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Das Kriegserlebnis im für und wider : "Im Westen nichts Neues" von Erich Maria Remarque (1929)
(2011)
Der nationale und internationale Erfolg deutet darauf hin, dass "Im Westen nichts Neues" zehn Jahren nach Kriegsende den Nerv der Nachkriegszeit getroffen haben musste, indem er einen im angloamerikanischen Raum inzwischen etablierten Kriegs- und Nachkriegsmythos der "verlorenen Generation" aufgriff, nach Deutschland importierte, ihm eine neue deutsche Eigenart verlieh und in dieser bereicherten und neuen Form wieder exportierte. Der Roman hat eine aktuelle politische Bedeutung und eine spätere Langzeitwirkung.
Die binäre Opposition von Ideal und Karikatur ist bis in den Alltagswitz eine Erfahrung der Revolutionsepoche geworden. Karl Marx hat dieser Desillusionierung des revolutionären Heroismus, des plötzlichen Umschlags vom Erhabenen zum Lächerlichen und Häßlichen in seiner Schrift "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" die zusammenfassende, man ist fast geneigt zu sagen, klassische publizistische Form gegeben. Es scheint mir daher nicht nur zulässig, sondern auch notwendig, der Opposition Ideal und Karikatur auch in den exotischen Gefilden der Ästhetiken nachzugehen.
Pola Groß beobachtet in ihrem Beitrag zu neuesten deutschen Theatertexten eine Abkehr von der Relevanz der Aufführbarkeit, die mit einer Entwicklung hin zu stärkerer Fokussierung auf die Artifizialität und Poetizität der Texte einhergeht und somit zur "Reliterarisierung des Theaters" führe: Der Einsatz rhetorischer Stilmittel und die Aufwertung von Rhetorik als auch linguistisch fixierbare Sprechhandlung definierter Gruppen auf der Bühne trage dazu ganz wesentlich bei. Das zeigt Groß am Beispiel der Stücke dreier Gegenwartsdramatiker: Thomas Köck, Enis Maci und Wolfram Höll. Sie sind für das Verhältnis von Rhetorik, Stil und Gegenwartsbezug der neuen Stücke so aufschlussreich wie symptomatisch. In Köcks "paradies fluten" trägt nicht zuletzt die disparate Stilmischung zu einer auffälligen "Dramaturgie der Gleichzeitigkeit" bei. Ellipsen und fehlende Interpunktionen verstärken diesen Effekt. Enis Macis "Mitwisser" wird mitunter als "erstes wirkliches Internetdrama" gehandelt. Sie hält den hohen Stil auch dort durch, wo er ironisch gebrochen wird, integriert viele orale Segmente, bleibt jedoch im Ganzen auf die Ausstellung von Stil und Grammatik fixiert, um die Form gegenüber dem Inhalt und seinem Informationsgebot aufzuwerten. Hier schießt die Autorin jedoch, wie Groß überzeugend darlegt, mitunter übers Ziel hinaus, indem sie zu erläuternden (oft allzu moralischen) Kommentierungen bzw. Gebrauchsanweisungen neigt. Auch in Wolfram Hölls "Disko" geht es um den stilistisch bedingten Effekt der Gleichzeitigkeit, mehr noch als bei Köck, der diesen inhaltlich, und Maci, welche ihn formal privilegiert. Der Sound der 'Disko Europa' ist von einem minimalistischen Stil geprägt. Aber die an das elliptische Prinzip anknüpfenden Stile und Phrasen der Figuren nähern sich tendenziell so sehr an, dass sie sich zu einer Gruppen- oder Schulrhetorik formieren. In den unterschiedlich eingesetzten Techniken, eine Gleichzeitigkeit von Stil und Rhetorik zu forcieren, sieht Groß aber doch Möglichkeiten einer genuinen und bühnenwirksamen Literarizität.
Während Frank am Stil als "Handschrift des stilschöpferischen Individuums" gleichwohl festhält, sieht sich Elisa Ronzheimer anhand ihres Materials gezwungen, sowohl diesen Topos wie die Logik von Norm und Abweichung zu verabschieden. Was bei Frank Kombinatorik heißt, muss radikalisiert und neu gedacht werden, um dem international erfolgreichen südkoreanischen Musik-Video "Gangnam Style" gerecht zu werden, weil in diesem Fall das Original selbst schon parodistisch ist. Ronzheimer schlägt vor, das Individualitätsparadigma zu ersetzen durch ein Verständnis von Stil als kollektiver und partizipatorischer Praxis der Figuration und Defiguration. Damit scheint aber auch die Möglichkeit einer Art Wiederkehr der rhetorischen Regelpoetik am oder nach dem 'Ende' des Stils auf. Die Aussicht, dass heute Bedingungen herrschen, unter denen es eine Praxis, ein 'Üben' geben könnte, das nicht mehr automatisch Abweichungen produziert, sondern zur Homogenisierung tendiert, hat Moritz Baßler jüngst unter dem Titel "Der Neue Midcult" entfaltet.
Die Struktur und ihr Stil : wie Schleiermacher zwischen Derrida und Saussure vermitteln könnte
(2022)
Manfred Franks Beitrag widmet sich mit "Struktur" einem Gegenbegriff zum Stil, um Friedrich Schleiermachers sprachtheoretisch begründetes Verständnis des Stils als eines individuellen Allgemeinen zu rekonstruieren. Dabei zeigt sich, dass Stil und Struktur sehr wohl kompatibel sind und zusammengedacht werden können. Allerdings gilt auch bei Schleiermacher, anders als bei Lamy auf eine und bei Luther auf andere Weise, dass der Stil nie direkter Ausdruck (hier: des Individuellen) ist, sondern eine Weise der Kombinatorik, die allein "divinatorisch" zu entschlüsseln ist. Für den Nachweis der Kompatibilität von Stil und Struktur beruft sich Frank vor allem auf den Erz-Strukturalisten Saussure, der hier in große Nähe zu Schleiermacher und polemisch in weite Ferne von Jacques Derridas Saussure-Deutung gerückt wird.
Wie stark Stil durch die Rezipienten in ihren unterschiedlichen historisch-kulturellen Prägungen mitbestimmt wird, zeigt Gyburg Uhlmann in ihrem Beitrag zum Verhältnis von Stil und Elliptik. Um der rhetorischen Figur dynamischer Auslassung an der Schnittstelle von Rhetorik und Rezeption Rechnung zu tragen, erarbeitet sie, auch in Auseinandersetzung mit der reader-response-theory und Flecks Denkstil, das Konzept des Homologiestils. In ihm wird die Möglichkeit einer Übereinstimmung der Leser mit dem Text zu einem integrativen Bestandteil des Textes: Der Text ist angelegt, seinen Lesern die dynamische Verfasstheit seines Stils im Lektürevorgang nahezubringen. In Uhlmanns Analyse wird deutlich, dass und wie Stil mit jeder Lektüre neu entsteht. Sie entwickelt ihre Thesen vor allem mit Blick auf die Pragmatien, also die Schulschriften des Aristoteles, die für die Tradition einschließlich einiger der hier verhandelten Beiträge, maßgeblich sind. Zwischen den Polen eines qualitativen Mangels und einer stilistischen Tugend wird Elliptik bei Uhlmann zu einem Gradmesser der Literarizität eines Textes in der Interaktion mit Rezipienten.
Lutherstil
(2022)
Wie Stil und Rhetorik in einem einzelnen Autor mit- und gegeneinander wirken können, zeigt Barbara N. Nagels Analyse der Texte Martin Luthers, dessen Stil die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache bekanntlich geradewegs bedingt haben soll. In engem Kontakt mit der jüngeren Lutherforschung arbeitet Nagel auf originelle Weise den antirhetorischen Affekt heraus, der Luthers Bibelstil, seinen deutschen Stil und den Disputationsstil grundiert. Was immer im Ausgang von Luther seit Buffons bekanntem Diktum und bis Nietzsche vom Stil behauptet worden ist, für Luther selbst war Stil Lüge und deshalb jüdisch konnotiert (und aus diesem Grund für ihn problematisch). Was heute 'hate speech' heißt und schon damals nicht auf das Reden beschränkt blieb, hat einen seiner Ursprünge in Luther.
Rüdiger Campe argumentiert für die Kontinuität der Rhetorik über die Zäsur von 1800 hinweg. Gegenläufig zu Martin Urmann setzt er jedoch an der bei Descartes und Lamy abgewerteten Übung an, die im Zuge der Bildungsreform endgültig von der Bildfläche verschwunden schien. In der Moderne knüpft allenfalls Raymond Queneau mit seinen "Stilübungen" (1947) an die sich in der französischen Tradition länger erhaltene Praxis an, aber das wohl eher unter ästhetischen als rhetorischen Gesichtspunkten. Dass die Überführung schulischer Übungen in ästhetische Verfahren und stilistischen Ausdruck im modernen Sinne einen Zusammenhang bilden könnten, den Baumgartens Ästhetik von 1750 noch einmal pointiert, war trotz der jüngeren Forschung zu Baumgarten, die seine Bedeutung für das Fortleben der Rhetorik in der Moderne immer wieder hervorgehoben hat, allenfalls zu ahnen. Der Zusammenhang war gleichsam blockiert durch die historische Zäsur, die Rhetorik von Stil trennt, denn in der Folge hat Stil es nicht mehr mit rhetorischen Regeln, sondern mit Dialektiken von Norm und Abweichung zu tun. Diesen ganzen Bereich nennt Campe die taxonomische Dimension des Stils. Und sie trägt auch Verantwortung für die im 20. Jahrhundert notorische Inkriminierung von Stil als verkapptes Machtinstrument. Sehr deutlich wird diese Abwehr beispielsweise an Theodor W. Adornos gespaltenem Verhältnis zum Stil. Campe ergänzt die taxonomische Dimension des Stils um eine praxeologische - prominent verkörpert im Begriff der Schreibszene - die direkt aus der rhetorischen Praxis kommt. Was später Stil sein wird, ist in der Rhetorik nicht in den Regelwerken, weder in der Tropenlehre noch in den 'genera dicendi' zu suchen, sondern in der Praxis, die 'hexis' heißt und eigentlich das Wesen der Rhetorik ist. Dem Eindruck eines radikalen Bruchs entgegen hat das Üben nicht aufgehört und insistiert noch dort, wo es mit 'Werken' im modernen Sinne um etwas anderes zu gehen scheint.
In "Stil als natürliche Repräsentation der Affekte in der cartesianischen Rhetorik" macht Urmann die verblüffende Entdeckung einer Transformation der Rhetorik lange vor der Sattelzeit. Im 17. Jahrhundert, in der Logik von Port Royal wie bei Bernard Lamy, gerät Rhetorik in den Einzugsbereich der philosophischen Logik mit ihrem Primat des Selbstbewusstseins. Die damit zusammenhängende Aufwertung der 'elocutio' führt nicht nur zu einem neuen Interesse an Stil innerhalb der rhetorischen Systematik, sondern es kommen die Affekte in einer Weise ins Spiel, die das sprachzentrierte Wesen der Rhetorik angreift. Schon bei Descartes rutscht Rhetorik in die Einflusssphäre der als menschliche Vernunft gefassten Natur. Natur stellt die Mittel der Redekunst unmittelbar zur Verfügung. Die Bedeutung von Regeln und deren Übung ('studium' und 'exercitatio', 'étude' bei Descartes) rückt in den Hintergrund. Lamy knüpft das gelockerte Band zwischen Rhetorik und Sprache wieder enger, aber auf unerwartete Weise: Die Tropen seien selbst schon die Sprache, in der sich die Affekte wie in einem passiven Medium ausdrücken. 'Elocutio' erscheint als 'natürlicher Stil der Affekte'. Während es nicht schwer ist, von diesem Befund aus Linien von der frühen Neuzeit ins 18. Jahrhundert einschließlich Geniekult zu ziehen, weist Urmann auf den Preis dieser "cartesianischen Trübung" der Rhetorik hin: Weil Rhetorik traditionell immer eine "implizite Theorie der Praxis" gewesen sei, ist die Vorstellung von der Sprache als passives Medium eigentlich widersinnig. In Urmanns Perspektive wird Lamys Rhetorik zum Einfallstor für spätere Einfühlungsästhetiken, deren Kritik bei Nietzsche dann mit der Kritik am rationalistischen Primat des Selbstbewusstseins zusammenfällt.
Die Beiträge dieser Interjekte-Ausgabe zeichnet eine programmatische Dimension aus, die zur Revision einer Reihe von bisherigen Annahmen in der Forschung zu Stil und Rhetorik auch durch überraschende historische Schnitte anregt: von Luther und Bernard Lamy über Baumgarten und Schleiermacher bis zu Musikvideos und Theatertexten der Gegenwart.
Der historische Index für die in der Titelformulierung zum Ausdruck kommenden kontrast-und spannungsreichen Freundschaftskonstellationen in einem um 1800 sich bildenden urbanen Umfeld wird ersichtlich, wenn man die Unterscheidung von empfindsam geprägten Bekenntnisfreundschaften und diplomatisch geführten Freundschaftsnetzwerken einführt.
Anders aber als in den Deutungen der frühen dramatischen Schriften [...] ist 'Die Harzreise' bislang nicht als eine für die Topographie des jüdischen Gedächtnisses entscheidende Wegmarke eingeschätzt und interpretiert worden. Dies verwundert um so mehr, da "Die Harzreise" im Kontext eines ausgiebigen Studiums der "historia judaica" entstanden ist.
Ekphrasis ist in der rhetorischen Theorie der Antike keine Gattung der
Bildbeschreibung, wohl aber eine "Übungsform" (Progymnasmata), die sich verpflichtet durch Sprache innere visuelle Bilder zu erzeugen. Mörike ist bekanntlich ein guter Kenner der Antike, u.a. ausgewiesen als Übersetzer aus dem Griechischen. Sein Gedicht 'L. Richters Kinder- Symphonie' spielt alle Formen der Ekphrasis, des Vor-Augenstellens durch Sprache aus: die Beschreibung, die Narration, die Vision, die evidentia, auch ganz spezifische Formen wie die "Schaurede", die in der
kaiserlichen Zeit der Antike Festbeiträge mit einer impliziten Beschreibung des Festes selbst verbunden hatte.
Wissenspopularisierung
(2013)
Wilhelm von Humboldt leistet zweierlei: I. Er überträgt die Grundfigur des Klassizismus, das Eigene am Fremden zu verstehen, vom Altertum auf die modernen europäischen Nationen mit Hilfe seines Konzepts einer vergleichenden Anthropologie. 2. Er stellt die anthropologisch und geschichtsdiagnostisch zugleich intressierte Frage nach dem Potential, den Voraussetzungen, Bedingungen und Grenzen einer Nation, sich Fremdes aufzuschließen und anzuverwandeln. Damit gelang ihm gegenüber der dem Nationalgeist huldigenden Romantik zwar kein breitenwirksamer, aber ein für die deutsche Klassik richtungweisender Beitrag zur kulturellen Identitätsfindung. Er sollte bis in Goethes Weltliteraturvorstellung fortwirken.
Wie keine andere Erzählung Kleists läßt sich "Der Findling" explizit als Sequenz von 'Vorfällen' lesen. Sieben Mal wird dieser Begriff in der Erzählung als Gliederungsakzent verwendet [...], nicht mitgerechnet der Gebrauch der verbalen Form, etwa bei der Frage: 'was vorgefallen
sei' [...]. Die zeitgenössische Konjunktur des Wortes 'Vorfall' ist in der Medizin, Kriminalistik und der ihr nahestehenden Publizistik zu beobachten, und selbstredend ist dieser Begriff auch dem auf aktuelle Polizeinachrichten bedachten Herausgeber der Berliner Abendblätter, Heinrich von Kleist, geläufig.
Erich Knauf übernahm am 1. Juli 1928 die literarische Leitung der Büchergilde. [...] Er war nicht nur an einer thematischen Erweiterung der Angebotspalette um "zeitgenössisch sozialkritische Werke" interessiert. Es ging ihm offensichtlich zugleich um eine methodische Neuausrichtung des kulturpolitischen Konzeptes der Büchergilde. [...] Der Titel von Knaufs Buch 'Empörung und Gestaltung' ist [...] Programm. Er sollte implizit das neuartige sozialrevolutionäre und ästhetische Konzept für die weitere Gestaltung des Programms vorstellen.
Dem bemerkenswerten wissenschafts- und ästhetikgeschichtlichen Interesse an Friedrich Theodor Vischers Werk in der Gegenwart lässt sich ein weiterer Akzent hinzufügen, wenn man Vischers repräsentative Rolle sowohl im Vormärz wie im Nachmärz rekonstruiert und dabei vor allem auf seine Selbstkorrekturen und Revisionen die Aufmerksamkeit lenkt. In wissenschaftshistorischen Studien der jüngsten Zeit gewinnt die 'Historische Epistemologie' an Kontur.
In der Märchenforschung ist man lange Zeit überwiegend von einem Archetypus oder einem Grundmuster ausgegangen, um dann danach, gleichsam im zweiten Schritt, die Vielfalt historischer Erscheinungen als Varianten eines Typs aufzuzeichnen. Dieses idealtypische Vorgehen schätzt nicht nur die historische Ausprägung eines Märchens als sekundär ein, es geht prinzipiell auch von einer Hierarchie aus. Gegenüber derartigen spekulativen Annahmen ist man heute skeptisch und vorsichtig geworden.