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"Wellenformen" : die Leistung mathematischer Modellbildung für Akustik, Physiologie und Musiktheorie
(2016)
Im Jahr 1857 hält Hermann von Helmholtz einen Vortrag 'Ueber die physiologischen Ursachen der musikalischen Harmonien', in dem er erstmals Ergebnisse seiner akustischen und hörphysiologischen Forschungen einer akademischen Öffentlichkeit vorstellt. Dabei bilden die Untersuchungen und Experimente, die Helmholtz im Rahmen seiner Tätigkeit als Professor für Anatomie und Physiologie an der Universität Bonn durchgeführt hat, Grundlage und Ausgangspunkt einer umfassenden Neukonstitution von Wissenszusammenhängen, in deren Zuge ältere Wissensbestände arrondiert, im Lichte neuer Erkenntnisse bewertet, erweitert, neu gefasst und in ausgearbeiteter Form sechs Jahre später unter dem Titel 'Die Lehre von den Tonempfindungen' veröffentlicht werden. In den einleitenden Worten seines Vortrages aus dem Jahr 1857 verweist Helmholtz in diesem Kontext auf einen Aspekt, der ihm offenkundig von großer Signifikanz zu sein scheint:
"Es hat mich immer als ein wunderbares und besonders interessantes Geheimnis angezogen, dass gerade in der Lehre von den Tönen, in den physikalischen und technischen Fundamenten der Musik, die unter allen Künsten in ihrer Wirkung auf das Gemüth als die stoffloseste, flüchtigste und zarteste Urheberin unberechenbarer und unbeschreiblicher Stimmungen erscheint, die Wissenschaft des reinsten und consequentesten Denkens, die Mathematik, sich so fruchtbar erwies."
Bemerkenswert an dieser Aussage ist nicht, dass Musik und Mathematik in eine enge Beziehung zueinander gesetzt werden - hier kann Helmholtz auf eine über zweitausendjährige Tradition der wechselseitigen Elaboration beider Bereiche verweisen -, sondern dass Darlegungen, die auf die systematische Durchdringung der Zusammenhänge zwischen akustischen, physiologischen, psychischen, musiktheoretischen und ästhetischen Phänomenbereichen zielen, ihren Ausgangspunkt in der Mathematik nehmen. Diesen Leistungen, die mathematisches Denken für die Untersuchung und Explikation dieser Zusammenhänge erbringt, möchte der folgende Beitrag nachgehen. Es wird sich zeigen, dass eine spezifische mathematische Operation für das Verständnis von akustischen und physiologischen Prozessen modellbildend wirkt und über verschiedene Applikationswege hinweg neue Impulse der Systematisierung von Wissensbeständen setzt.
Helmholtz, Mach, Schönberg. Zwei Wissenschaftler und ein Künstler, die ein neues Konzept zur Strukturierung akustischen Materials umkreisen. Sie finden mit der musikalischen Notation und der physikalischen Abbildung eine doppelte Sichtbarkeit des Hörbaren vor. Eine Sichtbarkeit, die sich dem künstlerischen und wissenschaftlichen Gebrauch organischer und mechanischer Instrumente verdankt. Zwei Wissensordnungen, zwei Objektklassen. Einmal Musiktheorie, die das akustische Material nach Zahlverwandtschaften ordnet, dann Naturwissenschaft, die es mathematisiert. Einmal die organischen Handlungspaare Auge/Hand und Ohr/ Stimme für Sichtbares und Hörbares, und dann die damit verbundenen mechanischen Instrumente der Klangaufzeichnung und Klangerzeugung. Die Ordnungen vermischen sich nicht, aber ihre Verflechtungen führen zu einer Verschiebung der symbolischen Konfiguration, und aus den Tonempfindungen, die bisher natürlichen Klangeigenschaften zugeschrieben worden waren, lassen sich nun bearbeitbare Reihen punktueller Elementarempfindungen bilden. Pierre Boulez wird diese Bewegung begrüßen: "man kann sehr wohl sagen, daß die Ära Rameaus mit ihren 'natürlichen' Prinzipien endgültig außer Kurs gesetzt ist; darum müssen wir aber noch lange nicht aufhören, uns die anschaulichen Modelle [...] zu suchen und auszudenken." Sein anschauliches Modell ist der Gegensatz von Kerbung und Glättung. Kerbung verstanden als jene Strukturierung des Akustischen, die sich durch den Punkt charakterisieren lässt, Glättung als die Aufhebung dieser vorgegebenen Kerbung mit Hilfe neuer Techniken. Gilles Deleuze und Félix Guattari übernehmen diese Unterscheidung und führen sie in ihren 'Tausend Plateaus' als technische, künstlerische und wissenschaftliche durch. Beispielhaft setzen sie das Gewebe gegen den Filz, die aus Längs- und Querfäden gebildeten Rasterpunkte gegen die gleichmäßige Verdichtung zufällig angeordneter, unverbundener Einzelfäden. Am Ende seiner 'Lehre von den Tonempfindungen' findet auch Hermann von Helmholtz für die musikalische Strukturierung des akustischen Materials einen solchen handwerklichen Vergleich. "Ja dadurch, dass die Musik den stufenweisen Fortschritt im Rhythmus und in der Tonleiter einführt, macht sie sich eine auch nur angenäherte Naturnachahmung geradezu unmöglich, denn die meisten leidenschaftlichen Affektionen der Stimme charakterisiren sich gerade durch schleifende Uebergange der Tonhohe. Die Naturnachahmung in der Musik ist dadurch in derselben Weise unvollkommen geworden, wie die Nachahmung eines Gemäldes durch eine Straminstickerei in abgesetzten Quadraten und abgesetzten Farbtönen." Dieser stufenweise Fortschritt gegen die Natur verdankt sich dem Zusammenspiel von Stimme und Instrument, das sichtbare Stufen in das hörbare Kontinuum melodischer Bewegungen kerbt. Eine Kerbung, welche die Grundlage eines musiktheoretischen Systems bildet, das bis zu seiner Revolutionierung Anfang des 20. Jahrhunderts seine Gültigkeit hat. Eine Kerbung, die sich der Verbindung und wechselseitigen Nachahmung des organischen Instruments Stimme mit den Musikinstrumenten verdankt. Eine Kerbung, die beständig vollzogen werden muss, und zwar gleichermaßen durch die Übung der inneren Klangvorstellung (dem eigentlichen Hören der gewählten Parameter) und der äußeren Klangverschriftung (der Kontrolle durch das Sichtbare). Alle Tonzeichen innerhalb dieses gekerbten Klangraumes haben ihre Gültigkeit nur in Bezug auf das zugrunde liegende Tonsystem. Der folgende Text wird versuchen einige Motive des Umsturzes dieses Systems zu verfolgen, die zeitgleich in Naturwissenschaft und Musiktheorie zu finden sind.
Besteht ein substantieller Zusammenhang zwischen dem akustischen Material der Musik und ihrer ästhetischen Realität? Sind die Möglichkeiten der Musik als Medium emotioneller Kommunikation aus der Schwingungsnatur des Klangs begründbar? Lassen sich Relationen zwischen der inneren Organisation des akustischen Materials und musikalischer Form nachweisen?
Der vorliegende Artikel stellt zwei punktuell aus der Geschichte der Musikästhetik herausgegriffene Positionen nebeneinander, mit denen sich diese Fragen positiv beantworten lassen. Ein erster Zugang gilt den Ideen einer besonderen Affinität zwischen dem 'bewegten Innern' einerseits und dem Klangmaterial der Musik andererseits, dem die deutsche Musiktheorie des späten 18. Jahrhunderts Ausdruck verleiht. Der andere bezieht sich auf den philosophierenden dänischen Physiker Hans Christian Ørsted und seine Vorstellungen eines Zusammenhangs zwischen musikalischer Form und der inneren Beschaffenheit des musikalischen Tons, die er zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus Betrachtungen über Chladnis Klangfiguren entwickelte.
Benjamins Theorie ist als Bilddenken bekannt; vermutlich ist das der Grund, warum seine musiktheoretischen Ausführungen bislang wenig Beachtung gefunden haben: die Überlegungen des jungen Benjamin zur Musik, die ein Seitenstück zur sprachtheoretischen Grundlegung seines Denkens überhaupt darstellen, ebenso wenig wie die Auseinandersetzung mit der Oper. Das Thema der Oper klingt bei ihm an verschiedenen Stellen an, so etwa in "Goethes Wahlverwandtschaften", am explizitesten aber im Trauerspielbuch, in jenem Abschnitt des zweiten Teils des Kapitels "Allegorie und Trauerspiel", der der vielzitierten Diskussion zum Zusammenhang von Klangfigur und Schrift anhand von Johann Wilhelm Ritters Buch Fragmente aus dem Nachlass eines jungen Physikers (1810) vorausgeht. Da es sich hierbei um Überlegungen zum Thema der Musik handelt, insbesondere über die Oper, sollen diese am Anfang stehen.
Modalität in der Musik Ruggiero Giovannellis (ca. 1555 - 1625) : zur Geschichte der Tonarten um 1600
(1998)
Die Arbeit untersucht am Beispiel der Kompositionen des Palestrinaschülers Ruggiero Giovannelli die Entwicklung der Kompositionstechnik um 1600 in Italien. Im Zentrum steht die Frage der Tonarten, insbesondere der Entwicklung der Modalität am Übergang von prima zur seconda prattica. Die offenkundige Diskrepanz zwischen der Bedeutung der Modi in der Musik um 1600 und der nachgerückten Bedeutung, die ihnen in wissenschaftlichen Arbeiten zuerkannt wird, ist der Ausgangspunkt, um am Beispiel Ruggiero Giovannellis ein Analysemodell für modal begründete Musik an ausgewählten Werken zu erproben. Zugleich wird eine historische Perspektive modaler Änderungen in einer Zeit beschleunigten musikalischen Wandels aufgezeigt. In detaillierten Analysen wird gezeigt, inwieweit sich in der Musik Giovannellis die satztechnische Tradition der römischen Schule in ihrer modalen Anlage an die Erfordernisse der affektgerichteten Monodie angepasst hat. Auf der Grundlage der theoretischen Arbeiten Bernhard Meiers wird gezeigt, wie Modalität als satztechnische Grundlage in zeitlicher, regionaler und individueller Ausprägung in der Musik um 1600 konkret realisiert wird. Die Arbeit zeigt die Möglichkeiten und Grenzen der Herausforderungen der Neuerungen des Stile moderno an die modalen Grundlagen der Musik, welche sich den neuen satztechnischen Erfordernissen nur begrenzt anpassen konnte. Unter diesem Aspekt einer Entwicklungsgeschichte der Modalität eignet sich Giovannelli als Anschauungsobjekt in vielfältiger Perspektive. Er war Kapellmeister und Sänger an den wichtigsten kirchlichen Institutionen Roms und gleichzeitig in vielfältigem Kontakt mit weltlichen Kreisen. Sein Œuvre umfasst die zentralen weltlichen und geistlichen Gattungen und Stile seiner Zeit: unterschiedlich besetzte Madrigale, Villanellen, Kanzonetten, Motetten und Messen, Mehrchörigkeit findet sich neben generalbassbegleiteter Monodie. Durch seine enge Bindung an Palestrina sowie durch ausgedehnte Aufenthalte in Nord¬italien war er mit allen zeitgenössischen Stilen vertraut. Eine weiterer Aspekt der Arbeit befasst sich mit der Frage, inwieweit der Prozess der Autonomisierung des textlichen Affektgehalts im strengen Satz und die Integration neuer stilistischer Elemente einen Einfluss der römischen Schule auf die Kompositionstechnik in Norditalien (greifbar etwa an der Entwicklung der Mehrchörigkeit in Venedig) gehabt hat. In der Zeit eines beschleunigten historischen Wandels wirkte Ruggiero Giovannelli als behutsamer Erneuerer des Überlieferten. Während er die traditionellen Gattungen Madrigal und Motette auf der Basis der bestehenden musiktheoretischen Maxime weiterentwickelte, brachen andernorts Komponisten radikaler und nachhaltiger mit den bis dahin gültigen Grundlagen der musikalischen Komposition. Ruggiero Giovannelli stand für einen kurzen historischen Augenblick im Rampenlicht dieses Wandlungsprozesses. Er gestaltete die Reform der auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung angekommenen Gattung Madrigal mit, indem er das Moment des Klanglichen und des Linear-melodischen auf der Basis des Kontrapunkts neu interpretierte. Neben der Verwendung eingängiger, von den Zeitgenossen mit dem Prädikat der Leichtigkeit belegten Soggetti war es vor allem das Schaffen formaler Bezüge, die Verwendung von aus populären Gattungen wie Kanzonette und Villanella übernommener Elemente und das Einfügen von durch ihn häufig verwendeter musikalischer Topoi in die unterschiedliche Werke, womit Giovannelli den Geschmack seiner Zeit traf. In seinen Motetten differenziert Giovannelli deutlich nach Besetzung und Aufführungsanlass. Klanglich opulenter, homophon konzipierter Mehrchörigkeit stehen streng kontrapunktisch strukturierte Kompositionen gegenüber. Allen geistlichen Werken liegt jedoch das unmodifizierte Regelwerk der Modi zugrunde, deren Gültigkeit in der auch schon bei Palestrina angewendeten Form von Giovannelli niemals in Frage gestellt wird. Giovannellis Musik ist immer modal konzipiert, wobei sich der Modus traditionell in der Gestaltung der Soggetti und der formalen Anlage einer Komposition ausdrückt. So liegen die Veränderungen gegenüber seinen Vorgängern im Detail. Die Einbindung des modalen Spiels in ein formales Gesamtkonzept ist eines davon, die Verwendung der Modi und der mit ihnen verbundenen Klanglage nach den Anforderungen der Besetzung ein anderes. Die Arbeit umfasst neben dem Textteil ein vollständiges Werkverzeichnis mit Quellenangaben sowie druckfähige Übertragungen der meisten Werke Giovannellis (4 Bände).