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"Im 100. Kabitel des Romans "Der Mann ohne Eigenschaften", das den resoluten Titel trägt "General Stumm dringt in die Staatsbibliothek ein und sammelt Erfahrungen über Bibliothekare, Bibliotheksdiener und geistige Ordnung" [...], kommt es zu der Begegnung zwischen einem Bibliothekar, einem Bibliotheksdiener und General Stumm von Bordwehr in der Wiener Hofbibliothek. Der geistige Gewinn, den der ranghohe k.u.k.-Offizier daraus zieht, ist nicht unerheblich. Es seien der näheren Schilderung dieses denkwürdigen Bibliotheksbesuches, der im Mittelpunkt meiner Betrachtungen stehen soll, zunächst einige Bemerkungen zur Stellung des Kapitels im Roman und zur Person des Generals vorausgeschickt. [...]"
"Die folgenden Überlegungen zum "Andreas" sind von Hofmannsthals Diktum ausgelöst, "dass auf einem gesunden Selbstgefühl (...) das ganze Dasein ruht." [...] Denn im Dilemma der unbewältigten Identität einer höchst fragilen literarischen Gestalt auf intensiver Suche nach dem Selbst scheint mir die Problemzone des Romanvorhabens zu liegen."
"Das schöne Gedicht auf den Vogel ..." : Anmerkungen zu Hofmannsthals Rezeption Walt Whitmans
(1986)
Die Bedeutung des amerikanischen Dichters Walt Whitman (1819-1892) für Hugo von Hofmannsthal im einzelnen ausmachen zu wollen, ist nicht einfach und kann auch nicht Ziel dieser Ausführungen sein. Vielmehr soll es darum gehen, Spuren zu verfolgen, die einer solchen Untersuchung dienlich sein können. Dem kurzen Überblick über die Rezeption Whitmans im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert folgen eine genauere Untersuchung des Briefwechsels zwischen Hofmannsthal und Ottonie von Degenfeld, welcher gegenüber Hofmannsthal Whitmans Gedicht "Out of the Cradle Endlessly Rocking" wohl als das "schöne Gedicht auf den Vogel, der um seine Frau klagt" erwähnte, sowie der vollständige Abdruck des Gedichtes und dessen deutsche Übersetzung von Johannes Schlaf.
Für die Literatur der Jahrhundertwende werden Werke der bildenden Kunst auf eine Weise bedeutsam, die sich wesentlich von der Kunstrezeption früherer Epochen unterscheidet: Im Zusammenhang mit den literarischen Neigungen zur Symbolisierung kommt dem Bild bzw. der BiIdhaftigkeit des Ausdrucks eine zentrale Rolle zu. Bildende Kunst als Medium visueller Vergegenwärtigung erhält einen neuen Stellenwert innerhalb des literarischen Produktionsprozesses. Am Beispiel Hofmannsthals läßt sich dies besonders gut verdeutlichen, da er sich zeitlebens intensiv mit der Kunsttradition auseinandersetzte und Bild"vorgaben" in hohem Maße in sein Werk einbezog. Diese "produktive Rezeption" (G. Grimm) der bildenden Kunst bei Hofmannsthal läßt sich durch sein gesamtes literarisches Schaffen verfolgen. Sie ist nicht nur konkret faßbar in den lyrischen Dramen und den Kunstaufsätzen. Sie ist auch erkennbar in elementaren Erfahrungen (wie dem Van-Gogh-Erlebnis in den Briefen des "Zurückgekehrten" und dem Anblick der archaischen Koren im dritten Teil der "Augenblicke in Griechenland") und schlägt sich nieder in grundsätzlichen philosophischen und kunstästhetischen Fragestellungen.
Die hier wiedergegebenen Auszüge aus Andrians Tagebüchern stützen sich zum größten Teil auf Exzerpte, die von meiner ersten Beschäftigung mit Andrian herrühren. Mein Hauptinteresse galt damals der Frühphase [...] Dem Anliegen der "Hofmannsthal-Blätter" entsprechend steht bei den folgenden, bis auf wenige Passagen bisher unveröffentlichten Tagebuchauszügen der "Blick" Andrians auf Hofmannsthal im Mittelpunkt. Es werden also vornehmlich die Passagen geboten, in denen Hofmannsthal direkt erwähnt wird. An einzelnen Stellen, wo es mir aufschlussreich erschien zu zeigen, wie Andrian andere gemeinsame Freunde einschätzte oder wo er gemeinsame Erfahrungen wiedergab, wurde Seitenblicken stattgegeben. [Ebenfalls aufgenommen wurden:] Exzerpte aus einem Notizbuch zu Vorlesungen der Philosophen Jerusalem und Eckstein zur Erkenntnistheorie und zu Kant [...] Den Abschluß bilden Andrians Notizen aus dem Jahre 1948 zu seinem Aufsatz über Hofmannsthal für Helmut A. Fiechtners Sammelband, in denen der Freund den Freund nur wenige Jahre vor seinem Tod rückblickend und nachdenkend noch einmal "entwirft".
Seit der zweiten Hälte des 19. Jahrhunderts taucht das literarische Motiv des Gartens in der deutschen, aber auch in der englischen und französischen Literatur besonders häufig auf. In verschiedenen literaturwissenschaftlichen Untersuchungen hat man dieses Phänomen zu deuten versucht, eine Rückbesinnung auf das Mythenreservoir der Tradition in Zeiten verunsicherter Individualität erkannt, aber auch die Formen der Umwandlung und die synkretistische Verwendung des Gartenmotivs beobachtet. Christliche Mythenelemente [...] vermischen sich mit antiken Topoi [...] oder Märchenmotiven [...]. Unabhängig davon, ob die Gartenlandschaft in realistischer Detailtreue oder in visionärer Traumatmosphäre geschildert wird, kann man zudem zum Jahrhundertende hin eine zunehmende Stilisierung des Gartens als Seelenschauplatz erkennen - bei aller Vielfalt der Varianten und motivgeschichtlichen Vorbilder. Auffallend häufig findet sich in der Literatur der Jahrhundertwende das Bild des Gartens als eines (vermeintlichen) Schutzraumes zwischen fremder, "wilder" Natur und gesellschaftlich-zivilisatorischer Gegenwart, in dem das Subjekt sich mit "Erkenntnis", "Begehren" und "Verschuldung", Grundfragen seiner Existenz, auseinandersetzen muß. [...] Diesen Problemhorizont möchte ich am Beispiel von drei Prosatexten aus der deutschen Literatur der Jahrhundertwende bedenken: Ferdinand von Saars "Schloß Kostenitz" (1893), Hugo von Hofmannsthals "Märchen der 672. Nacht" (1895) und Heinrich Manns "Das Wunderbare" (1896). Die Texte sind fast gleichzeitig entstanden, müssen aber stilgeschichtlich unterschiedlichen Richtungen - Spätrealismus, Symbolismus / Jugendstil - zugeordnet werden. Allen drei Texten ist als signifikantes Merkmal der Schauplatz des Gartens gemeinsam, in allen drei Texten geht es - offensichtlich oder verdeckt - um "Gartenfrevel" und "Gartenlust".
Trotz einiger vorliegender Arbeiten zu Hofmannsthals Kunstrezeption ist die Frage nach der spezifischen Art seiner Wahrnehmung von "Bildern" und deren Bedeutung für sein Werk noch weitgehend unbeantwortet. Hier setzen die folgenden Überlungungen ein. Hoffmannsthals Interesse an bildender Kunst zeigt sich schon zu Beginn seines literarischen Schaffens: in seinem Prosagedicht "Bilder" von 1891, den Ausstellungsbesprechungen und Rezensionen [...]; später dann in seinen Einleitungen zu Mappenwerken wie Ludwig von Hofmanns "Tänzen" (1905) oder den Handzeichnungen aus der Sammlung seines Rodauner Nachbarn Benno Geiger (1920). Auch in seine Versen zu "lebenden Bildern", in den lyrischen Dramen und den Libretti, sogar in einzelnen Gedichten ist eine besondere "ikonographische" Komponente erkennbar; sie gilt im besonderen Maße für die Balette, etwa den "Triumph der Zeit", was bislang noch kaum gesehen wurde. Schließlich spiegelt sich das vitale Interesse an Kunst in den Reiseaufsätzen, in Vorträgen, Briefen und Notizen. In vielen seiner persönlichen Beziehungen (von den deutschen Zeitgenossen insbesondere zu Harry Graf Kessler, Eberhard von Bodenhausen, Alfred Walter Heymel, Julius Meier-Graefe) ist die bildende Kunst ein wichtiges kommunikativ-verbindendes Element.
Um das Ende eines Denkmals geht es in Joseph Roths Erzählung "Die Büste des Kaisers". In ihr ist das Denkmal Zeichen und Sinnbild für einen allgemeinen Mythos, hinter dem jedoch ein zweiter, ein "persönlicher Mythos" des Autors Joseph Roth erkennbar wird. Diesem Doppelaspekt einer verborgenen autobiographischen Rede, eines "verschwiegenen Ich" hinter der manifesten Schicht der erzählten Geschichte gilt die folgende Deutung.
Ursula Renner rezensiert Waltraud Wiethölters Tübinger Habilitationsschrift "Hofmannsthal oder Die Geometrie des Subjekts", in der ein Zugang zu Hofmannsthals Erzählprosa erprobt wird, der über die Grenzen der abgeschlossenen Texte hinausgreift und sie als ein chronologisch sich entwickelndes Textkontinuum versteht. Neben den Erzählungen werden die essayistische Prosa und die Notizen aus dem Nachlaß einbezogen, welche in ihrem Umfang - und auch ihrer Bedeutung - erst nach und nach durch die Bände der kritischen Ausgabe ans Licht kommen. Die Verfasserin macht einen Zusammenhang sichtbar, der von dem frühen autobiographischen Fragment "Age of Innocence" und dem "Märchen der 672. Nacht" und den vieldiskutierten "Brief" des Lord Chandos, das Kunstmärchen "Frau ohne Schatten" bis hin zum "Andreas"-Fragment reicht, an dem Hofmannsthal seit 1907 bis zu seinen letzten Lebensjahren "laborierte". Die Anlayse dieses Romanentwurfs beansprucht den größten Raum - mehr als 100 Seiten - in Wiethölters Untersuchung.
Der folgende Beitrag will anhand der exemplarischen Lektüre zweier Aufsätze zeigen, was Lou Andreas-Salomés beschäftigte, wie und in welche Diskussionen sie sich einmischte und warum die Rezeption ihrer Texte schwierig ist; er will aber auch die Richtung andeuten, in der sich Fragen und Auseinandersetzungen Lou Andreas-Salomés bis in die Gegenwart fortgeschrieben haben. Am Beispiel der beiden beinahe zeitgleichen, thematisch so verschiedenen Texte "Grundformen der Kunst" (1898) und "Der Mensch als Weib" (1899) soll im folgenden Lou Andreas-Salomés Stimme, wie sie in der Polyphonie der Jahrhundertwende erklang, wieder zu Gehör gebracht werden. Daß die Aufsätze trotz ihres thematischen Unterschieds in denselben lebensbejahenden Versuch nach anthropologischer Selbstbestimmung münden, macht sie zu exemplarischen Texten für ihr Werk insgesamt.
Hofmannsthals Aufsatzentwurf "Die neuen Dichtungen Gabriele d’Annunzio’s" aus dem Jahre 1898, der hier zum ersten Male abgedruckt ist, belegt anhaltendes Interesse und eine um die Jahrhundertwende noch einmal aufllammende Sympathie, die erst 1912 in offene Ablehnung umschlagen wird. Gegenstand des ersten Teiles "Zwei Verherrlichungen der Stadt Venedig", welcher als beinahe abgeschlossen gelten kann, ist ein Bändchen von D’Annunzio mit dem Titel "L’Alllegoria dell’ autunno" (1895). Hofmannsthal kaufte es auf seiner Italienreise 1898. Über welche Dichtungen er darüber hinaus noch schreiben wollte, ist nicht bekannt. Einer genaueren Rekonstruktion der Beziehung zwischen D’Annunzio und Hofmannsthal bis zu diesem Zeitpunkt gelten die folgenden Hinweise.
Im Jahr 1895 verherrlichte Annunzio bei irgend einem festlichen Anlaß die Stadt Venedig in einer Rede, die sich nicht mit den Reden vergleichen läßt, welche man bei ähnlichen Anlässen zu halten pflegt. Er gab dieser Rede, als sie später veröffentlicht wurde, die Überschrift: "Allegorie des Herbstes", und in der That bildet ihren Inhalt die Vision und Schilderung einer hochzeitlichen Vereinigung Venedigs mit dem Herbst. Man fühlt sich an jene frostigen Personificationen erinnert, an jene Kunstform, deren sich drei vergangene Jahrhunderte bis zur völligen Erschöpfung ihres Reizes, ja über die Grenze des Erträglichen bedienten.
Und wirklich scheinen sich die gewaltigsten visionären Augen und der kühnste an unerhörten Gleichnissen reichste Freund, den die lateinischen Völker im jetzigen Zeitraum besitzen, endgültig dieser majestätischen lateinischen Kunstform zugewandt zu haben: der gewaltigen, das gesammte Dasein umschließenden Allegorie, den prunkvoll hinrauschenden Triumphzug, der aus blendenden Gleichnissen aufgethürmten Ehrensäule. Seit einigen Jahren sehe ich kein Werk von ihm entstehen, das nicht dastünde wie eine Trophäe.
In der "Allgemeinen Kunst Chronik" (Wien) findet sich in der 24. Nummer (zweites Novemberheft, S. 661f.) des Jahrgangs 1891 eine Buchbesprechung Hugo von Hofmannsthals, die er in der Folge nicht wieder erwähnt hat (etwa brieflich oder in einer der Titellisten für eine Ausgabe). Dadurch ist sie der Aufmerksamkeit der Forschung bislang entgangen und weder bibliographisch erfaßt noch jemals wieder gedruckt worden. Es handelt sich um eine Besprechung von Ola Hanssons Aufsatzsammlung "Das junge Skandinavien". Hofmannsthal hatte im Sommer desselben Jahres in der "Kunst Chronik" bereits seinen Bericht über "Die Mozart-Zentenarfeier in Salzburg" veröffentlicht. Alle weiteren Aufsätze aus dem Jahr 1891, soweit wir von ihnen wissen, sind in der "Modernen Rundschau" erschienen.
In der "Allgemeinen Kunst Chronik" (Wien) findet sich in der 24. Nummer (zweites Novemberheft, S. 661f.) des Jahrgangs 1891 eine Buchbesprechung Hugo von Hofmannsthals, die er in der Folge nicht wieder erwähnt hat (etwa brieflich oder in einer der Titellisten für eigene Ausgaben). Dadurch ist sie der Aufmerksamkeit der Forschung bislang entgangen und weder bibliographisch erfaßt noch jemals wieder gedruckt worden. Es handelt sich um eine Besprechung von Ola Hanssons Aufsatzsammlung "Das junge Skandinavien". Hofmannsthal hatte im Sommer desselben Jahres in der "Kunst Chronik" bereits seinen Bericht über "Die Mozart-Zentenarfeier in Salzburg" veröffentlicht.
Alle weiteren Aufsätze aus dem Jahr 1891, soweit wir von ihnen wissen, sind in der "Modernen Rundschau" erschienen. Bemerkenswert ist der hier mitgeteilte kleine Aufsatz insofern, als er das Spektrum der von Hofmannsthal schon in seinen frühesten Arbeiten mit Aufmerksamkeit bedachten nichtdeutschsprachigen Literaturen um den Bereich der skandinavischen Literaturen erweitert. Es zeigt sich, daß sich sein Blick von Anbeginn seiner kritischen Tätigkeit auf ganz Europa richtet.
Die hermeneutische Grundfrage "Wer spricht?", darüber ist sich die Literaturwissenschaft heute weitgehend einig, sollte mit einer Operation beantwortet werden, welche das Subjekt einer Äußerung und das grammatikalische Subjekt der Aussage trennt. Dennoch, so behauptete jedenfalls Roland Barthes, sei die Vorstellung von Literatur noch immer "auf tyrannische Weise im Autor zentriert [...], in seiner Person, seiner Geschichte, seinem Geschmack, seinen Leidenschaften". Widerstand gegen eine solche Tyrannei formierte sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auf dem Höhepunkt des Künstlerbiographismus. Es sei bisher übersehen worden, schrieb Margarete Susman in ihrem Buch über "Das Wesen der modernen deutschen Lyrik" (1910), daß das "lyrische Ich [...] kein Ich im real empirischen Sinne, sondern daß es "Ausdruck", daß es "Form" eines Ich" sei. Dieser Satz, der die Selbständigkeit des Textes gegenüber dem Autor behauptet, war in der ästhetischen Theorie nirgends vorher mit dieser Entschiedenheit ausgesprochen worden. Mit dem von Susman kreierten Begriff des "lyrischen Ich" operierte fortan die Zunft. Was ihn provoziert hat, ist eine historische Frage, die allerdings ihrerseits nicht ohne Lebensgeschichte auskommt.
"Übersetzt", "eingeleitet", "herausgegeben von Marie Herzfeld" - so oder ähnlich steht es auf zahlreichen Titelblättern der Jahrhundertwende. Was sich dahinter verbirgt, ist eine kleine Bibliothek literarischer und kulturhistorischer Texte aus verschiedenen Sprachen, welche die Schriftstellerin Marie Herzfeld (1855-1940) einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat; vornehmlich skandinavische Literatur und Texte der italienischen Renaissance. Wenn der Name Jacob Burckhardts für eine "große Erzählung" der Renaissance steht, so betreibt Herzfeld mit ihren "Quellentexten zur Geschichte der italienischen Kultur", zwischen 1910 und 1927 im Eugen Diederichs Verlag erschienen, eine Art kleine kulturgeschichtliche Archäologie. Sie präsentiert frühneuzeitliche Originale und bietet den Lesern einen unverstellten Blick auf deren Fremdheit; andererseits gibt sie Verständnishilfen, holt das Vergangene gleichsam zoomartig heran und "verlebendigt" es durch ihren Kommentar. Ihr Focus ist ein kulturwissenschaftlicher - auch im heutigen Sprachgebrauch. Die Spurensicherung dieser Imellektuellen ohne akademische Ausbildung im engeren Sinn und ohne institutionellen Status wirft die Frage auf, wie kulturwissenschaftliche Gegenstände von Positionen der Randständigkeit entstehen können. So gefragt, ist es weder naiv noch vermessen, Marie Herzfeld für die Anfänge der Kulturwissenschaften in den Dienst zu nehmen. Allerdings bleibt das Problem, mit einem Begriff hantieren zu müssen, der nicht nur unscharf ist, sondern auch oder gerade deswegen gegenwärtig beinahe inflationär gebraucht wird – ein Schicksal, das er mit dem der "Cultur" im "fin de siècle" teilt.
Als Goethe Ende Februar 1788 eine Art Resümee seines Aufenthaltes in Italien zieht, entwirft er auch ein Programm für die Zukunft: "Ich bin fleißig und vergnügt", schreibt er an Johann Gottfried Herder, "und erwarte so die Zukunft. Täglich wird mir's deutlicher, daß ich eigentlich zur Dichtkunst geboren bin, und daß ich die nächsten zehen Jahre, die ich höchstens noch arbeiten darf, dieses Talent excoliren und noch etwas Gutes machen sollte, da mir das Feuer der Jugend manches ohne großes Studium gelingen ließ. Von meinem längern Aufenthalt in Rom werde ich den Vortheil haben, daß ich auf das Ausüben der bildenden Kunst Verzicht thue. / Angelica [Kauffmann] macht mir das Compliment: daß sie wenige in Rom kenne, die besser in der Kunst sähen als ich. Ich weiß recht gut, wo und was ich noch nicht sehe, und fühle wohl, daß ich immer zunehme, und was zu thun wäre, um immer weiter zu sehn. Genug, ich habe schon jetzt meinen Wunsch erreicht: in einer Sache, zu der ich mich leidenschaftlich getragen fühle, nicht mehr blind zu tappen."
Biographisch gehört Hofmannsthal zu jenen Autoren [...] der Jahrhundertwende, für die bildende Kunst selbstverständlicher Teil ihrer Umwelt und Erziehung war. [...] Hofmannsthal sucht, könnte man verallgemeinernd sagen, ästhetische Erfahrung nicht an die Wissensdiskurse seiner Zeit anzuschließen, sondern sie für eine Kommunikation über sinnliches Erleben fruchtbar zu machen. Es geht ihm nicht um eine Opsis, die neue Dinge sehen will, wie in den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts, sondern um ein Schauen, das Dinge neu sieht. Die bildende Kunst ist für Hofmannsthal das Medium, in dem er, mehr noch als im eigenen der Literatur, Bedingungen der Kreativität, der kulturellen Transformation mentaler Bilder und der Semiose bedenkt. Sie ist ein Lebensthema Hofmannsthals, das Freundschaften und Beziehungen, etwa zu dem Maler und späteren Schwager Hans Schlesinger, zu Richard Beer-Hofmann und Hermann Bahr, später zu Sammlern wie Harry Graf Kessler, Eberhard von Bodenhausen, Alfred Walter Heymel, Julius Meier-Graefe oder eben zu Ludwig von Hofmann, prägt.
Die vielleicht bewegendste literarische Lebensgeschichte des 18. Jahrhunderts, Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser (1785-1790), ist ein in vieler Hinsicht hybrider Text. Weder Liebes-, Familien- noch Bekehrungsgeschichte erzählt sie den ins Leere laufenden Bildungsweg eines Melancholikers. Eingeschrieben ist ihr eine Lektüre- und Autorbiographie, in der Lesenlernen und die Initiation in die Bücherwelt eine Schlüsselfunktion haben. Daß meine Darstellung dieser Initiation in einen so breiten Rahmen eingelassen ist, muß begründet werden. Er soll zeigen, wie die in den Vorreden geforderte Aufmerksamkeit für alltägliche Details über die Ordnung des Erzählens generiert wird; und zwar eines Erzählens, das Kontexten auf der Spur ist. Interessiert hat mich sowohl die Deskription wie auch die Konstruktion dieser Geschichte, und so ist mein Beitrag auf den Umfang von zweien angewachsen...
In den Geisteswissenschaften hat neben Walter Burkert mit seinem Buch über den homo necans (1972) der in den USA lehrende Franzose René Girard einige der interessantesten Hypothesen zur Frage nach dem Entstehen und Funktionieren von Gewalt aufgestellt. Sie erweisen sich gerade für einen kulturanalytischen Blick auf literarische Texte als höchst fruchtbar. Girard ist, wie Burkert, schon seit über dreißig Jahren den Mechanismen von Gewalt auf der Spur, maßgeblich in seinem Buch „La violence et le sacré“ von 1972 (dt. „Das Heilige und die Gewalt“ 1987). Und bis heute sind für Girard weder die modernen philosophisch-politischen Theorien der Gewalt (mit dem Tenor: der Mensch ist im Wesentlichen gut, erst seine Unterdrückung lässt ihn gewalttätig werden) noch die psychologisch-biologischen Theorien eines mit Todestrieb oder womöglich Aggressivitätsgenen ausgestatteten Menschen überzeugend. Er selbst geht von der zunächst scheinbar einfachen Annahme aus, dass Gewalt ein soziales Phänomen ist, das in der Interaktion von Menschen entsteht. Wie das genauer begründet wird und was ein literarischer Text zu diesem Befund beitragen bzw. was dieser Befund für das Verständnis von literarischen Texten leisten kann, möchte ich am Beispiel von Franz Grillparzers „Die Jüdin von Toledo“ zeigen.