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Dinge besitzen eine Ausstrahlung, sie können bezaubern und erschrecken, faszinieren und bannen. Diese Erfahrung machen Menschen nicht nur mit 'auratischen' oder 'authentischen' Kunstwerken, auch im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit scheinen Dinge ein Eigenleben zu führen. Nachdem konstruktivistische Zugänge versuchten, ihnen genau dieses auszutreiben, kehrt es seit einiger Zeit wieder: in der Rede von der Aktivität der Objekte und der Macht der Dinge. Dies lässt sich mit der Vokabel 'Fetischismus' ideologiekritisch brandmarken oder kulturtheoretisch verherrlichen. In diesem Beitrag wird ein anderer Weg beschritten. Zu Beginn konstatiert er eine Sehnsucht nach dem unmittelbaren Gegebensein der Dinge und präsentiert sodann einen Zugriff, der diesen Befund berücksichtigt, ohne auf den Bereich des Sakralen zurückzugreifen: sei dies in magischer, mythischer oder fetischistischer Form. Vielmehr baut er auf die Phantasmagorie, die sich im Profanen ansiedelt und es erlaubt, systematisch Ästhetik und Ökonomie, Technik und Politik aufeinander zu beziehen. Die Ausführungen laufen auf die These hinaus, dass sich mit der Phantasmagorie eine kritische Alternative zum Fetisch formulieren lässt, welche die profane Moderne mit ihren produktiven Möglichkeiten und Risiken in all ihrer Ambivalenz auf den Begriff zu bringen vermag.
Zum Repertoire sozialistischer Helden und Märtyrer gehört die Figur des Kindermärtyrers, die auch in der sowjetischen Kultur seit den 1920er und 1930er Jahren Hochkonjunktur hatte. In der Presse, der Literatur wie im Film wurden zahlreiche Geschichten über Kinder und Jugendliche erzählt, die an die 'lichte Zukunft des Kommunismus ' glaubten und bereit waren, selbstlos ihr Leben für diese zu opfern. Solche Geschichten über jugendliche Opfer zählten - wie traditionell in vielen Kulturen und Gesellschaften - zu den zentralen Gründungs- und Opfermythen des Sowjetsystems. Das Selbstverständnis der Sowjetmacht als Schöpferin einer neuen Weltordnung, das radikale Zerstörungspraktiken zu legitimieren schien, war mit einer Neuordnung des gesamten symbolischen Kapitals russischer Geschichte verbunden. Einerseits wurden tradierte Symbole den veränderten Bedingungen angepasst und semantisch umcodiert, andererseits wurden den Anforderungen der Ideologie entsprechende neue Zeichen und Symbole in Umlauf gebracht. Mit den realen wie fiktiven Märtyrerfiguren wurden insbesondere in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Oktoberrevolution von 1917 wirkmächtige Symbole zur Regulierung der für die Menschen nahezu täglich spürbaren Gewalt bereitgestellt. Die Märtyrerfigur als kulturelles Deutungsmuster funktionierte offenbar weiterhin - ungeachtet der radikalen Absage der Sowjetmacht an die Religion - als propagandistisches Instrument und ermöglichte Verknüpfungen (wie z. B. von Gewalt und Kult, Tod und Verehrung, Opfer und Quasi-Sakralem).
Bilder von Gewalt, Krieg und Zerstörung steigen auf, wenn der Blick sich auf die arabische Welt richtet. Auch die arabische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts ist von diesen Themen geprägt. Nicht nur viele arabische Gegenwartsromane handeln von körperlicher und politischer Gewalt, von Zensur, Krieg, Verletzung der Menschenrechte und staatlichen Repressionen, auch in der zeitgenössischen arabischen Dichtung spielen diese Themen eine wichtige Rolle. Was hier auffällt, ist eine oft provokante Aufarbeitung von Krieg, Gewalt und Tod, in der das poetische Ich als pathetisch überhöhte Leidensfigur auftritt. "Leidend die Welt zu überwinden", dem erfahrenen Unrecht mit leidenschaftlichem "Gegenleiden" zu begegnen, diese von Erich Auerbach christlicher Weltfeindschaft zugeschriebene Lebenshaltung scheint auch das Motto vieler Gedichte arabischer Autoren zu sein. Die Qualen an sich und der Welt werden nicht selten apokalyptisch dramatisiert, das eigene tragische Ende erscheint als Selbstopfer und so letztlich als moralischer oder auch transzendentaler Sieg, bei dem der Autor sich als Christus am Kreuz, als Zarathustra oder Prophet und damit als Erlöserfigur imaginiert, umgeben von blutigen Horrorszenarien der Gewalt und Angst. Warum zeugen so viele zeitgenössische Gedichte, Romane und Dramen mit derart drastischen Bildern von Krieg, Gewalt und Tod, und welche Funktion haben diese Themen in der Literatur und in der Gesellschaft? Handelt es sich bei den oft pathetischen Selbststilisierungen um narzisstischen Manierismus und maßlose Selbstüberschätzung, oder sind sie vielleicht eine erschütternde, aber schlicht angemessene literarische Antwort auf eine kaum mehr zu ertragende, rücksichtslose und grausame Realität in der arabischen Welt? Um diesen heiklen Fragen auf den Grund zu gehen, sollen in diesem Beitrag einige Gedichte und einige literarische Grenzfiguren untersucht werden.
Neue Vorschläge in der Valenzlexikographie am Beispiel des spanisch-deutschen Verbvalenzwörterbuchs
(2011)
Im Folgenden werden die wichtigsten Fragen und Probleme, die die Genealogie der modernen Lesarten und 'rewritings' der Fesselung Isaaks aufwirft, sowie einige interessante Funde, die ich in meiner Studie skizziert habe, vorgestellt. Zum Schluss soll eine zentrale Frage erhoben werden: Wann genau wurde Isaak, das Möchtegern-Opfer im Buch Genesis, "der Grundpfeiler unseres religiösen Bundes" in Yehoshuas Worten, als Grundpfeiler des sog. modernen säkularen Nationalismus wiedererfunden?
Am Beispiel des Stalkerfilms diskutiert Michaela Wünsch filmästhetische Verfahren der Evokation des Unheimlichen und der Angst. Eine Technik, das Unheimliche aufzurufen, besteht darin, die Filmkadrierung durch Rahmungen im Filmbild selbst zu verdoppeln. Wünsch macht deutlich, dass konkrete Techniken in den größeren Zusammenhang einer allgemeinen Unheimlichkeit des Medialen gestellt werden können. Anhand exemplarischer Filmszenen aus "Halloween" analysiert sie die Rahmungen genauer und entwickelt unter Bezugnahme auf Lacans "Seminar X" eine medientheoretische Unterscheidung zwischen dem Gefühl des Unheimlichen und der Angst.
In der Literatur jüdischer Autoren des letzten Jahrhunderts steht die Darstellung des Martyriums in drei spezifischen, sehr unterschiedlichen Kontexten: in Werken der literarischen Moderne, die die Übernahme der religiösen Traditionen verhandeln - hierzu gehört wohl auch noch Philip Roths Erzählung - im Umkreis der Literatur in und nach Auschwitz und in literarischen Texten zur Geschichte oder Befindlichkeit des Staates Israel. Am Beispiel eines literarischen Bezugs auf die Märtyrertradition aus jedem dieser Umfelder - im Werk Franz Kafkas, Nelly Sachs' und David Grossmans - gilt es nunmehr, jeweils die Korrelation von Verschriftung und interreligiösem Subtext herauszulesen.
Logik der Streichung
(2011)
Was meinen wir eigentlich, wenn wir sagen: Ein Wort, ein Satz, ein Abschnitt, eine Seite wurde gestrichen. Was ist, mit anderen Worten, das Synonym dessen, was wir als Streichen bezeichnen? Es gibt verschiedene Möglichkeiten: Man kann das Streichen als ein Löschen, als ein Tilgen begreifen. Oder aber als Spur eines korrigierenden Überarbeitens: eines Umschreibens im Sinne des Ersetzens und Kürzens, aber auch im Sinne eines Überschreibens.
Schreiben hat den Charakter eines intentionalen Aktes – es setzt die willentliche Entscheidung zur Produktion und zur Positionierung einer Buchstabenfolge voraus. Auch das Streichen hat den Charakter eines intentionalen Aktes – nämlich die bereits produzierten Buchstabenfolgen willentlich zu verneinen, sie zu verwerfen. Almuth Gresillon spricht im Kapitel "La rature " ihres Buchs "La mise en ceuvre" von der "existence double", die der graphischen Materialitat der Streichung einen ambivalenten Charakter verleiht.
Diese doppelte Existenz der Streichung - worin besteht sie?
Erstens: Streichungen hinterlassen sichtbare Spuren auf dem Papier.
Zweitens: Schreibspuren werden durch eine Streichung nicht annulliert.
Das im Norden Ägyptens an der Küste des Mittelmeers gelegene Alexandria gehört zu denjenigen Städten, deren Name auch literaturhistorisch einschlägig ist. Der von gegenwärtigen Besuchern meist als schäbig und heruntergekommen erlebten modernen Großstadt steht dabei das literarisch überhöhte Bild einer levantinisch-kosmopolitischen Gesellschaft gegenüber, die von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts in voller Blüte stand.
Die Städtebünde, um die es hier gehen soll, nämlich die erste lombardische Liga der Sechziger- bis Achtzigerjahre des 12. Jahrhunderts einerseits und der Rheinische Städtebund der Jahre nach 1254, haben früh und immer wieder die Aufmerksamkeit der nationalen und internationalen Geschichtsschreibung gefunden. Es kann deshalb nicht das Ziel der folgenden Überlegungen sein, diesen ausführlichen, in vielen Punkten allerdings oft streitigen Forschungen neue Erkenntnisse im einzelnen hinzuzufügen. Die hier beabsichtigte Gegenüberstellung und der Vergleich haben allerdings sehr viel weniger häufig und intensiv stattgefunden. In dieser Hinsicht ist vor allem – und fast allein – eine Tagung und ein Sammelband des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte zu nennen, der sich in die Reihe der Rückblicke auf den Konstanzer Frieden des Jahres 1183 zwischen Friedrich Barbarossa und den lombardischen Städten einreiht, aber thematisch dem Thema "Kommunale Bündnisse Oberitaliens und Oberdeutschlands im Vergleich" gewidmet ist. ...
Beginnend mit der Rahmenerzählung aus E.T.A. Hoffmanns "Die Serapions-Brüder" (1821) verbindet Tan Wälchli das poetologische Konzept des 'Scheinlebens' oder 'scheinlebendigen Bildes' mit theologischen Diskursen im frühen 19. Jahrhundert. Darüber hinaus analysiert er Achim von Arnims Inszenierung der Golem-Figur in "Isabella von Ägypten" (1812) und in der "Zeitung für Einsiedler" (1808). Sowohl bei Hoffmann als auch bei Arnim zeichnet sich ein poetologisches Konzept eines 'Körpers ohne Seele' ab, das von beiden Autoren polemisch gemeint ist. Mangelhafte künstliche Wesen werden aufgerufen, so Wälchli, um klassizistische und frühromantische Konzepte des Dichters als Nach-Schöpfer Gottes anzufechten. Dies ist wiederum dem auf dem Feld der romantischen Literatur belesenen Freud nicht entgangen, für den die Figur des Golems in seinem Aufsatz über das Unheimliche von besonderem Interesse war.
Trotz einer kaum noch zu überschauenden Menge ikonographischer Studien zu einzelnen Heiligen und Ansätzen zu einer medienspezifischen Anschauung wie Cynthia Hahns Analyse der illustrierten Heiligenlegenden, fehlt eine nach verschiedenen Bildträgern, ihren Orten, Funktionen und Rezipienten differenzierende Bildgeschichte des Heiligen Leibes, die nach dem Verhältnis von Repräsentationsstrategien, Präsenzinszenierungen und narrativen und argumentativen Bildstrukturen und Rahmungen zu fragen hätte. Stattdessen gerät die Frage nach der Inszenierung von Gewalt bevorzugt und verengend in den Blick. Es sind vor allem Martyrien jungfräulicher Heiliger, die 'pars pro toto' für die Alterität mittelalterlicher visueller Kulturen zu stehen scheinen, in denen die Künste auf die Allgegenwart von Gewalt, Angst, Schmerz und Tod und auf eine schaulustige Betrachtermentalität reagiert hätten, "that did not shrink from blood and gore." Doch ein solches Spiegelverhältnis zwischen tatsächlichen Gewalterfahrungen und Bildproduktionen erscheint zu einfach gedacht, denn dargestellte Gewalt ist immer konstruierte, ästhetisch vermittelte Gewalt. Während die hagiographische Forschung zu einem differenzierteren Verständnis der Ästhetik und rhetorischen Funktion von Gewaltdarstellungen in Märtyrerinnenlegenden gelangt ist, sind die diesbezüglichen Leistungen der mittelalterlichen Bildmedien in der Kunstgeschichte noch nicht in vollem Umfang gewürdigt worden. Um diese formenden und sinnstiftenden Grenzziehungen gegenüber der an sich rohen Gewalt des Martyriums geht es mir auch im wahrsten Sinne des Wortes, denn ich suche sie an einer medialen Schnittstelle auf, dem Übergang eines Kopf- und Büstenreliquiars zu einer dem Körper ganz unähnlichen Sockelzone, in und an der Bilder u. a. darüber berichten können, wie die im Reliquiar geborgene Reliquie 'produziert' wurde.
Versetzen, Einfügen, Einwachsen – das sind die Umschreibungen der Aufpfropfung als einer Agrartechnik, mit der seit der Antike […] Pflanzen veredelt werden. Veredeln heißt dabei zum einen: Kultivieren, impliziert also eine qualitative Steigerung durch einen technischen Eingriff; zum anderen bedeutet Veredeln aber auch Konservieren: durch ein Verfahren der nicht-sexuellen, künstlichen Fortpflanzung Kopien herstellen und so das Veredelte in Kopie bewahren. Die Reproduktion fungiert mithin als eine Art ›Massenspeicher‹ des bereits Kultivierten. […] Im Folgenden möchte ich […] der Frage nachgehen, inwiefern sich Kultur als Pfropfung und Pfropfung als Kulturmodell begreifen lässt: In welcher Weise und in welchem Zusammenhang wurde und wird die Aufpfropfung als Metapher für kulturelle Prozesse, Praktiken und Produkte in Dienst genommen? Wie setzt sich der Begriff des Pfropfens gegen den momentan fast inflationär gebrauchten Begriff des Hybridisierens ab? Welchen intellektuellen Mehrwert bringt der Rekurs auf den Pfropfungsbegriff für poetologische, philosophische, interkulturelle, aber auch wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen? Anders gewendet: Was trägt das Aufpfropfungsmodell zum Verständnis von Kultur als Kulturprozess bei?
Koreferenzielle Pro-Formen im Deutschen und Italienischen : Analyse von Korpora gesprochener Sprache
(2011)
Gegenstand dieses Beitrags ist die vergleichende Untersuchung von deutschen und italienischen verweisenden Pronomen. Für das Deutsche wird die Alternanz zwischen der/die/ das (im Folgenden d-Pronomen; vgl. Ahrenholz 2007 und Wiltschko 1998) und Personalpronomen betrachtet. Für das Italienische werden Demonstrativ- und Personalpronomen (freie und klitische) untersucht. In vorherigen Forschungsarbeiten wurde auf semantische, syntaktische und pragmatische Bedingungen hingewiesen, die das Vorkommen von d-Pronomen anstatt anderer Pronominalformen wie z.B. den Personalpronomen im Deutschen stark begünstigen (vgl. dazu Ravetto 2009). Ziel dieser Arbeit ist, zu überprüfen, ob in den zwei Vergleichssprachen ähnliche Tendenzen bzw. Bedingungen zu beobachten sind, die mit der Wahl der jeweiligen verweisenden Form verknüpft sind.
Konstruierte urbane Räume : zur unheim(e)lichen Interaktion und Interdependenz von Emotion und Beton
(2011)
Sandra Evans konzentriert sich in ihren Ausführungen auf sogenannte 'gated communities' und fragt, warum Menschen sich in selbstverwaltete Wohnkomplexe mit schützenden Mauern und Überwachungstechnologien zurückziehen. Um die in diesem Kontext häufig genannten Ursachen - Gefühle des Bedrohtseins, der Furcht und der Angst - genauer beleuchten zu können, rekurriert sie auf das Unheimliche in seiner sozio-politischen Dimension. Vor diesem Hintergrund kann sie erklären, dass das Vertraute - unabhängig etwa von der tatsächlichen Kriminalitätsrate - nicht selten mit Sicherheit in eins gesetzt wird, während das Unvertraute oder Unbekannte als unheimliche Bedrohung empfunden wird. Anstatt sich aber mit den eigentlichen Faktoren der Angst auseinanderzusetzen, verfallen Bewohner von 'gated communities' selbsttäuschenden Vermeidungstaktiken.
"Bilal war aufrichtig im Glauben und rein im Herzen. Umayya [einer der führenden Männer in Mekka] brachte Bilal oft, wenn die Mittagshitze am größten war, hinaus in das breite Tal von Mekka, warf ihn auf den Rücken, ließ einen mächtigen Stein bringen und ihm auf die Brust legen. Dann sagte er zu ihm: "Dies geht so weiter, bis Du stirbst oder Muhammad verleugnest und zu den Göttinnen Lat und Uzza betest." Bilal aber sagte in dieser Bedrängnis: "Einer! Einer!" [und bekannte sich damit zum einzigen Gott]." Dieser Ausschnitt aus dem 'Leben des Propheten' von Ibn Ishaq (85/704–159/767) handelt von Verfolgungen einiger der ersten Anhänger Muhammads in Mekka. Der Bericht über die Folterung des Sklaven Bilals enthält zentrale Elemente, die auch aus den Darstellungen der Martyrien während der Christenverfolgung der ersten nachchristlichen Jahrhunderte bekannt sind: die Forderung seitens der Verfolger, von der neuen Religion, die als eine Infragestellung der überlieferten Ordnung verstanden wird, abzufallen und das standhafte Bekenntnis des durch Folter geprüften Gläubigen. Was in diesem Fall fehlt, ist der Tod: Bilal wurde von einem der einflussreicheren Gefährten des Propheten freigekauft und dadurch gerettet. Er erlangte später Ansehen als der erste Gebetsrufer des Propheten und nahm unter dessen Nachfolgern an den Eroberungsfeldzügen in Syrien teil, wo er sich niederließ und schließlich starb.
Jesus als Märtyrer
(2011)
Zu definieren, was einen Märtyrer ausmacht, ist für das Altertum ebenso wichtig wie für die Moderne. Was meinen wir mit dem Begriff 'Märtyrer', wenn wir Jesus von Nazareth so nennen? Liegt dabei der Schwerpunkt auf dem historischen Jesus und den Motiven für seinen gewaltsamen Tod, den er erwartet haben mag? Oder sollten nicht eher die frühen Textteile des Neuen Testaments, die die Reaktionen der Anhänger Jesu auf dessen gewaltsamen Tod und seine Rechtfertigung schildern, den Ausgangspunkt für unsere Analyse bilden? Natürlich verfügen wir im Falle Jesu über keine Internetquellen, kein Videomaterial, keine Interviews mit dem Märtyrer vor seiner Tat. Wir haben nur kanonische und apokryphe Texte. Deshalb beginne ich bei meiner Diskussion über Jesus als Märtyrer mit einer Definition des Martyriums, die sich auf die zweite oben angeführte Möglichkeit stützt. Sie fußt auf antiken jüdischen und christlichen Texten, von denen allgemein angenommen wird, dass ihre Rezipienten sie als Beschreibungen des Lebens und Leidens von Märtyrern verstanden; die Berichte, die solches erinnern sind schriftlich festgehalten (Abschnitt 1). Danach kehre ich zur ersten Definitionsmöglichkeit zurück und konzentriere mich kurz auf die Person des historischen Jesus, um mit Hilfe der antiken jüdischen und christlichen Märtyrerberichte herauszufinden, was wir möglicherweise über Jesu eigene Sicht auf seinen nahen Tod als den eines Märtyrers wissen können (Abschnitt 2). Im letzten Abschnitt widme ich mich den Passionsberichten des Neuen Testaments. In der Forschung wurden diese Narrative häufig mit den Erzählungen der antiken Märtyrer verglichen, diese wurden sogar als Modell herangezogen, um den Ursprung des Passionsberichts zu rekonstruieren. Sei dieser Ansatz plausibel oder nicht, auf jeden Fall spiegeln die Passionsberichte auf faszinierende Art und Weise die dialogische Gegenüberstellung von Märtyrer und Gegner wider, die so oft das Herzstück der Prozess- und Folterszenen antiker jüdischer und christlicher Märtyrererzählungen darstellt. So gibt es offensichtlich gute Gründe, diese beiden Textgruppen zu vergleichen (Abschnitt 3).
In einem 1936 geschriebenen Beitrag, der in dem Band 'Ausdruckswelt' (1949) erschienen ist, bezeichnet Gottfried Benn die letzte Zeile aus Rilkes 'Requiem' als einen "Vers, den meine Generation nie vergessen wird". Das Gedicht, 1908 entstanden und ein Jahr später gedruckt, schließt mit den Worten: "Wer spricht von Siegen -, Überstehn ist alles!" Der Vers ist durch Benn zum geflügelten Wort geworden. Vorausgegangen waren allerdings zwei Weltkriege mit Millionen von Toten und Verwüstungen großer Teile Europas. Dennoch ist in Benns Bekenntnis von Trauer oder Demut nichts zu spüren. Vielmehr verweist es auf einen Gedanken von Nietzsche, in dessen Schriften das Überleben als Leistung des willensstarken Individuums aufgefasst wird. "Ein wohlgerathner Mensch", so Nietzsche in seiner 1889 verfassten Autobiografie 'Ecce homo', "erräth Heilmittel gegen Schädigungen, er nützt schlimme Zufälle zu seinem Vortheil aus; was ihn nicht umbringt, macht ihn stärker". Die Feststellung ist Teil von Nietzsches Idee eines 'Willens zur Macht', die den Willen zum Leben einschließt. Sie hat neben der physischen und psychischen eine intellektuelle Seite, die man als glückliche Verabschiedung der Vergangenheit bezeichnen kann. Schon Marx hat den Gedanken in der Einleitung seiner 'Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie' (1843/44) mit Blick auf die griechische Literaturgeschichte formuliert. An konkrete Erfahrung gebunden wird er in Elias Canettis Studie 'Masse und Macht' (1960). "Dieses Gefühl der Erhabenheit über die Toten", so heißt es hier, "kennt jeder, der in Kriegen war. Es mag durch Trauer um Kameraden verdeckt sein; aber dieser sind wenige, der Toten immer viele. [...] Wem dieses Überleben oft gelingt, der ist ein 'Held'. Er ist stärker. Er hat mehr Leben in sich. Die höheren Mächte sind ihm gewogen." Ernst Jünger hat das glückliche Überleben von Kriegen im Sinne Nietzsches immer wieder zum Thema seiner Tagebücher gemacht. Während Benn die nihilistische Dimension in den Mittelpunkt stellte, wie sein Rückblick 'Nietzsche nach 50 Jahren' (1950) deutlich werden lässt, nahm Jünger die optimistischen Impulse des Werkes auf. Dabei hat er, vor allem in seinen späteren Schriften, die Idee des Überlebens vom Ausnahmezustand auf den Alltag und zugleich auf die Zukunft übertragen. Wie Nietzsche wollte Jünger nicht nur glücklich in der Zeit überleben, sondern plante auch ein immaterielles Fortleben im Gedächtnis der Nachwelt. Voraussetzung dieser doppelten Überlebensidee ist ein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft.
Nichts zeigt deutlicher als das Märtyrerdrama, wie sehr Theatralität und Darstellung dem Martyrium inhärent sind, wie aber auch die Figur des Märtyrers spezifische Formen von Theatralität generiert. Dem Märtyrer als Zeugen ist immer schon eine bestimmte Art des Zeigens eigen, er muss nicht nur leiden, sondern dieses Leiden auch zur Schau stellen. Im Fall des Schauspieler-Märtyrers gehen dabei Sein und Schein ineinander über, was man sowohl als Kritik der Scheinhaftigkeit und Eitelkeit der Welt lesen kann - wird doch selbst der Mensch hinter der Maske, der Schauspieler Philemon, als neue Maske entlarvt - als auch als Einbruch von Präsenz in diese Welt, der als Konversion dramatisiert wird. Auf diese zielt das Stück denn auch letztlich ab, denn das abschließende Bekenntnis des Arrianus ist über die Rampe hinweg an die Welt gerichtet: So wie der Schauspieler Philemon den Märtyrer Arrianus hervorbrachte, so soll das Schauspiel nun auch sein Publikum zur Konversion überreden, auf die das Jesuitendrama wesentlich abzielt. Das Martyrium wird, gerade wenn es theatral dargestellt wird, noch mehr Zeugen produzieren. Die Doppelfigur des Schauspieler-Märtyrers ist damit zugleich reflexiv und performativ, sie ist weder eine Auflösung des christlichen Ernstes in bloßes Spiel, noch eine bloße Authentifizierungsgeste des Theaters, weil sie sich eben als Doppelfigur einer solchen Profilierung entzieht und gerade in ihrer Doppeldeutigkeit höchst folgenreich für die europäische Theatralität der Neuzeit ist. Denn vermittelt über diese Figur schreiben sich Elemente der christlichen Tradition in das neuzeitliche Theater ein, die auch dort noch wirksam sind, wo sie nicht mehr direkt religiös semantisiert werden. Das gilt, wie im Folgenden zunächst allgemein umrissen werden soll, (1) insbesondere für das dem Märtyrer spezifische Verhältnis von Körper, Person und Wort, für die Beziehung von Theater zu seiner 'Wirklichkeit' und schließlich für den Raum des Theaters selbst oder für das Theater als Medium. Entfaltet werden kann das an einer Reihe von Stücken, die den Schauspieler als Märtyrer und den Märtyrer als Schauspieler behandeln: (2) an Lope de Vegas 'Lo fingido veradero' (gedruckt 1622), (3) an Jean Rotrous 'Le Veritable Saint Genest' (1645) und (4) an Desfontaines 'L’illustre Comedien' aus demselben Jahr. In ihrer motivischen und zeitlichen Nähe entfalten sie nicht nur die verschiedenen Möglichkeiten, die der Doppelfigur des Märtyrer-Schauspielers innewohnen, sondern zeigen auch bereits in nuce, dass die Theatralisierung des Märtyrers dessen religiösen Anspruch keineswegs relativiert, sondern ihn eher in sich einschließt.
Seit einigen Jahren ist nicht nur eine Oszillationsbewegung zwischen Theoriekonjunktur und Theorieabgesang zu beobachten, sondern auch die stete Klage über Theoriemoden zu hören, die dazu führen, dass bestimmte Schlüsselbegriffe inflationär gebraucht – und damit gleichsam ver-braucht werden. Schlüsselbegriffe, die weniger für ein konzises Forschungsprogramm, sondern eher für ein Bündel von Herangehensweisen und Aufmerksamkeitsfokussierungen stehen: Zeichen, Diskurs, Differenz, System, Medium, Performanz, Körper, Materialität fungieren als "Travelling Concepts'', die den Prozess der Theoriebildung in Gang halten, dabei allerdings auch deutliche Verschleißspuren davontragen – so wie, um im Bild zu bleiben: der Reisekoffer. Freilich treten nicht nur Begriffe, sondern (Blumenberg lässt grüßen!) sehr häufig auch Metaphern die Reise auf den verschlungenen Wegen der Kulturforschung an. Diese Metaphern sind mehr als Vehikel, sie sind Motoren, genauer gesagt: Katalysatoren von Theoriebildungsprozessen, durch die sowohl Gegenstandsbereiche als auch Herangehensweisen (und damit verbunden: Fragestellungen) modelliert werden. Zwei dieser Metaphern möchte ich im folgenden Untersuchen: Hybridität und Aufpfropfung.