung der konnektiven Struktur einer Gesellschaft relevant ist, werden zwar kanonische Autorität und der Anspruch auf Ausrichtung an ihrer Maßgeblichkeit sowie die Behauptung der Wahrung von Kanongrenzen in den Folgetexten kontinuierlich rhetorisch reproduziert. Allerdings sind die Strategien auf der Ebene der Textgestaltung den expliziten Ansprüchen zuweilen in einer Weise gegenläufig, welche neben der Unantastbarkeit gerade die Verhandelbarkeit von Kanonizität auf den unterschiedlichsten Stufen ihres Festgeschriebenseins und in verschiedenen historischen Situationen implizieren und die damit auch den Status der Folgetexte zumindest zu einem verhandelbaren machen.
Das Marburger Religionsgespräch kann man als eine Urszene des neuzeitlichen Übergangs von Präsenz- zu Repräsentationskultur lesen, die sich an dem zentralen christlichen Ritual der Eucharistie entfaltet: Zwinglis Versuch, das Abendmahl als zeichenhafte Repräsentation zu verstehen, steht Luthers Bestehen auf der Präsenz gegenüber. Urszenen sind freilich immer komplex – und komplexer, als dass sie in allgemeine Formeln wie etwa ‚von der Präsenz zur Repräsentation‘ aufzulösen wären. Bemerkenswert ist bereits, dass der Dissens nicht zwischen der traditionellen Interpretation als Messe und der neuen Abendmahlspraxis verläuft, sondern innerhalb der letzteren. Bemerkenswert ist weiter, dass nicht zwei Deutungen miteinander konkurrieren, sondern mindestens drei Modelle im Spiel sind, die sich verschiedener Begrifflichkeiten bedienen: Form und Substanz in der Transsubstantiationslehre, Sinn und Bedeutung in Zwinglis Modell, Tropen und Redefiguren bei Luther. Diese Modelle durchdringen einander nicht nur, sie werden auch eigenartige Kompromisse eingehen, wenn etwa die lutherische Theologie bald in ihrer Polemik gegen die Reformierten immer häufiger auf das Substanzmodell zurückgreifen wird. Die Rede von Modellen macht aber auch deutlich, dass hier mehr auf dem Spiel steht als einfache konzeptuelle Unterscheidungen: Es geht auch um das Verhältnis von Diskursen, Disziplinen, Evidenzquellen, also etwa um die Frage, welche Argumente in der Kontroverse herangezogen werden dürfen, oder wie man mit der Schrift umzugehen habe – bis hin zu Praktiken der Inszenierung dieser Argumente wie Luthers Kreideschrift. Vor allem wird die Logik der Kontroverse deutlich, in der sich beide Seiten beständig voneinander abgrenzen und gerade dadurch gegenseitig negativ bestimmen, so dass auch die Unterscheidung von Präsenz und Repräsentation nicht einfach vorausgesetzt werden kann, sondern Teil der Kontroverse ist und sich in ihr herausbildet.
Beinahe auf die Seite genau in der Mitte seines Aufsatzes Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Dichtung (1766) kommt Gotthold Ephraim Lessing auf den literarischen Stil der Evangelien zu sprechen. In einer höchst verdichteten Passage vergleicht er die Beschreibung der Leiden Christi mit John Miltons Paradise Lost (1667). Die Art und Weise wie Lessing die beiden bedeutenden Textkorpora ins Verhältnis setzt ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Zum einen lässt sich die Passage vor dem Hintergrund von Lessings grundsätzlicher Einstellung zu biblischen Texten lesen, wie er sie ausdrücklicher in seinen theologisch orientierten Schriften formuliert. Bedenkt man jedoch den Kontext der Gegenüberstellung innerhalb des Laokoon, d. h. innerhalb einer in erster Linie poetologischen Debatte, so eröffnet sich eine erweiterte Sichtweise. Über den Status der Heiligen Schrift in der christlichen Glaubenspraxis hinaus, ergeben sich Hinweise darauf, wie Lessing das Verhältnis zwischen Poesie und den verschiedenen biblischen Texten einschätzte. Zudem ließe sich aus der genannten Passage auf Lessings Verständnis von der literarischen Verarbeitung biblischer Stoffe sowie letztlich auch darauf schließen, welche Funktion Lessing literarischen Werken in der Glaubensvermittlung zuschreibt.
Einen einzelnen Satz aus der Bibel übersetzen: Dies ist die Aufgabe, an der die Protagonistin von Ingeborg Bachmanns Erzählung Simultan, die Simultandolmetscherin Nadja, scheitert. Der Satz, der auf Italienisch zitiert wird und ins Deutsche übersetzt werden soll, hat es offenbar in sich. Er lautet: "Il miracolo, come sempre, è il risultato della fede e d’una fede audace" – das Wunder ist, wie immer, das Ergebnis des Glaubens und eines kühnen Glaubens. Mit genau diesen Worten übersetzt Nadja den Satz; sie erkennt aber zugleich, dass sie ihn nicht wirklich übersetzen kann. Diese Paradoxie einer Übersetzung des Unübersetzbaren geht mit einer zweiten, intertextuellen Paradoxie einher. Nadja findet nämlich den Satz in einem Buch, das als "Il Vangelo" (das Evangelium) und "bloß die Bibel" bezeichnet wird. Doch der Satz lässt sich dort nicht nachweisen. Die Bachmann-Forschung, einschließlich der Kritischen Ausgabe zum Todesarten-Projekt, bezieht dazu keine Stellung und schenkt so dem Verweis auf die Bibel stillschweigend Glauben. Nur wenige Simultan-Interpretationen fällen das Urteil: Dies ist kein Bibelvers.
In der folgenden Untersuchung sollen exemplarisch an der Darstellung der biblischen Figur Batsebas die Vorteile einer wechselseitigen Lektüre des Bibeltextes und seiner literarischen Rezeptionen aufgezeigt werden. Romane, die biblische Stoffe aufnehmen – sei es in aktualisierender, kritisierender oder glorifizierender Art – zeigen aus kulturwissenschaftlicher Sicht den noch immer hohen Stellenwert der Bibel. Noch immer geht von biblischen Inhalten, Motiven oder Figuren eine literarische Faszination aus, die in unterschiedlichsten literarischen Rezeptionen ihren Niederschlag findet.
Für eine Beschäftigung mit literarischen Rezeptionen der Erzählung von 'David, Batseba und Urija' ist es meines Erachtens allerdings notwendig, zunächst einmal den Bibeltext zu lesen. Angesicht der vielen Zugänge zur Bibel und der verschiedenen Leseweisen biblischer Texte stellt sich die Frage: Wie kann die Bibel angemessen gelesen werden? Neben der historisch-kritischen Bibelauslegung stehen neuere Ansätze zur Verfügung – so auch die narrative Analyse, die als Grundlage für die folgende exegetische Untersuchung dient. Im Anschluss an diese werden mögliche Rezeptionsanschlüsse benannt, die nachfolgend exemplarisch an drei neueren Romanen verdeutlicht werden. Für die Untersuchung wurden der Roman "Batseba. Aus dem Schatten ins Licht" von James R. Shott, Stefan Heyms "König David Bericht" sowie der Roman "Bathseba" von Torgny Lindgren ausgewählt.
Herders Agency
(2012)
Die Titelgebung des vorliegenden Beitrags ist eine wortkarge und durchaus irritierende Formulierung. Wer weiß, ob ein wiedergeborener Herder hier nicht gleich die aktuelle Version von „Gallikomanie“, das fortgeschrittene Stadium des englisch-amerikanischen Sprachimperialismus des anfänglichen 21. Jahrhunderts diagnostizieren und darin ein ihm vertrautes Problem, das eigene Fremde im Fremden des Anderen wiedererkennen würde? Und da würde er bezüglich des Titels eigentlich richtig liegen, geht es hier doch um eine Entfremdung, um die Aufstellung eines hermeneutisch nur bedingt zulässigen Vergleichs eines neueren Kulturkritikers mit einem älteren, oder was noch schlimmer ist, des älteren mit einem neueren - um einen Begriff von Handlungsmacht, agency. Darüber hinaus ist bei dieser Anknüpfung an Herder aus mindestens zwei weiteren Gründen Vorsicht geboten. Zum einen haftet Herders Werk und dessen Rezeptionsgeschichte ein unguter Nachgeschmack an, der den Namen Herder gerade in politischen, ideologiekritischen und auch postkolonialen Diskursen zu einem Label geraten lässt, das die falsche Strategie der Identitätsschaffung bezeichnet. Zum anderen ist der postkoloniale Diskurs auf ein politisches Handeln ausgerichtet, dessen Konsequenz man bei Herder bei noch so großer Anstrengung - schon aus historischen Gründen - nicht zufriedenstellend finden würde. In Bezug auf beide Einwände gilt es also das Gebot zu beherzigen, „jede Form der politischen Aktualisierung im Interesse Herders mit äußerster Vorsicht und geschärftestem Blick für historische Differenzen aufzunehmen.“ Die Rettung ist im vorliegenden Zusammenhang just aus dem unerlässlichen hermeneutischen Bewusstsein zu holen, dass die Beachtung der genannten Differenz, die Bewahrung einer Differenz zwischen „Nachahmung“ und „Nacheiferung“, wie Herder sagen würde, die produktive Aneignung des älteren Kulturkritikers im Kontext des neueren nicht nur vorstellbar und sinnvoll macht, aber auch zu beherzigende Resultate für die Lektüre beider Autoren verspricht.
Als Schatzkästchen, zu dem der Schlüssel verloren sei, bezeichnet der jüdische Gelehrte des 10. Jahrhunderts Saadia Gaon das šir hašširim, das 'Hohelied'. Ein Blick auf den Forschungsstand zeigt, wie treffend die dem außergewöhnlichen biblischen Buch inhärente Problematik damit beschrieben ist. Nicht nur, dass es als erotisches Liebesgedicht ohne expliziten Gottesbezug einen besonderen Status innerhalb des biblischen Kanons einnimmt; auch der Text selbst gilt in seiner vorliegenden Form als problematisch. Was am Hohelied irritiert, ist dessen fragmentarische Struktur, weshalb es häufig als eine Art Anthologie von unabhängigen Liedern angesehen wird, die schließlich von einem Endlektor redigiert wurde und so in der nun überlieferten 'zerstückelten' Fassung zu uns gelangte. Uneinigkeit herrscht allerdings bei der Frage, wie die Grenzen zwischen jenen einzelnen Liedern überhaupt zu ziehen seien, denn trotz seiner augenfälligen Sinnbrüche zeichnet sich das Hohelied durch eine überraschende sprachlich-motivische Konsistenz aus. Eine weitere Schwierigkeit bildet die Unkenntnis des historischen Kontexts. Die jeweiligen Datierungsvarianten reichen von der salomonischen Regierungszeit – mit und ohne Salomo als tatsächlichem Verfasser – bis in die hellenistische Epoche, umfassen somit einen Zeitraum von grob 700 Jahren. Aus jener Vielzahl an miteinander konkurrierenden Theorien zu Genese und Tradierung wird schnell ersichtlich, dass sie nur bedingt zu einer Erhellung des Hohelieds beizutragen vermögen. Gegenüber einer historisch-kritischen Exegese besitzt ein literaturwissenschaftlicher Deutungsansatz den Vorteil, die Diskussion um die unlösbaren Streitfragen zu Kontextualisierung und Kanonisierung beiseitelassen zu können und stattdessen mit dem Text, wie er vorliegt, zu arbeiten. Dann aber dürfen die Brüche im Hohelied nicht als störendes Moment aufgefasst werden, welches das Verständnis lediglich behindern würde, sondern vielmehr als sinnkonstituierend und für eine Gesamtinterpretation relevant. Für Wolfgang Iser, der bezüglich diskrepanter Textmomente solcher Art von 'Unbestimmtheitsstellen' spricht, machen gerade jene die elementare Wirkungsbedingung literarischer Texte aus: "Aus der Semiotik wissen wir, daß innerhalb eines Systems das Fehlen eines Elements an sich bedeutend ist. Überträgt man diese Vorstellung auf den literarischen Text, so muß man sagen: Es charakterisiert diesen, daß er in der Regel seine Intention nicht ausformuliert. Das wichtigste Element bleibt also ungesagt. Das Hohelied wird hier somit als radikal aktualisierbarer Text vor dem Hintergrund neuerer Theoriebildung gelesen und so von seiner ästhetischen Struktur her beleuchtet, wobei auch anachronistisch anmutende Kategorien wie sie unter anderem die Psychoanalyse bereitstellt als Lektürehilfe herangezogen werden. Der Fokus liegt insbesondere auf der Frage, wie Passagen, die in einem als Loblied auf die Liebe ansetzenden Text deplatziert wirken, sich dennoch in ein Gesamtverständnis integrieren lassen.
Sebastian Wildes Aufsatz 'Die Wirklichkeit der Katastrophe' beleuchtet diesen Konflikt vom Standpunkt des betroffenen Subjekts aus: Der Schriftsteller Marcel Beyer wurde 2002 nicht nur zum Zeugen, sondern in vielerlei Hinsicht zum 'Opfer' des Elbehochwassers. Wie Kluge nutzt auch Beyer die spezifischen Eigenschaften seines Mediums, um sich kritisch mit der Presseberichterstattung auseinanderzusetzen. Im Essay 'Wasserstandsbericht' setzt Beyer dem scheinbar dokumentarischen Überblick der Bildmedien den tatsächlich betroffenen Körper als 'Rezeptionsapparat' entgegen und macht die Katastrophe somit durch sprachliche Mittel unmittelbar erfahrbar.
Der Beitrag 'Katastrophe als Metapher' von Chrsitoph Willmitzer beleuchtet das lyrische Werk Ewald Christian von Kleists unter dem Gesichtspunkt der metaphorischen Ausgestaltung von Affekten im Rahmen von literarischen Darstellungen von Naturkatastrophen und Kriegen. Willmitzer geht damit dezidiert auf den frühneuzeitlichen Kontext ein, der in Bezug auf das Katastrophale noch nicht von den Deutungs- und Diskursivierungsmustern geprägt ist, die nach dem Erdbeben von Lissabon 1755 dominant werden.
Wenn eine Katastrophe die Hinwendung zum Schlimmen ist, die schweres Leid und ein verderbliches oder schmerzliches Geschehen verursacht, so sind die Protagonistinnen in Émile Zolas 'Nana' und Frank Wedekinds 'Lulu' sowohl Verursacherinnen als auch Opfer von Katastrophen. Ausgelöst werden diese durch die destruktiven Naturen der Figuren, welche Zola und Wedekind unterschiedlich interpretieren. Während Nana als ein sich ihres Handelns nicht bewusstes Tier auftritt, erscheint mit Lulu eine Gestalt, die scheinbar jedwede Rolle annehmen kann, abhängig davon, wie ihr Betrachter sie sehen und heißen will.
Anhand von Gustav Freytags Roman 'Soll und Haben' analysiert Stullich den Parasiten als eine Figur, die in einer Überschneidung biologischer, ökonomischer und politischer Diskursfelder als eine den Staatskörper schädigende und somit eine biopolitische Katastrophe verursachende Gefahr wahrgenommen wurde. Während also Naturereignisse oder technische Störfälle mit zerstörerischer und tödlicher Wirkung gerade im alltäglichen Verständnis naheliegenderweise als Katastrophen bezeichnet werden, können katastrophische Szenarien gerade in politischen Diskursen als Denkfigur genutzt werden, um bestimmte Ideologien rhetorisch tragfähig zu machen.
Mediale und vor allem fiktionale Inszenierungen von Katastrophen in den Bildmedien referieren jedoch nicht nur auf eine 'Wirklichkeit', sondern prägen auch umgekehrt die Realitätswahrnehmung. Die Terroranschläge vom 11. September 2001, so zeigt Mark Schmitts Beitrag 'The Blowback of Reality', erschütterte die Wahrnehmungsgewohnheiten der Zeugen und Zuschauer dieses Ereignisses so fundamental, dass das Verhältnis von ›Fiktivem‹ und ›Realen‹ infrage steht. Schmitts Analyse stellt die sich direkt auf 9/11 beziehenden Filme, die geradezu einem Darstellungstabu unterliegen, dem Monsterfilm 'Cloverfield' gegenüber und geht dabei der Frage nach, inwiefern die 'derealisierende Übertragung' der Gefahr ins Fantastische die Konventionen der 'richtigen' Darstellung unterlaufen.
Die Möglichkeit Katastrophen politisch einzusetzen hängt unmittelbar mit der medialen Darstellung und der grundsätzlichen Frage nach ihrer Darstellbarkeit zusammen. Kai Fischer untersucht in seinem Beitrag 'Tschernobyl und die Katastrophe nach der Katastrophe' die Probleme fiktionaler und historiographischer Darstellung von Katastrophen in Alexander Kluges literarischen Bearbeitungen des Reaktorunglücks in Tschernobyl. Die Form der offenen Montage erlaubt es Kluge, die sich zum Teil widersprechenden Perspektiven unmittelbarer Erfahrung und ›objektiver Wissensanteile‹ in der 'Dokumentation' zu konfrontieren und damit die 'Unverhältnismäßigkeit der Dimensionen' anschaulich zu machen. Der sich so offenbarende Konflikt zwischen 'Realität' und Darstellung erweist sich als konstitutiv für das Verständnis von Katastrophen als Teil moderner Welterfahrung.
Monika Schmitz-Emans' Beitrag 'Literarische Echos auf Lissabon 1755' beleuchtet verschiedene Texte, die sich auf das Lissaboner Erdbeben - eine paradigmatische Katastrophe - beziehen: Im Vergleich der Texte von Heinrich von Kleist, Thomas Mann, Peter Sloterdijk und Reinhold Schneider zeigt sich die diskursive Bedingtheit von Katastrophen, die letztlich das Produkt zeitspezifischer Wissensformationen sind. Das Reflexionsniveau literarischer Katastrophendarstellungen erlaubt es, diese Prozesse der Diskursivierung und Sinnstiftung neu zu denken.