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Michael Georg Conrad, der Wegbereiter des Naturalismus in Deutschland, konstatiert 1891 in seinem Aufsatz "Die Sozialdemokratie und die Moderne" einen entscheidenden Wandel der Literatur der Gegenwart. Wird bei Zola noch die Persönlichkeit der Figuren durch das Milieu erklärt, ohne dabei ihren zentralen Status zu verlieren, so gilt dies für die neuere Literatur bereits nicht mehr. In ihr ist die Persönlichkeit verschwunden und auch die literarischen Beschreibungen haben sich bereits an der Technik der Momentphotographie orientiert:
Sie [die Persönlichkeit, B.S.] ist gleichwertig mit dem Milieu, und das Gespräch einer Person hat für den Schriftsteller nicht mehr Bedeutung wie das Knacken eines Stuhles. Notwendig kommt man auf diese Weise zur Technik der Momentfotografie. Ein Interesse haben nur noch die Wahrnehmungen, und Aufgabe des Künstlers wird es jetzt, die Wahrnehmungen der Momente möglichst vollständig zu Papier zu bringen. Was früher behagliche, zusammenhängende Erzählung, Schilderung, Auseinandersetzung, Darlegung war, das verwandelt sich jetzt in eine Reihe unzusammenhängender, blitzartig aufgefasster, nervöser Szenen.
Vier Aspekte legen für Conrad den Vergleich der Literatur mit der Momentphotographie nahe: die Gleichwertigkeit der Erscheinungen bzw. der Gegenstände, die Orientierung der Literatur an der sinnlichen Wahrnehmung, der Versuch einer Vollständigkeit der Beschreibung und schließlich die Ersetzung der "Tableaux vivants" durch eine Folge von Einzelbildern. Alle diese Aspekte nehmen entscheidende Punkte der Auseinandersetzung mit der Photographie im 19. Jahrhundert auf, ohne aber die ansonsten zugleich formulierte Gegenposition der Literatur einzunehmen. Michael Georg Conrad ist einer der ersten Schriftsteller und Theoretiker, der konsequent eine Umwertung der Photographiekritik vornimmt und ihre Zuschreibungen auf die Literatur überträgt.
Helmholtz, Mach, Schönberg. Zwei Wissenschaftler und ein Künstler, die ein neues Konzept zur Strukturierung akustischen Materials umkreisen. Sie finden mit der musikalischen Notation und der physikalischen Abbildung eine doppelte Sichtbarkeit des Hörbaren vor. Eine Sichtbarkeit, die sich dem künstlerischen und wissenschaftlichen Gebrauch organischer und mechanischer Instrumente verdankt. Zwei Wissensordnungen, zwei Objektklassen. Einmal Musiktheorie, die das akustische Material nach Zahlverwandtschaften ordnet, dann Naturwissenschaft, die es mathematisiert. Einmal die organischen Handlungspaare Auge/Hand und Ohr/ Stimme für Sichtbares und Hörbares, und dann die damit verbundenen mechanischen Instrumente der Klangaufzeichnung und Klangerzeugung. Die Ordnungen vermischen sich nicht, aber ihre Verflechtungen führen zu einer Verschiebung der symbolischen Konfiguration, und aus den Tonempfindungen, die bisher natürlichen Klangeigenschaften zugeschrieben worden waren, lassen sich nun bearbeitbare Reihen punktueller Elementarempfindungen bilden. Pierre Boulez wird diese Bewegung begrüßen: "man kann sehr wohl sagen, daß die Ära Rameaus mit ihren 'natürlichen' Prinzipien endgültig außer Kurs gesetzt ist; darum müssen wir aber noch lange nicht aufhören, uns die anschaulichen Modelle [...] zu suchen und auszudenken." Sein anschauliches Modell ist der Gegensatz von Kerbung und Glättung. Kerbung verstanden als jene Strukturierung des Akustischen, die sich durch den Punkt charakterisieren lässt, Glättung als die Aufhebung dieser vorgegebenen Kerbung mit Hilfe neuer Techniken. Gilles Deleuze und Félix Guattari übernehmen diese Unterscheidung und führen sie in ihren 'Tausend Plateaus' als technische, künstlerische und wissenschaftliche durch. Beispielhaft setzen sie das Gewebe gegen den Filz, die aus Längs- und Querfäden gebildeten Rasterpunkte gegen die gleichmäßige Verdichtung zufällig angeordneter, unverbundener Einzelfäden. Am Ende seiner 'Lehre von den Tonempfindungen' findet auch Hermann von Helmholtz für die musikalische Strukturierung des akustischen Materials einen solchen handwerklichen Vergleich. "Ja dadurch, dass die Musik den stufenweisen Fortschritt im Rhythmus und in der Tonleiter einführt, macht sie sich eine auch nur angenäherte Naturnachahmung geradezu unmöglich, denn die meisten leidenschaftlichen Affektionen der Stimme charakterisiren sich gerade durch schleifende Uebergange der Tonhohe. Die Naturnachahmung in der Musik ist dadurch in derselben Weise unvollkommen geworden, wie die Nachahmung eines Gemäldes durch eine Straminstickerei in abgesetzten Quadraten und abgesetzten Farbtönen." Dieser stufenweise Fortschritt gegen die Natur verdankt sich dem Zusammenspiel von Stimme und Instrument, das sichtbare Stufen in das hörbare Kontinuum melodischer Bewegungen kerbt. Eine Kerbung, welche die Grundlage eines musiktheoretischen Systems bildet, das bis zu seiner Revolutionierung Anfang des 20. Jahrhunderts seine Gültigkeit hat. Eine Kerbung, die sich der Verbindung und wechselseitigen Nachahmung des organischen Instruments Stimme mit den Musikinstrumenten verdankt. Eine Kerbung, die beständig vollzogen werden muss, und zwar gleichermaßen durch die Übung der inneren Klangvorstellung (dem eigentlichen Hören der gewählten Parameter) und der äußeren Klangverschriftung (der Kontrolle durch das Sichtbare). Alle Tonzeichen innerhalb dieses gekerbten Klangraumes haben ihre Gültigkeit nur in Bezug auf das zugrunde liegende Tonsystem. Der folgende Text wird versuchen einige Motive des Umsturzes dieses Systems zu verfolgen, die zeitgleich in Naturwissenschaft und Musiktheorie zu finden sind.