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Der vorliegende Band umfasst Beiträge von vier Nachwuchswissenschaftler/-innen, die das Prostitutionsmilieu des Bahnhofsviertels von Frankfurt am Main einer wissenschaftlichen Analyse unterzogen haben. Wie der Titel des Werks zu erkennen gibt, ordnen sie ihre Studien in die Auseinandersetzung mit dem Thema "Devianz" ein. Der verwendete methodologische Ansatz – die Feldforschung – scheint hier besonders angebracht zu sein, um herrschende Vorstellungen vom devianten Charakter der Prostitution mit der Empirie zu konfrontieren. Leider scheitert der Band daran, die ethnographischen Beobachtungen mit einer wissenschaftlichen Analyse der Begriffe "Devianz" und "Normen" (und deren sozialen Konstruktion) zu verknüpfen. Bedauernswert ist zudem die fehlende Reflexion über den Zusammenhang zwischen Raum, Gender und Politik im Lichte des Sonderfalls der Prostitution im Frankfurter Bahnhofsviertel.
Rezension zu: Helmut Tervooren: Sangspruchdichtung, Stuttgart/Weimar (Metzler) 1995 (sm 293).
(1997)
Ein Band wie dieser [Helmut Tervooren: Sangspruchdichtung, Stuttgart/Weimar (Metzler) 1995.] ist seit langem ein Desiderat. Dem Gegenstand, dem Sangspruch, werden zwar immer wieder "Zweifel an seiner gattungshaften Autonomie" (S.1) entgegengebracht, aber über die Definition ("Sangspruch ist im Rahmen der Lieddichtung alles, was nicht Liebesdichtung ist", S. 2) hinaus macht Tervooren deutlich, daß formale, inhaltliche, musikalische und überlieferungshistorische Gründe dafür sprechen, der Sangspruchdichtung jedenfalls aus der Sicht der Zeitgenossen den Status einer Gattung zuzusprechen.
Ist nicht ohnehin alles zu Kleist gesagt und erforscht? Aber seine ungeklärten Aufenthalte, seine merkwürdigen Krankheiten, die geheimnisvollen Andeutungen zu Reisen bleiben weiter ebenso rätselhaft wie seine möglicherweise latent vorhandene Homosexualität, seine ewig von Todessehnsucht begleitete Melancholie, sein konspiratives Mitwirken in der napoleonischen Zeit, seine gewaltige und gewaltsame Sprache. Es hat in der Kleist-Rezeption immer wieder zahlreiche Versuche gegeben, das Dunkel auszuleuchten. Seine heute weltberühmten Stücke und Essays bieten scheinbar jedem Geschmack, jeder Zeit, jeder sozialen Befindlichkeit Nahrung für Interpretation und Aneignung. Die Zutaten zu dem in ungefähr zehn Jahren und in konzentrierten Schüben gebildeten Werk eines jungen preußischen Adeligen sind indes dieselben geblieben.
1932 erscheint Clemens Lugowskis Arbeit über die Romane Jörg Wickrams, in der er die Spezifika des vormodernen Romans herausarbeitet: er ist nach Lugowski durch eine sogenannte "Motivation von hinten" charakterisiert, die über die sich in Kausalketten vollziehende "Motivation von vorne" dominiert. Was sich im Vordergrund der Handlung innerhalb der Zeit ereignet und auf ein vorherbestimmtes Resultat zuläuft, wird weniger aus den Ereignisketten selbst als aus der im Hintergrund wirkenden göttlichen Vorsehung entwickelt [...] Es liegt nahe zu fragen, inwiefern sich der Ansatz von Martinez von der Theorie phantastischer Literatur unterscheidet, die ja (etwa nach Tzvetan Todorov) mit dem Moment der Unschlüssigkeit des Lesers, ob er die Ereignisfolge der innerliterarischen Realität oder aber den Vorstellungen eines Protagonisten zurechnen soll, eine ganz ähnlich strukturierte "doppelte Welt" wie auch Martinez behauptet. Den knappen Erläuterungen zufolge ist der Begriff der "doppelten Welten" insofern enger als der der phantastischen Literatur, als er "mit der paradoxen Koexistenz von kausaler und finaler Motivation nur einen speziellen Fall übernatürlichen Geschehens darstellt"; er ist aber andererseits auch weiter, insofern "die finale Motivation der doppelten Welt nicht notwendig als übernatürlich markiert sein muß".
Plädoyer für eine "moderne Mediävistik", "Rechtfertigung" der Relevanz von mittelalterlicher Geschichte, Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft oder gar Bestandsaufnahme des gesamten Faches - was will und was kann der anzuzeigende Band sein? Der Autor selbst, Lehrstuhlinhaber für mittelalterliche Geschichte an der Universität Hamburg, schraubt die Ansprüche bewußt herunter, wenn er den Band nicht als Forschungsbericht verstanden wissen will, wenn "keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder Allgemeingültigkeit" [...] erhoben wird (wer könnte solches leisten?). Die inhaltliche, methodische und institutionelle Situation der derzeitigen mediävistischen Geschichtswissenschaft wird zwar nicht in allen ihren Facetten, wohl aber exemplarisch in ihren wichtigsten Richtungen und Strukturen dargestellt.
Hans-Georg Soldat rezensiert Günter de Bruyns Aufsatzsammlung "Deutsche Zustände. Über Erinnerungen und Tatsachen, Heimat und Literatur" aus dem Jahre 1999. Fast unversehens für den Leser weitet sich die Betrachtung jüngster Gegenwart zu einer subtilen Analyse ihrer Wurzeln, wird zu einer deutschen Geschichtsschreibung allgemein, zur Darstellung der Verdrängungsprozesse, die dabei in Ost und West gleichermaßen eine Rolle spielen. Das Überzeugende daran ist, dass dies ohne jeden Eifer geschieht, unaufgeregt, überlegen und dennoch unglaublich engagiert.
Hans-Georg Soldat rezensiert Hartmut Langes Neuerscheinung aus dem Jahre 1999: "Eine andere Form des Glücks". Auch in seinem neuen Buch plädiert Hartmut Lange dafür, hinter der Oberffläche des gewöhnlichen Lebens eine tiefere Ebene der Existenz zu erkennen. Der Preis dieses Blicks hinter die Realität ist freilich Existenzgefährdung, Loslösung von den Bindungen des Alltags. Nur die wenigsten verarbeiten das, und wenn sich ihnen die Augen wieder verschließen, kehren sie umgehend und willig in ihren Trott zurück. Erinnerung ist vager als ein Traumbild.
Hans-Georg Soldat rezensiert drei verschiedene Neuererscheinungen aus dem Jahr 1999: Angelika Krauß' Roman "Milliarden neuer Sterne", Rita Kuczynskis Roman "Mauerblume. Ein Leben an der Grenze" und die von Anke Gerbert herausgegebene Sammlung von Erlebnisberichten "Im Schatten der Mauer. Erinnerungen, Geschichten und Bilder vom Mauerbau bis zum Mauerfall". Am Rande findet noch Thomas Brussigs Roman "Am kürzeren Ende der Sonnenallee" kurz Erwähnung.
Hans-Georg Soldat rezensiert den 1999 von Eberhard Fahlke und Raimund Fellinger bei Suhrkamp herausgegebenen Briefwechsel von Uwe Johnsen und Siegfried Unseld. Die Korrespondenz zwischen Uwe Johnsen und seinem Verleger Siegfried Unseld, geführt vom ersten Tag, an dem Uwe Johnsen 1959 im damaligen West-Berlin ankam, bis wenige Tage vor seinem Tod 1984, ist ein großartiges, literarisch gewichtiges Dokument der Freundschaft, der Zeit- und Kulturgeschichte.
Hans-Georg Soldat rezensiert die 2000 im Ullstein Verlag erschienene Erzählsammlung "Wir Brüder und Schwestern. Geschichten zur Einheit" von Freya Klier. Tatsächlich ist es vor allem die Vielgestaltigkeit, die an diesen Erzählungen Freya Kliers besticht, die Bandbreite ihrer Impressionen, die ihr neues Buch "Wir Brüder und Schwestern" zu einem Unikat in der deutschen literarischen Landschaft macht.
Hans-Georg Soldat rezensiert den 2001 bei Volk & Welt erschienen Roman "Kain und Abel in Afrika" von Hans Christoph Buch. Gespenstisch - wie sich das Ackervolk der Hutu gegen die Tutsi, die aristokratischen Hirten, erhob. Hans Christoph Buch hat die Völkermorde in Ruanda und Burundi, jedenfalls den zweiten Teil: die Rache der Tutsi an den Hutus miterlebt. Seine Schilderungen gehören mit zum Eindringlichsten, aber auch Bedrückensten, was darüber veröffentlicht wurde. In einem zweiten Erzählfaden schildert er die Entdeckungsreise des deutschen Arztes Richard Kandt, der sich 1898 aufmachte, die Quelle des Nils zu suchen. Ohne den Zeigefinger zu erheben, kann Buch so Entwicklungslinien aufdecken, Entsprechungen zwischen der feudalen Kultur der Einheimischen in Ruanda und der späteren deutschen Kolonialherrschaft aufzeigen, als deren Repräsentant Richard Kandt auftrat - aber auch die Brüche, die das fragile Gleichgewicht zwischen Tutsi und Hutu zerstörten.
Hans-Georg Soldat rezensiert den 2001 im Salzburger Jung und Jung Verlag erschienen Debütroman Sherko Fatahs: "Im Grenzland". Eine Grenze, die Familien trennt, abgesichert von Minenfeldern. Kindlich-sadistische Grenzbeamte, ein allgegenwärtiger Geheimdienst, Hunger nach den Reichtümern jenseits der Barriere. Doch es handelt sich hier nicht um die innerdeutsche Grenze zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation, sondern die zeitgenössische Demarkationslinie zwischen dem Irak und der Türkei - hüben und drüben bewohnt von Kurden, denen der vorausgegangene Golfkrieg unverständlich geblieben ist, ein fernes und fremdes Ereignis, das jedoch auch ihr Leben beeinflusst und aus der gewohnten Bahn wirft.
Hans-Georg Soldat rezensiert die 2001 im Suhrkamp Verlag erschiene Textsammlung "Rückseiten der Herrlichkeit. Texte und Kontexte" von Kurt Drawert. In einer Collage von Gedankenfetzen, nachträglichen Überlegungen, Beobachtungen, Reminiszenzen und Spekulationen verdichtet sich tatsächlich der Eindruck, Zeuge eines unbeschreiblichen Geschehens zu sein. Eine Meisterleistung, die in der neueren deutschen Literatur ziemlich einsam dastehen dürfte.
Hans-Georg Soldat rezensiert den 2001 im Fischer Verlag erschienen Roman "Hauke Haiens Tod" von Andrea Paluch und Robert Habeck. Ihre todernst gemeinte Adaption des Stormschen "Schimmelreiters" mit dem Titel "Hauke Haiens Tod" ist modisch unterkühlt, hat als Vorbild bessere Tatort-Krimis und schert sich nicht um literarische Bedeutsamkeit.
Hans-Georg Soldat rezensiert für die Berliner Zeitung die 1996 im Fischer-Verlag erschiene Autobiographie "Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht" von Günter de Bruyn. Tatsächlich ist dieser zweite Band seiner Autobiographie viel stärker als der erste ein offener Selbstverständigungsversuch de Bruyns. Der Autor bemüht sich, zum einen, seine Integration in der Gesellschaft der DDR zu verstehen, mehr noch allerdings, zum anderen, seine Stellung innerhalb des Staates DDR zu begreifen. Während er mit ersterem nur bedingt Schwierigkeiten hat, schlägt er sich mit dem zweiten Punkt weidlich herum - wobei allerdings nicht ganz klar wird, ob er zwischen diesen beiden Aspekten selbst genau trennt. Nur mittelbar wird die Unterscheidung deutlich: An seiner liebevollen Beschreibung der Menschen in seinem Umkreis und an der eher harschen Beurteilung parteipolitisch-staatlicher Willkür, die sich naturgemäß bei ihm zuallererst an der Kulturpolitik der Hager, Höpcke oder Kant festmacht.
Hans-Georg Soldat rezensiert für NDR 3 / Radio 3 den 2002 im Suhrkamp Verlag erschienen Lyrikband "Frühjahrskollektion" von Kurt Drawert. Kurt Drawerts Sprache ist karg, überlegt, seine Bilder gleichsam effizient in einem durchaus aktuellen Sinn. "Frühjahrskollektion" heißt der schmale Band von Kurt Drawert, der sich natürlich nicht darin erschöpft, die allgemeine Eile zu beklagen, obwohl die "Zeit" in vielen Gedichten eine Rolle spielt.
Hans-Georg Soldat rezensiert für NDR 3 / Radio 3 den 2002 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und von Katja Lange-Müller herausgegebenen Sammelband deutsprachiger Erzählungen: "Vom Fisch bespuckt. Neue Erzählungen von 37 deutschsprachigen Autorinnen und Autoren". Fast allen 37 meist noch jüngeren Autorinnen und Autoren dieses Bandes kann man literarische Kunstfertigkeit attestieren, die Fähigkeit, Sätze in nicht nur lesbare, sondern auch fesselnde Form zu bringen. Manches wirkt so makellos, dass man den Gedanken an Kunstgewerbe nicht mehr loswird, an jene marmorne Glätte, die keinen Raum mehr für die Fantasie des Lesers lässt. Noch wirkt manches eher gesucht, erkennbar ist das Bemühen, auf einen Plot zuzuschreiben - doch das alles ist eine Frage der Lebens-Erfahrung. Dafür findet man hier vielfach eine ursprüngliche, fast naive Frische, jenen deutlichen Spaß an Literatur, der einen mitreißt.
Hans-Georg Soldat rezensiert für NDR 3 / Radio 3 die im Jahr 2001 im Aufbau Taschenbuchverlag Berlin erschiene Aufsatzsammlung feuilletonistischer Arbeit "Ich bin ein Narr und weiß es" von Rolf Schneider. "Liebesaffären deutscher Literaten" ist der Untertitel des schmalen Bandes, hervorgegangen aus einer Serie für eine Berliner Tageszeitung - wobei der Begriff "Literaten" sehr weit gefasst wird. Zwanzig Geschichten um Liebe, erotische Verirrung, Abhängigkeit und oft schmerzhafte Trennung, einige etwas bekannter, manche ziemlich unbekannt, viele jedoch auch nur vergessen, weil die zugehörigen Schriftsteller bzw. Schriftstellerinnen nicht mehr präsent sind. Zur Berechtigung seines Feuilletons meint Rolf Schneider, sie seien "mehr als bloß eine Sammlung biographischer Pikanterien. Sie sind ein Stück Kultur- und Sittengeschichte." Was ebenso wahr wie banal ist, weil es auf jedes Schicksal zutrifft.
Hans-Georg Soldat rezensiert für NDR 3 / Radio 3 die 1999 im Suhrkamp Verlag erschiene tagebuchartige Essaysammlung "Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen" von Durs Grünbein. Wieder erweist sich, welch Ausnahme-Autor der jetzt 38 jährige Durs Grünbein ist. Nicht nur, dass die Tagebuchaufzeichnungen in den Ablauf und die Vorgeschichte der deutschen Wiedervereinigung, ihre psychologischen Hemmnisse und spezifischen mentalen Schwierigkeiten, sie haben weit aus mehr zu bieten - literarische Miniaturen, Ausflüge in die Welt der Wissenschaft, Anekdoten aus dem Alltag. Nebenbei vermitteln sie sogar eine Ahnung von dem Werdegang dieses verschlossenen, ernsten Dichters.
Hans-Georg Soldat rezensiert für die Eßlinger Zeitung die 1997 in der wissenschaftlichen Reihe des "Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der Ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik" erschiene Studie "Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik" von Joachim Walther. In drei großen Kapiteln - "Der Auftrag", "Der Apparat", die "Methoden" - legt Joachim Walther das Beziehunggeflecht von Stasi und Literaturszene offen. Vier Jahre hat der Schriftsteller dafür in der Berliner Gauck-Behörde die Ablagen der Stasi durchforscht, hat die Akten der Täter, der "Inoffiziellen Mitarbeiter" (IM) und ihrer Führungsoffiziere geschichtet und (sofern es ihm die Betroffenen erlaubten), auch Einsicht genommen in prominente Opferakten: "Operative Personenkontrollen" (OPK) oder "Operative Vorgänge" (OV). Welch eine tief deprimierende Lektüre. Natürlich wird die Literaturgeschichte der DDR nicht neu geschrieben werden müssen, aber kräftige Korrekturen an den Interpretationen sind wohl nötig. In kühler uns manchmal schon unerträglicher Sachlichkeit referiert das Buch Tatsachen, die zu wissen wichtig sind, um diktatorische Mechanismen zu verstehen.
Hans-Georg Soldat rezensiert für die Eßlinger Zeitung die 1997 im Carl Hanser Verlag erschiene Autobiographie "Erwachsenenspiele" von Günter Kunert. Das Buch ist übervoll von skurrilen Erlebnissen, Begegnungen, Gesprächen mit Prominenten und weniger Prominenten. Kunerts Reisen in Ost und West sind Fundgruben staunenswerter Geschehnisse, selbst seine Übersiedlung 1979 nach Westdeutschland ist bei der Schilderung der bürokratischen Abläufe, des Verhaltens der offiziellen Stellen eine Satire in sich. Günter Kunerts gelassene, humorvolle Erzählweise entlarvt das eigentliche Böse, nämlich die unglaubliche Mittelmäßigkeit der Funktionäre und Schreibtischtäter - Hermann Kant wird einmal so apostrophiert - fast wie von selbst. Ähnlich wie im Pointillismus entsteht aus Einzelbeobachtungen das klare Bild einer DDR, die sich auf nichts so gut verstand, wie ihre anfangs gutgläubigen Verteidiger immer neu zu enttäuschen und schließlich in die Opposition zu treiben. »So ein "Vaterland" wie die DDR kriege ich zum herabgesetzten Preis im nächsten Spermarkt«, schreibt Günter Kunert grimmig gegen Ende des Buches, wenn er die Bemühungen von Klaus Höpcke, des DDR-"Literaturministers", schildert, ihn mit einem Apell ans Vaterlandsbewußtsein im Lande zu halten.
Hans-Georg Soldat rezensiert für die Berliner Morgenpost den 1998 im Berlin-Verlag erschienen Roman "Simple storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz" von Ingo Schulze. Ingo Schulze versteht es, scheinbare DDR-Besonderheiten in einen Kontext allgemeiner spießbürgerlicher Biederkeit derart einzubetten, daß man nicht umhin kommt, die gemeinsamen Wurzeln zu erkennen. Ein eigentümlicher Sog geht von diesen Geschichten aus, die fast durchgängig in der Ich-Form erzählt werden - wobei freilich dieses Ich von Geschichte zu Geschichte wechselt. Ihre Langwierigkeit ist beabsichtigt, ebenso kalkuliert wie die gesetzten Mystifizierungen der darauffolgenden Situationsbeschreibungen und Dialoge.
Hans-Georg Soldat rezensiert für die Berliner Morgenpost den 1998 im Rowohlt-Verlag erschienen Roman "Trivialroman" von Hans Joachim Schädlich. Keine sinistren Helden hängen rum, sondern Gestalten wie Dogge, Biber, Qualle und Clarissa. Manche monologisieren - "Falls ein Feuer ausbricht, so bewahre Ruhe und rufe nicht 'Feuer'", sagt Qualle in die Stille. Ratte, Wanze und Aal sind nicht da, der Chef und die Äbtissin haben sich schon vor Tagen aus dem Staub gemacht. Trivialroman. Endzeitstimmung. Aber Dogge, Qualle, Biber, auch der Ich-Erzähler Feder, waren einmal Berühmtheiten. Was anfangs dem Leser Dunkel scheint, wird im Laufe der Lektüre dieses kokett "Trivialroman" überschrieben Romans zwar nicht heller, aber klarer. In kurzen Rückblenden enthüllt sich die Vergangenheit der Leute, halb Gangsterbande, halb Staatsverwalter, privilegiert und Privilegien gewährend. Allmählich werden ihre Konturen schärfer.
Hans-Georg Soldat rezensiert für die Berliner Morgenpost den 1998 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen Debütroman "Die Gunnar-Lennefsen-Expedition" von Kathrin Schmidt. Wie hier die Phantasie Purzelbäume schlägt, purer literarischer Übermut, reine Lust am Fabulieren einhergehen mit inhaltlichem Ernst, die Groteske nahtlos hinübergleitet in die Tragödie (oder umgekehrt), wie bitterböse Attacken auf Männerwahn verbunden sind mit scharfsichtigen Beobachtungen DDR-eigener Piefigkeit - das hat es in der Folgerichtigkeit bisher nicht gegeben. Doch es birgt auch Gefahren. Während Kathrin Schmidt anfangs relativ streng zwischen Alltagleben und den phantastischen Expeditionen ins Unbewußte unterscheidet, verwischen sich später die Grenzen. Die Folge sind Beliebigkeit und ein Abrutschen ins unverbindlich Märchenhafte. Burleske und barocke Fülle sind nicht mehr von der Substanz her strukturiert, sondern nur noch Accessoires. Doch trotz aller Einwände ist das Buch ein Glücksfall. Es verkörpert eine selten gewordene Erzählkunst, einen im wahren Wortsinne fabelhaften Stoff aus genau jenen Träumen, aus denen das Leben besteht. Kathrin Schmidt hat sich damit in die Geschichte der deutschen Nachwendeliteratur eingetragen.
Hans-Georg Soldat rezensiert für die Berliner Morgenpost den 1998 im Münchner Luchterhand Literaturverlag und postum von Rudolf Bussmann veröffentlichten Roman "Das heroische Testament. Roman in Fragmenten" von Irmtraud Morgner. Rudolf Bussmann, der Freund aus Basel, der bereits 1992 aus dem Nachlaß Irmtraud Morgners den 1966 verbotenen Roman "Rumba auf einen Herbst" rekonstruierte, hat in jahrelanger Arbeit unternommen, das Material zu sichten und Teile davon in einer Art Zettelkasten der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Hans-Georg Soldat rezensiert für die Berliner Morgenpost die 1998 im Rostocker Hinstorff-Verlag erschiene und von Barbara Heinze, der Bearbeiterin des Fühmann-Archivs in der Akademie der Künste, herausgegebene Biographie "Franz Fühmann. Eine Biographie in Bildern, Dokumenten und Briefen". Das Ergebnis ist erstaunlich und auf seine Art wohl ziemlich einzigartig in der neueren deutschen Literaturgeschichte. Barbara Heinze läßt ausschließlich Dokumente und Bilder sprechen, liefert also im wahren Wortsinne eine Collage: Zitate aus den Werken Fühmanns, vor allem natürlich mit autobiographischem Bezug, Protokolle aus Sitzungen des NDPD-Vorstandes, dem Fühmann nach Gründung der DDR eine Zeitlang angehörte, Stasi-Einschätzungen, Interview-Äußerungen, Stellungnahmen von Zeitgenossen und Schriftstellerkollegen - und immer wieder Fotos und Faksimiles. Aus Kindheit und Jugend, aus der Kriegsgefangenschaft, aus der Familie und dem offiziellen Leben, mit Freunden und späteren Feinden.
Hans-Georg Soldat rezensiert für die Berliner Morgenpost den 1999 im Berliner Rowohlt-Verlag erschienen Roman "Die Buchhändlerin" von Irene Böhme. Mit ihrer lesenswerten Essaysammlung "Die da drüben - Sieben Kapitel DDR" hatte Irene Böhme, zwei Jahre nach ihrere Übersiedlung in den Westen 1980, einen ganz eigenen Beitrag zur deutsch-deutschen Selbsterkenntnis geliefert: unpathetisch und ohne jede Verstiegenheit, ein bißchen hemdsärmelig sogar, liebevoll und dennoch bissig genau. Nicht anders ist ihr neues, autobiographisch gefärbtes Buch. Es hat in satten Konturen alles zu einem Bestseller - starke Charaktere, die durchaus zur Identifikation einladen, pralle Schilderungen der Zeit zwischen den Weltkriegen mit all ihren Schatten und schroffen Lichtern; dann der Jahre nach 1945 in jenen Gegenden, die später zur DDR wurden, Porträts von Landschaften oder einzelnen Nebenfiguren, die sich ins Gedächtnis graben.
Hans-Georg Soldat rezensiert für NDR 3 / Radio 3 den 1999 im Berliner Rowohlt-Verlag erschienen Roman "Eduards Heimkehr" von Peter Schneider. Tatsächlich ist es weniger die bunte, überbordende Handlung, halb Tragödie, halb Groteske, die an dem Buch fasziniert. Es ist vielmehr die Fülle genauer Beobachtungen von Menschen und Dingen in einer ungemein verdichteten, präzisen Sprache, die einen trotz allem in Bann zieht. Berlin und seine Politik kommen nicht gerade gut dabei weg - und doch ist der Roman eine indirekte Liebeserklärung an die Stadt, den abweisenden Charme der Bauten, an ihren Aktionismus wie ihre Provinzialität, und besonders an ihre Menschen und deren ruppige Mentalität. Peter Schneider ist unerbittlich - doch spürt man stets, wie verbunden er ihnen ist, wie gut er sie kennt und daß er sie mag. Es sind meisterhafte Miniaturen.
Hans-Georg Soldat rezensiert für die Berliner Morgenpost Wolfgang Harichs 1999 postum erschiene Autobiographie "Ahnenpaß. Versuch einer Autobiographie". Das Buch, das Antwort in Form einer Autbiographie zu geben versucht, ist ein Unikum - schon deshalb, weil es postum erscheint; Harich starb 1995 im Alter von 72 Jahren. Es enthält Fragmente, die Harich 1972 verfasste (sowie spätere Ergänzungen), und einen Gesprächsteil: Niederschriften von Video- und Fernsehaufzeichnungen mit dem Filmemacher Thomas Grimm (Hrsg.). Wissenschaftlichen Anspruch hat das Buch kaum, es ist eher Lesestoff für historisch Interessierte, Fundgrube für jene, die die innerparteiliche Opposition der Fünfziger Jahre aus der Sicht eines der Hauptbeteilgten kennenlernen wollen.
Hans-Georg Soldat rezensiert für NDR 3 / Radio 3 die 1999 im Berliner Transit-Verlag erschiene Biographiesammlung "Die Welt ist eine Schachtel" von Ines Geipel. Vier Autorinnen der frühen DDR werden von ihr behandelt: Susanne Kerckhoff, Evelyn Kuffel, Jutta Petzold und Hannelore Becker. Hans-Georg Soldat skizziert in seiner Rezension nochmal alle vier außergewöhnlichen Lebensläufe im Kontext ihrer Literaturproduktionen und resümiert: "Gespenstische Lektüre, bedrückende Leben, die hier nicht weiter kommentiert werden sollen - sie aufgehoben zu haben als Erinnerung für die Spätgeborenen ist ein Verdienst Ines Geipels, das gar nicht genug gewürdigt werden kann."
Hans-Georg Soldat rezensiert für die Berliner Morgenpost Klaus Schlesingers im Jahr 2000 erschienen Roman "trug". Die kleine Erzählung, deren Wurzeln bis in die Siezigerjahre zurückreichen, gehorcht den surrealen Gesetzen der Phantastik - sie ist nur von innen heraus logisch und zwingend. Legt man äußere, realistische Maßstäbe an, wird sie unwahrscheinlich und lächerlich.
Hans-Georg Soldat rezensiert für die Berliner Morgenpost Reinhard Jirgls im Jahr 2000 erschienen Roman "Die atlantische Mauer". Reinhard Jirgl, aus der DDR kommend, ist möglicherweise das, was man einen literarischen Nihilisten nennen könnte. Die atemlosen Monologe seines Buches "Die atlantische Mauer" lassen kaum einen Ausweg, sie sind bis in die letzten Verästelungen konsequent. Ahnung von Besserem gibt es nicht. Das Denken und Fühlen der handelnden, ach was, vor sich hin redenden Personen ist - ohne, dass sie es merken - von tiefstem Schwarz. Vier Figuren monologisieren geschlossen und nacheinander: Formales Bindeglied ist die Sprache und deren Darstellung - sie orientiert sich an Arno Schmidt und arbeitet mit den Zeichen »=« oder »&« und schreibt »1malig«. Sonderbarerweise wirkt es dennoch kaum einmal prätentiös, sondern trägt zum Eindruck der Atemlosigkeit bei. Tatsächlich gelingt wohl nur so die adäquate Wiedergabe eines Bewussteinsstroms.