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Edgar Winds Vortrag vom 11. Juli 1931 : 'Abschiedsvorstellung' der Bibliothek Warburg in Hamburg
(2023)
Die Debatte über die Bedeutung des Humanismus und des 'Nachlebens der Antike' für die europäische Tradition sollte aufgrund ihrer geradezu brisanten Aktualität im Jahr 1934 im Zentrum einer programmatischen Schrift stehen, die in einer deutschen und einer englischen Version publiziert wurde: Edgar Winds Einleitung zur "Kulturwissenschaftlichen Bibliographie zum Nachleben der Antike". [...] Über einen erstarrten Begriff des "Humanismus" und über eine rein normative Auffassung der Antike hinaus plädiert Wind in der Einleitung zur "Bibliographie zum Nachleben der Antike" für eine unumgängliche Auseinandersetzung mit dieser, da wir der Antike "geschichtlich verhaftet" sind. Auch wenn die unter Zeitdruck fertiggestellte englische Version seiner programmatischen Einleitung stark verkürzt und politisch abgeschwächt wurde, lässt sich auch dort dieses dem Forschungsprogramm der Bibliothek Warburg zugrunde liegende Engagement spüren: "To study the survival of the classics is not only to view the European tradition, but also to participate, however modestly, in the shaping of it." In meinem Beitrag möchte ich aufzeigen, dass Wind seine Überlegungen zu diesem Thema anhand eines Fallbeispiels aus dem 18. Jahrhundert und in Anlehnung an Warburgs Methode und Sprachgebrauch vor der Emigration eigenständig - und teilweise in bewusster Abgrenzung zu anderen Mitgliedern des Warburg-Kreises - entwickelt hatte.
Von antiklassisch zu antimanieristisch : Walter Friedländers Neubewertung von Epochenbegriffen
(2023)
Ab 1921 bekleidete Friedländer eine außerordentliche Professur in Freiburg und arbeitete in dieser Zeit seine Vorstellungen über die Modifikation und Reinterpretation kanonisch gewordener Epochenbegriffe aus. In seiner Antrittsvorlesung widmete er sich als einer der Ersten der manieristischen Periode der italienischen Malerei. Sein Aufsatz "Die Entstehung des antiklassischen Stiles in der italienischen Malerei um 1520", der aus seinem Habilitationsvortrag hervorgegangen war, aber erst 1925 erschien, darf als Gründungsdokument einer Rehabilitierung des Manierismus gelten. Für Friedländers späteren Vortrag "Der antimanieristische Stil um 1590 und sein Verhältnis zum Übersinnlichen" in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg im Curriculum 1928 /29 ist dieser Aufsatz von großer Bedeutung, und deshalb muss auf seinen Versuch der Neubewertung dieser künstlerischen Strömung kurz eingegangen werden. 'Manierismus' wurde als Epochenbegriff im 19. Jahrhundert von Jacob Burckhardt eingeführt und sowohl von ihm wie auch von seinen Nachfolgern weitestgehend pejorativ verwendet. [...] Bis heute ist der 'Manierismus' als Stil- und Epochenbegriff ein polarisierendes Streitthema in der Kunstgeschichte geblieben: Der Auffassung, der Manierismus sei eine konsequente Weiterentwicklung oder Übersteigerung der Renaissance, die schließlich im Barock resultiere, steht eine andere Position gegenüber, zu deren Lesart auch Friedländers gehört. Sie erkennt den Manierismus als eine eigene Stilepoche an, die durch einen starken Bruch mit der Renaissance im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts eingeläutet worden sei. [...] Um den negativ konnotierten Terminus des Manierismus mitsamt seiner ablehnenden Valenz zu umgehen und andererseits einen "neuen Stilwillen" zu betonen, wählt Friedländer den Begriff "antiklassisch". [...] Vier Jahre nach Erscheinen seines Aufsatzes zum Manierismus widmete sich Friedländer aus Anlass seines Vortrags an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg der Ablösung des antiklassischen Stils. Für die erneute Gegenbewegung der Kunst um 1590, die andere vor ihm unter den Epochenbegriff des Barock subsumiert hatten, schlägt er die Bezeichnung des antimanieristischen Stils vor. [...] Friedländer war weniger daran interessiert, sich als Begriffspräger in die Kunstgeschichte einzuschreiben, als vielmehr daran, homogenisierende Epochenbegriffe kritisch ins Visier zu nehmen. Eine Zusammenfassung unter einen "Generalnenner, etwa wie Barockzeitalter" lehnte er ebenso ab wie andere "ziemlich willkürlich gesetzte und definierte Termini" wie Gotik, Renaissance, Klassizismus etc. Friedländer plädierte auch in weiteren Abhandlungen für mehr Differenzierung und für eine Betrachtungsweise, die nicht in einem monolithischen Stildenken aufgeht, sondern eine Überlagerung der Generationen und ein Nebeneinander disparater Haltungen und Schulen berücksichtigt. Er hat dabei immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die etablierten Epochenbezeichnungen der Kunstgeschichte oft einem Begriffsarsenal der Herabwürdigung früherer Epochen entsprang. [...] Was konnte Friedländer mit seinem Vortrag "Der antimanieristische Stil um 1590 und sein Verhältnis zum Übersinnlichen" zum Erreichen der Ziele der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg beitragen? Welche methodischen Überschneidungen konnten sich möglicherweise ergeben, auch wenn theoretische und methodische Grundsatzdebatten so wenig die Sache von Friedländer wie von Warburg waren?
Franz Dornseiff ist heute kaum bekannt. Wenn überhaupt, dann kennen Nichtgräzisten sein Buch "Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen", das bedeutendste, von Thomas Mann, Peter Hacks u. a. hochgelobte und viel genutzte onomasiologische Wörterbuch der deutschen Sprache, das gegenwärtig in 8., erweiterter Auflage und auch digital vorliegt. Wenig deutet in seinem gedruckten Werk darauf hin, dass Dornseiff mit Aby Warburg und der KBW zu tun hatte. Warburg-Zitate sucht man vergeblich, und auch der Vortrag von 1924 über "Das Beispiel" erscheint zunächst merkwürdig erratisch. Immerhin wurde in dem Sammelband "Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen" Dornseiffs Vortrag 2007 erneut, aber kommentarlos abgedruckt. In der ausführlichen biographischen Darstellung durch seinen Leipziger Schüler Jürgen Werner fehlt ein Warburg-Bezug Dornseiffs, bis auf einen Hinweis auf die Vorträge der KBW, völlig. Dieser Ausgangsbefund hat sich im Laufe meiner Recherchen und Lektüren geradezu ins Gegenteil verkehrt: Dornseiffs Werk, so würde ich jetzt sagen, ist eng am Forschungsprofil von Warburg und der KBW angelehnt, viele seiner Themen lassen sich auf diesen Diskussionskontext beziehen. Im Nachlass von Dornseiff finden sich nicht nur sieben ungedruckte, zum Teil ausführliche Briefe sowie acht Postkarten Warburgs an Dornseiff, sondern auch die Briefwechsel mit Fritz Saxl und Gertrud Bing, den beiden wohl wichtigsten Organisatoren der KBW.
Alfred Dorens Vortrag in der Bibliothek Warburg, gehalten in der Reihe von 1924 /25 und publiziert 1927, stand unter der von vornherein zwei Typen utopischen Denkens differenzierenden Überschrift "Wunschräume und Wunschzeiten". Doren durchmisst hier, beginnend in der Antike, das weite Feld vom Gegebenen abweichender Erlösungs- bzw. Veränderungshoffnungen. Die Renaissance ist die Epoche eines Übergangs zu stärker säkular verfassten Utopien, und dieser wird für Doren insbesondere durch den Utopia-Dialog von Thomas Morus markiert, der ihm eine beispielhaft maßvolle Position gegenüber den fortdauernden Herausforderungen irrationaler, chiliastischer oder apokalyptischer Visionen markiert. Fluchtpunkt des Gedankenganges ist die Gegenwart der frühen Weimarer Republik, selbst eine Zeit der Übergänge und so vielfältiger wie widersprüchlicher Projektionen neuer Weltentwürfe.
Am 8. März 1924 trägt Ernst Hoffmann (1880-1952), Altphilologe und Philosophiehistoriker aus Heidelberg, in der Bibliothek Warburg zum Thema "Platonismus und Mittelalter" vor. Somit tritt Hoffmann, der über Aristoteles' Physik bei Hermann Diels promovierte und mehrere Arbeiten zu Plato vorgelegt hat, in die Reihe der Philologen ein, die - nach den Kunsthistorikern, aber vor den Religionswissenschaftlern - zu den wichtigsten Gruppen der Vortragenden in der KBW gehören.
Als "Mittelpunkt und Leitstern" der von ihm gegründeten Kulturwissenschaftlichen Bibliothek hat Aby Warburg die "Frage nach dem Einfluss der Antike auf die späteren Kulturepochen" bezeichnet. Es mag daher nicht verwundern, dass unter den Wissenschaftlern, die in den Jahren von 1921 bis 1931 für einen Vortrag nach Hamburg eingeladen worden sind, auch zahlreiche Klassische Philologen waren. Der auch heute noch bedeutendste und bekannteste Philologe, der eine Einladung nach Hamburg angenommen hat, ist Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Am 26. April 1924 hat Wilamowitz in der Bibliothek Warburg einen Vortrag mit dem schlichten Titel "Zeus" gehalten. [...] Wilamowitz' Beziehung zur Bibliothek Warburg ist in der Wilamowitz-Forschung bislang kaum beachtet worden. Dabei ist Wilamowitz' Vortrag schon deshalb von besonderem Interesse, weil er eine Vorstudie zu seinem letzten großen, unvollendet gebliebenen Werk "Der Glaube der Hellenen" bildet. [...] In Anbetracht des von Wilamowitz gewählten Themas erscheint es besonders reizvoll, der Frage nachzugehen, ob, und wenn ja, wie sein Vortrag Bezug nimmt auf die kulturwissenschaftliche Methode und die Forschungsfragen der Bibliothek Warburg. Im Folgenden werde ich zunächst auf Wilamowitz' akademische Karriere, sein Verständnis der Klassischen Philologie und seine Ansichten zur griechischen Religion eingehen; anschließend werde ich den Vortrag im Hinblick auf die Beziehung zur KBW und zu Warburgs eigener Forschung diskutieren. Für Davide Stimilli ist Wilamowitz' Vortrag ein "verpasster Austausch". Es zeigt sich aber, dass dies nur äußerlich zutrifft; inhaltlich und methodisch erweist er sich als kritisch-konstruktiver Beitrag zum kulturwissenschaftlichen Programm der Bibliothek.
Robert Eisler (1882-1949) hatte sich bereits des Öfteren und vorwiegend in englischer Sprache zu Orpheus zu Wort gemeldet. Seit dem Dritten Internationalen Kongress für Religionsgeschichte in Oxford 1908 trat er regelmäßig in England auf. Schließlich war es Eislers Buch "Orpheus - The Fisher" (1921), das den Anlass für eine Einladung an die KBW gab. Fritz Saxl (1890-1948) war durch das Buch auf ihn aufmerksam geworden, weil auch er in seinen Arbeiten Kunst- und Religionsgeschichte zusammenbringen wollte. [...] Eisler lebte in Metropolen wie Wien und Paris, aber auch lange Zeit in der Provinz - etwa in Feldafing am Starnberger See in Bayern oder in Unterach am Attersee in Oberösterreich. Er provozierte heftige Debatten, weil er die Dinge unorthodox anfasste, und das nicht nur beim akademischen Establishment, dem er nie angehörte, sondern auch allgemein seinem Lesepublikum gegenüber, dessen Selbstgewissheiten er gerne irritierte.
Historiker an der KBW : Hans Liebeschütz, Percy Ernst Schramm, Richard Salomon und Karl Brandi
(2023)
Für die Geschichtswissenschaft, so sind die Historiker-Vorträge an der KBW aus heutiger disziplinärer Sicht zu bilanzieren, spielte Warburgs Verständnis von Kulturwissenschaft weder im Zuge der Warburg-Renaissance seit den 1970er Jahren oder des 'iconic' turn der 1990er Jahre eine so große Rolle, dass es das Fach maßgeblich beeinflusst hätte. Es waren die Forschungsergebnisse der eng mit der KBW verbundenen Wissenschaftler Schramm, Liebeschütz oder Salomon, die für die Mittelalter- und Renaissanceforschung relevant blieben, sie veränderten aber nicht das Selbstverständnis der Disziplin. Mit der weit stärkeren Warburg-Rezeption in den Kunst- und Literaturwissenschaften lässt sich das Echo unter Historikerinnen und Historikern nicht vergleichen.
Richard Reitzenstein ist neben dem Philosophen Ernst Cassirer der Forscher, der den größten Einzelanteil an den Publikationen der Bibliothek Warburg hat. Wie erklärt sich diese mehrjährige enge Zusammenarbeit? Welche Berührungspunkte gibt es zwischen Reitzensteins Vorträgen, dem Forschungsziel der KBW und den kunsthistorischen Studien von Aby Warburg und Fritz Saxl? Wie verhält sich insbesondere Reitzensteins Fokussierung auf die altiranische Religion als religionsgeschichtliche Einflusssphäre zu dem ausdrücklich auf die Antike bezogenen rezeptionsgeschichtlichen Forschungsinteresse der KBW? Wie haben die Beteiligten selbst ihre Zusammenarbeit gesehen? Um die Beziehung von Reitzenstein und der Bibliothek Warburg wissenschaftsgeschichtlich näher zu bestimmen, werfe ich zunächst einen Blick auf Reitzensteins wissenschaftliche Karriere, die sich bereits zum Zeitpunkt seines ersten Vortrags über fast 40 Jahre erstreckte. Anschließend wende ich mich den fünf Vorträgen zu und arbeite verschiedene Punkte heraus, die sich auf das Projekt der Bibliothek Warburg beziehen. Außerdem berücksichtige ich die Korrespondenz zwischen Reitzenstein und der KBW anhand der im Warburg Institute Archive in London aufbewahrten Briefe und Postkarten. Zum Abschluss sollen die einzelnen Aspekte dann zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden.
Gertrud Bing : Zentralfigur in Aufbau und Netzwerk der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg
(2023)
Warburg, Saxl, Bing - das ist die Trias der KBW und die Urzelle der 'living Warburg tradition'. Wie sehr das Unternehmen ein kollektives war und in anderer Form weder hätte entstehen noch funktionieren können, wird immer noch weitgehend übersehen. Als einer der Ersten erkannte Arnaldo Momigliano diesen Zusammenhang, wie seinem Nachruf auf Bing von 1964 zu entnehmen ist. Die KBW war zu einem Netzwerk der Produktion und Speicherung von Wissen geworden, das Warburgs letztes Vorhaben, der "Bilderatlas Mnemosyne", manifestierte. Er ist zwar ein Fragment geblieben, stellt aber eine neue Methode bildwissenschaftlicher Forschung dar. Ohne Saxl und Bing, die angestellten Mitarbeiter*innen, wäre daraus - wie auch aus vielen anderen Unternehmungen Warburgs - nichts geworden. In dieser Trias ist Bing die bisher von allen am wenigsten Bekannte und am stärksten Unterschätzte.
Das Problem der Bibliothek Warburg ist die Frage nach Ausbreitung und Wesen des Einflusses der Antike auf die nachantiken Kulturen. Ich möchte vom Persönlichen ausgehen und zu zeigen versuchen, wie Warburg zur Stellung seines Problems kam, welche Wege er zu dessen Bearbeitung und Lösung selbst einschlägt und anderen gezeigt hat.
Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg (KBW) wird seit vielen Jahren intensiv erforscht, das Werk Aby Warburgs in einer Studienausgabe herausgegeben. Das Interesse an seiner Bedeutung für die Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts reißt nicht ab. Umso erstaunlicher ist es, dass bislang Studien zu den an der KBW gehaltenen Vorträgen fehlten. Die von Fritz Saxl 1921 initiierten Abendvorträge spiegeln das intellektuelle Netzwerk der KBW und ihren wissenschaftlichen Anspruch wider und wurden bis 1931 in einer eigenen Reihe publiziert. Eingeladen waren wichtige Vertreter ihrer Fächer, die dennoch heute außerhalb ihrer jeweiligen Disziplinen oft in Vergessenheit geraten sind. In diesem Band werden die Vortragenden daher vorgestellt, bevor die Aufsätze sich auf das an der KBW referierte Thema konzentrieren. Gemeinsamer Bezugspunkt ist der erste in der Reihe der Vorträge, mit dem Saxl der Zuhörerschaft Warburgs Forschungsanliegen und -ansätze vorgestellt hatte. Wie nah ist der jeweilige Vortrag diesem Programm, wo setzt er sich davon ab, und welche der gedruckten Vorträge können als eine Erweiterung und Fortführung des Warburg'schen Ansatzes angesehen werden?
Was einen "Edlen Verbrecher" ausmache, aus welchen habituellen oder biografischen Attributen er sich charakteristischerweise zusammensetze und welche Funktionen ihm als Sozialtyp, Männlichkeitskonzept und Heros der Literatur und des Dramas, des Marionettentheaters und des Volkslieds zukommen können, fesselte die Kulturgeschichtsschreibung bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. [...] An Typologien des Edlen Verbrechers als eines politik-, sozial- und psychohistorisch ausdeutbaren Fluchtpunkts kollektiver Phantasien mangelt es nicht. Sieht man genauer hin: nicht auf den ewiggleichen Typ, sondern auf dessen Modifizierung, Perspektivierung und Modellierung, kurzum: auf dessen Diskursivierung, bietet der edle Delinquent nichts weniger als eine einheitliche Moral oder Psychologie, sei sie nun idealisierend, kriminalisierend oder, wie im populären Marionettentheater üblich, komisierend. So spricht vieles dafür, dass die literarischen Gattungen und nicht-literarischen Textsorten - also all die Protokolle und "Aktenmäßigen Geschichten", Anekdoten und Lieder, Novellen und Romane, Laientheater- und Marionettentheaterstücke - die Typenbildung ganz unterschiedlich prägten beziehungsweise voneinander abweichende Typen mit differenten Biographien hervorbrachten. Womöglich bewohnt der historisch-anekdotische, der epische, lyrische und theatrale Schinderhannes im 19. Jahrhundert gar nicht jenes eine Haus des Edlen Verbrechers, das ihm die Geistes- und Kulturwissenschaften gebaut und zugewiesen haben? Und womöglich ist er weder als Figur noch überhaupt als Typus, sondern bloß als Name anzusehen, dem wechselnde Diskurse kriminalistischer, pädagogischer, moralischer, künstlerischer Ausrichtung wechselnde Bedeutungen, Funktionen und Plätze im kollektiven Gedächtnis wechselnder Gruppen gaben? [...] In der Folge soll die im 19. Jahrhundert von Anekdotik, Lied und (Marionetten-)Theater konstruierte fiktive Kollektivbiographie des Schinderhannes Johannes Bückler textsortenspezifisch re-vidiert und in eine Soziobiographie aus Dichtung und Wahrheit übergeführt werden.
Videokonferenzen – Wie kann digitale Barrierefreiheit bestmöglich umgesetzt und erforscht werden?
(2023)
Videokonferenzsysteme haben sich in den letzten Jahren als Tools für die unterschiedlichsten Veranstaltungsformate etabliert. Leider ist keines dieser Tools so barrierefrei, dass inklusive Veranstaltungen mit Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen und Behinderungen möglich sind. Dies gilt auch für Open-Source-Systeme (z.B. BigBlueButton, Jitsi), die aufgrund von Sicherheits- und Datenschutzanforderungen gerade an (Hoch-)Schulen bevorzugt eingesetzt werden.
Warum sind gerade Open-Source-Videokonferenzsysteme nicht barrierefrei? Ließe sich das ändern und wenn ja: wie? Bisher gibt es keine Standards für die Barrierefreiheit von Videokonferenzsystemen. Gleichzeitig sind diese Systeme sehr komplex und die Anforderungen an sie sehr vielfältig. Änderungen können nur im Rahmen von Entwicklungsprozessen in den entsprechenden Open-Source-Communitys erfolgen. Ihre Rahmenbedingungen müssen berücksichtigt werden. Allerdings sind in vielen Open-Source-Communitys Usability- und Accessibility-Anforderungen eher unbekannt, auch weil in den Communitys kaum Menschen mit Einschränkungen mitwirken. Basierend auf eigenen Erfahrungen der Autor*innen systematisiert dieser Beitrag daher Anforderungen an die Barrierefreiheit von Videokonferenzen und entsprechenden Systemen in drei Dimensionen. Daraus ergeben sich zunächst Forschungsfragen hinsichtlich der Verbesserung der Systeme, der Kommunikation und der Open-Source-Entwicklungsprozesse. Als nachhaltiger, integrierter Ansatz ist ein Accessibility-by-Design-Vorgehensmodell denkbar, das noch der Forschung und Entwicklung bedarf.
Serious Games schaffen positive spielerische Erfahrungen, wodurch sie Lernvorgänge unterstützen und so ein großes Potenzial für die zielführende Weiterentwicklung der Lehre bergen. Aufgrund von Barrieren, wie beispielsweise unzureichenden Farbkontrasten, hat jedoch nicht jede*r Lernende Zugang zu den Spielinhalten. Folglich können die spielerischen Lernaktivitäten nicht absolviert werden und der Mehrwert des spielerischen Lernens bleibt verwehrt. Um einen inklusiven Hochschulalltag zu erreichen, müssen Lernmaterialien jeder Form, spielerisch oder nicht, für alle gleichermaßen zugänglich sein. Zum Erreichen dieses Ziels stellt dieser Beitrag anleitende Maßnahmen und einen Workflow der Game Accessibility Guidelines (G A G) vor, welche die Anforderungen und Schritte des Entwicklungsprozesses eines barrierearmen Spiels definieren. Weiterführend wird der vorgestellte Prozess anhand eines an der Goethe-Universität entwickelten ernsthaften Lernspiels, „Lolas erstes Semester“, angewandt. Es wird dargelegt, dass die barrierearme Aufbereitung eines Spiels nicht nur Spielenden mit einer kognitiven oder physischen Beeinträchtigung zugutekommt, sondern vielmehr allen Spielenden.
Der Nutzung von Videos im Hochschulkontext werden verschiedene Potenziale zugesprochen (Dinmore, 2019). Damit aber alle Lernenden Videos nutzen und von diesen profitieren können, müssen diese barrierefrei umgesetzt werden. Ausgehend von dem Projekt „Degree 4.0“ an der Technischen Universität Dortmund, wird in diesem Beitrag die Umsetzung der Barrierefreiheit von (didaktischen) Videos – mit besonderem Schwerpunkt auf Audiodeskription – und weitergehende Herausforderungen für die Arbeit mit (barrierefreien) Videos thematisiert. Besonders bei der Gestaltung von Audiodeskription müssen fachdidaktische Spezifika der Videos im Umsetzungsprozess berücksichtigt werden. Für die barrierefreie Gestaltung der Videos aus verschiedenen, im Projekt beteiligten Fachdidaktiken wurde ein Workflow entwickelt, der in diesem Beitrag vorgestellt wird.
Barrierefreie Lehrmedien sollen allen Studierenden ein selbstbestimmtes Studieren ermöglichen, das sie an selbstverantworteten Bildungsprozessen teilhaben lässt. Die zur Gewährleistung der Barrierefreiheit benötigten Zusatzinformationen erfordern jedoch genuine Übersetzungsprozesse, die fachlich nicht vollkommen neutral sein können. An dieser Stelle fließen nicht von den Lernenden kontrollierte, fremde Vorentscheidungen und didaktische Überlegungen mit ein. Der Beitrag erörtert diesbezüglich die Vereinbarkeit von intellektueller Eigenständigkeit und Barrierefreiheit im Rahmen einer (bild-)theoretisch und philosophisch orientierten Grundlagenreflexion. Dabei spielt die Problematik von Bildbeschreibungen eine zentrale Rolle, die an einem geschichtswissenschaftlichen Beispiel erläutert wird. Der Beitrag skizziert mögliche Lösungsansätze und benennt Implikationen für Medienumsetzungsservices und die Inklusionsbemühungen an Hochschulen.
Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Wahrnehmbarkeit von Webanwendungen bei Farbenblindheit und der Erstellung eines barrierearmen Anforderungskatalogs für Prototypen, der einen Modus für Farbenblindheit/ Sehschwäche bieten soll. Zur Analyse wurden Kriterienkataloge wie die W C A G 2.1 herangezogen und mithilfe eines Tools Bedienelemente der Oberflächen bestehender Webapplikationen analysiert. Auf Basis der Ergebnisse und den Anforderungen der W C A G 2.1 konnte schließlich ein Anforderungskatalog erarbeitet werden, auf dessen Basis ein Prototyp implementiert wurde. Anschließend konnte durch einen durchgeführten User*innen-Test eine Qualitätssicherung durchgeführt werden. Mithilfe der Arbeit konnte festgestellt werden, welche Gesichtspunkte von besonderer Relevanz sind und inwiefern Entwickler*innen dies bei der Konzeption und Weiterentwicklung ihrer Software berücksichtigen sollten. Dafür können dem Paper Informationen zu Farbenblindheit bzw. Sehschwächen und ein Leitfaden entnommen werden, der interessierten Entwickelnden Best Practices zur Verfügung stellt, um die Webanwendung hinsichtlich ihrer Barrierefreiheit zu optimieren und sich an diesem zu orientieren. Teil des Leitfadens ist eine Checkliste, die auf Basis der W C A G und den Erkenntnissen aus Analysen verschiedener Webplattformen erstellt worden ist. Es werden ebenfalls externe Hilfswerkzeuge wie Leonardo und der Color Contrast Analyser vorgestellt. Abschließend werden ein paar Vorher-nachher-Beispiele gezeigt.
Die Hochschulen sind rechtlich dazu verpflichtet, Studierende mit Behinderung nicht zu benachteiligen, wobei insbesondere Prüfungen für Studierenden eine hohe Relevanz haben. Vor allem bei digitalen Prüfungen ist es sinnvoll, diese proaktiv von vornherein barrierefrei zu gestalten und nicht nur im Nachhinein – im Rahmen des Nachteilsausgleichs – individuell anzupassen. Bei digitalen Prüfungen steigt die Bedeutung einer barrierefreien technischen und formalen Gestaltung. Zudem ist dies auch für Präsenzprüfungen relevant, da hier die Möglichkeit besteht, papierbasierte Prüfungen in digitaler Form barrierefrei anzubieten. Zusätzlich können didaktische und organisatorische Aspekte die Barrierefreiheit erhöhen.
Wissenschaftliche Poster (und die Posterpräsentation) sind wesentlicher Bestandteil zahlreicher (Online-)Tagungen und Kongresse. Schließlich bieten wissenschaftliche Poster die Möglichkeit, Sachverhalte oder Ergebnisse aktueller Forschung auf einfache und prägnante Weise an Interessierte weiterzugeben. Allerdings sind wissenschaftliche Poster mit erläuternden Abbildungen und Visualisierungen ausgestattet. Schließlich sollen Interessierte über die wesentlichen Informationen zum Forschungsvorhaben (Ausgangspunkt, Methode, Ergebnisse und Ausblick) „im Vorbeilaufen“ in Kenntnis gesetzt werden. Insbesondere für Personen mit Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit kann dies zu Problemen führen. Aber auch interessierte Personen, die eine Auseinandersetzung mittels des auditiven Kanals bevorzugen, sind benachteiligt. Daher gilt es, Alternativen bereitzustellen. Im Beitrag soll an einem Beispiel vorgestellt werden, wie mithilfe von Q R-Codes, Alternativtexten und Beschreibungen, eine barrierefrei(r)e Fassung des Posters zur Verfügung gestellt werden kann, um möglichst alle Nutzer*innen einzubeziehen.
Flächendeckende Realisierbarkeit von barrierefreien Videos mithilfe automatisierter Untertitel
(2023)
Untertitel manuell zu erstellen, erfordert zum jetzigen Zeitpunkt viel Zeit und personelle Ressourcen. Für Einzelne ist es mühsam ein geeignetes Tool zu finden und einen guten Workflow zu erarbeiten, geschweige denn die schnell steigende Anzahl an Videos zu bearbeiten. Bedingt durch die Corona-Pandemie und das damit einhergehende Arbeiten im digitalen Lehrbetrieb ist die Anzahl der Videos noch einmal immens gestiegen. Zu untertiteln sind nicht nur aufgenommene Vorlesungen, sondern beispielsweise auch Informationsvideos auf einer Homepage, Erklärfilme, aber auch digitale Live-Veranstaltungen. Dies sprengt die begrenzten Ressourcen, die den Hochschulen zur Verfügung stehen. Im Beitrag wird untersucht, inwieweit automatische Untertitel die Lösung dieses Problems sein können. Dafür werden vier Tools auf ihre funktionellen Unterschiede und die Qualität ihrer Ergebnisse untersucht. Anschließend wird erarbeitet, welche dieser Kriterien für Hochschulen relevant sind, um eine flächendeckende Untertitelung in allen Videos gewährleisten zu können. Die Erkenntnisse basieren auf den praktischen Erfahrungen von studiumdigitale, der zentralen eLearning-Einrichtung der Goethe-Universität Frankfurt am Main, mit dem Einsatz verschiedener Tools in Projekten sowie aus dem Erfahrungsaustausch mit anderen Hochschulmitarbeiter*innen im Rahmen des Verbundprojekts HessenHub. Das Ziel dabei ist, einen schlanken Workflow im Sinne einer Lean Media Production, d.h. eine innovative Herangehensweise, die möglichst ressourcenschonend und perspektivisch nachhaltig ist, zu erarbeiten.
Personen mit Hörbeeinträchtigung haben bei Online-Meetings oft Schwierigkeiten, wenn durch eine schlechte Videoübertragung oder bei Präsentationen mit verkleinertem oder gar keinem Sprecher*innenvideo das Lippenlesen erschwert oder unmöglich ist. Eine Live-Transkription des gesprochenen Vortrags kann hilfreich sein. Eine solche ist in Zoom und Teams zwar integriert, jedoch mit verschiedenen Einschränkungen. Um ein deutsches Transkript zu erhalten, wurde daher in Zusammenarbeit dreier Stellen (SWITCH, aiconix, Unibe) eine Lösung entwickelt, die den Ton eines Zoom-Meetings via Stream auf eine Website umleitet, auf der der Input transkribiert und das Ergebnis dann via A P I wieder in das Zoom-Meeting eingespeist wird. Seit November 2021 ist diese Lösung an der Universität Bern im Einsatz. Dabei sind verschiedene Schwierigkeiten zu bewältigen, wie etwa der Umgang mit konkurrierenden Zielen, Qualität und Geschwindigkeit des Transkripts sowie die Berücksichtigung passender Lexika, um eine gute Transkription auch wenig frequenter Fachbegriffe zu ermöglichen sowie die Erkennung schweizerdeutsch gesprochener Texte. Im Beitrag wird aus Anwender*innen- und Entwickler*innensicht die technische Lösung vorgestellt, technische und systematische Herausforderungen werden beleuchtet, Erfahrungen mit der Anwendung beschrieben und ein Ausblick gegeben, wie die Möglichkeit der Speech-to-Text-Konvertierung in verschiedenen Szenarien noch eingesetzt werden kann (Live-Transkription vs. nachträgliche Transkription, Verbesserung der Transkription durch Erweiterung der Lexika, Integration weiterer Sprachen).
(Wie) Komme ich da rein? – der digitale Lageplan zur Barrierefreiheit der Universität Göttingen
(2023)
Lagepläne enthalten in der Regel raumbezogene Informationen, die für viele, aber nicht für alle Menschen nutzbar sind. Der barrierefreie Lageplan stellt zusätzliche Informationen zur Verfügung. Denn die chancengleiche Teilhabe an Studium und Lehre setzt für viele die barrierefreie Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der Universität und ihrer Räumlichkeiten voraus. Angestoßen durch den jährlich stattfindenden Ideenwettbewerb für Studierende wurde 2012 unter dem Thema „Diversität? – Vielfalt fördern!“ der Vorschlag „Broschüre zu Barrieren und Barrierefreiheit auf dem Campus“ prämiert. In Kooperation der Beauftragten für Studierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen mit dem Geographischen Institut konnte das Studienprojekt „Gebäude- und Raumauskunftssystem für die Georg-August-Universität Göttingen“ (GRAS_Geo) um Daten zur Barrierefreiheit der universitären Gebäude und Räume erweitert werden. Seit 2015 werden diese in einem interaktiven Online-Lageplan dargestellt und stetig um weitere Points of Interest ergänzt. Mittlerweile finden sich auf der digitalen Karte auch Standorte von Bushaltestellen und eine Vielzahl an Angeboten aus den Bereichen: Gleichstellung, Diversität und Familie sowie Studium, Campussicherheit, Kultur, Freizeit und Gastronomie. Für die Realisierung des Projekts wurden weitreichende Kartierungsmaßnahmen durchgeführt, um Datenlücken hinsichtlich der Kriterien zur Barrierefreiheit zu schließen und mit bereits verfügbaren Informationen aus den Gebäudedaten der Universitätsverwaltung zusammenzuführen. So bietet die Anwendung neben den reinen Daten zur Barrierefreiheit der Gebäude in Schriftform auch Fotos zur Orientierung und integriert Veranstaltungen aus dem Vorlesungsverzeichnis und Abfahrtszeiten von Bussen direkt in den Lageplan. Studierenden, Universitätsangehörigen und Gästen wird so die Orientierung auf dem Campus erleichtert.
Die Teilnahme am Bildungsalltag beginnt damit, dass man sich am Campus orientieren kann. Unter einem inklusiven Campusplan wird im Rahmen dieses Beitrags ein interaktiver und barrierefreier Online-Campusplan verstanden, der auf physische Barrieren hinweist und inklusive Angebote der Universität hervorhebt. Zu diesen Angeboten zählen beispielsweise Informationen zu barrierefreien Zugängen, Standorten von Beratungsstellen, Wickeltischen sowie (All-Gender-) Toiletten. Zudem muss der Plan in der Bedienung barrierefrei sein, sodass Nutzende von assistiven Technologien, wie z.B. einem Screenreader, einen gleichwertigen Zugang haben wie ihre Kommiliton*innen bzw. Kolleg*innen. Ein Ziel ist es, eine nachhaltige Lösung zur Umsetzung eines inklusiven Campusplans zu finden. Eine Untersuchung des State of the Art von barrierefreien Campusplänen gibt einen Überblick über die möglichen inhaltlichen Merkmale sowie die technischen Umsetzungen. Anschließend werden Problemstellungen und Lösungsansätze diskutiert, sodass dieser Beitrag eine Grundlage für die Umsetzung eines inklusiven Campusplans bietet.
Bildungsangebote müssen inklusiv gestaltet werden, um allen Interessierten gleiche Möglichkeiten der Teilhabe zu bieten. Der Digitalisierung der Lehre kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Trotz eines beträchtlichen Entwicklungsschubs in den vergangenen Jahren, vor allem aufgrund der Corona-Pandemie, stehen die Hochschulen in Deutschland jedoch vor zahlreichen Herausforderungen. Die Untersuchung hat zum Ziel, für Deutschland beispielgebende Lösungen in anderen Hochschulsystemen zu identifizieren. Hierfür wurden Webseiten U S-amerikanischer Hochschulen unter der Fragestellung analysiert, wie Informationsportale an U S-Hochschulen gestaltet sind und wo ein Transfer vorbildhafter Lösungen in den deutschen Hochschulraum sinnvoll und möglich ist. Der Autor untersucht mittels einer quantitativen Inhaltsanalyse die Webseiten zwanzig ausgewählter U S-amerikanischer Hochschulen. Neben konkreten Einzelbeispielen von Good Practice bei der Gestaltung webbasierter Informationsportale lassen sich Erfolg versprechende Strategien zum einen bei den sogenannten Ivy-League-Hochschulen erkennen, die ihre Informationsangebote stark an den Bedarfen der Studierenden ausrichten. Zum anderen zeigen die Webseiten von Hochschulen, die unter dem Aspekt Barrierefreiheit sehr gute Rankingresultate erzielen, dass ein vom Umfang her reduziertes, dafür aber inhaltlich kohärentes Angebot positiv bewertet wird. Schließlich gibt die Untersuchung Anregungen für eine Etablierung zentraler Informationsstrukturen im Bereich barrierefreier digitaler Lehre.
Die Fachdidaktik in Informatik sowie den mathematischen, technischen und naturwissenschaftlichen Fächern, den sogenannten MINT-Fächern, arbeitet in großem Umfang mit Bildern und grafischen Beziehungen. Diese Inhalte blinden und sehbehinderten Schüler*innen und Studierenden zu vermitteln, stellt Lehrende vor besondere Herausforderungen. Darüber hinaus erfordern Distanzunterricht, Selbststudium und Gruppenphasen zusätzliche technologische und didaktische Anpassungen im alltäglichen Unterricht. Anhand einer Langzeit-Fallstudie der Deutschen Blindenstudienanstalt e. V. (blista) in Marburg wird aufgezeigt, wie die Vermittlung von Bildern, Formen und Beziehungen in den Fächern Biologie, Geografie, Mathematik und Chemie gelingt. Zum erfolgreichen Einsatz kommen digitale Werkzeuge, taktile Grafiken, haptische Modelle sowie dynamische haptische Modelle und Experimente.
In diesem Beitrag wird aufgezeigt, wie das Thema „Diversität“ im sächsischen Verbundprojekt „Digitale Hochschulbildung in Sachsen“ als Querschnittsthema verstanden und wie Barrierefreiheit als ein zentraler Aspekt diversitätssensibler Hochschullehre thematisiert und umgesetzt werden kann. Als Grundlage dient hierfür das gemeinsam formulierte Selbstverständnis von Diversität, welches von der projektinternen A G Diversität in konkrete Maßnahmen überführt und regelmäßig von allen Projektmitarbeitenden reflektiert werden soll. Zudem verdeutlichen Ergebnisse einer anonymen Befragung aller Mitarbeitenden sowie Teilnehmenden eines Digital Workspace Erfahrungen und Einschätzungen zum Thema „Barrierefreiheit im Hochschulkontext“, welche Implikationen für die weitere Arbeit im Projekt aufzeigen.
Eine inklusive digitale Hochschullehre gelingt nur, wenn Lehrende und andere Hochschulangehörige über die notwendigen Kompetenzen verfügen. Aber welche Fertigkeiten, Fähigkeiten und Einstellungen benötigen Beteiligte an Hochschulen für eine inklusive (digitale) Hochschullehre? Der Diskurs im deutschsprachigen Raum ignoriert einerseits die Notwendigkeit von spezifischen Maßnahmen, andererseits beschränken sich Empfehlungen für die Lehrpraxis oft auf die barrierefreie Gestaltung von Textmaterialien und Präsentationen. Daten und Informationen zu Weiterbildungsangeboten rund um das Thema „digitale Barrierefreiheit“ sind zudem rar. Bislang wurde weder systematisch untersucht, für wen in welchem Umfang entsprechende Weiterbildungen angeboten werden, noch wie das Thema „digitale Barrierefreiheit“ kommuniziert und welche Inhalte konkret vermittelt werden. Die wenigen vorliegenden Studien zeigen deutlich, dass die Inhalte häufig auf technische Aspekte reduziert werden. So wird aber ein falscher Eindruck von den Herausforderungen vermittelt. Wenn lediglich die technische Umsetzung gezeigt wird, bleibt der Eindruck, dass diese Maßnahmen nur für unmittelbar Betroffene ergriffen werden. Deshalb schließt der Beitrag mit dem Vorschlag, digitale Barrierefreiheit als sozio-technische Herausforderung zu begreifen. Die Entwicklung einer pädagogischen Kultur der Vermittlung von Barrierefreiheit kann dazu beitragen, die Qualifizierung von Lehrenden und anderen Beteiligte an Hochschulen in den Fokus der Diskussion um eine inklusive digitale Hochschullehre zu rücken.
Die Inklusion blinder und seheingeschränkter Studierender in den Lehralltag stellt besonders bei technischen und naturwissenschaftlichen Studiengängen eine Herausforderung dar.
Die Situation soll sowohl durch fremde Hilfe – also extern – als auch soweit wie möglich durch diese Studierenden eigenständig – also intern – kontrollierbar sein. Die Beherrschbarkeit wird in der Hauptsache durch digitale Barrierefreiheit mit Software- und Hardwareunterstützung hergestellt. Zusätzlich kommt eine Reihe organisatorischer und räumlich bezogener Hilfestellungen zum Einsatz. Für die vollständige Berücksichtigung der externen und internen Kontrollierbarkeit wird das Konzept des Lebenszyklusmanagements herangezogen. Anhand einer Maßnahmen-Matrix zeigt dieses Best-Practice-Rahmenwerk, welche Maßnahmen zur Kontrollierbarkeit entlang des Studierendenlebenszyklus‘ führen können.
Spätestens die einstimmig verabschiedete Empfehlung „Eine Hochschule für Alle“ der Hochschulrektorenkonferenz (2009) hat die U N-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (C R P D) mit der enthaltenen Forderung nach inklusiver Bildung im Lebensverlauf (U N, 2006 § 24) und dem barrierefreien Zugang zu selbiger (e b d. § 9) zum Handlungsauftrag für Hochschulen gemacht. Die Kultusministerkonferenz (K M K) (2016, 2019) empfiehlt hierzu eine verstärkte Implementierung von digitalisiertem Lernen, um der Diversität der Studierenden Rechnung zu tragen und beispielsweise die Partizipationsmöglichkeiten von Studierenden mit Beeinträchtigungen erheblich verbessern zu können (Ebersold & Evens, 2003). Entscheidend ist es, holistische statt zielgruppenspezifische Lösungsansätze zu entwickeln und neben technischen auch die strukturellen und didaktischen Aspekte zugänglicher Lehre in den Blick zu nehmen (Grundmann & Podszus, 2019; Podszus, 2019a, 2019b). Dies erfordert zum einen Kenntnisse der Stakeholder von digitalisiertem Lehren und Lernen über die Bedarfe Studierender mit Beeinträchtigungen im Hinblick auf Selbiges und zum anderen die Kooperation der beteiligten Stakeholder und Organisationseinheiten innerhalb der Hochschulen sowie deren Unterstützung durch ein wirksames Diversitätsmanagement. Als Herausforderung erweist sich, dass das Thema „Studieren mit Beeinträchtigung“ generell und auch beim Implementieren solcher Diversitätsmanagementstrukturen neben Diversitätsdimensionen wie atypischen Bildungsbiografien, Migrationshintergrund oder Gender nur eine marginale Rolle spielt (Knauf, 2015; Rothenberg, 2012) und die Maßnahmen eine Fokussierung auf Nachteilsausgleiche, Fall-zu-Fall-Lösungen und fakultative Angebote anstelle proaktiver Barrierefreiheit beinhalten (Fisseler, 2013; Podszus, 2019a). Ein für die Betrachtung und Systematisierung von derartigen Implementierungsprozessen und Forschungsfragen nutzbares Modell, die Adaption des Contextualized Model of Accessible E-Learning Practice in Higher Education Institutions für den deutschen Hochschulraum (Podszus, 2019a), soll im Beitrag vorgestellt werden.
Der Deutsche Bildungsserver ist der zentrale Internet-Wegweiser zum Bildungssystem in Deutschland. Als von Bund und Ländern getragenes, nationales Webportal stellt er allen mit Bildungsthemen befassten Professionen sowie einer breiten Öffentlichkeit qualitativ hochwertige, redaktionell gepflegte Informationsangebote zur Verfügung. Die Linkempfehlungen beim Deutschen Bildungsserver greifen das Thema „digitale Barrierefreiheit weiterdenken“ auf
und liefern Hintergründe sowie weiterführende Informationen. Sie gliedern sich in drei Teile, die von Barrierefreiheit allgemein über Online-Lehre bis zu Inklusion im Hochschulalltag reichen. Zunächst werden übergreifende Informationen zu Barrierefreiheit sowie deren Rechtsgrundlagen gegeben. Es wird Bezug auf die Umsetzung der EU-Richtlinie zu Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (Barrierefreiheitsstärkungsgesetz) sowie auf die Barrierefreie- Informationstechnik-Verordnung genommen. Ziel ist die gleichberechtigte und diskriminierungsfreie Teilhabe von Menschen mit Einschränkungen. Anschließend wird auf Anlaufstellen verwiesen, zu deren Aufgaben die Beratung zur Umsetzung von Barrierefreiheit gehört. Außerdem werden Einrichtungen und Projekte genannt, die Unterstützungstechnologien für barrierefreie Kommunikation fördern oder dazu forschen. Digitale Bildung eröffnet weitergehende Möglichkeiten der Inklusion auch an Hochschulen. Im zweiten Abschnitt wird ein Blick auf politische Hintergründe geworfen sowie auf die Rolle, die Digitalisierung, Inklusion und Diversität in hochschulpolitischen Diskussionen spielen. Es folgen Projekte und Aktivitäten an Hochschulen, die sich der Umsetzung praktischer Maßnahmen widmen. Schwerpunkt ist die barrierefreie Online-Lehre und die Entwicklung entsprechender Tools. Die Tipps und Hinweise sollen helfen, die Gestaltung digitaler Barrierefreiheit in der Hochschulbildung zu erleichtern. Den Abschluss bilden Praxisbeispiele zur digitalen Inklusion im (Hochschul-)Alltag. Vorgestellt werden Maßnahmen und Projekte, die es Studierenden erleichtern sollen, sich zurechtzufinden, sowie deren persönliche Erfahrungen. Verwendung finden verschiedene Formate, z.B. Audiobeiträge und Podcasts.
Im Rahmen einer Lehrveranstaltung zu barrierefreier Mediengestaltung befassten sich Studierende der Universität Leipzig mit dem Thema, wie
Comics und Graphic Novels für Menschen mit Seheinschränkungen erfahrbar gemacht werden können. Beide Narrationsformen sind für diese bis zum heutigen Tag weitestgehend unzugänglich. Eine handlungswissenschaftliche Auseinandersetzung und Umsetzung in der Praxis sind erforderlich, um Teilhabe auch in Bezug auf dieses Literatursegment zu verwirklichen.
An konkreten Beispielen setzten sich die Studierenden mit möglichen Formen der Adaption von Comics und Graphic Novels, im Besonderen der Erstellung einer Audiodeskription (AD) auseinander. Ausgehend von bestehenden Konzepten und Leitfäden zur Erstellung von Hörfilmen oder der AD von Live-Veranstaltungen arbeiteten sie heraus, welche spezifischen Herausforderungen bei einer Comic-AD zu berücksichtigen sind. Zentral für die Adaption war eine Betrachtung verschiedener Dimensionen wie sprachlicher Umsetzung, atmosphärischer Gestaltung, Umsetzung von Geräuschen oder Dialogtext sowie Detailreichtum der Deskription. Die Konzepterstellung wurde begleitet durch theoretische Auseinandersetzungen mit Besonderheiten audiovisuellen Übersetzens sowie der Parallelität von Sprache und Bild und deren gegenseitige Bezogenheit im Comic. Auf Grundlage der von den Studierenden für spezifische Comics/Graphic Novels erstellten individuellen Konzepte werden die Audiodeskriptionen für jeweils einzelne Kapitel praktisch umgesetzt. Die Evaluation der Ergebnisse erfolgte über qualitative Leitfadeninterviews mit betroffenen Personen. Eine finale Auswertung dieser mittels Kategorienbildung sowie Reintegration der Ergebnisse in die Konzepte steht noch aus und soll in weiteren Untersuchungen geleistet werden. Gleichzeitig dienen die Konzepte als Anregung für neue Medienangebote, die im dzb lesen erarbeitet und zur Ausleihe an blinde und sehbehinderte Menschen gebracht werden können.
Bund, Länder und Kommunen sind laut Gesetz zur Verbesserung des Onlinezugangs zu Verwaltungsleistungen (OZG) verpflichtet. Sie müssen bis Ende 2022 ihre Dienstleistungen auch digital und barrierefrei anbieten. Im Rahmen des vom IT-Planungsrat geförderten Projektes„eGov-Campus”werden derzeit Massive Open Online Courses (MOOC) entwickelt und umgesetzt, damit sich Lernende aus dem Bereich des öffentlichen Sektors weiterbilden können.
Das Institut für Digitale Teilhabe (IDT) der Hochschule Bremen beteiligt sich
mit einem Lernmodul zum Thema „Digitale Barrierefreiheit – Teilhabe für
alle”, in dem Grundlagen zum Themenfeld „Behinderung und Barrierefreiheit“ vermittelt werden, an diesem Projekt. MOOCs bedürfen einer spezifischen Konzeption und Gestaltung, die sich von traditionellen Lehrveranstaltungen im tertiären Bildungssektor unterscheiden. Der MOOC soll die Teilnehmenden
für Beeinträchtigungen sensibilisieren, sodass sie befähigt werden, Barrieren
zu erkennen, zu vermindern und deren Entstehung im Vorfeld zu verhindern.
Im Fokus des Beitrages steht die Entwicklung und didaktische Rahmung eines Lernsettings, das die Übertragung von Umsetzungsstrategien für den eigenen beruflichen Kontext initiiert und die sich daraus ergebenden Implikationen für die didaktische Gestaltung des Lernangebotes.
Digitale Barrierefreiheit ist selbstverständlich und muss proaktiv in
Lern-/ Bildungsangebote integriert werden, wenn Hochschulbildung für eine inklusive Gesellschaft die Diversität von Studierenden als gegeben anerkennt.
Im Gegensatz dazu ist es jedoch hochschulische Realität, dass heterogene Lernausgangslagen erst dann von Lehrenden in der Planung und Umsetzung von Bildungsangeboten berücksichtigt werden, sofern Studierende selbst ihre individuellen Bedürfnisse artikulieren und Unterstützung (etwa in Form eines Nachteilsausgleichs) einfordern. Das Flensburger Projekt „Study as you are - Anforderungsdesign und Umsetzungsstrategie barriere-sensibler Hochschullehre am Beispiel inklusiv-digitaler Sprachenpädagogik“ (STUDYasU) setzt die Heterogenität aller Studierenden als Prämisse voraus. Das Vorhaben zielt darauf ab, durch die Implementation eines Servicebüros an der Europa-Universität Flensburg (EUF), das als zentrale Anlaufstelle und Lernlabor zu allen Fragen der barriere-sensiblen Lehre etabliert wird, sowohl Lehrende als auch (Lehramts-) Studierende für digitale Barrierefreiheit zu sensibilisieren. Hier werden sich Lehrende und Lernende zukünftig Rat holen und ihr bereits bestehendes Lehr-/ Lernmaterial diklusiv (digital-inklusiv) aufbereiten (lassen können). In diesem Beitrag steht die Konzeptentwicklung im Vordergrund. Grundlegend ist die Zugänglichkeit digitaler hochschuldidaktisch fundierter Lehr-/ Lernarrangements von zwei Seiten: Erstens werden die Bedürfnisse der Lehrenden unter Einbezug der hochschulseitig etablierten digitalen Instrumente wie Moodle, Panopto oder Webex als Voraussetzung für Blended-Learning-Szenarien, betrachtet. So sollen Barrieren für Lehrende in Bezug auf ‘neuartige’ Werkzeuge gar nicht erst entstehen. Zweitens werden die Bedürfnisse der Lernenden in das Zentrum gerückt, indem diese digitalen Tools – eingebunden in spezifische Bildungspraxen – analysiert und für die intersubjektive Anwendbarkeit präzise modifiziert werden. Mit STUDYasU sollen adaptierbare Lehr-/ Lernarrangements theoretisch und empirisch exploriert werden, um letztendlich zu verallgemeinerbaren Aussagen oder gar Modelllösungen für eine barriere-sensible digitale Hochschullehre zu gelangen.
Barrierefreiheit wird in der (Online-)Hochschullehre immer wichtiger. In diesem Beitrag wird aufgezeigt, welche barrierefreien Instrumentarien für Lehrkräfte möglich sind (1), wie sie einfach umzusetzen sind (2), welche Handlungsempfehlungen sich daraus ableiten lassen (3) und warum die Anwendung digitaler Barrierefreiheit als Schlüsselkompetenz für Lehrkräfte von großer Bedeutung ist (4). Dabei fließen die Erfahrungen der Autorin aus über 20 Jahren Online-Lehre mit ein.
Das Ziel dieser Forschungsarbeit war es, herauszufinden, welche Kriterien der Barrierefreiheit für digitale Bildungsmedien relevant sind und diese Kriterien in einer Matrix abzubilden. Zur Erreichung dieses Ziels wurden qualitative Interviews mit Lehrkräften und Expert*innen der digitalen Barrierefreiheit durchgeführt.
Die qualitativen Interviews haben gezeigt, dass eine individuelle Klassifizierung der Barrierefreiheits-Kriterien für digitale Bildungsmedien notwendig ist.
Bereits vorhandenen Konzepten fehlt es vor allem an Praxisnähe und konkreten Anweisungen. Zudem wurde deutlich, dass der Barrierefreiheit und Inklusion nach wie vor zu wenig Aufmerksamkeit in Deutschland zukommen.
Das Verbundprojekt SHUFFLE (Hochschulinitiative digitale Barrierefreiheit für Alle) widmet sich der digitalen Barrierefreiheit an Hochschulen. Der Schwerpunkt des Projekts liegt dabei auf der chancengerechten Teilhabe an digitaler Lehre
für Studierende mit individuellen Bedarfen. SHUFFLE folgt dem Konzept des Universal Design for Learning und entwickelt Maßnahmen für Online- und Hybridveranstaltungen in einem studierenden- und lehrendenzentrierten Ansatz. Diese werden pilotartig skaliert, technisch und didaktisch evaluiert und in einem Reifegradmodell zusammengefasst.
Ausgehend vom Konzept der Intersektionalität und ihrer Umsetzung in der Literatur und in der Literaturdidaktik wird der vieldiskutierte Roman "Identitti" von Mithu Sanyal zunächst analysiert und schließlich in einem Experiment mit Studierenden unterschiedlicher Studiengänge, einem Bachelorstudiengang für das Lehramt Deutsch der Sekundarstufe I, dem Masterstudiengang Kulturvermittlung und dem Masterstudiengang Interkulturelle Bildung, Migration und Mehrsprachigkeit, eingesetzt, um zu prüfen, ob damit für intersektionale Bildung zu sensibilisieren oder gar zu qualifizieren ist. Alle Studierenden hatten den Roman vorbereitend gelesen und führten ein fünfphasiges, durch die Dozentin moderiertes literarisches Gespräch. Das Experiment zeigt den Studiengängen entsprechend unterschiedliche Akzentsetzungen der Studierenden und dass die voraussetzungsreiche Bearbeitung dort am besten gelingt, wo Rassismus- und Weißseinskritik als zentrale Elemente einer intersektionalen Analyseperspektive im Studiengang verankert und schon vor der Lektüre verhandelt worden sind. Doch auch Lehramtsstudierende, denen diese Perspektiven aufgrund des Studienplans weniger vertraut sind, erhielten v.a. durch die Anschlusskommunikation in der Gruppendiskussion vertiefende Einblicke in diese Bereiche und begannen sich mit deren Relevanz für die spätere Unterrichtspraxis auseinanderzusetzen.
Obwohl Empathie beim literarischen Lesen unstrittig eine äußerst bedeutsame Rolle spielt, ist sie ein in der Literaturdidaktik immer noch nicht theoretisch und empirisch ausreichend erforschter Bereich. Bisher noch so gut wie gänzlich unbeachtet ist dabei ein Phänomen, das eng und unmittelbar mit empathischen Prozessen zusammenhängt: Ekpathie. Hierbei handelt es sich um lesebezogene Aspekte, die möglicherweise auch auf Grund ihres beispielsweise aktiv zurückweisenden Charakters - Leser:innen nähern sich einer literarischen Figur bewusst und willentlich nicht - aus nahe liegenden Gründen in der Literaturdidaktik noch nicht grundlegend thematisiert wurden. Der vorliegende Beitrag skizziert ekpathische Prozesse beim Lesen literarischer Texte in theoretischer Hinsicht und veranschaulicht sie auf der Grundlage wirkungsästhetischer Überlegungen auch aus einer dezidiert intersektionalen Perspektive anhand eines jugendliterarischen Beispieltextes.
In aktuellen Diskussionen werden Forderungen nach einer diversen Kinder- und Jugendliteratur laut. Autor:innen wie Andrea Karimé oder Chimamanda Ngozi Adichie fordern Gegenerzählungen oder sprechen von den Gefahren einer 'single story', in denen den Leser:innen nur weiße Geschichten präsentiert werden. Im Mittelpunkt des Beitrags stehen ausgewählte Kinderromane der Autorin Andrea Karimé sowie die Frage nach diversen und intersektionalen Kindheitsbildern. Die Analysen zeigen, dass sowohl diversitätssensible als auch intersektionale Perspektiven für die Auswahl von Kinderliteratur für den Unterricht bereichernd sind, denn sie eröffnen den noch jungen Leser:innen nicht nur neue Welten, sondern stärken auch die Kinder mit Blick auf ihre eigene Lebenswelt. Zugleich spielt insbesondere Intersektionalität eine untergeordnete Rolle, sollte aber dennoch aufgrund des hohen Potentials stärker in die literaturwissenschaftlichen und -didaktischen Debatten rücken.
Bisherige Modelle der Textauswahl für den Literaturunterricht argumentieren ausschließlich text- bzw. themenorientiert oder sie berücksichtigen maximal eine einzelne bei Schüler:innen vorliegende Differenzkategorie wie z.B. Gender. Solche differenzorientierten Ansätze sahen sich zudem der Kritik ausgesetzt, durch die besondere Fokussierung der jeweiligen Ungleichheitskategorien diese - wie durch das Differenzdilemma beschrieben - eher festzuschreiben bzw. zu reproduzieren. Ausgehend von diesem Forschungsstand legt der Beitrag am Beispiel von Anke Stellings Kinderroman "Erna und die drei Wahrheiten" dar, inwiefern eine intersektionale Perspektive die Lektüreauswahl für den Literaturunterricht verbessern und präzisieren kann. Die Analyse von schüler:innenseitig vorliegenden intersektionalen Verschränkungen ist geeignet um zu beschreiben, wodurch im Bereich der Text-Leser:innen-Passung individuelle Zugangshürden, aber auch Zugangserleichterungen entstehen. Der Beitrag votiert in diesem Sinne ebenso für eine textseitige Analyse, die genau überprüft, auf welche Weise allgemein für Schüler:innen einer bestimmten Altersstufe als zugänglich geltende Themen im jeweiligen Text konkretisiert werden. Dem Konzept einer thematisch begründeten Kinder- bzw. Jugendgemäßheit wird diesbezüglich die Frage entgegengestellt, inwiefern auf der Textoberfläche präsentierte Konstellationen den Zugriff auf ein zugrundeliegendes relevantes Sujet für Lernende mit jeweils individuellen Voraussetzungen überhaupt erlauben.
Am Beispiel des zweiten Romans von Jackie Thomae "Brüder", der 2019 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand und für den sie 2020 mit dem Düsseldorfer Literaturpreis ausgezeichnet wurde, wird untersucht, inwiefern eine intersektionale Betrachtung des Romans eine Reflexion der Darstellung unterschiedlicher Differenzkonstruktionen und ihrer Verstrickung anzuregen vermag. Außerdem stellt der Beitrag zur Diskussion, inwiefern eine vertiefte Auseinandersetzung mit Jackie Thomaes Roman "Brüder" im Literaturunterricht eine kritische Reflexion des Erzählten im Sinne einer 'Critical Narrative Literacy' initiieren kann. Davon ausgehend wird ein Modell einer Diversitätsorientierten Deutschdidaktik entwickelt, dem eine kulturtheoretische Fundierung im Sinne der Intersektionalitätstheorie zugrunde liegt.
In dem Beitrag wird ein intersektional perspektiviertes Analysemodell für multimodale Erzähltexte (Bilderbücher) vorgestellt. Zunächst wird das Korpus der sogenannten queeren Kinder- und Jugendliteratur kursorisch aufgefächert und dabei gezeigt, dass in den Erzähltexten, die als 'diversitätssensibel' vermarktet werden, meist auf die klassische Außenseiterfigur zurückgegriffen und somit die Binarität einer vermeintlichen Norm und deren Abweichung perpetuiert wird. Durch das Analysemodell sollen literarische Darstellungen von Positionierungen innerhalb einer 'Matrix der Macht' desavouiert werden: Entlang der interdependenten Kategorien Age, Race, Geschlecht, Familie und Körper sollen die Positionierungen der Figuren auf der histoire-Ebene zugeordnet werden, während die Kategorien auf der discours-Ebene wählbar und erweiterbar sind. Mit dem Blick auf das Bilderbuch als multimodales Erzählmedium müssen die literarischen Inszenierungen nicht nur auf Bild- sondern auch auf Schrifttextebene berücksichtigt und hierbei insbesondere auf intermodale Spannungsverhältnisse geachtet werden. Der Beitrag schließt mit der exemplarischen Analyse der Bilderbücher "Weihnachtspost für Ayshe" (Scheffler/Spanjardt 2005) und "Wie ich Papa die Angst vor Fremden nahm" (Schami/Könnecke 2003).
Der Beitrag widmet sich der Figurenanalyse als Bestandteil der Texterschließung im intersektional ausgerichteten Deutschunterricht und konzipiert ein konkretes methodisches Analyseverfahren, das intersektionale Fragestellungen bei der Figurenanalyse zu erarbeiten und darzustellen vermag. Über eine erste literaturdidaktische Fundierung der Figurenanalyse als Texterschließungsverfahren werden Anknüpfungspunkte zum Intersektionalitätsparadigma aufgezeigt Der Beitrag versteht sich als Vorschlag für eine mögliche kulturtheoretische Fundierung der Figurenanalyse durch das Intersektionalitätsparadigma, welches mit dem Kollektivansatz von Klaus P. Hansen und dessen Fortführung durch Jürgen Bolten zum fuzzy culture-Ansatz in Bezug gesetzt wird. Aus dieser theoretischen Verbindung wird ein konkretes Instrumentarium zur intersektional orientierten Figurenanalyse in literaturdidaktischen Settings entwickelt, das sich durch eine strukturierte visuelle Aufarbeitung intersektionaler Fragestellungen in Bezug auf literarische Figuren auszeichnet. Die folgenden Ausführungen bieten zunächst einen kurzen Überblick über die literarische Figur allgemein und ihre Merkmale sowie die Bedeutung der Figurenanalyse im Deutschunterricht, bevor letztere unter intersektionalen Gesichtspunkten beleuchtet und in ein konkretes Analyseinstrumentarium überführt wird. Dieses wird abschließend an Eleonora Hummels Roman "Die Fische von Berlin" beispielhaft erprobt.
Die Verbindung feministischer Themen und Fragestellungen mit dem Dispositiv der Populärkultur wird unter dem Label 'Popfeminismus' verhandelt. Um diesen Sammelbegriff ist eine lebhafte Diskussion entbrannt: Ist die Performativität des Pop als Chance zu begreifen, breiten Gesellschaftsschichten feministische Anliegen zugänglich zu machen? Oder handelt es sich dabei doch nur um die marktwirtschaftliche Vereinnahmung einer gesellschaftspolitischen Strömung? Das skizzierte Spannungsverhältnis verschärft sich in einem sexualisierten und hypermaskulinen Subgenre wie dem Gangsta Rap. Das Online-Magazin der Wochenzeitung "Die Zeit" kürte den deutschen Gangsta Rap jüngst zur erfolgreichsten Jugendkultur der 2010er-Jahre. Rapper wie Bonez MC oder Gzuz landen einen Chart-Erfolg nach dem anderen, und zwar mit äußerst sexistischen, misogynen, homo- und transphoben, ableistischen und gewaltverherrlichenden Texten. Angesichts der nicht von der Hand zu weisenden kulturellen Prägekraft des Gangsta Raps und seiner identitätsstiftenden Wirkung auf junge Menschen gewinnt die Frage nach der Kommensurabilität von Feminismus und Hip-Hop noch einmal an Bedeutung: Sind feministische bzw. intersektionale Perspektiven mit der Sprache, den Bildern und Symbolen einer männlich-chauvinistischen Szene überhaupt vereinbar? Mit welchen sprachlich-medialen Strategien antworten Künstlerinnen der Rap-Szene auf diesen Widerspruch? Mit diesen und anderen Fragen befasst sich der vorliegende Beitrag.
Der Erfolg von Elena Ferrantes vierbändigem Romanzyklus "L'amica geniale" (2011-2014) wird hier in der Verortung Ferrantes in die Schule der literarischen Hontologie (Eribon, Ernaux, Louis) und in eine Strömung von Romanen, die den Klassismus anvisiert, erklärt. Gezeigt wird, wie intersektionale Verflechtungen von Ferrante in Szene gesetzt werden: Das Schicksal eines proletarischen Mädchens mit intellektuellen Ambitionen, aufgewachsen in einem Armenviertel, in dem Gewalt und Mafia an der Tagesordnung sind und immer wieder an den gesellschaftlichen Benachteiligungen sich stoßend etc. Sexismus, Homophobie, Regionalchauvinismus und andere Diskriminierungsformen leiten die Geschichte. Intersektionalität trägt das Romanganze inhaltlich; die Fiktionalisierung geht über gebräuchliche Konzepte von auto-fiction hinaus und erlaubt gerade durch die lebensweltliche Botschaft Einsichten in gesellschaftliche Komplexitäten. Genau diese Konstruktion des literarischen Textes ist für die Rezeption des Werks ausschlaggebend, zumal die Wahl des Pseudonyms der Autorin ermöglicht, die Thematisierung und Problematisierung von Intersektionalität hier und in weiteren Romanen jenseits der Tetralogie zu intensivieren, wie etwa in "La vita bugiarda degli adulti" (2019).
Klein, schwach, mit einem deformierten Rücken und einer aus heteronormativer Perspektive devianten Sexualität - auf den ersten Blick verkörpert die literarische Figur Kuno Kohn gängige antisemitische Stereotype zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In den frühen 1910er-Jahren entworfen und in einer Vielzahl von Texten unterschiedlicher Gattungen ausgebildet, ist Kuno Kohn die Schlüsselfigur in Alfred Lichtensteins (1889–1914) Werk und zugleich Projektionsfläche für die wirkmächtigen Differenzkategorien Jewishness, Sexualität, Disability und Gender. Dichotome Kategorisierungen können die Komplexität der Figur nicht erfassen: Von Lichtenstein als grotesk überzeichnete Figur angelegt, laufen in ihr Binäroppositionen wie jüdisch/nicht jüdisch, homosexuell/heterosexuell und behindert/nicht behindert ins Leere. Statt zu versuchen, die Ambivalenzen, Vielschichtigkeiten und scheinbaren Widersprüche der Figur aufzulösen, rückt der Beitrag sie in einer intersektionalen Figurenanalyse in den Mittelpunkt. Dies lenkt den Blick auf die diskursive Co-Konstruktion der Differenzkategorien auf der Folie des Figurenkörpers und offenbart das subversive, queere Potenzial, das der Figur eingeschrieben ist.
Ausgehend von der Frage nach literarischen Darstellungskonventionen, die zu verschiedenen historischen Zeitpunkten als Medien der Beobachtung und Reflexion von Intersektionalität und interdependenten Herrschaftsverhältnissen dienen konnten, untersucht der Beitrag das Erzählen 'vom Dorf' und 'der Provinz' als Mittel der Narration von sozialer Ungleichheit. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert intensiviert sich eine kulturelle Stadt-Land-Dichotomie, aufgrund derer das 'Ländliche' in Abgrenzung zur urban geprägten Moderne als das rückwärtsgewandte, hierarchisch schwächere 'Andere' wahrgenommen wird. Die Zugehörigkeit zu einem ländlichen oder städtischen Umfeld entwickelt sich daher zur 'Ungleichheitskategorie', die im intersektionalen Zusammenspiel mit anderen Differenzfaktoren auftreten kann. Zugleich ist 'das Dorf' als sozialer Raum konventionell durch eine strikte Einteilung von Menschen in die Kategorien 'Einheimische' und 'Fremde' geprägt und produziert auf Basis strenger Normvorstellungen in besonderem Maße soziale Zuschreibungen der Nichtzugehörigkeit, die wiederum mit Diskriminierungskategorien wie Geschlecht, ethnische Herkunft, ökonomischer Status etc. verwoben sein können. In der literarischen Dorfgeschichte bzw. dem 'Provinzerzählen' vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart dient der rurale Raum daher auf vielfältige Weise als Ort der Darstellung und Reflexion intersektionaler Formen der Diskriminierung und Ungleichheit. Demonstriert wird dies durch eine Untersuchung von Berthold Auerbachs Dorfgeschichte "Des Schloßbauers Vefele" von 1843 und Maja Haderlaps Roman "Engel des Vergessens" aus dem Jahr 2011.
Sie ist Schwarz, Heidin und regiert ein Königreich. Mit der Figur Belacane präsentiert Wolfram von Eschenbach im "Parzival" seinem Publikum eine Frau, die den höfischen Schönheitsvorstellungen widerspricht. Immer wieder wird die Schwarze Hautfarbe Belacanes und ihres Volkes explizit im Kontrast zum dagegen unmarkierten weißen Protagonisten betont und abgewertet. Erst die Information über Belacanes Jungfräulichkeit macht sie für den christlichen Ritter Gahmuret attraktiv, der ihre Tugendhaftigkeit als Zeichen ihrer innerlichen Taufe sieht. Dass Belacane unter all den Menschen, die "höllenfarben" (51,24) sind, eine Ausnahmestellung zugesprochen wird, offenbart die Abwertung aller anderen BIPoC und macht sie für Gahmuret zum Objekt der Begierde. Er befreit die Jungfrau in Nöten erst von ihren Belagerern, dann von ihrer Keuschheit und wird so zum König über ihr Land, bis er die schwangere Belacane plötzlich heimlich verlässt. Der Brief, den er ihr hinterlässt, dokumentiert die Mehrfachabwertung Belacanes: aufgrund ihres Frau-Seins wird sie zum Medium der Stammeserhaltung, aufgrund ihres zukünftigen Mutter-Seins zum Kommunikationsmittel mit dem noch ungeborenen Sohn und aufgrund ihres heidnischen Glaubens zur Legitimation für die Trennung. Hannah Mieger analysiert anhand der Belacane-Episode, wie die drei Differenzkategorien Race, Religion und Gender miteinander interagieren und zeigt dadurch, dass prämoderne Texte intersektional lesbar sind.