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Was allzu bereitwillig schöntut, kann – ehe man sich versieht – den Kopf verdrehen und am Ende den Geist rauben. Die Qualität einer Textverarbeitung bemißt sich nicht nur am Outfit des Outputs, sondern vor allem daran, ob sie der Inspiration beim Input dient. Peter Matussek befaßt sich seit längerem mit den theoretischen und praktischen Konsequenzen des Schreibens am Computer. Für PAGE hat er eine skeptische Trendeinschätzung formuliert.
Es war die Zeit, als in den Feuilletons noch kritische Köpfe über Computer aufklärten, die nie einen aus der Nähe gesehen hatten, und Grundkenntnisse in BASIC ausreichten, um als "Medienexperte" angesehen zu werden. An fundamentalistischer Konsequenz konnte ich mich mit Jabloner durchaus vergleichen, wenn es um die Abwehr der falschen Gehirne ging. Mit gerechtem Zorn verhinderte ich eine Seminardiskussion über "Computer-Lyrik". Denn diese Attacke der Geschmacklosigkeit auf die zarteste Weise, in der menschlicher Geist sich mitzuteilen vermag, auch nur mit einem Worte zu würdigen, sei - so argumentierte ich - der erste Schritt in die Totalverblödung. ...
Der Beitrag gibt ein Beispiel dafür, wie philologische Kompetenz für die Analyse von medienkulturellen Phänomenen fruchtbar gemacht werden kann. Ausgehend von Wolfgang Isers Leerstellentheorem wird nach der Funktionsweise ästhetischer Erinnerungsanlässe gefragt – zum einen in systematischer Hinsicht durch einen Vergleich von Schrift, Bild und Klang, zum anderen in historischer Hinsicht durch einen Vergleich analoger und digitaler Medien. Es ergibt sich, daß die ästhetischen Strategien, mit denen traditionellerweise Literatur, bildende Kunst und Musik Leerstellen eröffnen, auf Animationen beruhen, die durch ihre computertechnische Realisierung grundsätzlich nivelliert werden. Folglich bedarf es neuer Verfahren der Leerstellengenerierung, um unter den Bedingungen digitaler Medien die Erinnerung zu aktivieren.
Aus Kostengründen delegieren immer mehr Verlage das Erstellen von Druckvorlagen an DTP-Büros oder direkt an die Autoren. Doch mit den wegrationalisierten Schriftsetzern bleibt oft auch das typografische Know-how auf der Strecke. Insbesondere wissenschaftliche Publikationen sind wegen ihrer niedrigen Auflage von dieser Entwicklung betroffen. Die Gewohnheiten der Schreibmaschinen-Ära schlagen – meist unbemerkt von den satzunerfahrenen Produzenten – auf das Endprodukt durch. In einer dreiteiligen Serie gibt PAGE-Autor Peter Matussek praktische Hinweise zur Gestaltung wissenschaftlicher Publikationen für Nichtprofis.
"Die Wissenschaft im großen besteht ... aus dem Produkt der Gedächtniswissenschaften, oder der gegebenen Kenntnisse und der Vernunftwissenschaften oder der gemachten (erworbenen) Kenntnisse. Die letztern sind das (bloße)Werk des Menschen. DieWissenschaft im großen ist also überhaupt die Totalfunktion der Daten und Fakten – die n-Potenz des Reihenbinoms der Daten und Fakten. Hier wird die kombinatorische Analysis Bedürfnis."
In merkwürdig aktueller Notation formuliert Novalis den wohl letzten Entwurf einer ambitionierten Enzyklopädistik im Geiste d'Alemberts und Diderots. Deren Scheitern an der "binomischen" Forderung der enkyklios paideia, umfassend und essentiell zugleich zu sein, ließ nachfolgende Projekte entweder in Stoff- oder Sinnhuberei resignieren. Offenbar nur eine grandiose Selbstüberschätzung gestattet Novalis noch den Glauben an die Realisierbarkeit einer vollständigen Kombination der "gegebenen" und "gemachten Kenntnisse", einer "Totalfunktion der Daten und Fakten". ...
Teekesselchen
(1988)
Wo hat der Bengel nur das Wort wieder aufgeschnappt? Wenn er schon seine Programmierübungen für den Deutschunterricht nicht machen will, dann soll er doch 'Beyond Dark Castle' spielen oder sich durch Datennetze hacken, wie jeder anständige Junge in seinem Alter. Aber Sohnemann muß natürlich wieder aus der Reihe tanzen! Gedichte lesen! Jetzt haben wir die Bescherung: "Papa, was sind denn eigentlich 'Wipfel'?" ...
Das gelehrte Übermenschentum bekam schon immer einen steifen Nacken, wenn es galt, auf die Niederungen des Gretchenschicksals hinabzublicken. Noch heute wissen die Faustforscher nicht so recht, worin er eigentlich besteht, der "tragische Gedanke". Sie ahnen nur, daß die alten Erklärungen überholungsbedürftig sind – Erklärungen, die noch aus der Zeit des kalten Geschlechterkrieges stammen. Auch in diesem Krieg war Deutschland geteilt. ...
Schon Platon nutzte die intertextuellen Fähigkeiten des literarischen Schreibens zur Subversion der lähmenden Wirkung von Aufzeichnungen im Sinne der Gedächtnisstützen, der Hypomnemata, um den anders gearteten Erinnerungsprozeß der Anamnesis zur Geltung zu bringen. Ironischerweise basiert aber ausgerechnet eines der avanciertesten Hypomnemata unserer Tage auf einer dezentralen, nichtlinearen Struktur, wie sie für das Phänomen der Intertextualität kennzeichnend ist. Die — in der Tat von vielen Theoretikern des neuen Mediums angestrengte — Vermutung liegt also nahe, daß wir es hier mit einer virtuellen Steigerung der Potentiale literarischen Erinnerns im Sinne der Anamnesis Platons zu tun haben. Der Heftbeitrag vertritt die Auffassung, daß eher das Gegenteil zutrifft. Eine intertextuelle Dynamik kann nur aus der Rezeptionserfahrung des Kontrastes zu einer vorgegebenen statischen Textur hervorgehen. Mit jedem seiner Schritte durch das Gewebe eines Hypertextes dekomponiert der Leser diesen illuminierenden Kontrasteffekt. Diese Beobachtung führt zu der Feststellung, daß eine Poetik des Hypertextes, die als literarische Erinnerungstechnik ernst genommen werden könnte, erst noch zu entwickeln wäre.
Eine lettische Sage, Die Rose von Turaida, erzählt von dem Mädchen Maija, das sich einem Gärtner versprochen hat und tapfer allen anderen Werbern widersteht. Als sie aber, von einem zudringlichen Ritter mit Hinterlist in eine Waldgrotte gelockt, diesem wehrlos ausgesetzt ist, wahrt sie ihre Integrität durch eine heroische Opferbereitschaft: Im Moment der Überwältigung gibt sie ein rotes Tuch, das sie um den Hals trägt, als Zaubermittel aus, das die Fähigkeit habe, unverwundbar zu machen, und sie fordert den Ritter auf, sich davon zu überzeugen, indem er nur einmal versuchen solle, ihr den Kopf abzuschlagen. Von seiner Machtlüsternheit verführt, tut der Ritter, wie ihm geheißen – und erhält eine traurige Lektion über die Macht der Treue. ...
Lesen und lesen lassen
(1992)
Mit dem Kürzel ICR (intelligent character recognition) will die Branche der Lesemaschinenhersteller signalisieren, daß sie die Legasthenieprobleme des herkömmlichen OCR (optisal character recognition) überwunden hat. Doch wie intelligent ist die neue Technik wirklich? Macht sie das mühselige Korrekturlesen überflüssig? In welchem Verhältnis steht der Aufwand zum Nutzen?
Spreng-Sätze im Kulturspeicher : kleine Universalgeschichte der literarischen Gedächtniskritik
(1996)
Schon ordinäre Jahreswechsel werden gern als Anlässe zur Rückbesinnung genommen. Die bevorstehende Jahrhundert- und Jahrtausendwende stellt ein solches Vorhaben vor monumentale, ja mnemopathische Anforderungen. Doch unser vergehendes Millenium scheint davor nicht kapitulieren zu wollen. Mit einer Sammelwut ohnegleichen sprengt es immer wieder die Grenzen seiner Speicherkapazitäten, die trotz rasanter Weiterentwicklung der Packungsdichte vom Zustrom an Informationen stets überfordert sind. Dem gesellt sich in Deutschland das Spezifikum eines Gedenkeifers, der – wie jüngst die Vorschläge zum Berliner Holocaust-Mahnmal wieder bewiesen haben – ebenfalls neuen Rekorden entgegeneilt. "Es scheint", schrieb Henryk Broder dazu, "als wollten die Organisatoren und Teilnehmer des Wettbewerbs um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas sagen: 'Den Holocaust macht uns keiner nach – seine Bewältigung auch nicht!'" Michael Bodemann spricht angesichts solcher Phänomene von Gedächtnistheater. ...
Der Begründer der Neuen Phänomenologie, Hermann Schmitz, rückt anläßlich einer Erläuterung des für ihn zentralen Begriffs der "implantierenden Situation" Goethes Gedicht Über allen Gipfeln ist Ruh ... in die Nähe der Haiku-Lyrik. Das von Schmitz nur beiläufig Konstellierte erweist sich bei näherem Hinsehen als aufschlußreich für das Verständnis der Naturlyrik aus Goethes erstem Weimarer Jahrzehnt. Denn es ist in der Tat die Haiku-Tradition, an der wir unseren Blick für manche Eigenheiten der lyrischen Sprache Goethes in jener Werkphase schulen können – einer Werkphase, die ich als "vorkritisch" bezeichne, da sie noch nicht unter dem Einfluß der kritischen Philosophie Kants steht und daher noch frei ist vom didaktisierenden Zug transzendentaler Subjektivität. Der japanische Blick auf den "vorkritischen" Goethe ist nicht nur von philologischem Interesse. Er zeigt uns, sehr viel weiter reichend, die Möglichkeit eines Sprechens über Phänomene, bei dem es kein die Erfahrung begleitendes und in seine Gewalt bringendes "Ich denke" zu geben scheint. ...
Anfangs mochte es ja noch als ein Zeichen für standesbewußtes Literatentum gelten, die gute alte Adler einem dieser Ataris vorzuziehen. Inzwischen signalisiert es nur mehr larmoyante Gestrigkeit. Die Elektrifizierung des Schreibens ist salonfähig geworden und damit auch ZEIT-gemäß. Dieter E. Zimmer - viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt - verkündet am 8. Juli 1988 vom heiligen Berg des deutschen Feuilletons sein Kleines Vorwort zur Ära des Schreibcomputers. Es bringt auf den Punkt, was wie ein Ruck durch die Zunft geht: Der Siegeszug des Textcomputers wäre nur noch aufzuhalten, wenn der ganzen zivilisierten Menscheit ein für allemal der Strom abgestellt wird.
Die Funktionen des individuellen wie kollektiven Gedächtnisses sind nicht unmittelbar anschaulich; wir müssen Metaphern zu Hilfe nehmen, um sie beschreiben. Diese Gedächtnismetaphern wechseln im Laufe der Geschichte, wobei medientechnische Innovationen eine maßgebliche Rolle spielen. So hat die Erfindung des Computers dazu geführt, daß sowohl in den Kognitions- als auch in den Kulturwissenschaften das Modell von "Speicherung und Wiedereinschaltung" (storage and retrieval) die Vorstellungen über das menschliche Erinnern dominierte. Doch schon seit längerem können wir beobachten, daß dieses Leitbild durch ein anderes abgelöst wird: Die invarianten Begriffe der Einlagerung und Wiederentnahme weichen den dynamischen ludisch-theatraler Performativität. ...
Giulio Camillo (1480 - 1544) was as well-known in his era as Bill Gates is now. Just like Gates he cherished a vision of a universal Storage and Retrieval System, and just like Microsoft Windows, his ‘Theatre of the Memory’ was, despite constant revision, never completed. Camillo’s legendary Theatre of Memory remained only a fragment, its benefits only an option for the future. When it was finished, the user - so he predicted - would have access to the knowledge of the whole universe. On account of his promising invention, Camillo’s contemporaries called him ‘the divine’. For others, like Erasmus or the Parisian scholars, he was just a ‘quack’, but also this only shows that his reception was as strong as is the case with the computer gurus of our days. Still, Camillo was forgotten immediately after his death. No trace is left of his spectacular databank - except a short treatise which he dictated on his deathbed and which was formulated in the future tense: ‘L’Idea del Theatro’ (1550). ...
"Wissen als Schauspiel" – nach den Möglichkeiten theatraler Formen von Wissensrepräsentation fragt Peter Matussek. Er beobachtet eine Wende vom "pictorial turn" zum "performative turn" und gibt uns einen historischen Abriss der wiederauflebenden Gedächtnistheater. Kann die theatrale Form der Wissensrepräsentation die Aufmerksamkeitsstörungen der Informationsgesellschaft kurieren, oder ist sie selbst das Symptom, das sie zu kurieren vorgibt? Matussek betont, welchen bisher weitgehend übersehenen Einfluss "The Art of Memory" von Frances Yates auf Wissensingenieure, Interface-Designer und Computerkünstler ausgeübt hat. Dabei gehe es nicht nur um die Anordnung, sondern auch um die Erfindung von Wissen und neuen Werkzeugen zur Systematisierung, Kontextualisierung, Visualisierung und Inszenierung von Information.
Germanistik als Medienkulturwissenschaft : neue Perspektiven einer gar nicht so neuen Programmatik
(2004)
Der Aufschwung der Kulturwissenschaft als akademisches Fach und Forschungsprogramm, den wir seit rund fünfzehn Jahren erleben, ist für die Germanistik eine Herausforderung neuer Art. Während frühere Legitimationskrisen für die Disziplin geradezu konstitutiv waren, da sie mit einer auf die gesellschaftlichen und medialen Veränderungen angepaßten Erweiterung ihres Themen- und Methodenspektrums beantwortet werden konnten, läßt sich unter dem Konkurrenzdruck kulturwissenschaftlicher Fächer vielfach eine Umkehrung dieser Tendenz beobachten. Manche Fachvertreter befürchten eine Selbstauflösung der Germanistik, wenn sie sich ihrerseits zur Kulturwissenschaft erweitert, und fordern deshalb einen profilbildenden Rückzug auf die klassischen Kernkompetenzen der deutschsprachigen Textphilologie. Die Auslandsgermanistik ist von diesem Dilemma besonders betroffen, da angesichts ihrer begrenzten Kapazitäten Akzentverlagerungen zur einen Seite als Positionsschwächungen auf der anderen spürbar werden: Eine kulturwissenschaftliche Öffnung des Fachs könnte zu Lasten seiner sprach- und textphilologischen Anteile gehen, durch eine Konzentration auf diese könnte sie den Anschluß an die aktuellen Entwicklungen verlieren.
Es wäre jedoch unangemessen, die Kulturwissenschaft allein als konkurrentische Herausforderung der Germanistik zu sehen. Germanistik ist seit je – auch und gerade in ihren philologischen Ursprüngen – kulturwissenschaftlich orientiert gewesen. Eine kulturwissenschaftliche Öffnung der Germanistik muß nicht in Opposition zur Besinnung auf ihre philologischen Kernkompetenzen stehen, sondern kann durchaus als vitalisierender Rückgriff auf ihr eigenes, weitgehend noch unausgeschöpftes Potential angesehen werden. So sind auch die modernen Arbeitsfelder der Kulturwissenschaft – von der Historischen Anthropologie bis zur Medientheorie – für die Germanistik keine fachfremden Importe, sondern mit ihren eigenen Traditionen, Methoden und Instrumentarien eng verknüpft. Gerade die Auslandsgermanistik, die eo ipso interkulturell ausgerichtet und in besonderer Weise mit Fragen der medialen Vermittlung konfrontiert ist, hat diesbezüglich ein traditionsbedingt hohes Entwicklungspotential.
Unter den Werken Goethes sind insbesondere die "Wanderjahre" und der "Faust II" immer wieder als Ratgeber für das rechte Fortschrittsbewußtsein herangezogen worden. So etwa vom ersten deutschen Reichspräsidenten in seinem Plädoyer für einen demokratischen Neubeginn: Nach dem Ersten Weltkrieg beschwor Friedrich Ebert den "Geist von Weimar", der "die großen Gesellschaftsprobleme" so behandeln müsse, wie "Goethe sie im zweiten Teil des Faust und in Wilhelm Meisters Wanderjahren erfaßt" habe; d.h. nach der Devise: "mit klarem Blick und fester Hand ins praktische Leben hineingreifen!" ...
Die Zahl der computerisierten Schriftsteller wächst rapide. Von den Vorzügen des Mac wissen besonders die zu berichten, die zuvor Erfahrungen an anderen Systemen gesammelt haben. Wie zum Beispiel Fernsehautor Wolfgang Menge. Wir besuchten den Konvertiten in dessen Sylter Sommerdomizil und fragten ihn nach seinem Verhältnis zu den neuen Techniken des Schreibens. Das Gespräch führte Peter Matussek, die Fotos machte Frank Stöckel.