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In einer oft zitierten Aussage aus dem Jahr 1924 hat Rilke erklärt, daß unter allen seinen Inspiratoren Cézanne der Wichtigste war, und er diesem "stärkste[n] Vorbild" "seit 1906" "auf allen Spuren nachging." In seinem Vortrag versucht Peter Por, diese Aussage so zu deuten, wie Rilke sie gelten lassen wollte, also im Bezug auf das ganze Lebenswerk; und Por versucht gerade die Wendung darzulegen, die Rilke von der Poetik, die er in seiner Auseinandersetzung mit Cézannes Raumschöpfung und besonders mit Cézannes Perspektivenbehandlung erarbeitet hatte, zu jener Poetik führte, die er sich aufgrund seiner Auseinandersetzung mit Klees Raumschöpfung und besonders mit dessen Perspektivenbehandlung angeeignet hatte.
Based on translations of the Lord's Prayer (Mt 6, 9-13) and translations of other Bible passages dating from 1522 to 2017, Luther's working processes were reconstructed and his influence on later editions of his Bible was traced. It becomes evident that Luther wanted not 'merely' to translate the Bible, but to actually write a German Bible.
Jede wissenschaftliche Debatte im 19. Jahrhundert, unabhängig von der Disziplin, musste sich auf den Boden von Tatsachen, im zeitlichen Sprachgebrauch 'facta' oder 'data', stellen. Die Theologie bildete darin keine Ausnahme, besonders nicht auf den Gebieten der Dogmen- und Kirchengeschichte oder der Evangelien-Forschung. Um neue Fakten in die Diskurse einzubringen, mussten diese zunächst "im Feld" gewonnen, in Daten transformiert und als neues Wissen veröffentlicht werden. Genau dies war der Grund für Tischendorfs Orientreise gewesen. Nur so war eine auf Autopsie, Authentizität, Interdisziplinarität und Historizität basierende wissenschaftliche Forschungspraxis in der Theologie möglich. Diese These soll durch den Vergleich des Vorgehens zweier Forschungsreisender - der Gemeinsamkeiten und Unterschiede berücksichtig - belegt werden.
Weil die Bibel als formativer Text der europäischen Kultur bis in die Neuzeit hinein einen zentralen epistemischen Ort hatte sind an ihr historisch schon sehr früh Instrumente zur Suche entwickelt worden, die nicht nur für die Vorgeschichte modernen Suchens interessant sind, sondern auch auf paradigmatische Weise zeigen, wie die Instrumente der Suche das Wissen selbst prägen: in diesem Sinne das besondere geistliche Wissen der Schrift, das in ihrer Durchsuchbarkeit immer wieder aktualisiert, ja erst eigentlich konstituiert wird. Denn zur Heiligen Schrift wird die Schrift gerade in dem Maße, in dem man sie in jeder Situation verwenden kann, und das kann man eben besonders gut, wenn man schnell das Richtige in ihr findet. Das soll im Folgenden an einigen der wichtigsten und charakteristischsten Suchinstrumente gezeigt werden: den Konkordanzen, den Polyglotten, den Kanontafeln, Harmonien und Synopsen.
Die erste Sportverletzung : Genesis 32 zwischen religiösem Kommentar und säkularer Philologie
(2017)
Der Beitrag von Brian Britt befasst sich mit Bibelkommentaren, genauer mit Kommentaren zu Genesis 32, geht allerdings nicht von der theologischen Exegese, sondern von der (post-)strukturalistischen Kommentierung dieser Bibelstelle durch Roland Barthes aus. Dabei wird Britts Lektüre von vornherein dadurch geleitet, dass er ein "Spannungsfeld" zwischen dem traditionellen, religiösen Kommentar (etwa Rashi, Calvin u.a.) einerseits und der modernen, wissenschaftlichen, säkularen Philologie (etwa Barthes, Sherwood u.a.) andererseits annimmt - und dies innerhalb wie auch außerhalb der Bibelwissenschaft. Dabei zeigt er, dass die strikte Grenzziehung zwischen 'frommer' und 'wissenschaftlicher' bzw. 'religiöser' und 'säkular-philologischer' Deutungspraxis nicht nur von den Kommentaren, sondern bereits von den kommentierten Bibeltexten selbst unterlaufen werden. Die Bewegungen von Text und Kommentar ähneln sich also, woraus Britt folgert, dass auch die modernen, wissenschaftlich-säkularen Bibelkommentare letztlich der biblischen Tradition angehören, insofern sie methodisch den keineswegs widerspruchsfreien biblischen Texten selbst nachempfunden sind.
Andreas Mauz betrachtet, methodisch und disziplinär zwischen der Theologie und der Literaturwissenschaft changierend, zwei theologische Kommentare zur Johannesoffenbarung aus dem 20. Jahrhundert, und zwar aus narratologisch-poetologischer Perspektive. Ausgehend von der Patmos-Szene von Offb 1, deren "Selbstsakralisierung" ihre hervorstechendste Autorisierungsstrategie ist, fragt Mauz danach, wie Bibelkommentare mit dieser umgehen. In den betrachteten Kommentaren von Bousset (1906) und Lohmeyer (1926) finden sich dabei 'säkularisierende' und 'sakralisierende' Bewegungen, in denen Vokabulare der "visionären Autorschaft" bewusst eingesetzt werden, um theologische Dogmen zu untermauern. Somit stellt sich die Frage nach Säkularisierungs- und Sakralisierungsdynamiken in der Kommentarpraxis selbst, wobei gerade die selbstreflexiven Eröffnungsgesten, oder "Schrift-Schriftstellen", oft zur Konsolidierung fundamentaltheologischer Autorisierungen herangezogen werden. Ein Korrektiv zu dieser Tendenz, so Mauz' Schlussfolgerung, könne ein literaturwissenschaftlicher Spezialkommentar zur Offenbarung darstellen, der bis heute fehle.
Der Beitrag von Daniel Weidner stellt anhand dreier kommentierter Bibelübersetzungen im 18. Jahrhundert verschiedene Kommentierungsverfahren als Möglichkeiten kritischer Bibellektüre vor, die sich eben nicht nur an ein Fachpublikum, sondern vor allem auch an die Öffentlichkeit wendet. Seine Untersuchung setzt an der Zäsur in der Aufklärung an. Anhand der Kommentierungsverfahren in der Wertheimer Bibel (1702-1749), in Michaelis' kommentierender Bibelübersetzung "mit Anmerkungen für Ungelehrte" (1769-1792) und in Herders Liedern der Liebe (1778) zeigen sich durchaus verschiedene Strategien der Übertragung, Aktualisierung und Anpassung: Die Wertheimer Bibel 'übersetzt' die Wörter der Bibel in die Sprache der kritischen Vernunft, Michaelis will popularisieren, nutzt aber die Historisierung auch zur Apologetik gegen etwa deistische Kritik, und Herder zerlegt den Text kritisch, um ihn poetisch lesen zu können und den Leser zu erreichen. Indem die verschiedenen Kommentare dabei auch ihre eigenen Spannungen und Paradoxien ausstellen - etwa, indem sie ihrerseits weitere Kommentare fordern oder sich unlösbare Aufgaben stellen -, wird deutlich, wie schwer auf einen Nenner zu bringen der Übergang zur Moderne ist.
Der historisch-systematische Beitrag von Melanie Köhlmoos über den Kommentar als theologische Gattung eröffnet den Band. Ausgehend von der durchaus symptomatischen Beobachtung, dass es bislang keine systematische Geschichte des Bibelkommentars innerhalb der Theologie gibt, obwohl der Kommentar eine der wichtigsten theologischen Textformen darstellt, versucht die Autorin, die Geschichte des Kommentars zumindest zu skizzieren, wobei sie in der Aufklärung, d.h. auf der Schwelle zur Moderne, eine deutliche Zäsur feststellt: Weil die Bibel seit der Aufklärung kaum mehr als kohärente, widerspruchsfreie Einheit angesehen wird, sondern stattdessen als Texte-Sammlung, kommt es zu einem Bruch zwischen Exegese und Dogmatik, wobei sich die Exegese als säkulare historische Textwissenschaft versteht. Ganz in diesem Sinne gewinnt auch die Einleitung zum Stellenkommentar seit dem frühen 18. Jahrhundert an Bedeutung. Dass seitdem in weiten theologischen Kreisen nicht mehr vom Dogma der Einheit der Schrift her kommentiert wird, bezeichnet Köhlmoos als Säkularisierung des theologischen Kommentars in der Moderne - der nicht zuletzt auch dadurch geprägt sei, dass auch die Bibeltexte selber, wie sie abschließend zeigt, mehr und mehr zu allgemeinem Kulturgut werden.
In der Moderne verändert sich der Umgang mit heiligen Texten und damit auch die traditionelle Praxis des Kommentars. Einerseits werden solche Texte nun auch wissenschaftlich und kritisch kommentiert, andererseits leben religiöse Kommentarformen auch in säkularen Kontexten fort: etwa in der Dichtung, der Philosophie oder der Philologie. Der Kommentar war lange der Königsweg der Auseinandersetzung mit klassischen, kanonischen und als "heilig" verstandenen Texten. Weil das Verständnis von Schriftlichkeit entscheidend davon geprägt ist, wie man Texte kommentiert, ist die Geschichte des Kommentars zentral, um die Entstehung der modernen säkularen Textkultur zu verstehen. Der Band fragt, wie die Kommentierung religiöser Texte unter den Bedingungen der Säkularisierung noch möglich ist. Er beleuchtet Denkfiguren und Textpraktiken, mit denen säkulare Texte sakralisiert werden und wie jene Verschiebungen unser Verständnis von Kommentar verändern.
In the early 21st century, scientists once more declared God a delusion and announced the end of faith, boosting the current critique of religious belief known as 'New Atheism'. Yet the contemporary British and Irish novel engage with religion in various forms, and religion has indeed "returned", Andrew Tate argues, "to the study of literature". The Bible in particular proves a rich source for novelists as different as Colm Tóibín, Zadie Smith, and Philip Pullman among others. Where Colm Tóibín's 'The Testament of Mary' (2012) offers a fictional memoir by the mother of God, depicting the Virgin Mary as "a powerful, unsparing figure" ('Guardian'), Zadie Smith's 'NW' (2012) describes the lives of its two female protagonists against the backdrop of the stories of Mary and Elizabeth in the Gospel of Luke. And Philip Pullman's bestselling trilogy 'His Dark Materials' (1995- 2000) is a re-writing of Milton's 'Paradise Lost' (1667) that "only really makes sense" according to Tate "if the reader has a detailed knowledge of the biblical scriptures against which it writes". Despite being written from a very critical, ironic or atheist stance, all these novels rely on the Bible as an intertext in crucial ways. The Bible, in other words, is once more living up to its ancient reputation as "the Book of Books", "the Urtext of Western literature".
Die Bibel ist Weltliteratur 'und' eine heilige Schrift - damit spreche ich sowohl bereits den Kern des Beitrages als auch die Schwierigkeit dieser Konstellation an. In welchem Verhältnis steht die Bibel als Literatur zu dem Begriff der Heiligkeit, der ihr kanonisch, normativ und auch inhaltlich zuerkannt wurde und teils wird? Beide Aspekte, sowohl ihre Literarizität (1. 'Bible as Literature') als auch ihre Einordnung als eine heilige Schrift (2. Die Bibel als heilige Schrift), werden im Folgenden in einem Wechselspiel aus literaturwissenschaftlicher und theologischer Hermeneutik untersucht, da diese beiden Disziplinen die Bibel als literarisches und/oder religiöses Medium wahrnehmen und aufgreifen.
Der vorliegende Essay möchte die Verbindung von Philosophie und Religion näher ausführen und sie exemplifizieren anhand der Exegese der Bibel im 'Stern der Erlösung'. Hierfür sollen zunächst ein paar einleitende Worte zur Biographie Rosenzweigs angeführt werden, da bei diesem Denker, wie bei kaum einem zweiten der jüdischen Moderne, Leben und Werk eng aufeinander bezogen sind. Daran anschließend konzentriere ich mich auf den 'Stern', um herauszuarbeiten, wie Rosenzweig die Bibel benutzt, um gewisse für sein Denken zentrale philosophische Sachverhalte anhand von Bibelstellen zu erläutern.
Bibel und Literatur um 1800
(2014)
Die Geschichte der Philologie war immer auch eine Geschichte des Lesens heiliger Texte. Dass auch die Moderne nicht notwendig mit dieser Herkunft bricht, zeigen die vielfältigen Beziehungen zwischen Literatur, Philologie und Bibelexegese in der epistemologischen Schlüsselepoche um 1800. Wenn Novalis 1798 an Friedrich Schlegel schreibt, eine "Theorie der Bibel" würde eigentlich einer "Theorie der Schriftstellerei oder der Wordbildnerei überhaupt" entsprechen, so ruft das nicht nur einen traditionellen Topos auf, sondern bezieht sich auch auf höchst aktuelle zeitgenössische Debatten. Denn die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ausbildende historische und philologische Kritik der Bibel erlaubt es nicht nur, das Buch der Bücher neu zu lesen, sondern verändert auch das Verständnis des Lesens und der Literatur überhaupt. Immer wenn um 1800 über Semiotik und Übersetzungstheorie, Rhetorik und Philologie, Poetik und Hermeneutik verhandelt wird, geschieht das auch mit Seitenblick auf die Bibel und ihre Lesbarkeit. Weidners Studie untersucht die literarischen und kritischen Diskurse um und über die Bibel, die für die Geschichte der Literaturwissenschaft von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.
Das Interesse an der Bibel wächst: Das Verhältnis von biblischem und literarischem Text wird zu einem immer komplexeren Forschungsfeld der Literatur- und Kulturwissenschaft. Anhand konkreter Beispiele werden etablierte Forschungsansätze zur Beziehung von Bibel und Literatur erweitert. Im Bezug auf die Problemfelder Intertextualität, Medialität, Diskurspolitik, Säkularisierung, Normativität, Historizität und Hermeneutik wird das Verhältnis von Bibel und Literatur beleuchtet und die Schwierigkeiten diskutiert, die dieser Bereich der interdisziplinären Forschung bereitet.
Teilen Juden und Christen einen erheblichen Teil ihrer heiligen Texte, kommt das Abgrenzungsbedürfnis bei der Kommentierung dieser Texte umso stärker zum Tragen. Die rabbinische Bibelinterpretation der Spätantike scheint sich in der Methodik radikal von der christlichen Auslegungsweise zu unterscheiden. Neben inhaltlichen Unterschieden spielt dabei insbesondere die eigentümliche Methodik der rabbinischen Schriftauslegung eine Rolle, wie sie uns im Midrasch, der wichtigsten Gattung rabbinischer Bibelauslegung, begegnet. Obwohl es keine einheitlich christliche Auslegungsmethodik gibt, ist die Auslegung, die dem rabbinischen Midrasch für gewöhnlich gegenübergestellt wird, die Allegorie. Die aus der stoischen Interpretation Homers hervorgegangene Allegorese kommt als Methode der Bibelauslegung bereits in den Arbeiten des alexandrinischen Juden Philon zu ihrer ersten Blüte. Während die rabbinische Auslegungstradition allerdings Philon völlig unbeachtet lässt, wird er zum Vorbild der patristischen Bibelinterpretation.
Kritisch betrachtet scheint die biblische Prophetie ein fatales Paradox zu implizieren. Denn nach den Kriterien, die Moses im Deuteronomium verkündet, kann sich die Wahrheit einer Prophetie nur nach dem Eintreffen oder Ausbleiben dessen richten, was sie vorhersagt [...]. Dieses Kriterium erweist sich für das Publikum und erst recht für die Propheten als höchst problematisch. Entweder hört das Publikum auf die Prophezeiung drohenden Unheils, bereut seine Taten und wird verschont – womit sich die Worte des Propheten allerdings als falsch erweisen –, oder es ignoriert die Weissagung und wird vernichtet – womit sich die Worte des Propheten zwar bewahrheiten, zugleich aber auch völlig nutzlos gewesen sind. Obwohl der Glaube an Voraussagen tief in der höfischen Kultur und in der volkstümlichen Tradition der vorderorientalischen Antike verankert war, war er letzten Endes nicht mit der biblischen Konzeption der Souveränität und Freiheit Gottes vereinbar. Es ist daher keine Übertreibung zu sagen, dass die fundamentale Tendenz der biblischen Prophetie, wenn man sie als Form des Wissens und nicht als rhetorischen Modus betrachtet, antiprophetisch ist.
Dieser Aufsatz will weder eine wissenschaftliche Einteilung der biblischen Prophetie vornehmen noch zielt er auf einen Überblick über die Wirkungsgeschichte der Prophetie. Mein Ziel ist es vielmehr anzudeuten, wie moderne Literatur und modernes Denken prophetische Reden und Zukunftsbegriff e auf subtile und unerwartete Arten beerben. [...] Hier möchte ich einen allgemeinen Überblick über prophetische Literatur anbieten und gleichzeitig über den biblischen Kanon und sein Nachleben nachdenken. Ich beginne mit den drei Arten der biblischen Prophetie: der klassischen, der biographischen und der apokalyptischen, anschließend entwickle ich das stichpunktartig an zwei Beispielen der biblischen Prophetie und des modernen Schreibens, schließlich zeige ich die innere Antinomie oder Aporie der jeweiligen Art.
Ich möchte im Folgenden Flauberts gattungslosen Text der Tentation de saint Antoine – das 'Werk seines Lebens' ("oeuvre de ma vie") – als jenen metatextuellen Ort vorstellen, an dem Flaubert über Jahrzehnte hinweg den Status poetischauktorialen Sprechens experimentiert hat. Flauberts Antonius ist ein Wüsteneremit, der eine Nacht lang standhaft die seltsamsten dämonischen Erscheinungen abwehrt. Dabei nimmt der biblische Text insofern eine herausragende Funktion ein, als Antonius' Versuchungen durch die Lektüre der Heiligen Schrift allererst ausgelöst werden. Entscheidend ist aber, dass die anonyme Erzählstimme, die den Text präsentiert, Antonius nicht als jemanden darstellt, der vom Glauben (an die Heilige Schrift) abgefallen wäre, sondern als einen Eremiten, der temporär einer Halluzination erliegt. Damit bleibt der Antonius der Tentation ein christlicher Asket, der an die Heilige Schrift glaubt, womit er sich – und das macht die metapoetische Relevanz des Textes aus – der Modellierung desjenigen Romanciers widersetzt, der für seine Literatur das Göttliche beansprucht. Anders als Emma Bovary, die sich wegen ihres sentimentalischen Glaubens an die Schrift umbringt, und anders als Bouvard und Pécuchet, die dumm an den gleichen Wert aller Literatur glauben und die Schrift nur noch kopieren, legt Antonius eine absolute Resilienz im Glauben an die einzige Heilige Schrift an den Tag. Die Tentation de saint Antoine wirft damit ein neues Licht auf das moderne Erzählen im Zwischenraum von Religion und Literatur: Sie markiert – weder Heiligenvita noch Roman – einen theatralischen Ort an den Rändern der Literatur, an dem Erzähler und Figur sich ihre Positionen in einem agonalen Spiegelverhältnis abringen. Bezogen auf Flauberts paradoxes Autorkonzept des deus absconditus zeigt sie weniger dessen starke als dessen schwache Seite: Der Schreiber der Tentation ist ein Zweifler, der ganze Bibliotheken ins Spiel bringt, der der Heiligen Schrift ihr Heiliges entzieht und der seine Souveränität als narrateur von einer starken, widerständigen Figur immer wieder infrage gestellt sieht. Als narrativer deus absconditus ist er so unsichtbar, dass er von einer Rezeption, die die Antoniusfigur umstandslos als Maske des 'Eremiten von Croisset' auffasst, nicht einmal wahrgenommen wurde.
Im vorliegenden Beitrag soll auf einige Unentscheidbarkeiten und Paradoxien in den religiösen Bezügen bei Jean Paul hingewiesen werden. Sie ergeben sich aus zwei Umständen. Erstens ist in seinen Texten die Grenze zwischen der Bibel im engeren Sinne und weitergefasstem christlichem Gedankengut fließend. Wie die Exzerpthefte aus den Jahren 1778 bis 1781 belegen, rezipiert Jean Paul die Bibel auch auf dem Umweg über theologische Schriften, insbesondere Bibelkommentare. Um eine biblisch inspirierte Metapher in seinem Werk zu deuten, reicht es daher nicht aus, nur die ihr zugrunde liegenden biblischen Prätexte zu identifizieren. Auch der philosophisch-theologische Kontext ihrer Entstehung und Wirkung sowie die Zusammenhänge im Text müssen berücksichtigt werden. Zweitens rezipiert Jean Paul biblische Texte durch das Medium der Literatur: populäre Bücher, Erbauungsliteratur, die Schriften der Pietisten sowie klassische Werke der Weltliteratur (z. B. Miltons Paradise Lost oder Klopstocks Messias). Betrachtet man seine Bibelbezüge genauer, so findet man eine Reihe von Bezügen auf andere literarische Texte, die ihrerseits die Bibel verarbeiten: ein sich vielfach überlagerndes Netz intertextueller und intermedialer Verweise.
Schließlich wird im vorliegenden Beitrag auch nach neuen Bedeutungsdimensionen gefragt, die sich aus dem besonderen Status des Buches "Bibel" im literarischen Kontext ergeben. Auch wenn Jean Paul sich allein aus poetischen Gründen für die Bibel interessiert, so treibt er doch stets ein Spiel mit ihrem Ausnahmecharakter als sakraler Text und als Buch der Bücher. Wie fruchtbar wird Jean Pauls originelles und provokantes Spiel mit der Bibel für die Poetologie? Dass es sich um mehr als ein Spiel handelt, verrät der Dichter an mehreren Orten selbst. So schreibt er im letzten Teil seiner berühmten Vorschule der Ästhetik: "Das Spielen der Poesie kann ihr und uns nur ein Werkzeug, niemals Endzweck sein. [...] Um Ernst, nicht um Spiel wird gespielt. Jedes Spiel ist bloß die sanfte Dämmerung, die von einem überwundenen Ernst zu seinem höhern führt. [...] Es wechsle lange fort und ab, aber endlich erscheint der höchste, der ewige Ernst."
Wenige Themen haben die Germanistik in jüngster Zeit so beschäftigt wie das Verhältnis von Bibel und Literatur. Für die Auseinandersetzung mit den Texten des deutschen Barock – so könnte man meinen – bietet diese Diskussion wenig Innovationspotential, ist auf deren religiöse Verankerung doch stets verwiesen worden: "Barockdichtung", so fasst es Erich Trunz zusammen, "gehört zu einer noch fraglos christlichen Welt: sie weiß sich zwischen Sündenfall und Jüngstem Gericht, denkt den Himmel über sich und die Hölle unter sich. Das gibt ihr große Themen." Aber die in den letzten Jahren zum Thema erschienenen Untersuchungen fragen weniger nach den 'großen Themen', sondern verschieben die Perspektive: Sie problematisieren die Konstituierung des literaturwissenschaftlichen Gegenstandbereichs entlang der Differenzlinie 'ästhetisch vs. religiös', fragen nach der literarischen Faktur biblischer Texte, aber auch danach, wie das Verhältnis von Bibel und Literatur theoretisch gefasst, mit welchem Modell dieser komplexe Austausch umschrieben werden kann.
Vor diesem Hintergrund nun soll ein – dieser verschobenen Perspektive verpflichteter – Blick auf die Sonn- und Feiertagssonette des Andreas Gryphius geworfen werden. Die vorgegebene Kürze des Beitrages fordert dabei eine Fokussierung: Untersucht wird zunächst, wie über literarische Autorschaft vor der Folie des biblischen Textes in einem der Gründungstexte der deutschsprachigen Perikopenlyrik und in zwei programmatischen Texten Gryphius' reflektiert wird. Anschließend soll der Versuch unternommen werden, in konkreter Auseinandersetzung mit dem Sonett vom Sontag des schlummernden Helffers einige Facetten des Bezuges der Gryphius’schen Gedichte auf den biblischen Text und dessen Auslegungstraditionen zu skizzieren.