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In der vorliegenden Arbeit wird die enge Verbindung von Zeitvorstellungen und gesellschaftlicher Zeitorganisation zu gesellschaftlichen Zukunftsvorstellungen und individuellen Lebensperspektiven herausgearbeitet. Erfasst und analysiert werden auch jene Faktoren, die die Manipulationsmacht des Menschen und der gesellschaftlichen Systeme bei temporalen Gestaltungsvorhaben begrenzen. Kernaussage und zentrale Fragestellungen: Zeitbewusstsein und Zeitvorstellungen prägen die Vorstellungen von Zukunft. Bestimmte Formen von Zeit und gesellschaftlicher Zeitorganisation können die Entstehung und Entwicklung von Zukunftsvorstellungen hemmen oder fördern. Damit ragen Zeitbewusstsein und Zeitorganisation in die Wahrnehmung und Entwicklung von Zukunft hinein. Zentral ist u.a. die Form, in der Zeit zur Verfügung steht. Sind es immer nur kurze Momente, die für Reflexion, Retrospektion oder Prospektion zur Verfügung stehen oder längere zusammenhängende Sequenzen? Stehen solche Zeiten nur dem auf sich gestellten Individuum oder ganzen gesellschaftlichen Gruppen gemeinsam zur Verfügung? Liegen diese Zeiten so und sind sie so gestaltet, dass sie sinnvoll zur Entwicklung und Gestaltung von Zukunft genutzt werden können? Aufbau der Arbeit: Im ersten Kapitel wird das Thema expliziert und werden Aufbau, Methode und Grenzen der Fragestellung werden. Im zweiten Kapitel werden verschiedene Formen des Umgangs mit Zukunft und unterschiedliche Methoden der Vorausschau beschrieben. Dabei liegt der Fokus auf den zeitlichen Voraussetzungen für individuelle und kollektive Entwicklung von Zukunftsvorstellungen und für die demokratische Gestaltung von Zukunft. Im dritten Kapitel werden auf Basis naturwissenschaftlicher, medizinischer und psychologischer Quellen die zeitlichen Strukturen und Bedürfnisse des Menschen erläutert. Es wird dargestellt, wie diese bewusst und unbewusst auf Zeitvorstellungen und den Umgang mit Zeit und Zukunft einwirken. Der Bogen wird gespannt von der Naturzeit bis zu einer von Menschen in unterschiedlicher Form wahrgenommenen und gestalteten Zeit. Herausgearbeitet werden die negativen Folgen und die positiven Möglichkeiten unterschiedlicher Formen des Umgangs mit Zeit. Zugleich wird verdeutlicht, wie die Gestaltung von Zeit das Denken über Zukunft beeinflussen, ermöglichen oder blockieren kann. Im vierten Kapitel wird gezeigt, wie sich die gesellschaftliche Zeitorganisation und das Zeitbewusstsein historisch verändert haben, während Zukunftsvorstellungen und Zukunftsentwürfe sich gleichzeitig wandelten. Die historische Spanne reicht dabei von den handlungsorientierten Zeitvorstellungen primitiver Gesellschaften, über zyklische, naturnahe Zeitvorstellungen der Agrargesellschaften, bis zur Entstehung linearer Zeitvorstellungen in der Religion und weiter über die entwickelten linearen Zeitvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft hin zur fragmentierten oder digitalisierten Zeit der Gegenwart. Diese Entwicklung verläuft parallel zur Entwicklung der Zukunftsvorstellungen von einer klaren Handlungsorientierung, über Paradieseskonzeptionen und große gesellschaftliche Utopien, zu einer zunehmend individualisierten und verkürzten Vorstellung von Zukunft. Im Mittelpunkt der Analyse steht die enge Verbindung zwischen diesen beiden Elementen. Es wird betrachtet, wie auf frühere Phasen der Geschichte, in denen Zukunft in einem diesseitigen Sinn kaum eine Rolle spielte, Phasen folgen, in denen Zukunft als langfristige Gestaltung der Welt und des eigenen Lebens das Denken der Menschen präge, während heute die kurzfristige Gestaltung des individuellen Lebens im Vordergrund steht. In einem kurzen Schlusskapitel werden zwei zentrale Ergebnisse formuliert: 1. Der Mensch ist in zeitlicher Sicht grundsätzlich abhängig von den Zeiten der Natur. Die Natur (die innere und die äußere) ist rhythmisch strukturiert und diese Rhythmen sind gekennzeichnet durch eine Vielfalt von Zeitformen und Bedürfnissen. Die Gesellschaft muss auf diese Vielfalt Rücksicht nehmen und sie in ihre Zeitorganisationsentscheidungen integrieren, um eine Balance von Stabilität und Flexibilität zu entwickeln. 2. Zeitvorstellungen und Zukunftsvorstellungen sind epochal unterschiedlich. Dabei prägt die jeweilige Zeitvorstellung zentral die Vorstellungen von Zukunft. Auch wenn heute immer mehrere Zeitvorstellungen nebeneinander existieren, die individuelle Wahl- und Orientierungsentscheidungen ermöglichen, gibt es doch dominante Vorstellungen von Zeit und eine gesellschaftliche Ordnung der Zeit, die diese Optionsvielfalt wesentlich verringern. Abschließend werden kurze Hinweise auf einen zukunftsfähigen Umgang mit Zeit und Zukunft unter den Stichworten Zukunftsgestaltung, Zeitbrachen, Chillout, individuelle Reflexion und Zukunftsoffenheit gegeben.
Karin Füllner unterzieht in ihrem Beitrag zu "Utopie und Melancholie in Heinrich Heines italienischen Reisebildern" die Auto- und Heteroimages darin einer genauen Untersuchung. Diese werden in dem autobiographisch grundierten Schreibprojekt Heines an Musik, Kunst und Speisen ebenso deutlich wie in der Auseinandersetzung mit tradierten literarischen Italienbildern, etwa denen Goethes. Das dialektische Spannungsverhältnis zwischen Utopie und rückwärtswandter Melancholie vergleicht Füllner mit Heines Frankreichbildern und kann so die Besonderheit seiner Italienrezeption aufzeigen.
Utopie
(2016)
Was unter dem Begriff Utopie und seinen Derivaten wie Dystopie, Anti-Utopie, Eutopie oder Heterotopie zu verstehen ist, ist Gegenstand einer langen und kontroversen Geschichte. Die Utopie wurde als literarische Gattung bestimmt, die eine alternative und ideale Gesellschaftsform im Modus der Fiktion zur Darstellung bringt, als Staatsroman, als eine Denkform, als eine Hoffnung, als Vorgriff und Apotheose einer totalitär organisierten Gesellschaftsform oder sie umfasst gar die Literatur als Ganze. Dementsprechend lässt sich ein Konsens über den Utopie-Begriff, wie Wilhelm Voßkamp bemerkte, am ehesten "unter negativem Vorzeichen" gewinnen, weshalb die von ihm herausgegebenen drei Bände zur Utopie-Forschung die dem Diskurs 'Utopie' zugeschriebenen Texte in ihren historisch-sozialen Kontexten untersuchten. Im Folgenden soll und kann es denn auch nicht um eine Bestimmung des Begriffs der Utopie selbst gehen, sondern um die Art und Weise, wie Utopien Zeitlichkeit und das heißt insbesondere Zukünftigkeit modellieren.
The title of the conference that took place in the Dance Studies department of the University of Salzburg on January 23rd and 24th - Post-utopia and Europe in the performing arts - was an invitation to grapple not only with the subject matter announced, but also with the very conception of its terms. The interdisciplinary contributions to the conference - from dance studies, musicology, literature, cultural policy and film studies - presented a multifaceted range of ideas both about Europe and European-ness and about (post-)utopia, pushing and pulling the notions in a tense field of reflection.
Writing a positive account of utopias has always been a difficult and risky task. Utopias have always already been out of fashion and outside of time. Since 1989 at the latest, visions of utopia appear to have come to an end. Twenty years after Fukayama's 'end of history', this article re-assesses the potentially fruitful roles for utopia’s out-of-timeness. Focusing on the critical potential of utopias through the concept of tension, it argues that utopian thought must be conceptualized through its tensile connections both to the status quo of a given society and to its possible futures.
Soziologie und Politik
(2017)
Bei "Soziologie und Politik" handelt es sich um eine Vorlesung aus Bertha von Suttners "Maschinenalter" (1889) (in späteren Auflagen "Maschinenzeitalter"). Das vortragende Ich hält in einer fiktiven Zukunft, in welcher der Mensch höher entwickelt ist, eine Vorlesungsreihe über die gesellschaftlichen Zustände des 19. Jahrhunderts. Die einzelnen Vorlesungen bilden die Kapitel des Buches, welches nicht nur die gesellschaftlichen Missstände des 19. Jahrhunderts darlegt, sondern eine soziale, in sich stimmige Utopie erschafft. [...] Bertha von Suttners Soziologieverständnis war stark von Auguste Comtes positivistischer Sichtweise geprägt, die auf einem absoluten Glauben an Wissenschaft und Vernunft beruht. Dieses positivistisch geprägte soziologische Programm hatte um 1900 seinen Höhepunkt erreicht und war danach für Jahrzehnte unter den Generalverdacht der Faktenhuberei und der naiven Wissenschaftsgläubigkeit gestellt worden. Mit den Positivisten teilte Suttner ein monistisches Weltbild, sah das menschliche Zusammenleben als naturgesetzliches Ganzes an und negierte eine nomothetische Wissenschaftsauffassung. Für sie hatte die Soziologie - wie die Wissenschaft überhaupt - die Aufgabe, das menschliche Zusammenleben sowohl zu beschreiben als auch zu verbessern. In "Soziologie und Politik" sieht das Ich den Staat als Organismus und vergleicht die Vorgangsweise mancher Politiker mit einem Menschen, welcher über keine physikalischen Kenntnisse verfügt, aber in einem Chemielabor versucht, Substanzen herzustellen. Suttner fordert deshalb für Politiker eine Ausbildung in Sozialwissenschaften und kritisiert, dass Politiker gar keine fachspezifische Ausbildung brauchten, sondern dass der Gewinn von Wählerstimmen reiche. Allein durch die Wahl erhielten Personen eine Position mit Entscheidungsrecht über weitreichende politische Bereiche - Kultur, Gesundheit, Landwirtschaft, Handel, etc. Für Suttner entbehrte dieses System der objektiven Wahrheit; sie sah es vielmehr geprägt von den ausschließlich individuellen Interessen der einzelnen Personen und den Interessen der politischen Parteien. Die Führung eines Staates aber müsse über die "Wechselbeziehungen zwischen Ursache und Wirkung" Bescheid wissen und dürfe nicht nur kurzsichtig handeln.
Dass die bildungspolitischen Bedingungen im schweizerischen Kanton Zürich etwas freier waren, zeigt der Beitrag von Katharina Gather über den emigrierten Lehrer und Publizisten Karl Fröbel. Unter dem Eindruck des konservativen Züriputsches, den Fröbel auf bildungspolitischem Gebiet erfuhr und in der kritischen Beobachtung der obrigkeitsstaatlichen Restriktionen im Deutschen Bund, entwarf Fröbel eine egalitäre Idealstaatskonzeption, die an die Bildung ihrer Bürger und pädagogische Erfahrungsräume gebunden ist. Anders als Köchly unter den Bedingungen Sachsens konnte Fröbel Aspekte seiner pädagogischen Ideen in einer privaten Primar- und Sekundarschule in Zürich zunächst umsetzen, bis auch er in der Schweiz mit Sanktionen konfrontiert war, die ihn bewogen, das Projekt aufzugeben.
Planwirtschaft
(2016)
Wer heute von Planwirtschaft spricht, meint damit in aller Regel ein überlebtes ökonomisches System, das sich als zutiefst defizitär erwiesen hat. Selbst die radikalsten Kritiker einer neoliberalen Wirtschaftsordnung vertreten bei allen Rufen nach vermehrten staatlichen Eingriffen im Grunde nicht den radikalen Anspruch allumfassender Kontrolle und eben Planbarkeit des gesamten (wirtschaftlichen) Zusammenlebens, für den der Begriff der Planwirtschaft in seiner eigentlichen Bedeutung steht. Will man Planwirtschaft nicht einfach als gescheiterte Alternative zum Kapitalismus zu den Akten, sondern vielmehr ihre imaginative Kraft als eine Form besonderen Zukunftswissen offenlegen, so ergibt sich aus dem Gesagten daher die besondere Notwendigkeit eines historischen Zugriffs auf das Thema.
Während die Erforschung der politischen und literarischen Utopien und Anti-Utopien im wissenschaftlichen Diskurs nach wie vor eine große Rolle spielt, wurde die Analyse von utopischen und anti-utopischen Aspekten im Medium Film bislang vernachlässigt. Eine mögliche Ursache könnte sein, dass die Existenz von genuinen filmischen (Anti-)Utopien bezweifelt werden kann. Seit der Verlagerung der literarischen (Anti-)Utopien vom Raum in die Zeit ist die Darstellung von Gesellschaftsmodellen zumeist auf die Zukunft bezogen; und die Zukunft wird oft mit den Mitteln der Science-Fiction ausgestaltet. Im Medium Film hat sich Science-Fiction als Genre etabliert und es stellt sich die Frage, ob über diese medialen Repräsentationen von Zukunft utopische oder anti-utopische Gesellschaftsentwürfe transportiert werden.
Manifest
(2016)
In der Frühphase der Französischen Revolution zeigt sich [...] eine Zäsur in der historischen Betrachtung von politischen Texten, die sich als Manifeste ausweisen: Die Vergangenheitsorientierung wird zum Anachronismus; erst durch die Ausrichtung auf Zukunft wird das Manifest zu einem zentralen Instrument politischer Kommunikation. Seit der Französischen Revolution wird in Manifesten Zukunft angekündigt und rhetorisch hergestellt. Das Manifest soll eine Mobilisierung hervorrufen, die das formulierte Programm realisiert. Dabei muss diese Zukunftsvorstellung nicht ausführlich entwickelt werden, häufig reicht es aus, sie anzudeuten und anzukündigen. Damit unterscheiden sich Manifeste von Utopien: Während die Utopie eine möglichst umfassende Fiktion einer zukünftigen Gesellschaftsform als Regulativ gegenwärtigen Handelns entwirft, begnügt sich das Manifest mit einer andeutenden Rhetorik des Futurischen und mit indexikalischen Zeichen, die das Neuartige, wenn auch nicht unbedingt Spezifizierte der Zukunft in der Gegenwart verankern. Diese Kopplung zwischen verheißener Zukunft und gegenwärtigem Handeln zeigt sich auch in der Etymologie: Der Ausdruck Manifest stammt vom lateinischen Verb 'manifestare' 'offenlegen', der Wortstamm verweist aber auch auf das Wort 'manus', ‚die Hand‘, so dass die Bedeutung 'handgreiflich machen' mitschwingt. Im Folgenden soll nicht versucht werden, die Gattungsform zu definieren oder eine Typologie der Manifeste zu entwerfen. Stattdessen geht der erste Teil des Beitrags auf einige historische Stationen der Geschichte des Manifests ein, worauf die folgenden beiden Abschnitte sich zwei konkreten Manifesten widmen: Karl Marx' und Friedrich Engels' 'Manifest der Kommunistischen Partei' (1848) und Bruno Latours 'An Attempt at a Compositionist Manifesto' (2010).
Bei "Litteratur, Kunst und Wissenschaft" handelt es sich um eine Vorlesung aus Bertha von Suttners "Maschinenalter" (1889) (in späteren Auflagen "Maschinenzeitalter"). Das vortragende Ich hält in einer fiktiven Zukunft, in welcher der Mensch höher entwickelt ist, eine Vorlesungsreihe über die gesellschaftlichen Zustände des 19. Jahrhunderts. Die einzelnen Vorlesungen bilden die Kapitel des Buches, welches nicht nur die gesellschaftlichen Missstände des 19. Jahrhunderts darlegt, sondern eine soziale, in sich stimmige Utopie erschafft. [...] Suttner macht im Kapitel "Literatur, Kunst und Wissenschaft des Maschinenzeitalters" darauf aufmerksam, dass der 'gottgleiche Status' von damals zur Weltliteratur zählenden Dichtern vor allem auf der Anerkennung der Anerkennenden beruht: Überhaupt sah Suttner alle Menschen - also auch DichterInnen - in ihrer Zeit verankert und folglich deren Werke "als das zurückgeworfene Bild der Zeitgeist-Strahlen, welche in dem Brennpunkte eines Geistes sich vereinigt haben". Die Literatur selbst ist in diesem Sinne "nichts abgetrenntes - sie ist vielmehr der Brennpunkt des Zeitbewußtseins" und steht damit mit anderen 'Feldern' in enger Verbundenheit. Veranschaulicht wird dies anhand des zu Suttners Lebenszeit entstandenen Naturalismus. Er sei eine Erscheinung, welche "durch den Kampf der neuen und alten Weltanschauung hervorgerufen wurde". Die aus dem Gebiete der Wissenschaft kommende Forderung nach Wahrheit versuchte man auch in der Literatur umzusetzen. Auch diesbezüglich wies Suttner nachdrücklich darauf hin, dass die Forderung nach Wahrheit an sich nichts Neues sei, sondern dass die Resonanz, auf die diese Forderung stoße, das Besondere sei, denn "damals hat es niemand gehört; es stand in ihren Werken, aber bisher hat es niemand herausgelesen." Auch die geringe Wertschätzung, die man im Deutschen Reich der damaligen zeitgenössischen Literatur und deren AutorInnen entgegenbrachte, wird in einen geopolitischen Zusammenhang gesetzt. Suttner sieht den geringen Status der SchriftstellerInnen mit dem vorherrschenden militärischen Selbstbewusstsein des 'deutschen Volkes' verbunden. Dass Kunst ein Spiegel des Zeitgeistes ist - wie auch die Kunstkritik -, führt Suttner ihren LeserInnen auch anhand der Musik vor Augen. Suttner zeichnet ein Bild der fehlenden Objektivität der musikalischen Kritik und entlarvt die Wertungen als weltanschauliche Meinungen der KritikerInnen. Ihre Kritik wendet sich dabei vor allem gegen jene BefürworterInnen einer "sogenannten 'klassischen' deutschen Musik", welche Tanz- und italienische Musik abwerteten. Suttner vergleicht diese mit einer finsteren Priesterschaft, deren Sprache "an Unduldsamkeit, Überspanntheit und Selbst-Beweihräucherung hinter keiner konfessionellen Alleinseligmachungs-Predigt" zurücksteht. In "Litteratur, Kunst und Wissenschaft" findet sich eine Betrachtungsweise, welche Suttner mit vielen ihrer Zeitgenossen teilte: einem auf dem Darwin’schen Evolutionismus beruhenden Fortschrittsoptimismus. Der Glaube an den geschichtlichen Fortschritt der Menschheit war charakteristisch "für den überwiegenden Teil des politischen und geschichtlichen Denkens in den west- und mitteleuropäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts" und prägte gegen die Wende zum 20. Jahrhundert die Denkweise vieler Intellektueller. Die Auffassung von einer gesetzmäßigen Entwicklung der Menschheit war schon im 18. Jahrhundert präsent, wurde aber erst im 19. Jahrhundert mit naturwissenschaftlichen Theorien verbunden: Der Fortschritt der Menschheit wurde als 'Naturgesetz' gesehen; nicht Gott oder der Mensch bestimme die geschichtliche Entwicklung, sondern die Natur. Menschen könnten zwar "in technischer, wissenschaftlicher, sozialer, politischer, und nicht zuletzt in moralischer Hinsicht" das Fortschreiten zu "immer höhere[r] Vollkommenheit" hemmen oder unterstützen - aufzuhalten sei dieser naturgesetzliche Prozess aber nicht.
Die biopolitischen Projekte der Lebensverlängerung und Todesüberwindung im Kontext der russischen Moderne legen geradezu nahe, sie unter dem Label einer 'Fortschrittsutopie' zu subsumieren. Es ist ein in der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte regelmäßig wiederkehrender Tenor, die Hoffnung auf die Erlangung der Unsterblichkeit mit wissenschaftlich-technischen Methoden als Inbegriff und Gipfel des maßlosen Fortschrittsglaubens der Neuzeit zu betrachten. Dabei gelten Russland und erst recht das sowjetische Imperium als Brutstätte und Experimentierfeld utopischen Denkens. In der Tat verband sich mit dem kommunistischen Projekt des Neuen Menschen eine quasi-eschatologische Verheißung der diesseitigen Erlösung. Dabei richteten sich anfangs alle Erwartungen darauf, dass die medizinische Wissenschaft Pathologien, Leiden und selbst den (vorzeitigen) Tod ein für alle Mal verschwinden lassen werde. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass die parteioffizielle Ideologie ein ambivalentes Verhältnis zur Idee der Unsterblichkeit hatte und der sogenannte wissenschaftliche Immortalismus in der Sowjetunion nie wirklich Fuß fassen konnte. Diesen Ambivalenzen widmet sich der vorliegende Beitrag aus wissenschaftshistorischer Perspektive.
Wo der Name Johann Gottfried Herders im philosophischen Diskurs des gerade vergangenen Jahrhunderts überhaupt eine Rolle spielt, da figuriert er zumeist in der Rolle des großen, wenngleich unsystematischen Anregers bedeutender Diskurse der modernen Philosophie: der Geschichts- und der Sprachphilosophie ebenso wie der Philosophischen Anthropologie. Als dem "Bahnbrecher des Historismus" (Friedrich Meinecke) scheint ihm der Zutritt zu einem anderen Diskurs indes prinzipiell verwehrt: zu jenem der Utopie. Sogar Ernst Bloch, der seinen eigenen Entwurf im Horizont einer Geschichte des utopischen Denkens entfaltet, behandelt ihn lediglich am Rande; immerhin wird die Ode "Genius der Zukunft" anzitiert. Einer der wichtigsten Beiträge der neueren Forschung, Ralf Simons herausragende Studie zum Gedächtnisbegriff Herders, weist diesem sogar die Position eines Posthistoristen zu. [...]
Ich will hier nun nicht in eine systematische Auseinandersetzung mit Simons verkürzender Argumentation eintreten; vielmehr soll mir diese erst jüngst geäußerte These zum Anlaß und Ausgangspunkt meines eigenen Versuches dienen, den Namen Herders in den Utopie-Diskurs einzuschreiben und aufzuzeigen, daß im Grunde sämtliche Bereiche seines Denkens, die Geschichts- und Sprachphilosophie wie auch die Studien zur Ästhetik und schließlich seine Tätigkeit als Anthologe, allesamt Aspekte eines prinzipiell zukunftsgerichteten Denkens darstellen. Das Motiv für diesen Versuch ist zunächst dasjenige, historische Gerechtigkeit zu üben; die Frage, ob und inwieweit Herders Denken heute Anknüpfungspunkte bietet, um über das Thema Utopie neu nachzudenken und dem allgemeinen Konjunkturverlust dieses Diskurses entgegenzutreten, muß leider unberührt bleiben, denn schon die Sichtung der utopischen Intention seines Denkens kann hier nur in einem ersten Aufriß geschehen.
[Ich] will [...] im Folgenden zwei weniger bekannte dys-/utopische Prosatexte miteinander vergleichen, und zwar Prazdnik bessmertija (1912; Tag der Unsterblichkeit) von Aleksandr Bogdanov und Pronalazak Athanatika (1957/1975; Die Erfindung des Athanatik) von Vladan Desnica. Bogdanov gilt als Pionier der modernen Science- Fiction-Literatur in Russland, Desnicas intellektuelle Prosa, die eng mit der kulturellen Tradition Dalmatiens verbunden und überdies in verschiedene psychologische Diskurse eingebettet ist, nimmt ihrerseits einen festen Platz in der jugoslawischen Literatur ein. Die beiden Werke eignen sich für eine komparatistische Analyse insbesondere deshalb, weil sie frühe Beispiele für den Unsterblichkeitstopos in der Science-Fiction-Literatur darstellen.
Güte - Liebe - Gottheit : ein Beitrag zur Präzisierung des "utopischen" Gehalts von Goethes "Stella"
(2001)
Der Beitrag nimmt kritisch Stellung zu der These, bei dem Ausgang von Goethes Drama "Stella" handle es sich um eine literarische Utopie, und differenziert zwischen der idealistischen Annahme eines Heilszustandes, der sich nur poetisch formulieren lässt, und einer Eschatologie, die mit rationalen Mitteln auf einen ethischen Problemlösungsbedarf antwortet. Die poetische Utopie lässt sich in der Figur der Stella, die im Stück als Personifikation von Güte, Liebe und Gottheit vorgestellt wird, verorten. Was zunächst nur eine subjektive Utopie Fernandos darstellt, wird im Verlauf des Dramas über verschiedene soziale Interaktionen einem sozialen und temporalen Generalisierungsversuch unterworfen. Das zentrale Interaktionsmuster ist die Sympathie Cezilies mit Stella, die auf einer gemeinsamen Empfindungserkenntnis (Consensus) aufbaut; hier kann die Analyse zur Erforschung der Freundschafts- und Liebeskonzeptionen im 18. Jahrhundert beitragen. Ebenfalls unter dem Aspekt der Objektivitätsproblematik lässt sich schließlich Goethes Umarbeitung zum Trauerspiel plausibilisieren.
Wenn Literatur über biopolitische und technologische Entwicklungen nachdenkt, kommt sie selten ohne wertende Perspektiven aus. Begeisterten Ausblicken auf angeblich erwartbare oder zumindest möglich scheinende Segnungen technologischen Fortschritts in der Zukunft stehen skeptisch-warnende, dystopische Inszenierungen von Machbarkeitsphantasien und menschlicher Hybris gegenüber. Literarische Zukunftsbilder und die in ihnen zum Ausdruck kommenden Ängste oder Hoffnungen lassen sich daher nicht selten als mehr oder weniger geschickt verkappte Kommentare zu gesellschaftspolitischen Tendenzen der jeweiligen Gegenwart verstehen. Insbesondere das Weiterspinnen von bereits existierenden wissenschaftlichen Erfindungen, deren Potentiale kontrovers diskutiert werden, scheint sich hierfür anzubieten.
Die Gattung der Utopie und ihre bis in die Frühe Neuzeit zurückreichende Tradition werden um die Mitte des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Zusammenhängen, von verschiedenen Seiten und das heißt mit verschiedenen Interessen aufgegriffen und reflektiert. Ziel dieses Beitrags ist es, diese sich durch verschiedene Bereiche verästelnde Diskursspur zu verfolgen und an jenem Punkt, an dem sich der intensivste und systematischste Versuch einer Erforschung der Gattungstradition beobachten lässt, genauer zu untersuchen: in den Arbeiten des Staatswissenschaftlers Robert von Mohl (Teil II). In einem abschließenden Teil (III) gilt es, Überlegungen anzustellen, welche Rückschlüsse die aufgewiesene Utopie-Reflexion für das Profil der Staatswissenschaft zulässt, und welche Konsequenzen sich aus der Verschiebung der Utopie in den Bereich der Wissenschaft für die Utopie ergeben.
In einer besonderen politischen Situation befanden sich die Architekten der russischen Avantgarde. Nach der Oktoberrevolution im Jahre 1917 bekamen sie (neben anderen Künstlern) die seltene Chance, sich an den gesellschaftlichen Entwicklungen – am Aufbau des staatlichen Sozialismus – zu beteiligen. Sie entschieden mit über die Einrichtung neuer Kunstinstitutionen, entwickelten Lehrprogramme und Aufklärungsprojekte, gestalteten die Infrastruktur der Städte, machten sich Gedanken über Wohnprobleme. Dabei waren sie in der paradoxen Situation, dass sich die sozialistische Bevölkerung, für die sie handelten, erst noch herausbilden musste. Im Zuge der Bürgerkriegswirren und Inflation strömten um 1920 große Menschenmengen aus den ländlichen Regionen in die Städte, die vom Wandel hin zum Sozialismus noch nicht viel gehört hatten. Für diese Bevölkerung moderne Wohnverhältnisse zu schaff en war eine doppelte Herausforderung: Es galt nicht nur die Gebäude der neuen politischen Ideologie gemäß zu gestalten, sondern auch die überforderten und meist ungebildeten Ankömmlinge so zu beeinflussen, dass sie überhaupt Zugang zu den veränderten sozialen Verhältnissen fanden. Neben den sozialistischen Gebäuden waren also auch ihre Bewohner erst noch zu entwerfen, denn es gab Anfang der 20er Jahre in Russland weder sozialen Wohnungsbau noch die für diesen vorgesehenen Arbeitermassen.