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"Calderón als religiöser Dichter" ist einer von Krauss' interessantesten Aufsätzen der frühen Jahre, von denen "einige zur Zeit ihres Erscheinens wissenschaftlich bahnbrechend waren", wie Hans Ulrich Gumbrecht in seinem Porträt von Werner Krauss in "Das Leben und Sterben der großen Romanisten" konstatiert. [...] Erwartbar wäre gewesen, in Calderón das Ende des mittelalterlich geprägten Kosmos zu sehen, des imperialen 'Goldenen Zeitalters' Spaniens (ca. 1550 bis 1680), in dem es im barocken Schauspiel zu Exzessen der illusionistischen Überwältigung und Massenspektakeln des Glaubens kam. Doch für Krauss ist Calderón vielmehr ein Weg, der direkt in die Dialektik der Aufklärung führt. Das Rettbare, das auf die Praxis des konkreten Handelns Beziehbare muss bei Calderón das Widerständige sein, das auch Carlo Barck an Krauss' Studie faszinierte. [...] Zwei Gedanken lassen sich aus seinem Artikel filtern, die sich an aktuell stark diskutierte Probleme anschließen lassen. Zum einen geht es um Materialität, zum anderen um humanistische Anliegen, die sich in den Kulturtechniken einer Religionskultur wie der des spanischen Katholizismus des 17. Jahrhunderts auffinden und aktualisieren lassen, etwa im Bilderhandeln oder im Umgang mit Schuldempfinden. Es spricht für Krauss' weitreichendes Verständnis religiöser Phänomene, dass er an ihnen Dinge wie Präsenz, Immersion und Liminalität auf den Punkt bringen konnte.
'Haben Sie heute schon über das Wetter geredet? Gestern oder vorgestern vielleicht? Und was wollten Sie damit sagen?' - Würden wir so auf der Straße angesprochen, wären wir vermutlich einigermaßen irritiert. Nicht nur wüssten wir das nicht so genau anzugeben, sondern wären auch von der Frage überrumpelt. Ein unbehagliches Schweigen weckte den Wunsch, eine Bemerkung über das Wetter zu machen, aber das ginge in dem Fall ja nicht. Und dann ist da noch der Trivialitätsverdacht: der Verdacht, im fraglichen Moment nichts anderes zu sagen gehabt zu haben; der Verdacht, eine Person zu sein, die redet, obwohl sie nichts zu sagen hat. Ernstlich fürchten muss man solche Fragen natürlich nicht. Aber interessant sind sie doch. Was und wie wir kommunizieren, wenn wir über das Wetter sprechen, scheint ebenso offen, wie die Frage, was dieser Kommunikationsakt über uns aussagt. Um dem Sprachspiel namens Wettergespräch nachzugehen, lohnt der Blick in den Fundus der Literatur- und Geistesgeschichte. Dort sind unterschiedliche Antwortmöglichkeiten eingelagert, oft in Gestalt von Aperçus, die es zugleich charakterisieren und konterkarieren.
In den Literaturwissenschaften ist der Begriff des Digitalen bislang vor allem dort in Erscheinung getreten, wo jüngere literarische Phänomene der letzten ca. 30 Jahre verhandelt werden - Phänomene also, wie sie im Zuge der elektronischen Textverarbeitung am PC und der Nutzung des Internets entstanden sind. Zu denken ist hier etwa an die Diskussionen um neue narrative Strukturen im Kontext von 'hypertext fiction', um die multimediale Zusammenführung von Bild, Ton und Schrift im Rahmen von sogenannter 'net poetry' oder um die Transformation von Leser-Text-Beziehungen durch die (interaktiven) Rezeptionsbedingungen des 'reading on screen'. Auch wo Literatur- und Medienhistoriker eine archäologische Rekonstruktion der Vorläufer bzw. historischen Wurzeln von (heute so bezeichneter) "digitaler Literatur" unternommen haben, galt das Interesse vornehmlich früheren Formen von "Computer-Dichtkunst" oder "Maschinenpoesie", die sich ab den späten 1950er Jahren zu entwickeln begannen.
Acht Pistolenkugeln werden aus nächster Nähe abgefeuert, aber keine trifft ihr Ziel. Denn der Superheld Quicksilver kann sich im Film "X-Men: Days Of Future Past" (2014) mit einer Geschwindigkeit bewegen, die es ihm erlaubt, die Flugbahn der Kugeln mit kleinen kinetischen Impulsen zu manipulieren. Antizipiert wurde diese Figur der legendären Marvel-Autoren Stan Lee und Jack Kirby bereits im Jahr 1860, als der Naturforscher Karl Ernst von Baer ein Gedankenexperiment anstellte. Baer spekulierte darüber, wie sich die Welt für einen Menschen darstellt, der zwar ebenso viele Sinneseindrücke pro Pulsschlag hat wie ein normaler Mensch, dessen Puls aber 1.000 Mal schneller schlägt. Ein solcher Mensch würde einer vorbeifliegenden Kugel sehr leicht folgen können, schreibt Baer, hätte allerdings aufgrund seines anderen Metabolismus auch eine deutlich geringere Lebensdauer von nur einem Monat.
Sensibel auf Abstand
(2021)
Abstand kann schwer zu ertragen sein, vor allem dann, wenn er unfreiwillig eingehalten werden muss. Sollten Abstandsregeln und Masken in näherer Zukunft fallen, gibt es trotzdem gute Gründe, immer wieder auf Distanz zu seinen Nächsten zu gehen. Das lässt sich zum Beispiel nachlesen bei Nietzsche. Unter dem Titel "Von der Nächstenliebe" fällt Zarathustra ein wenig schmeichelhaftes Urteil über jene Motive, die die Menschen zueinander treiben.
Rezension zu Peter Salmon, "An Event, Perhaps. A Biography of Jacques Derrida", London / New York: Verso, 2020.
Archivieren in die Zukunft
(2021)
Eva Geulens Text dokumentiert ihren Beitrag zu der vom Deutschen Literaturarchiv Marbach am 24. März 2021 virtuell veranstalteten Tagung "#LiteraturarchivDerZukunft". Er wurde ursprünglich als Replik auf die dort diskutierte These 3 entworfen: "Literaturarchive schaffen den literarischen und intellektuellen Kanon mit: Das Archivieren in die Zukunft setzt die stetige Diskussion der Entwicklungen in Literatur und den öffentlich wirksamen Bereichen von Wissenschaft und ein Diskutieren der Kriterien dessen voraus, was es zu archivieren gilt - und was nicht."
Der Stil erlebt derzeit eine neue Konjunktur bis in die Essayistik und das Feuilleton hinein. Dies zeigt allein das umfangreiche und viel beachtete Buch Michael Maars, das sich über weite Strecken in Stiluntersuchungen deutschsprachiger Autor*innen ergeht (Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur, Hamburg: Rowohlt, 2020). Während Maar den Bonvivant gibt, der anhand stilistischer Eigenschaften opulente und kennerische Werturteile über die moderne Literatur fällt, hat sich in der Literaturwissenschaft mit der sogenannten Stilometrie demgegenüber eine prosperierende Forschungsrichtung etabliert, die als korpusbasiertes quantitatives Verfahren zu den asketischsten geisteswissenschaftlichen Spielarten überhaupt zählen dürfte. Die stilistischen Usancen, die Maar und die Stilometrie ihrerseits an den Tag legen, wenn sie über Stil schreiben, verraten neben ungenannten Animositäten dabei auch manch geheime Komplizenschaft.
Metaleptea, vol. 14, no. 1, july 1992 : the orthopterists' newsletter / The Orthoperists' Society
(1992)
Die gemeinsam geschriebene Doppelpublikation "ONE + ONE" und "I – I" des Philosophen Armen Avanessian und der Literaturwissenschaftlerin Anke Hennig bildet den Abschluss ihrer Arbeit am Spekulativen, die 2012 an der FU Berlin begonnen wurde und maßgeblich zum Import des spekulativen Realismus in Deutschland beitrug. [...] Das Spannende an den Büchern ist jedoch nicht ihre kultur-, literatur- und sprachtheoretische Beschäftigung mit der Gegenwart, sondern die textperformative Ebene, auf der die Autor*innen unentwegt den Prozess des "Zu-zweit-Schreibens" mitthematisieren, um so dem Kreativitätsdispositiv und dem solipsistischen Schreiben an der Universität eine 'echte' kooperative Schreibweise entgegenzusetzen. Ihr Vorhaben amalgamiert auf diese Weise Theorie, Biographie und Fiktion, wobei das kooperative Schreiben nicht nur als Beiwerk für den Transport der Inhalte fungiert, sondern auch zu einem stilistisch-performativen Leitprinzip wird.
Die verfügbaren theoretischen und kulturhistorischen Untersuchungen über das Lesen zeigen kaum Neigung, sich mit dem Problem der Abgrenzung wissenschaftlichen Wissens von anderen Wissensbeständen zu beschäftigen; vielleicht, weil es so selbstverständlich scheint, dass die Fähigkeit zu lesen keine Domäne bildet, die exklusives Eigentum einer Wissenschaft sein könnte. Da jedoch viele geisteswissenschaftliche Disziplinen der Vorstellung verhaftet bleiben, dass sie über besondere Methoden des Lesens verfügen, die ansonsten unerreichbares Wissen hervorbringen, klafft hier eine epistemologische Lücke.
In the age of mechanical reproducibility, the 'aura' surrounding works of art undergoes a crisis. The contemporary relevance of Walter Benjamin's thesis - in its societal, aesthetic, and media-theoretical significance - is illustrated by former U.S. president Donald Trump's purported ownership of "Les deux soeurs" ("Two Sisters"), also known as "Sur la terrasse" ("On the Terrace"), by Pierre-Auguste Renoir. Journalist Mark Bowden, who caught a glimpse of the painting when he was invited to Trump's jet in 1997, describes the event in an article for Vanity Fair: "He showed off the gilded interior of his plane - calling me over to inspect a Renoir on its walls, beckoning me to lean in closely to see … what? The luminosity of the brush strokes? The masterly use of color? No. The signature. 'Worth $10 million,' he told me." Of course, this is the attitude that one might expect from a real-estate mogul turned art collector (although not from a future president). In ignorance of both form and content - to say nothing of their unity - the painting is reduced to its sheer exchange value, concentrated in the signature guaranteeing its authenticity.
Unter dem Label "Digital Humanities" (DH) werden unterschiedliche Themen, Gegenstände und Erkenntnisansprüche subsumiert. Vielen gelten die DH als Erweiterung des klassischen Methodenkanons, da sie computergestützte Verfahren für die Geisteswissenschaften in Aussicht stellen. Gleichzeitig verstärken die DH, indem sie unter anderem neue Werkzeuge anbieten, auch praxeologische Tendenzen innerhalb der Geisteswissenschaften. Infolgedessen haben sich die Rede von der Theorielosigkeit der DH sowie Erzählungen vom "Ende der Theorie" in den Diskussionen über digitale Methoden, Praktiken und Forschungsinfrastrukturen als Hauptnarrative etabliert. Dem Status der Theorie in den DH widmete sich die Tagung "Theorytellings: Wissenschaftsnarrative in den Digital Humanities", die am 8. und 9. Oktober 2020 in Leipzig stattfand und von der Arbeitsgruppe "Digital Humanities Theorie" des Verbandes "Digital Humanities im deutschsprachigen Raum" und dem "Forum für Digital Humanities Leipzig" organisiert wurde.