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Ausgehend von Benjamins Analogie von Nervenbahn und elektrischer Leitung konzentriert sich der Beitrag auf eine der wichtigen Fragen, die im "Passagen-Werk" behandelt werden, nämlich ob mit der modernen Technik eine Verbindung von organischer und technischer Sphäre vorliegt oder ob die Technik vielmehr als eine denaturierte Natur anzusehen ist. Um diesem Aspekt nachzugehen und die Besonderheit von Benjamins technikphilosophischen Reflexionen herauszustellen, vergleicht Wolfsteiner sie mit Hannah Arendts Handlungstheorie und Max Benses Entwurf einer informationstheoretischen Ästhetik. Die Aktualität von Benjamins Techniktheorie wird abschließend anhand der Science and Technology Studies (STS) in der Nachfolge Bruno Latours und der technikphilosophischen Schriften Gilbert Simondons erörtert.
Der Philosoph Hent de Vries untersucht das Verhältnis von Technik und Religion in Benjamins Text "Rastelli erzählt". Im Zentrum der Interpretation steht die Erfahrung des Wunders, die Benjamin häufig in einen Zusammenhang mit technischen Apparaturen bringt. "Rastelli erzählt" behandelt das Verhältnis von Religion und Materialismus mit erzählerischen Mitteln. Die Unmöglichkeit, die Entstehung des Wunders und das Wunder selbst zu erklären, steht ihm zufolge im Zentrum von Benjamins Überzeugung, dass Religion und Materialismus sich nicht ausschließen müssen. Im Gegenteil. Vielmehr steht die Unauflösbarkeit des Wunders bei Benjamin paradigmatisch für die moderne Erfahrung von Religion, die keine Antworten mehr gibt, sondern neue Fragen aufwirft.
Der Medienwissenschaftler und Philosoph Markus Rautzenberg untersucht in seinem Beitrag die Denkfigur des Indexikalischen. Er vergleicht dazu Benjamins Überlegungen zur Bildlichkeit mit Hans Blumenbergs Reflexionen über die Vergleichbarkeit von fotografischer Belichtung und Begriffsbildung, Charles Sanders Peirce Semiotik und Ernst Jüngers Essays "Über den Schmerz". Benjamins theoretische Aussagen zur Fotografie oszillieren nach Rautzenberg zwischen dem Ideal einer mechanischen Objektivität und einer neuplatonischen Blendungsmetaphysik. Anhand von Benjamins Texten historisiert Rautzenberg den Gegensatz von 'Magie' versus 'Technik', um zu zeigen, dass diese Unterscheidung erst mit dem Aufkommen der Fotografie denkbar wird.
Der Literatur- und Medienwissenschaftler Tobias Wilke widmet sich in seinem Aufsatz der in der Forschung bislang unbeachtet gebliebenen Beziehung von "Aura" und "Medium". Dem Begriff des technischen Mediums, so Wilke, liegt ein nicht-technisches Konzept von Medialität zugrunde, das sich in enger Korrelation und Konvergenz mit dem Aura-Begriff herausbildet. Die Aura ist die sichtbare Umhüllung eines Objekts und damit ein Phänomen der optischen Wahrnehmung, in der die Konturen des Gegenstandes aufgelöst werden, wie Benjamin am Beispiel von Van Goghs "De sterrennacht" ausführt. Wilke verortet Benjamins Kunstwerk-Aufsatz an einer medienhistorischen Zäsur, die den Übergang von einem spiritistischen zu einem technologischen Verständnis von Medialität markiert.
Der Literatur- und Medienwissenschaftler Michael W. Jennings stellt in seinem Aufsatz die Bedeutung des theologischen Konzepts der 'apokatastasis' in Benjamins Texten heraus, das sich auf Origines' Lehre von der Wiederherstellung der Dinge am Ende der Zeiten bezieht. Nach Jennings basiert Benjamins Vorstellung, dass es in der Gegenwart noch keine Religion geben kann, auf der Überzeugung, dass die Bedingungen für die Möglichkeit von Religion erst nach dem Ende der Geschichte gegeben sind. In einem zweiten Schritt geht er den verborgenen Spuren des Konzepts der 'apokastastasis' in Benjamins medientheoretischen Schriften nach. Er zeigt, wie die im Kunstwerk-Aufsatz artikulierte Hoffnung, dass die vom Kapitalismus deformierten Wahrnehmungsformen durch eine revolutionäre Veränderung der Wahrnehmung zerstört und durch eine neue Sicht auf die Welt ersetzt wird, auf die Idee der 'apokastasis' zurückgeführt werden kann.
Der Philosoph und Komparatist Peter Fenves befasst sich in seinem Aufsatz mit Benjamins Ideen zur Wissenschaftspopularisierung und seiner Auseinandersetzung mit der theoretischen Physik. Er widmet sich insbesondere Benjamins Verteidigung der in Misskredit stehenden Wissenschaftspopularisierung, die eine neue Bedeutung und Funktion erhalten soll. Die latenten Bezüge zwischen Philosophie und theoretischer Physik zeigt Fenves am Beispiel des in der Quantenphysik verwendeten Begriffs der "Verschränkung" auf, der das Pendant zu Benjamins Begriff der "Aura" darstellt und zur gleichen Zeit von Heidegger verwendet wird.
In seinem Aufsatz rekonstruiert der Literatur- und Medienwissenschaftler Nicolas Pethes die Verwendung des Experimentbegriffs in Benjamins Schriften und verfolgt seine Entwicklung von dessen frühen Untersuchung "Über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik" über den "Ursprung des deutschen Trauerspiels" bis zum "Passagen-Werk". Dabei soll nicht nur die Bedeutung der Idee des Experiments, sondern auch der experimentelle Charakter von Benjamins eigener Schreibweise herausgearbeitet werden. Das Experiment, das eng verwandt ist mit Test und Spiel, ist Teil einer Darstellungsstrategie, mit der Benjamin die Diskontinuität der Kunst- und Gesellschaftsgeschichte beschreiben will.
Maschinen begreifen : Benjamin, Poesie und Positivismus in der Zweiten industriellen Revolution
(2017)
Der Beitrag legt eine Lektüre des Aufsatzes "Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker" vor. Voskuhl widmet sich dem von Benjamin dargestellten Zusammenhang von industrieller Technik, Poesie und ästhetischer Theorie. Im Zentrum ihrer Analyse stehen seine philosophischen und literaturwissenschaftlichen Reflexionen über den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess, der zu einer bis dahin beispiellosen Verbreitung und Integration technischer Systeme ins Alltagsleben führt. Anhand eines Vergleichs des Eduard-Fuchs-Aufsatzes mit den wissenschafts- und technikhistorischen Arbeiten des Elektroingenieur Charles Steinmetz stellt sie die Besonderheiten von Benjamins technikhistorischer Darstellungsweise heraus. Seine Überlegungen deutet Voskuhl als den Versuch, die neuen naturwissenschaftlich-technologischen Errungenschaften mit älteren metaphysischen und ästhetischen Auffassungen zu vereinbaren.
Die Wissenschaftshistorikerin Jimena Canales setzt Benjamins Kunstwerk-Aufsatz und die "Kleine Geschichte der Photographie" in ihren wissenschaftshistorischen Kontext. Seine Reflexionen zur Fotografie stehen, so Canales, paradigmatisch für eine veränderte Wahrnehmung der Fotografie, die von den Zeitgenossen nicht länger als originalgetreue, sondern künstliche Abbildung der Wirklichkeit angesehen wird. Benjamins Analogie von Fotografie und Psychoanalyse nimmt Canales zum Anlass, die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaft und die damit verbundene strikte Abgrenzung von hermeneutischen und experimentellen Methoden in Frage zu stellen.
Rilke erzählen
(2016)
Für die Erforschung von Rilkes "Leben und Persönlichkeit", ihre Möglichkeiten und Probleme, hat Joachim W. Storck bereits 2004 eine Zwischenbilanz vorgelegt. Er zeigt dabei eine biographische Linie auf, die 1936 mit Joseph-François Angelloz
beginnt und u.a. über Hans Egon Holthusen (1958) und Eudo C. Mason (1964) bis zu Donald Prater (dt. 1989) und Ralph Freedman (dt. 2001/2002) führt. Der Erfolg von Klaus Modicks Roman "Konzert ohne Dichter" (2015)2 verweist jedoch noch auf eine zweite Linie – auf die künstlerische Auseinandersetzung mit Rilkes Biographie, die sich der Fiktionalität als Darstellungsmodus bedient. Hier wären etwa Walter Hasenclevers Roman "Irrtum und Leidenschaft" (entstanden 1934- 1939, veröffentlicht 1969) zu nennen, außerdem Béatrice Commengés Erzählung "En face du jardin: Six jours de la vie de Rainer Maria Rilke" (2007) und die Romane von Moritz Rinke: "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel" (2010), Heiner Egge: "Tilas Farben" (2013) und die bereits erwähnte Publikation von Modick. Diese "erzählten Welten" sollten im Folgenden im Blick auf Rilke untersucht werden.
In den lyrikgeschichtlichen Erörterungen wird überwiegend angenommen, dass die Entstehung der modernen Lyrik eine Wende in der Geschichte der Gattung bedeutet. Um die Schlüssel-kategorien dieser Annahme in Erinnerung zu bringen: Die prämoderne Lyrik habe immer einen Ansatz zur abbildenden, figurativen, naturnahen und persönlichen Darstellung bewahrt, und sie habe dementsprechend ihren Aussagen auch eine außerkünstlerische, ja oft universale Gültigkeit zugetraut; während die moderne Lyrik, in thetischer Gegenüberstellung zur früheren Periode, sich durch einen stets zunehmenden Ansatz zur abstrakten, nicht-figurativen, imaginären und objektiven Schöpfung entwickelt habe. Sie habe dementsprechend die Gültigkeit ihrer Aussagen streng darauf beschränkt, was sie in ihr künstlerisch erschaffenes Universum hineingenommen hat – wobei dieses rein eigengesetzliche, rein selbstbestimmende Universum sich auf die Breite und die Tiefe einer wahrhaftigen Religion erstrecken kann. Im folgenden Beitrag will ich darzulegen versuchen, wie sich Rilke, mit dem Titel eines berühmten Gedichts gesagt, diese prinzipielle "Wendung" angeeignet hat. Um es im voraus kurz zu resümieren: Er hat sie aus einer noch stärker selbstthematisierenden Perspektive heraus, als Schicksalswende des schöpferischen Worts, begriffen – aus dieser Perspektive aber bis zu ihrer zwei-einen äußersten Konsequenz, sei es zu kosmischer Bestätigung, sei es zu kosmischer Verneinung des schöpferischen Worts geführt.
Die Gegenüberstellung David Gascoynes mit Rainer Maria Rilke ist alles Andere als selbstverständlich und hat nichts mit Übersetzung im gewöhnlichen Sinn zu tun, sondern mit übertragener Präsenz, also mit der Übertragung von Impulsen, die ein Werk der Moderne mitgestalten. Bezug, Beziehung und Bezogensein spielen alle eine implizite oder explizite Rolle. Das Gelände abzustecken, auf dem sich die folgenden Überlegungen bewegen, begründet sich mit einem Geflecht von Namen, das stellvertretend für dichterische Welten, für Epochenbewusstsein und -schwellen steht. Ein mögliches Gelände mögen folgende Namen beschreiben: Den Mittelpunkt bildet Rilke: Dessen letzte Lebensgefährtin war Baladine (oder Merline) Klossowska (1886-1969), deren Sohn Pierre Klossowski (1905-2001) dem Dichter Pierre Jean Jouve (1887-1976) half, Hölderlin zu übersetzen, den auch David Gascoyne mit Hilfe von Jouve ins Englische übertrug. Jouve wiederum war Rilke während seines letzten Aufenthalts in Paris begegnet; später kannte Gascoyne Jouve persönlich, von dessen Gedichten jener eine große Auswahl übersetzte; außerdem kannte Gascoyne Jouves Frau Blanche, eine Schülerin Freuds, die auch Gascoynes Therapeutin in Paris war. Mithin ein Geflecht von Namen, von denen man noch viele weitere nennen könnte, etwa die englischer Dichter der 20er, 30er und 40er Jahre sowie diejenigen französischer Surrealisten.
Rilkes Poesie des Grundes in den "Duineser Elegien" : Prolegomena zu einer metaphysischen Lektüre
(2016)
Die Perspektive auf eine Logik des Grundes mitsamt ihrer metaphysischen Diskursgeschichte in den "Duineser Elegien" ist deshalb sinnvoll, weil wesentliche ihrer Denkfiguren von Rilke poetisch aufgenommen und eigensinnig im Medium lyrischer Gestaltung neu vermessen werden: wie dem menschlichen Dasein das, worin es gründet, als Ganzes gerade deshalb entzogen bleibt, weil es darin gründet und sich dieses Gründens mittels Transzendenz und Freiheit zu vergewissern sucht. Die Paradoxie des absoluten Seinsgrundes, zwischen sich und das von ihm Begründete einen Abgrund zu legen, gerade weil er als letzter, tragender Grund aus der Logik des Ableitbaren und damit rational Rekonstruierbaren herausfällt, welche er zugleich erst ermöglicht, erfährt bei Rilke nicht nur eine poetische Zuspitzung: Die Elegien zeigen auf, wie diese Grenzfigur des Denkens einzig in lyrischer Bildlichkeit ihre adäquate Formulierbarkeit erhält.
Rilke und Twombly
(2016)
Konkordanz zu den Motivkomplexen in Rainer Maria Rilkes Gedichtzyklus "Vergers" : eine Einführung
(2016)
Im Bewusstsein der Transferleistung, die Rezipienten und Interpreten erbringen müssen, wenn sie sich der französischen Lyrik Rainer Maria Rilkes zuwenden, entstand im Rahmen meiner 2012 abgeschlossenen Masterarbeit die Überlegung, eine umfassende Konkordanz zu dem Zyklus "Vergers" zu erstellen. "Vergers" ist der längste und inhaltlich disparateste französische Zyklus Rilkes, der sich einer größeren Motivpalette bedient als die auf Landschafts- und einige wenige Einzelmotive abgestimmten Zyklen "Les Quatrains Valaisans", "Les Roses" und "Les Fenêtres".
Im Herbst 1938 und im Frühjahr 1939 weilte Ernst Zinn (geboren 1910 in Berlin, gestorben 1990 in Tübingen), damals Hilfsassistent am Institut für Altertumskunde der Universität Berlin und gleichzeitig von Anton Kippenberg mit der Herausgabe der Werke Rainer Maria Rilkes im Insel-Verlag betraut, auf Duino. Er kollationierte dort eine Handschrift, die den Anfang der "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" in einem früheren Zustand enthält und teilweise wohl auch für das Diktat der Satzvorlage im Januar 1910 in Leipzig verwendet wurde. Rilkes Manuskript (ein Taschenbuch) vom Rest des Ersten Teils der "Aufzeichnungen" gilt als verschollen; vom Zweiten Teil ist seine Handschrift nahezu vollständig erhalten (Taschenbuch des Schweizerischen Literaturarchivs in Bern; eine Faksimile-Ausgabe erschien 2012 im Wallstein Verlag, Göttingen).
Wir lesen die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge wieder und finden Rilke hinter jeder Zeile, so wie ihn Rudolf Kassner beschreibt: den zartesten, reinsten Bogen der Brauen, zwei Augen blauesten Blaus, Augen zugleich des Knaben und des Sehers, die slawische und spürende Nase, den blonden Schnurrbart … Kassner fügt hinzu: Rilke war Dichter, auch wenn er sich nur die Hände wusch. [...] Patrick Modiano: "Préface". In: Rainer Maria Rilke: Les Cahiers de Malte Laurids Brigge. Récit. Traduit de l'allemand par Maurice Betz. Paris: Éditions du Seuil 1980
Klaus Modicks im Februar 2015 erschienener Worpswede-Roman "Konzert ohne Dichter" wurde vom Feuilleton begeistert aufgenommen, in der Rilke-Philologie sorgte er hingegen für hitzige Diskussionen. Doch neben einer recht oberflächlich ausagierten Häme gegen den im Titel ausgeschlossenen Dichter entwickelt der Roman eine komplexe Verflechtung von Bildern der bildenden Kunst und Bildern im Sinne von Images. Der folgende Beitrag führt Modicks biografischen Zugang in diesem höchst unterschiedlich rezipierten Text mit einem ekphrastischen Sonett Rilkes eng, das ebenso ein bestimmtes Image transportieren will.