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Heinrich Heines Lyrik folgt einem doppelten Impuls: sie setzt erstens in destruktiver Absicht Parodie, Travestie und Satire ein, um in einer Art Härtetest Tonqualität und ästhetische Wahrheit bisheriger Lyrikbestände zu filtern und auszukühlen; zum zweiten aber sucht sie poetisches Neuland zu gewinnen, indem sie eine extreme Erweiterung lyrischer Sagbarkeiten und Tonlagenhöhen und zwar nach unten und nach oben anstrebt, - nach unten zur größten Farce und hässlich-komischen Burleske, und nach oben zur sublimsten Poesie.
Immermann betont, er habe mit diesem Roman eine "sonderbare" Komposition geschaffen. Er habe zunächst nur vorgehabt, einen Spaßmacher vorzustellen, eine Satire auf die Modetorheiten zu schreiben, unter der Hand sei ihm aber eine tragische Gestalt daraus geworden. [...] Am Ende der Kunstperiode findet dieser ganz unheroische Fabulant zu einer fast heroischen Größe. Die
Arabeske feiert damit ihr dionysisches Fest [...]
Die Romantiker brachen mit dem Tabu der Verletzung "feiner" Empfindung. Sie wagten es, niederste Stände, unehrliche Leute, ebenso wie die verfehmte und verfolgte Gruppe der Zigeuner darzustellen. Nicht nur edle Ausnahmen wurden poetisch gestaltet, vielmehr eröffnete sich mit der sozialen Grenzerweiterung im Ästhetischen ein Spielraum zwischen Häßlichem, Schönem, Komischem und Tragischem bis hin zum Wahnsinnigen, Bösen und Heiligen. Einer solchen ästhetischen Vielgestaltigkeit schienen die Zigeuner entgegenzukommen, nicht nur ihrer ethnokulturellen Fremdheit, sondern ebenso ihres legenden- und mythenumwobenen Eintritts in das Blickfeld des Europäer wegen. Die wissenschaftliche Literatur der Aufklärung hatte die Ursprungslegenden der büßenden und wallfahrenden Zigeunerpilger zunehmend bezweifelt; die Romantiker griffen diese Legenden erneut auf und schufen mythisch überhöhte Bilder.
Als 1789 der gerade berühmt gewordene Philosoph Johann Gottlieb Fichte über den Sprachgebrauch "Empfindung" nachdachte, prägte er das treffende Wort "in - sich - Findung". Man hat einmal die Vermutung geäußert, diese "in sich Findung", diese "Reise ins Innere" sei als Pendant und "Äquivalent der Erschließung neuer Welten im Zeitalter der Entdeckungen" zu werten. In der Tat ist die Empfindungsfähigkeit, die "sensibilité", die von der Empfindsamkeit zu unterscheiden ist, keineswegs, wie man früher glaubte, erst eine Begleiterscheinung des sich emanzipierenden Bürgertums, sondern viel früher einsetzend ein Begleitphänomen der schon in der frühen Neuzeit einsetzenden Modernisierungsphänomene.
In der Bekämpfung eines Virus scheint die Zeit aus den Fugen, Unsicherheit und Prekarisierung werden normal - es ist eine Zeit identitärer, individualisierender Immunisierung. Wie kann dann aber eine Zeitlichkeit verstanden werden, die das "Normale" infrage stellt? Isabell Lorey argumentiert für eine queere Zeitlichkeit, die es ermöglicht, in der Gegenwart unruhig zu bleiben. Sie plädiert für eine Sozialität, die auf wechselseitiger Sorge und queeren Schulden basiert und an gemeinsamer kontaminierender Immunisierung interessiert ist.
In den Filmen "Old Joy", "Wendy and Lucy" und "Certain Women" werden die zentralen Themen der US-amerikanischen Regisseurin Kelly Reichardt um Armut und Prekarität als Beschäftigung mit Zeitlichkeit deutlich. Der Artikel interessiert sich weiterführend dafür, wie diese Fragen in ihren Filmen auch als queer gelesen werden können. Hierfür werden verschiedene Bewegungen untersucht, die chrononormativen Zuschreibungen entgegenstehen und potentielle Öffnungen und Gefüge zeitigen. Es handelt sich um filmische Unterbrechungen und kleine Brüche, die eine Unklarheit, Abweichung oder Übertretung und die Neuformulierung von Zeit(ver)läufen und Räumen erlauben. Damit offenbart sich ein filmisches Denken, das sich im Bild selbst, in der Kameraführung oder durch Verbindungen in der Montage äußert.
In diesem Text werden zwei Film- bzw. Mediennetzwerke aus Kanada betrachtet, in denen prekäre Lebensbedingungen nicht nur thematisiert werden, sondern durch die Partizipation und Kollaboration von Filmschaffenden und Bürger*innen Handlungsmacht generiert werden soll. "Challenge for Change" setzte sich ab den 1960er Jahren u. a. gegen Armut ein, "Wapikoni Mobile" ist ein zeitgenössisches indigenes Vlog- und Filmnetzwerk. Beide Projekte werden als handlungsbasierte Dokumentarphilosophien verstanden. Sie werden mit Gilbert Simondon als mögliche Milieus für kollektive Individuationen konzeptualisiert. "Challenge for Change" und "Wapikoni Mobile" werden als technisch-sozial-ästhetische Milieus verstanden, in denen aktivistische und kulturelle Interventionen und Individuationen keinen Gegensatz bilden. "Wapikoni Mobile" wird zudem hinsichtlich seines Potentials für eine Filmkultur des Anthropozäns diskutiert, in der es um die Beziehung von Welt und Mensch geht, die in dokumentarischen Filmen verhandelt wird und die nicht nur abbildet, sondern ebenfalls - mit Gilles Deleuze - ein Band zur Welt knüpft.
Im Anschluss an eine queer-theoretische reparative Perspektive betrachte ich lustvolle Strategien des Überlebens in zwei Film- bzw. Videoarbeiten. Ming Wongs "Lerne deutsch mit Petra von Kant" (2007) und Cana Bilir-Meiers "This Makes Me Want to Predict the Past" (2019) erzeugen unvorhergesehene, lebenserhaltende und "transhistorische Beziehungen". Beide respektieren dabei die mediale Lücke im Zugriff auf die Vergangenheit.
Der Beitrag setzt sich mit der Ambivalenz des dokumentarischen Blicks zwischen Sichtbarmachung und Othering auseinander. Im Zentrum steht der 2016 in Wien entstandene Dokumentarfilm "Brüder der Nacht" von Patric Chiha, der sich mit bulgarischen Arbeitsmigranten befasst, die in Wien als Stricher arbeiten. Das Porträt der jungen Männer dehnt die Grenzen des Dokumentarischen maximal aus und begegnet dem Problem ihrer Viktimisierung auf besondere Weise. Anhand des aktuellen Beispiels werden historische Kontinuitäten und Diskontinuitäten des dokumentarischen Blicks auf prekäres Leben und soziale Armut aufgezeigt.
Der in seinen mannigfachen Referenzen nahezu opake Film "Contra-Internet: Jubilee 2033" von Zach Blas (2018) steht im Zentrum der Frage, welches Internet wir uns aus einer queer-theoretischen und queer-ästhetischen Perspektive vorstellen können. Was ist eine queere Vision des Internets? Wie lässt sich eine Zukunft des Internets prophezeien, die den von Technologieunternehmen herbeigeführten Nexus von Mystik und Mathematik hintertreibt? Am Beispiel der im Film verhandelten Symbole, Objekte und Materialien beschäftigt sich dieser Beitrag mit der queeren Ästhetik des Algorithmischen.
Der Beitrag befasst sich anhand von künstlerischen Arbeiten von Bettina Malcomess mit prekären Sichtbarkeiten und instabilen Narrativen im audiovisuellen Post-Apartheid-Archiv. Dabei werden das Nachwirken von Imperialismus und Apartheid in Südafrika und Strategien der Dekolonialisierung in künstlerischen Praktiken thematisiert.
Dieser Beitrag fokussiert die Arbeiten von Charlotte Prodger als ein Beispiel für gegenwärtige künstlerische Strategien, die sich bewusst einer Vereinnahmung bzw. einer Kommodifizierung queerer Ästhetiken verweigern und stattdessen die Notwendigkeit einer queeren Selbstbestimmung und damit einer queeren Bewegungsgeschichte (erneut) in den Vordergrund rücken. Insbesondere der 2019 bei der Biennale in Venedig gezeigte Film "SaF05" wird dabei im Zentrum der Überlegungen stehen - eine Arbeit, die in gewisser Weise an experimentelle Prozesse des New Queer Cinema anknüpft und die Betrachtenden in und durch queere (Erinnerungs-)Landschaften führt.
"BRIDGIT" ist der Titel des iPhone-Videos, mit dem Charlotte Prodger 2018 den Turner Prize gewann. Der Beitrag zeigt, dass Prodger einerseits an bereits etablierte Ästhetiken des experimentellen queeren Kinos anknüpft, andererseits aber auch über diese hinausgeht. Die ästhetische Verschränkung von Körpern, Begehren, Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung, Landschaft, Zeit und Queerness ist - auch im Medium des digitalen Filmes - skulptural und setzt darin eine virtuelle Kraft frei, die sich den neoliberalen Normalisierungsprozessen und der Nicht-Intelligibilität von queeren Begehrensformen in subtiler Weise widersetzt.
Im Beitrag werden zwei filmische Positionen zusammengeführt. In beiden finden sich Inszenierungen von Gemeinschaft und Prekarisierungen als ästhetische Aushandlungen einer Politisierung der Filmform. Während der schwedische Film "Folkbildningsterror" (2014) politische Zustände im Musical zur Disposition stellt, untersucht der US-amerikanische Thriller "The Owls" (2010) die Konsequenzen homophober Entwürfe lesbischer Figuren im Film, die bis in die aktuelle Filmgeschichte reichen.
Gegen das tödliche Schweigen und die Einsamkeit setzt Robin Campillo in seinem Film "120 BPM" das gemeinsame Sprechen, die Versammlung. Basierend auf Campillos Erinnerungen an die politische Arbeit mit ACT UP Paris in den frühen 1990er Jahren rückt der Film die wöchentlichen Versammlungen der Gruppe in den Fokus. Ausgehend von diesen werden die queeren Zeitpolitiken des Films herausgearbeitet und gezeigt, dass der Film die Kämpfe nicht einfach als vergangene zeigt; vielmehr etabliert er eine Ästhetik des Präsentischen, die die Verbindungen von Gegenwart und Vergangenheit als performative Vergegenwärtigungen und potentielle Aktivierungen betont.
Wenn queeres Kino und queere Ästhetiken das Prekäre dokumentieren, dann intendiert dies auch eine Revolution im Symbolischen. Oder anders formuliert: ihr ästhetisches Unterfangen, Rahmungen zum Vorschein zu bringen, ohne sie zu wiederholen, erweist sich, wie die hier versammelten Beiträge namhafter Film-, Medien- und Queertheoretiker*innen zeigen, als prekäre Form der Dokumentation. Die Beiträge bieten dabei zugleich einen Einblick in den gegenwärtigen Stand des queeren Kinos - seiner Filme, Videos und visuellen Installationen.
Conatus und Lebensnot
(2017)
Monique David-Ménard knüpft in ihrem Beitrag an die vielschichtige und sich überschneidende, lange Rezeptionsgeschichte von französischer Philosophie und deutscher Medientheorie an, um in ihrem Beitrag zu fragen, ob und in welcher Weise eine Psychoanalyse, welche die aktuelle Wende zu den vitalistisch orientierten ontologischen Technikphilosophien nicht mitmacht, sondern die Methode der epistemologischen Brüche weiterentwickelt, mit der Medienwissenschaft im Gespräch bleiben bzw. erneut ins Gespräch kommen kann. Ausgehend von einem Vergleich des Verhältnisses von Affirmation und Passivität im Konzept des Conatus und von Eros und Thanatos in der Psychoanalyse stellt sie die These auf, dass die Einzigartigkeit der Psychoanalyse gerade darin bestehe, dass sie keine allgemeine Anthropologie darstelle, sondern eine Praxis, die darauf ausgerichtet sei, etwas sehr Spezifisches - das Triebschicksal - zu verändern. Die Übertragung erscheint aus dieser Perspektive als Dispositiv und das heißt, wie David-Ménard unterstreicht, als ein Medium unter anderen Medien.
Als Alternativen zu den oftmals melodramatisch inszenierten Figuren des Blinden in vielen populären Filmen verstehen sich Projekte, die sich - in Kooperation mit blinden Menschen - an deren spezifische Wahrnehmung anzunähern versuchen. Die Regisseurin Nina Rippel stellt in ihrem Bildessay eigene Filmprojekte vor, die blinden Menschen sozusagen auf Augenhöhe begegnen wollen. Rippel beschreibt zum einen ihre filmischen Versuche, mit Unterwasseraufnahmen differente Wahrnehmungsweisen bzw. Wahrnehmungsstörungen zu simulieren. Zum anderen reflektiert sie ihre dokumentarischen Arbeiten, in denen sie auf filmtechnisch komplexe Weise blinde Menschen im Gespräch mit der Regisseurin porträtiert und deren eigene ästhetische Praxis, etwa als blinde Orchestermusikerinnen oder als blinde Fotografen, herausarbeitet.
Alexandra Tacke erinnert in ihrem Beitrag daran, dass sich in Fotografien von Blinden, die selbst nicht zurückblicken können, eine voyeuristische Struktur potenziert, die die Blinden - als Angesehene und bildlich Fixierte - in doppelter Weise zu Objekten macht. Vor dem Hintergrund einer 'Sozialgeschichte des Anstarrens' von Menschen mit Behinderung zeigt Tacke, dass sich das Zum-Objekt-Werden der Sehbehinderten in politisch und medizinisch motivierten Fotografien von kriegsversehrten Blinden des Ersten Weltkrieges zuspitzt, die zu Exempeln für die Realität des Krieges werden sollten. Am Beispiel eines Langzeitprojekts des Fotografen Martin Roemers, "The Eyes of War" (2012), und am Beispiel der fotografischen Praxis des blinden Gegenwartsfotografen Evgen Bavčar stellt Tacke künstlerische Interventionen vor, die weniger eine Exposition der blinden Menschen oder ihrer spezifischen Sichtweisen sind, sondern vielmehr den Blick der Sehenden auf Blinde problematisieren.