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Der Umgang mit der Natur ist dreißig Jahre nach Hans Jonas‘ „Prinzip Verantwortung“ weiterhin Anlass ethischer Reflexion. Das gesellschaftlich dominante Nutzendenken bringt den Naturschutz trotz der ökologischen Krise in Bedrängnis. Anthropozentrisches Nutzendenken hat den Naturschutz und seine Begründung längst selbst erreicht. Der Mensch kann jedoch weiterhin als Teil der Natur begriffen werden. Dies führt zur ethisch relevanten Frage nach Eigenwerten der Natur, die der Anthropozentrismus negiert. Die einseitige Betonung von Daten und Fakten vernachlässigt die durch eine Primärintuition gestützte, wesentliche Innenseite der Naturschutzargumentation. Diese Gefühlsseite verlangt ethische Rechtfertigung. Am Beispiel des Nutzenansatzes im Naturschutz und dessen Widersprüchlichkeiten wird die Notwendigkeit einer moralischen Grundentscheidung zwischen Nutzenorientierung und Uneigennützigkeit gezeigt. Dabei wird die Plausibilität der anthropozentrisch verengten Sicht einer „Natur ohne eigenen Wert“ in Frage gestellt. Menschliche Freiheit führt zur Verantwortung. Verantwortungsargumente sprechen für eine Ethik, die Eigenwerte nicht nur für den Menschen, sondern für die Natur annimmt und berücksichtigt. Unter Bezug auf die vor dreißig Jahren formulierte Verantwortungsethik wird die Ausdehnung der Moralgemeinschaft in aktuellen nicht-anthropozentrischen Ethikkonzepten beleuchtet. Die Entwicklung der Moralfähigkeit des Menschen, seine einzigartige Fähigkeit zum Abbau von Egozentrik bis hin zur barmherzigen Weltsicht, zum Altruismus über die Artgrenze hinweg, speist die Hoffnung auf einen umfassenden Kulturwandel zur Beendigung des Raubbaus an der Natur. Dieser Kulturwandel könnte durch Überwindung des Anthropozentrismus ethisch angemessen begleitet werden. Die Sonderstellung des Menschen ermöglicht diese Sprengung des anthropozentrischen Denkrahmens. Konkrete Folgen des ganzheitlich ethischen Arguments für Eigenwerte der Natur, besonders die Beweislastumkehr für den Naturschutz werden beleuchtet.
Vom 07.06. bis zum 28.08.1997 wurden in der Malkachan-Bucht (Region Magadan, Ochotskisches Meer, Russischer Ferner Osten) bei Pentadenzählungen die rastenden Limikolenarten erfasst. Die Erfassungen erfolgten im Rahmen einer Expedition der Universitäten Osnabrück und Jena in Kooperation mit dem Institute for Biological Problems of the North (Magadan). Insgesamt wurde mit 33 Limikolenarten, darunter 14-16 lokalen Brutvogelarten, eine sehr hohe Biodiversität festgestellt. Die höchsten Rastmaxima wurden beim Regenbrachvogel (Numenius phaeopus variegatus) (>2.000 Ind.) und beim Odinshühnchen (Phalaropus lobatus) (1.000 Ind.) erfasst. Für beide Arten hat die Malkachan-Bucht damit internationale Bedeutung als Rastgebiet, da mehr als 1 % der Flyway-Population rasten. Besonders bemerkenswert ist die Revierfeststellung und die Beobachtung eines gewissen Jungvogel-Durchzugs des weltweit gefährdeten Tüpfelgrünschenkels (Tringa gutiffer) in etwa 800 km Entfernung vom bisher bekannten Brutgebiet. Neben dem Regenbrachvogel weist das Gebiet auch höhere Rastzahlen anderer (mittel)großer Limikolenarten wie Uferschnepfe (Limosa limosa melanuroides) (383 Ind., auch Brutvogel), Pfuhlschnepfe (Limosa lapponica baueri) (262 Ind.) und Isabellbrachvogel (Numenius madagascariensis) (250 Ind., auch Brutvogel) auf. Demgegenüber hat die Malkachan-Bucht – zumindest im Jahr 1997 – keine so hohe Bedeutung für rastende Strandläuferarten aufgewiesen. Die Schutzwürdigkeit des Gebiets und seine internationale Bedeutung konnte auch mit Hilfe der Limikolen-Pentadenzählungen im Rahmen der Expedition unter Beweis gestellt werden.
Schleiereulen leben in Deutschland als Gebäudebrüter eng angeschlossen an den Menschen. Der Beitrag spiegelt Gedanken wider, ob und wie Schleiereulen in Mitteleuropa bereits vor der Besiedlung durch den Menschen geeignete Lebensräume vorfanden und eine Population etablieren konnten. Das flexible Verhalten der Schleiereule, insbesondere das variable Paarungssystem, wird auf der Basis verhaltensökologischer Überlegungen vorgestellt und erläutert.
Die Mauser- und Überwinterungsgebiete der süddeutschen Brutvögel des Großen Brachvogels liegen an der Atlantikküste Frankreichs und der Iberischen Halbinsel, individuelle Unterschiede sowie Populationsunterschiede sind jedoch nicht bekannt. Daher wurde in einem Pilotversuch am 20. Mai 2008 ein brütendes Weibchen in einem Brutgebiet am badischen Oberrhein mit einem Satellitensender versehen. Das Weibchen zog am 8. Juni 2008 vermutlich in einem Direktflug von 1020 km in west-süd-westlicher Richtung an die kantabrische Atlantikküste. Signale wurden bis zum 9. Oktober 2008 empfangen.
Basierend auf zahlreichen Untersuchungen zur Auswirkung von Störungen auf rastende Wildgänse stellen wir die Folgen zunehmender Nutzungsintensivierung und Zerschneidung beispielhaft für das Rheiderland (Niedersachsen) dar. Dazu haben wir mit Hilfe eines Geographischen Informationssystems (GIS) den Verlust an ungestörten Nahrungsflächen für Gänse quantifziert und die Konsequenzen für den Naturschutz dargestellt.
Im Rahmen eines Beringungsprojektes an Höckerschwänen im Weser-Ems-Gebiet wurden am Alfsee als einzigem größeren Mauserplatz im südwestlichen Niedersachsen 1998, 2000 und 2003 insgesamt 34 Höckerschwäne mit Halsringen markiert und weitere sechs andernorts beringte Vögel wiedergefangen oder abgelesen. Der Anteil der immutablis-Mutante war mit 36 % auffallend hoch. Die beringten Vögel erbrachten insgesamt 4296 Ablesungen, davon 1107 in über 20 km Entfernung zum Alfsee. Für acht Vögel wurden spätere Ansiedlungen an Brutplätzen belegt, davon insgesamt vier am Alfsee oder im näheren Umfeld (Hasetal, Dümmer), in den übrigen Fällen 35-100 km entfernt in alle Himmelsrichtungen. Trotz rückläufiger Mauserbestände mauserte die Mehrheit der beringten Vögel in den Folgejahren erneut am Alfsee oder im angrenzenden Hasetal, andere wählten bis zu 135 km entfernte Gewässer. Winterbeobachtungen konzentrierten sich auf das Hasetal und die Mittelweser, ansonsten streuten die Funde im Jahreslauf in alle Himmelsrichtungen. Mehrere Vögel wurden in Ostdeutschland beobachtet. Die teils vergleichsweise großen Funddistanzen erklären sich auch durch die Verwendung von Halsringen. Auffallend gering war der Austausch mit den küstennahen Populationen, gerade angesichts der dort intensiven Beringungstätigkeit. Dies deutet an, dass diese Vögel tendenziell zu einem anderen Subareal zählen könnten.
Im Jahr 2003 wurden in der Esterweger Dose (Landkreis Emsland, Niedersachsen) nahrungsökologische Untersuchungen an einer Küken führenden Goldregenpfeiferfamilie durchgeführt. Dabei wurden insgesamt 10 Kotproben und ein Speiballen aufgesammelt und auf ihre Nahrungsrückstände analysiert. Parallel dazu wurden während der Aufzuchtzeit Barberfallen ausgebracht, um das Angebot an epigäisch lebenden Invertebraten zu ermitteln. Die Fallen standen auf Wiedervernässungsflächen unterschiedlichen Alters und auf Abtorfungsflächen mit ihren Ober- und Unterfeldern. Zusätzlich wurden die Bereiche beprobt, die von den Goldregenpfeifern genutzt wurden. Das Angebot an potentiellen Nahrungstieren wurde von Dipteren dominiert, die einen Individuenanteil von ca. 65 % ausmachten. Spinnentiere traten mit einem Individuenanteil von etwa 20 % auf. Käfer und ihre Entwicklungsstadien waren mit lediglich 10 % vertreten. Die Zusammensetzung der Fallenfänge unterschied sich zwischen den untersuchten Biotopen nicht. Im Speiballen und in den Kotproben dominierten dagegen Käfer und ihre Larven mit Individuenanteilen von z. T. über 70 %. Die Küken suchten besonders an den mit spärlicher Vegetation bestandenen Gräben der Unterfelder nach Nahrung. Hier traten die von ihnen präferierten Beutetiere (vor allem Laufkäfer) in höheren Individuenanteilen auf als in den übrigen beprobten Lebensräumen.
In diesem ersten Nachtrag zur Monographie der Insekten (ausschließlich der Odonatoptera und Blattodea) aus Schichten des Westfalium D vom Piesberg bei Osnabrück (Niedersachsen, Deutschland) werden weitere neue Angehörige der Palaeodictyoptera beschrieben: Homaloneura kiliani n. sp. (Spilapteridae) und Lithomantis meyeri n. sp. (Lithomanteidae). Neue Flügel-Funde zu bekannten Arten aus der Familie der Breyeriidae (Palaeodictyoptera) und Aspidothoracidae (Megasecoptera) ergänzen den bisherigen Fossilbericht von dieser Lokalität.
Dieser Beitrag befasst sich erstmals mit Fugenelementen in Lehnwortbildungen, genauer: in N+N-Komposita mit fremdem Bestimmungswort (auch Determinations- oder Erstglied). Da Fugenelemente morphologisch zum Bestimmungs- und nicht zum Grundwort gehören, spielt das Grundwort keine Rolle bei der Entscheidung, ob die Kompositionsnahtstelle verfugt wird oder nicht […]. […] Dabei fällt auf – und hierauf spielt der Zweifelsfall Subjekt(+s+)pronomen im Titel an –, dass es zahlreiche Schwankungen gibt […]. Schwankungsfälle erfordern u. E. besondere Aufmerksamkeit, weil sie in der Regel Sprachwandel im Vollzug darstellen, d. h. den Übergang eines älteren zu einem jüngeren Sprachzustand markieren. […] Was die Fremdwortkomposita so interessant macht, ist die Tatsache, dass nichtnatives Material einem sehr nativen Verfahren […] unterzogen wird […]. In diesem Beitrag gehen wir wie folgt vor: Zunächst – in Kapitel 2 – definieren wir das Fugenelement und stellen kurz seine Entstehung, sein Inventar von immerhin sechs Allo-Formen und deren Distribution dar. In Kapitel 3 fragen wir nach der bzw. den Funktionen von Fugenelementen, die in der bisherigen Forschung vorgebracht wurden. […]. Kapitel 4 befasst sich speziell mit dem Fugenverhalten in Fremdwortkomposita, genauer: in Komposita mit nichtnativem Erstglied. Hier zeigen wir, dass es in erster Linie die phonologische Wortstruktur des Erstglieds ist, die die s-Fugensetzung steuert.
Das Gedicht 'Boas' erschien erstmals im Mai 1912 in der avantgardistischen Zeitschrift "Der Sturm", die Lasker-Schülers Ehemann Herwarth Walden herausgab. Gemeinsam mit den Gedichten 'Ruth' und 'Pharao und Joseph!' veröffentlichte die Autorin es 1913 erneut in der Zeitschrift Die Freistatt, wobei im vorletzten Vers statt „Ueber seine Korngärten“ die Variante „In seine Korngärten“ zu lesen war. Was auf der Oberfläche ein sentimentales Liebesgedicht (i.e. 'Boas') zu sein scheint, erweist sich bei einer näheren Betrachtung, die die biblische Rut-Novelle einbezieht und den biographischen Konnex sucht, als … mnemosynetisches Gedicht, die poetische Erinnerung an ein gescheitertes Projekt in der Literatur wie im Leben.
This article compares the prototypical (i. e. the most frequent) surnames of three neighbouring regions: The Netherlands, Flanders, and Germany. It concentrates on the surname’s emergence, development, their lexical sources and their current distribution. The latter is documented by maps based on telephone or official registers. Only some of the regional differences can be explained by cultural or historical factors. An important result is that onomastic landscapes do not follow national or linguistic borders.
Zu dem umrätselten Gespräch, das Napoleon 1808 mit Goethe über den "Werther" geführt hat, kursieren zwei Auflösungen, die beide mit Goethes Äußerungen nicht zur Deckung zu bringen sind. Unbeachtet geblieben ist eine Erklärung aus dem Jahre 1902, die sich aus den Aufzeichnungen K. E. Schubarths ergibt. Sie stimmt nicht nur mit Goethes eigenen Andeutungen überein, sondern macht auch sein Schweigen über dieses Gespräch verständlich.
Der Beitrag konzentriert sich auf eine kleine, wenig beachtete Schrift von Gottfried Arnold, die aus Anlass seiner Demission von der Universität Gießen verfasst wurde. In ihr greift der Pietist die Universität entschieden an, ja er verketzert sie regelrecht. Das führt zu einem Bruch mit der (gerade von Pietisten gepflegten) Stilforderung nach Sanftmütigkeit. Gleichzeitig lässt dieses Vorgehen Rückschlüsse auf die Adressaten zu, was die bestehende Forschungsmeinung, Arnolds Schrift sei von den Zeitgenossen breit rezipiert worden, in Frage stellt.
Die deutschen Präteritopräsentia sind, indem alte Perfektformen das heutige Präsens stellen, aus mehreren Gründen als hochgradig irregulär zu betrachten. Hinzu kommt ein bisher nicht geklärter Umlaut bei vier (von heute sieben) dieser Verben: „müssen“, „dürfen“, „können“ und „mögen“. Bisherige Erklärungsversuche werden diesem Problem nicht gerecht: Zwar versuchen sie durchaus, den Umlaut im Präsens zu motivieren, doch vermögen sie es nicht, sein ausschließliches Vorkommen im Plural des Präsens zu erklären. Hier wird für die These argumentiert, dass es sich um einen (verbalen) Pluralumlaut handelt, der insbesondere auch im Nominalbereich gang und gäbe ist und dort zur gleichen Zeit einen massiven Ausbau (Morphologisierung) erfährt. Damit handelt es sich um einen sog. transkategorialen Marker. In deutschen Dialekten haben auch andere Verben zu solchen Pluralumlauten gegriffen.
Die Reflexion der Grenze zwischen Text und Nicht-Text findet zumeist ‚am Rahmen’, nämlich im Paratext, statt. Insbesondere die „Vorredenreflexion“ […] will bei den Lesern das „Fiktivitätsbewußtsein“ […] für den nachfolgenden Text wecken. Ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, wie dieses Grenzbewusstsein entsteht. Dabei gehe ich von der Prämisse aus, dass Paratexte – vor allem Vorworte – einen Zugang zum Haupttext eröffnen, indem sie sich selbst als Übergangszone in Szene setzen: als Übergangszone, in der die Grenzen zwischen all dem, was fiktiver Text ist und all dem, was nicht fiktiver Text ist, verhandelt werden. Die Rede vom Paratext als Übergangszone impliziert neben dem Gesichtspunkt der Räumlichkeit auch eine Form der Bewegung, durch die diese Übergangszone überhaupt erst konstituiert wird. Es handelt sich […] um eine „Praktik im Raum“ […] durch die der Leser – die Leserin – den Weg aus der realen Lebenswelt in die fiktionale Welt des Textes finden soll. Dieses paratextuelle travelling möchte ich im Rekurs auf Jean Paul beschreiben – ein Schriftsteller, der wie kein anderer eine Vielzahl spielerischer Praktiken im paratextuellen Raum entwickelt hat. Mitunter hat man sogar den Eindruck, dass Jean Paul mehr Wert auf seine Paratexte als auf seine Texte legt. Zugleich, und dies scheint mir für das Thema Raum und Bewegung in der Literatur interessant zu sein, fällt auf, dass Jean Paul im Rahmen seiner Paratexte ostentativ Raummetaphern bemüht.
Das Mißverhältnis zwischen der relativ geringen Zahl verurteilter Mörder und der Unzahl von Morden, die dem Fernsehpublikum allabendlich verabreicht werden, bedarf einer Erklärung. Die These lautet, daß der Fernsehkrimi der Durchsetzung gesellschaftlicher Macht- und Rechtsverhältnisse in den Köpfen des Publikums dient. Er nimmt aktuelle gesellschaftliche Probleme auf, spielt sie an den Grenzen der Legalität durch und macht den Verbrecher dingfest. Die Formen, in denen dies geschieht, zeigen mehr oder weniger genau den Wandel der staatlichen Verhältnisse an. Der Fernsehkrimi übernimmt daher unter den Bedingungen der Mediendemokratie die Funktion älterer Institutionen der Selbstverständigung: der griechischen Tragödie, des bürgerlichen Trauerspiels und der verschiedenen Formen des Kriminalromans. Drehbuchautoren, Regisseure und Schauspieler erarbeiten sich in günstigen Fällen zwischen den staatlich dominierten Fernsehanstalten und dem Publikum, das an spannender Unterhaltung interessiert ist, einen Freiraum, der das staatliche Herrschaftsinteresse mit Mitteln der Kunst unterläuft. Eine Typologie des Fernsehkrimis kann die Produktionen daher zwischen dem staatssprengenden Krimi, der strikt allenfalls in Kinoproduktionen möglich ist, und dem staatstreuen Krimi, der zur Langeweile neigt, aufspannen. Der "Tatort" findet in der Konkurrenz der Landesmedienanstalten relativ günstige Bedingungen vor und bietet sich für eine Analyse an. Als Beispiel für den staatstreuen Krimi wird die Folge "Bienzle und der Tod im Teig" (Tatort Stuttgart, 2003), für den staatssprengenden Krimi der italienisch - französische Kinofilm "Die Macht und ihr Preis" (1976) angeführt. Dazwischen lassen sich verschiedene Strategien ansiedeln, die den Autoren und Regisseuren das Ausweichen vor den (in den Rundfunkräten präsenten) staatlichen Institutionen erlauben: Komik und Groteske (Tatort Bremen: "Eine unscheinbare Frau", 2007) sowie Ästhetisierung. Dafür werden der Kieler Tatort "Borowski und das Mädchen im Moor" (2008) und die Kölner Folge "Mutterliebe" (2003) genauer analysiert. Sie zeigen, daß die traditionellen Mittel der Kunst wohl immer noch am besten geeignet sind, um die Machtansprüche der staatlichen Institutionen wirksam zu unterlaufen — selbst im Fernsehkrimi, der am ehesten zwischen die politischen Fronten gerät, wie neuere Diskussionen um mehrere Tatort-Folgen gezeigt haben.
Annes Interesse richtete sich, wie wir dem Tagebuch entnehmen können, besonders auf die zeitgenössische niederländische Literatur. Der Wille des Vaters, den Kindern die Dramen Goethes und Schillers näher zu bringen, ist zwar durch den zitierten Eintrag belegt, welche Bedeutung diese Lektüre für Anne selbst hatte, darüber lässt sich jedoch nur spekulieren. Wir wissen aber aus anderen Quellen, dass viele der von den Nationalsozialisten Verfolgten, Vertriebenen, Eingesperrten und Gequälten aus den Werken der „Klassiker“ und ihrer humanistischen Botschaft Hoffnung schöpften und darin Trost fanden. Gleichzeitig jedoch vereinnahmten die Machthaber dieses kulturelle Erbe propagandistisch für ihre nationalistischen und rassistischen Zwecke. Dass die Ausstellung „Anne Frank – Eine Geschichte für heute“ jetzt in der „Klassikerstadt“ Weimar gezeigt wird, in deren unmittelbarer Umgebung sich mit dem Konzentrationslager Buchenwald ein Ort befindet, dessen Name zu einem Synonym für den nationalsozialistischen Terror geworden ist, kann daher durchaus auch zum Anlass genommen werden, diesen beiden so gegensätzlichen Strängen der Rezeptionsgeschichte der „Weimarer Klassik“ und insbesondere der Werke Goethes und Schillers in den Jahren von 1933 bis 1945 einmal etwas genauer nachzugehen. Das vorliegende Arbeitsmaterial stellt dafür in kommentierter Form exemplarische Texte zur Verfügung.