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Sophie-C. Hartisch untersucht die Funktion der Konstellationsmetapher im Diskurs der geisteswissenschaftlichen Selbstbeschreibungen im frühen 20. Jahrhundert. Die doppelte Grundlagenkrise sowohl der Naturwissenschaften als auch der historisch arbeitenden Geisteswissenschaften bewirken in ihren Augen die Attraktivität eines Denkens in 'Konstellationen'. Mit der (streng genommen) falschen Suggestion eines sogenannten 'Sternbildes' würden abstrakte Strukturen vermeintlich anschaulich und könne Totalität als "Kippfigur zwischen Werden und Darstellung" repräsentiert werden, die die Ganzes-Teil-Problematik neu konfiguriere. Zwar verspreche die 'Konstellation', die Geisteswissenschaften mittels einer Anlehnung an die Astronomie gegen die zeitgenössischen Naturwissenschaften zu profilieren. Allerdings ist die für die Konstellation zentrale Kategorie der 'Bedeutsamkeit' (der Sterne) keine astronomische, sondern eine astrologische Vorstellung. Die als Pseudowissenschaft verpönte Astrologie wird in den Geisteswissenschaften unter der Hand zum Garanten für die Legitimität und Objektivität historisch ausgerichteter Wissenschaften.
Der Literaturwissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts gilt das Interesse des Beitrags von Eva Axer. Sie untersucht in erster Linie die Kategorie der 'inneren Form', die neben der Literatur- auch die zeitgenössische Sprachwissenschaft beschäftigte. Im Werk Wilhelm Scherers, Reinhold Schwingers und Oskar Walzels werde die 'innere Form' emphatisch als eine in sich geschlossene Sinneinheit literarischer Texte konzipiert, die den Blick auf den Aufbau und eine Beziehung der Teile untereinander indes keineswegs ausschließe. Prinzipiell werde die 'innere Form' als ein den Teilen vorgängiges Ganzes gedacht, der ein hohes Maß an Dynamik eigne. Die Hoffnung auf eine innere Einheit des Werks erweise sich in der Regel allerdings als so mächtig, dass Wechselbeziehungen zwischen Innen und Außen, materielle Bedingungen oder funktionale Beziehungen der Literatur in dieser wissenschaftlichen Tradition keine systematische Berücksichtigung finden könnten.
Carlos Spoerhase wendet sich dem Verhältnis von Teil und Ganzheit im Denken der literarischen Form zu. Für die Imagination ganzheitlicher Werke - als Paradebeispiel dient Spoerhase die Shakespeare-Apologie der Romantik - sei nicht allein die Vollständigkeit der Teile und ihr ausgewogener Bezug zum Ganzen, sondern auch die Beziehung der Teile untereinander zentral. Zwar erfolgten literarische Ganzheitsvisionen immer wieder über Analogien mit dem Menschen, der Architektur oder biologischen Systemen. In der Regel garantiere aber ein "nichtsinnliches Prinzip, das im Innern des Werkes situiert wird", erst dessen "ganzheitliche Formstiftung". Anders als es etwa die Prominenz der stabilen Unterscheidung zwischen 'System' (als Musterbeispiel geschlossener und einheitlicher Ganzheit) und 'Aggregat' (im Sinne einer lockeren Anhäufung) in der Dichtungstheorie um 1800 suggeriere, würden literarische Werke zwangsläufig keineswegs mit "maximalen Einheitlichkeitszuschreibungen" versehen. An Goethes Poetik etwa lasse sich das Bemühen um eine "Gradierung von Ganzheit" ablesen. Ganzheit ist demnach weniger eine den Teilen vorangehende oder übergestülpte Totalität. Vielmehr sind es die unterschiedlichen und vielfältigen Verknüpfungsweisen der Teile, die über Art und Konzeption der Ganzheit literarischer Werke entscheiden.
Michael Cuntz greift die Leibniz'sche Monadologie in systematischer Absicht auf. Zwar gehe es auch der Monadologie zunächst um die Organisation der Relationen zwischen Teilen und Ganzem. Allerdings trage Leibniz als "Denker des Fluiden" in diese Organisation keineswegs die heute selbstverständlich anmutenden Implikationen und Hierarchien ein. Moderne Dualismen und Binarismen, etwa der zwischen Natur und Kultur, besäßen für Leibniz noch keine Gültigkeit. Die Monaden selbst seien zudem als geschlossen und offen zugleich konzipiert. Jede Monade enthalte die Welt und alle anderen Monaden. Nicht die stabile Differenz, sondern die 'Faltung', die 'Korrespondenz' und die 'Ähnlichkeit' regelten in der Monadologie die Beziehungen. "Untrennbar und doch unabhängig von einander oder verschieden - diese vermeintlich paradoxe, komplexe Struktur der Relation" betrachtet Cuntz als deren aktuelle Provokation, über die man sich durch die für Leibniz maßgebliche Überzeugung einer 'Weltharmonie' nicht hinwegtäuschen lassen sollte. Die Monadologie könne nämlich einen bedeutenden Beitrag zur Verstärkung von Diversität wie zur Überwindung des Anthropozentrismus leisten. Hierfür sei jedoch der direkte Rückgriff auf Leibniz selbst vonnöten. Moderne Anverwandlungen seiner Philosophie etwa bei Gabriel Tarde oder Gilles Deleuze hätten die originäre Sprengkraft der Monadenlehre mitunter missverstanden, simplifiziert oder entschärft, dies gelte auch und gerade für Tardes Umstellung von der 'Harmonie' auf den 'Agon'.
Kulturgeschichtlich, ästhetisch und politisch brisant sind herkömmliche Imaginationen von Ganzheit oft gerade dort, wo das Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen zur Verhandlung steht. In der Regel werden die Teile dem Ganzen untergeordnet, und das Ganze wird im Gegenzug als über- oder suprasummativ aufgefasst. Es soll "mehr" sein als "die Summe seiner Teile", so lautet die bekannte Formel des Aristoteles. Diese Grundidee lässt mindestens zwei kausale wie temporale Spielarten zu. Das Ganze kann den Teilen vorangehen, es kann auf die Teile aber auch folgen oder aus ihnen resultieren, ohne seine Vorrangstellung einzubüßen. Aus diesem Grund wurde dem Ganzen oft vorgeworfen, das Partikulare zu absorbieren.
Gestalt
(2022)
Das Bedeutungsspektrum von 'Gestalt', diesem Inbegriff eines Abgeschlossenen, in sich Gegliederten, aber nur als Ganzes Wahrnehmbaren, ist um 1800 noch erstaunlich breit.[...] Auch den 1890 vom Gestalttheoretiker Christian von Ehrenfels fixierten "Gestaltqualitäten", zu denen vor allem gehört, dass eine Gestalt die Summe ihrer Teile übersteigt, kommt um 1800 noch keine privilegierte Stellung zu. Während das "Historische Wörterbuch der Philosophie" für jene Zeit zwar auch ein Dutzend Spezifikationen verzeichnet, 'Gestalt' aber exklusiv als ästhetischen und psychologischen Grundbegriff ausweist, hat Dagmar Buchwald in ihrem Eintrag für die "Ästhetischen Grundbegriffe" darauf hingewiesen, dass Gestalt in der mechanistischen Festkörperphysik der Zeit als Prädikat der 'res extensa' zu deren messbaren Attributen hinzutritt, ohne aber "in den Rang eines Standards" aufzusteigen. Die Differenz zwischen diesem und dem idealistisch überhöhten Gestaltbegriff "ist der Goethe-Zeit eingeschrieben", bezeichnet also ein Spannungsfeld, das erst später und besonders in der Zwischenkriegszeit den exklusiven Ganzheitsansprüchen der Gestalt weicht. [...]
Dagmar Buchwald zufolge "läßt sich die Geschichte des Begriffs Gestalt auch als Warnung vor einem 'Kult' um die Gestalt lesen." Das bedeutet im Umkehrschluss, dass ein Kult um die Gestalt einer begriffshistorischen - wie überhaupt einer begrifflichen - Reflexion der Gestalt abträglich bleibt. Für eine Konkurrenz zwischen Kult und Begriffsschärfe sind die wissenschaftlichen Überlegungen, die in den 1910er und 1920er Jahren im Umfeld Stefan Georges zum Phänomen der Gestalt angestellt wurden, aufschlussreich und symptomatisch in einem. 1911 von dem Historiker Friedrich Wolters im "Jahrbuch für die geistige Bewegung" programmatisch lanciert, treibt die Gestalt bald in den germanistischen Schriften Friedrich Gundolfs und später auch Max Kommerells ihre Blüten. [...]
"Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile" - dieser Satz, eine stark verkürzte Passage aus Aristoteles' "Metaphysik", wird wie wohl kaum ein zweiter mit der Gestaltpsychologie assoziiert. Ähnlich hartnäckig mit ihr in Verbindung gebracht werden allenfalls noch 'Kippfiguren', also visuelle Reize, die abwechselnd mindestens zwei einander ausschließende Gesamteindrücke provozieren. In dieser assoziativen Verkürzung mag Gestaltpsychologie wenig konturiert oder banal anmuten, weil darin ihre historische Entstehungssituation und damit ihr radikaler, epochemachender Perspektiv wechsel unterschlagen wird. [...]
Die Tradition des Gestaltbegriffs, von Goethe bis zur Gestaltpsychologie, lässt sich der breiteren philosophischen Grundausrichtung des Holismus zuordnen, dessen Widerpart ist der Atomismus. Diese Differenz wird im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert dort problematisch, wo holistische Gegenstandsfelder in atomistisch operierende technische Systeme umgesetzt oder durch sie simuliert werden sollen. Nirgends zeigt sich der Zusammenstoß beider Paradigmen besser als in der fortdauernden Auseinandersetzung um die Begriffe und Vorgehensweisen zweier der jüngsten Disziplinen des letzten Jahrhunderts, der Informatik und der Kognitions- bzw. Neurowissenschaft. Dieses Spannungsverhältnis wird vor allem am Forschungsdiskurs um die Künstliche Intelligenz (KI) seit den 1940er Jahren deutlich, der hier nachgezeichnet werden soll.
Synekdoche und Metalepse
(2022)
Das Ganze ist eine Latenzfigur, vielleicht die radikalste und folglich auch die bei Weitem undurchschauteste. Das wird an der neuzeitlichen Konjunktur der Synekdoche als einer generalisierten Beziehungsfigur augenfällig. In den unterschiedlichen Abschattungen des pars pro toto ist sie unter den Figuren der Rhetorik die mit der größten Reichweite.
Insel und Archipel
(2022)
Das theoretische Denken bedient sich bekanntlich häufig räumlicher Metaphern, wie etwa Reinhart Koselleck mit Bezug auf die Repräsentation von Zeitverhältnissen zu betonen pflegte. Darüber hinaus reicht ein Denkmodus, den der italienische Philosoph Massimo Cacciari einmal als "Geo-Philosophie" bezeichnet hat. Dieser Modus setzt dort ein, wo die Eigenarten und Kontingenzen der Gestalt der Erdoberfläche nicht mehr allein als metaphorische Sinnressourcen willkürlich genutzt werden, sondern selbst über Form und Richtung des Gedankens Gewalt gewinnen. Obwohl nicht der Erfinder eines solchen Denkens, ist Carl Schmitt doch sein bekanntester Vertreter, und er ist auch derjenige, der in der Dichotomie von Land und Meer die nachhaltigste Ressource erschlossen hat, vermittels derer man mit der Planetenoberfläche philosophieren kann. [...] Der Insel kommt in dieser Konstellation ein besonderer Status zu. Sie ist das nicht mit den Landmassen zusammenhängende Gebiet, dessen Daseinsbedingung das Meer ist. [...] Festzuhalten ist, dass die Geo-Philosophie, insofern es ihr um Figuren der Ordnung geht, früher oder später stets auf normative Sprache zurückgreift. Archipele sind immer schon normative Räume, in denen es um unübersichtliche, voneinander getrennte und doch aufeinander bezogene Normen und Werte geht. Die wechselseitige Bezogenheit, das Mitsein, stiftet die Einheit des Archipels als spezifischer 'Form des Ganzen'. Diese Form dient nicht allein dazu, jeweils ein spezifisches Gefüge von Normen und Werten abzubilden, sondern erlaubt auch eine philosophische Untersuchung der Natur solcher Gefüge.
Organismus
(2022)
'Organismus' ist eine Form des Ganzen, in der Vielfalt mit Einheit zusammengedacht werden kann. Der Begriff bezeichnet sowohl ein abstraktes Prinzip als auch konkrete, in der sinnlichen Anschauung erfahrbare und der kausalen Analyse zugängliche Gegenstände. Daher wurde er zu einem der zentralen Modelle von Ganzheit, vor allem in den empirisch orientierten Naturwissenschaften. Zu einem eigenen Typ der Ganzheitsform wird der Organismus nicht, weil er eine bestimmte Gestalt im Räumlichen bezeichnen würde - die Morphologie von Organismen ist bekanntlich überaus vielfältig -, sondern weil er ein bestimmtes Muster der Abhängigkeit von kausalen Relationen auf den Begriff bringt. Dementsprechend werden Organismen als 'dynamische' oder 'funktionale' Ganzheiten bezeichnet und gelten geradezu als das Paradigma dieser Ganzheitsform: Sie sind "das eindringlichste Beispiel einer dynamisch geordneten Ganzheit" oder auch "das Paradebeispiel einer strukturell-funktionalen Ganzheit".
Totalität
(2022)
Aus dem weiten Bedeutungshorizont des philosophischen Terminus soll im Folgenden 'Totalität' vor allem als Begriff in einer bestimmten neuzeitlichen Theorietradition thematisiert werden, in der er besonders prominent ist, und zwar in der zunächst im deutschen Idealismus verwendeten, dann vornehmlich im westlichen Marxismus prominent werdenden dialektischen Philosophie, wobei Gesellschaft zum paradigmatischen Gegenstand wird. Von Hölderlin über Hegel bis zu Lukács und Adorno lässt sich die Kategorie der Totalität wiederholt als eine dem Ideal des Kunstwerkes entlehnte erkennen. Beim jungen Hegel heißt es: "Jede Philosophie ist in sich vollendet und hat, wie ein echtes Kunstwerk, die Totalität in sich." Dennoch wäre es verfehlt, den philosophischen Gehalt von 'Totalität' allein als eine Übertragung von der Kunst auf die Gesellschaft anzusehen. [...] Bei dem hier interessierenden Begriff der Totalität geht es um die vermittelt gedachte, nicht um die unmittelbar geschaute oder gefühlte Einheit der Welt. Auf andere, seltenere Verwendungen, etwa Alexander von Humboldts eher in der Anschauung gegründeten, panoramatisch auf die "Totalität der Naturanschauung" gerichteten Gebrauch, wird hier nicht näher eingegangen. Hegels berühmtes Diktum: "Das Wahre ist das Ganze" jedoch gehört ganz wesentlich zu dieser Theorietradition, auch wenn er das Wort Totalität an dieser Stelle selbst nicht verwendet. Die Bestimmung: "Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen" ist die wesentliche Denkfigur, die auch Hegel selbst später mit dem Terminus Totalität gefasst hat. Die Debatten um den Begriff sind seit den 1920er Jahren, worauf am Ende einzugehen sein wird, zugleich hochpolitisch, was die morphologische und semantische Nähe von 'Totalität' als philosophischer Kategorie und 'Totalitarismus' als politischem Schlagwort zeigt.
System
(2022)
Das 'System' erregt starke Gefühle. Das gilt, nach wie vor, in der Wissenschaft, das gilt aber auch im Bereich des Politischen, wo 'das System' (früher) von links und (heute) von rechts abgelehnt wurde und wird. Auch wenn der Kampf gegen das 'Schweinesystem' dem Hass auf 'Systemparteien' und 'Systempresse' Platz gemacht hat - kühl abwägend oder unbefangen neugierig steht dem System niemand gegenüber. Es gehört zur Aufgabe einer theorie- und begriffshistorischen Annäherung an den Systembegriff, auch die starken Gefühle zu verstehen, die dieser hervorruft.
Aggregat
(2022)
Aggregate, die sich von realen Einheiten durch ihre Zusammengesetztheit unterscheiden, können Leibniz zufolge auf die verschiedensten Weisen zu einer zufälligen Einheit zusammengesetzt sein: durch räumlichen Kontakt (wie beim gefrorenen Teich), durch gemeinsame Bewegung (wie bei der zusammengebundenen Herde) oder durch einen einheitlichen Zweck (wie bei der niederländischen Ostindien-Kompanie). Nach Leibniz entsteht die zufällige Einheit eines Aggregats erst durch eine synthetische Operation des Geistes, durch die eine Menge von Dingen als Teile eines Ganzen betrachtet wird. Dies bedeutet aber nicht, dass Aggregate nur Erscheinungen sind. Sie sind vielmehr Körper, deren Wirklichkeit in den realen Einheiten besteht, aus denen sie zusammengesetzt sind. Es bedeutet auch nicht, dass Leibniz seinen Aggregatbegriff dem des Organismus entgegensetzt. Wenn ein Aggregat organisiert ist, hat seine Organisation entweder einen äußeren Grund (wie bei der Uhr) oder einen inneren Grund (wie beim Pferd). Die letztere, organische Variante heißt 'Lebewesen' und unterscheidet sich von einem bloßen mechanischen Aggregat dadurch, dass die Verhältnisse seiner Teile zueinander einer einzelnen Entelechie oder Seele untergeordnet werden. [...] Im Anschluss an Kant etablierte sich die Unterscheidung von System und Aggregat als zwei einander entgegengesetzten Formen des Ganzen. Ein System besteht demnach in der notwendigen Verknüpfung von Gliedern, die innerlich (nach einem Prinzip) in einem bestimmten Ganzen miteinander zusammenhängen. Ein Aggregat ist dagegen das bloß zufällige Resultat eines sukzessiven Zusammensetzens von Teilen, die äußerlich (durch räumliche Verhältnisse) in einem unbestimmten Ganzen miteinander zusammenhängen. Im Unterschied zur Leibniz'schen Prägung des Begriffs, der auch organisierte Körper einschloss, wurde das Aggregat jetzt dem Organismus entgegengesetzt, der systematisch gedacht werden müsse, auch wenn unser begrenzter menschlicher Verstand dieses System nie vollständig begreifen werde.
Universum, All, Kosmos
(2022)
Historisch gesehen ist 'Universum' ein einfaches Wort. Es stammt aus dem antiken Latein, wurde dort von Cicero gebraucht, verbreitete sich mittels des altfranzösischen 'univers' über die meisten europäischen Sprachen und fand Eingang in den modernen Wissenschaftsdiskurs offenbar mit dem offiziellen Titel "Über das Universum" der sogenannten "Kosmos-Vorlesungen", die Alexander von Humboldt im akademischen Jahr 1827/1828 an der Berliner Singakademie hielt. Die Semantik von 'Universum' hingegen, welche auf den ersten Blick ähnlich unterkomplex aussehen mag und in der Tat über zwei Jahrtausende konstant geblieben ist, konfrontiert uns mit zahlreichen Unschärfen und mit einer elementaren philosophischen Herausforderung. [...] Wie jede menschliche Kultur, so verfügt auch unsere Gegenwart über spezifische Konzepte und Bilder vom maximalen Ganzen. Einige von ihnen, vor allem solche, die in globaler Kommunikation zirkulieren, aus den Perspektiven ihrer historischen Besonderheit und ihrer epistemologischen Funktionen zu beschreiben, nehme ich mir für diesen Text vor. Epistemologisch, also auf die Strukturen von Wissen bezogen, ist der Blickwinkel, weil solche Prämissen und Bilder des maximalen Ganzen den Stellen wert von erstaunlich selten explizit werdenden Vorzeichen für individuelle Akte der Erfahrung und der Wissensbildung haben; historisch werde ich nicht im Sinn einer geschichtlichen Dokumentation verfahren, sondern mit der Bemühung, vor dem Hintergrund intellektueller Vergangenheiten eine These über die Spezifik jener epistemologischen Vorzeichen im frühen 21. Jahrhundert zu formulieren.
Einleitung
(2022)
Die politischen Krisen der Gegenwart (Klimawandel, Migration, Pandemie) verlangen nach globalen und ganzheitlichen Lösungen, während Ganzheit aufgrund der Totalitarismuserfahrungen des 20. Jahrhunderts zugleich eine in Verruf geratene Kategorie ist. Dieser Spannung haben sich die Geisteswissenschaften seit einigen Jahren verstärkt zu stellen versucht. Galt das Ganze v. a. der Idealismuskritik lange als suspekt, geht die Verabschiedung überkommener Totalitätsmodelle derzeit oft mit der Erprobung neuer Vorstellungen von Ganzheit einher.
Die dialektische Begriffsentfaltung schöner Kunst in ihren Momenten des Häßlichen, Komischen, Erhabenen ist nicht, wie das Vorurteil will, sophistische Begriffsspielerei; sie ist der angestrengte Versuch, die Möglichkeit bzw. Ermöglichung schöner Kunst unter den ihr "ungünstigen", "prosaischen" Lebensverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft zu entwickeln. Alle ästhetischen Theorien des Häßlichen greifen ein in die Debatte über den Vergangenheitscharakter schöner Kunst; sie melden sich zu Wort als Theorie gegenwärtiger Kunst; sie übernehmen präventiv die Gewährleistung schöner Kunst im Status ihrer drohenden Verabschiedung: sie behandeln sie als suspendiert. [...] Eine Kontroverse zwischen angemessener philosophischer Reflexion moderner Kunst und ästhetischer Theorie steht bislang aus. Aus der Optik einer Einzelwissenschaft heraus ist hier nur auf ihre Aktualität zu verweisen; sie ist merkliches Desiderat gar für Spezialforschungen wie diese über Schlegels 'Studium-Aufsatz'.
Hauffs Werk und Erfolg wurden in der Forschung immer wieder aufs neue und variantenreich durch drei Topoi charakterisiert. [...] Die Wirkmächtigkeit dieser drei Topoi, Eklektizismus, Marktanpassung
und virtuose Technik, scheint so stark und umfassend zu sein, daß das Interesse der Forschung an Hauffs spezifischer Literarizität gegenüber der fast ausschließlichen Konzentration auf die soziologische Analyse eines Erfolgsautors marginalisiert wurde. [...] Vielmehr deutet vieles darauf hin, daß hinter den Marktstrategien Hauffs ein literaturästhetisches, ja sogar ein literaturpolitisches Konzept steht. Eine Voraussetzung für eine diesbezügliche neue Sicht auf Hauff und sein Werk dürfte allerdings sein, daß die spezifische politisch-publizistische Sondersituation Württembergs in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts in den Blick genommen wird.
Die Zuspitzung der Problemkonstellation Virtuosentum versus Kunst im
Vormärz läßt sich plausibilisieren an Balzacs Roman "Les Illusions perdues". Hier wird nämlich die kunstkritische Kontroverse um Virtuosentum und Künstlertum und gleichzeitig das produktionsästhetische, narratologische Problem Feuilletonismus und Kunst zusammen- und enggeführt.
Wenn die Beschäftigung mit dem Thema Erinnerung heutzutage als Mode erscheint, so indiziert das nichts anderes, als dass das Erinnern in ein Stadium der Selbstreflexion eingetreten ist, das das Vergessen nicht vergessen lässt. Zugleich erscheint das Erinnern durch den Bezug auf das Vergessen in einer dynamisierten Form, insofern es nicht mehr über einen einzelnen Term, sondern über das Wechselspiel zweier Terme erklärt wird. Dieses dynamisierende Spiel mit zwei Termen beschränkt sich in der aktuellen Memoriaforschung keineswegs auf das Erinnern und Vergessen. Vielmehr erscheint es als Effekt des mittlerweile erreichten selbstreflexiven Niveaus der Erinnerung und bestimmt auch, wie im Folgenden angedeutet werden soll, den Gegensatz von außerwissenschaftlicher Erinnerungsarbeit und wissenschaftlicher Erinnerungsforschung; da Nebeneinander von transdisziplinärer und interdisziplinärer Erinnerungsforschung, das Verhältnis von raum- und zeitorientierten Erinnerungsmodellen, den Zusammenhang von individuellem und kollektivem Gedächtnis, sowie die Spannung zwischen einer national bzw. lokal verorteten und einer global entorteten Erinnerung.
Der Beginn der literarischen Karriere des Andenkens lässt sich in der
empfindsamen Literatur ausmachen. Dort finden sich auch Hinweise auf die Genese des Alltagsphänomens, die auf eine besondere Beziehung von Andacht und Andenken deuten. Im Folgenden soll die historische Konstellation der beiden Kulturpraktiken Andacht und Andenken skizziert werden. Den Ausgangspunkt bildet die begriffsgeschichtlich bezeugte Verbindung von Andacht und Andenken. Danach soll diese Beziehung mediengeschichtlich, erinnerungstheoretisch und ästhetisch erhellt werden.
Das Kriegserlebnis im für und wider : "Im Westen nichts Neues" von Erich Maria Remarque (1929)
(2011)
Der nationale und internationale Erfolg deutet darauf hin, dass "Im Westen nichts Neues" zehn Jahren nach Kriegsende den Nerv der Nachkriegszeit getroffen haben musste, indem er einen im angloamerikanischen Raum inzwischen etablierten Kriegs- und Nachkriegsmythos der "verlorenen Generation" aufgriff, nach Deutschland importierte, ihm eine neue deutsche Eigenart verlieh und in dieser bereicherten und neuen Form wieder exportierte. Der Roman hat eine aktuelle politische Bedeutung und eine spätere Langzeitwirkung.
Die binäre Opposition von Ideal und Karikatur ist bis in den Alltagswitz eine Erfahrung der Revolutionsepoche geworden. Karl Marx hat dieser Desillusionierung des revolutionären Heroismus, des plötzlichen Umschlags vom Erhabenen zum Lächerlichen und Häßlichen in seiner Schrift "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" die zusammenfassende, man ist fast geneigt zu sagen, klassische publizistische Form gegeben. Es scheint mir daher nicht nur zulässig, sondern auch notwendig, der Opposition Ideal und Karikatur auch in den exotischen Gefilden der Ästhetiken nachzugehen.
Pola Groß beobachtet in ihrem Beitrag zu neuesten deutschen Theatertexten eine Abkehr von der Relevanz der Aufführbarkeit, die mit einer Entwicklung hin zu stärkerer Fokussierung auf die Artifizialität und Poetizität der Texte einhergeht und somit zur "Reliterarisierung des Theaters" führe: Der Einsatz rhetorischer Stilmittel und die Aufwertung von Rhetorik als auch linguistisch fixierbare Sprechhandlung definierter Gruppen auf der Bühne trage dazu ganz wesentlich bei. Das zeigt Groß am Beispiel der Stücke dreier Gegenwartsdramatiker: Thomas Köck, Enis Maci und Wolfram Höll. Sie sind für das Verhältnis von Rhetorik, Stil und Gegenwartsbezug der neuen Stücke so aufschlussreich wie symptomatisch. In Köcks "paradies fluten" trägt nicht zuletzt die disparate Stilmischung zu einer auffälligen "Dramaturgie der Gleichzeitigkeit" bei. Ellipsen und fehlende Interpunktionen verstärken diesen Effekt. Enis Macis "Mitwisser" wird mitunter als "erstes wirkliches Internetdrama" gehandelt. Sie hält den hohen Stil auch dort durch, wo er ironisch gebrochen wird, integriert viele orale Segmente, bleibt jedoch im Ganzen auf die Ausstellung von Stil und Grammatik fixiert, um die Form gegenüber dem Inhalt und seinem Informationsgebot aufzuwerten. Hier schießt die Autorin jedoch, wie Groß überzeugend darlegt, mitunter übers Ziel hinaus, indem sie zu erläuternden (oft allzu moralischen) Kommentierungen bzw. Gebrauchsanweisungen neigt. Auch in Wolfram Hölls "Disko" geht es um den stilistisch bedingten Effekt der Gleichzeitigkeit, mehr noch als bei Köck, der diesen inhaltlich, und Maci, welche ihn formal privilegiert. Der Sound der 'Disko Europa' ist von einem minimalistischen Stil geprägt. Aber die an das elliptische Prinzip anknüpfenden Stile und Phrasen der Figuren nähern sich tendenziell so sehr an, dass sie sich zu einer Gruppen- oder Schulrhetorik formieren. In den unterschiedlich eingesetzten Techniken, eine Gleichzeitigkeit von Stil und Rhetorik zu forcieren, sieht Groß aber doch Möglichkeiten einer genuinen und bühnenwirksamen Literarizität.
Während Frank am Stil als "Handschrift des stilschöpferischen Individuums" gleichwohl festhält, sieht sich Elisa Ronzheimer anhand ihres Materials gezwungen, sowohl diesen Topos wie die Logik von Norm und Abweichung zu verabschieden. Was bei Frank Kombinatorik heißt, muss radikalisiert und neu gedacht werden, um dem international erfolgreichen südkoreanischen Musik-Video "Gangnam Style" gerecht zu werden, weil in diesem Fall das Original selbst schon parodistisch ist. Ronzheimer schlägt vor, das Individualitätsparadigma zu ersetzen durch ein Verständnis von Stil als kollektiver und partizipatorischer Praxis der Figuration und Defiguration. Damit scheint aber auch die Möglichkeit einer Art Wiederkehr der rhetorischen Regelpoetik am oder nach dem 'Ende' des Stils auf. Die Aussicht, dass heute Bedingungen herrschen, unter denen es eine Praxis, ein 'Üben' geben könnte, das nicht mehr automatisch Abweichungen produziert, sondern zur Homogenisierung tendiert, hat Moritz Baßler jüngst unter dem Titel "Der Neue Midcult" entfaltet.
Die Struktur und ihr Stil : wie Schleiermacher zwischen Derrida und Saussure vermitteln könnte
(2022)
Manfred Franks Beitrag widmet sich mit "Struktur" einem Gegenbegriff zum Stil, um Friedrich Schleiermachers sprachtheoretisch begründetes Verständnis des Stils als eines individuellen Allgemeinen zu rekonstruieren. Dabei zeigt sich, dass Stil und Struktur sehr wohl kompatibel sind und zusammengedacht werden können. Allerdings gilt auch bei Schleiermacher, anders als bei Lamy auf eine und bei Luther auf andere Weise, dass der Stil nie direkter Ausdruck (hier: des Individuellen) ist, sondern eine Weise der Kombinatorik, die allein "divinatorisch" zu entschlüsseln ist. Für den Nachweis der Kompatibilität von Stil und Struktur beruft sich Frank vor allem auf den Erz-Strukturalisten Saussure, der hier in große Nähe zu Schleiermacher und polemisch in weite Ferne von Jacques Derridas Saussure-Deutung gerückt wird.
Wie stark Stil durch die Rezipienten in ihren unterschiedlichen historisch-kulturellen Prägungen mitbestimmt wird, zeigt Gyburg Uhlmann in ihrem Beitrag zum Verhältnis von Stil und Elliptik. Um der rhetorischen Figur dynamischer Auslassung an der Schnittstelle von Rhetorik und Rezeption Rechnung zu tragen, erarbeitet sie, auch in Auseinandersetzung mit der reader-response-theory und Flecks Denkstil, das Konzept des Homologiestils. In ihm wird die Möglichkeit einer Übereinstimmung der Leser mit dem Text zu einem integrativen Bestandteil des Textes: Der Text ist angelegt, seinen Lesern die dynamische Verfasstheit seines Stils im Lektürevorgang nahezubringen. In Uhlmanns Analyse wird deutlich, dass und wie Stil mit jeder Lektüre neu entsteht. Sie entwickelt ihre Thesen vor allem mit Blick auf die Pragmatien, also die Schulschriften des Aristoteles, die für die Tradition einschließlich einiger der hier verhandelten Beiträge, maßgeblich sind. Zwischen den Polen eines qualitativen Mangels und einer stilistischen Tugend wird Elliptik bei Uhlmann zu einem Gradmesser der Literarizität eines Textes in der Interaktion mit Rezipienten.
Lutherstil
(2022)
Wie Stil und Rhetorik in einem einzelnen Autor mit- und gegeneinander wirken können, zeigt Barbara N. Nagels Analyse der Texte Martin Luthers, dessen Stil die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache bekanntlich geradewegs bedingt haben soll. In engem Kontakt mit der jüngeren Lutherforschung arbeitet Nagel auf originelle Weise den antirhetorischen Affekt heraus, der Luthers Bibelstil, seinen deutschen Stil und den Disputationsstil grundiert. Was immer im Ausgang von Luther seit Buffons bekanntem Diktum und bis Nietzsche vom Stil behauptet worden ist, für Luther selbst war Stil Lüge und deshalb jüdisch konnotiert (und aus diesem Grund für ihn problematisch). Was heute 'hate speech' heißt und schon damals nicht auf das Reden beschränkt blieb, hat einen seiner Ursprünge in Luther.
Rüdiger Campe argumentiert für die Kontinuität der Rhetorik über die Zäsur von 1800 hinweg. Gegenläufig zu Martin Urmann setzt er jedoch an der bei Descartes und Lamy abgewerteten Übung an, die im Zuge der Bildungsreform endgültig von der Bildfläche verschwunden schien. In der Moderne knüpft allenfalls Raymond Queneau mit seinen "Stilübungen" (1947) an die sich in der französischen Tradition länger erhaltene Praxis an, aber das wohl eher unter ästhetischen als rhetorischen Gesichtspunkten. Dass die Überführung schulischer Übungen in ästhetische Verfahren und stilistischen Ausdruck im modernen Sinne einen Zusammenhang bilden könnten, den Baumgartens Ästhetik von 1750 noch einmal pointiert, war trotz der jüngeren Forschung zu Baumgarten, die seine Bedeutung für das Fortleben der Rhetorik in der Moderne immer wieder hervorgehoben hat, allenfalls zu ahnen. Der Zusammenhang war gleichsam blockiert durch die historische Zäsur, die Rhetorik von Stil trennt, denn in der Folge hat Stil es nicht mehr mit rhetorischen Regeln, sondern mit Dialektiken von Norm und Abweichung zu tun. Diesen ganzen Bereich nennt Campe die taxonomische Dimension des Stils. Und sie trägt auch Verantwortung für die im 20. Jahrhundert notorische Inkriminierung von Stil als verkapptes Machtinstrument. Sehr deutlich wird diese Abwehr beispielsweise an Theodor W. Adornos gespaltenem Verhältnis zum Stil. Campe ergänzt die taxonomische Dimension des Stils um eine praxeologische - prominent verkörpert im Begriff der Schreibszene - die direkt aus der rhetorischen Praxis kommt. Was später Stil sein wird, ist in der Rhetorik nicht in den Regelwerken, weder in der Tropenlehre noch in den 'genera dicendi' zu suchen, sondern in der Praxis, die 'hexis' heißt und eigentlich das Wesen der Rhetorik ist. Dem Eindruck eines radikalen Bruchs entgegen hat das Üben nicht aufgehört und insistiert noch dort, wo es mit 'Werken' im modernen Sinne um etwas anderes zu gehen scheint.
In "Stil als natürliche Repräsentation der Affekte in der cartesianischen Rhetorik" macht Urmann die verblüffende Entdeckung einer Transformation der Rhetorik lange vor der Sattelzeit. Im 17. Jahrhundert, in der Logik von Port Royal wie bei Bernard Lamy, gerät Rhetorik in den Einzugsbereich der philosophischen Logik mit ihrem Primat des Selbstbewusstseins. Die damit zusammenhängende Aufwertung der 'elocutio' führt nicht nur zu einem neuen Interesse an Stil innerhalb der rhetorischen Systematik, sondern es kommen die Affekte in einer Weise ins Spiel, die das sprachzentrierte Wesen der Rhetorik angreift. Schon bei Descartes rutscht Rhetorik in die Einflusssphäre der als menschliche Vernunft gefassten Natur. Natur stellt die Mittel der Redekunst unmittelbar zur Verfügung. Die Bedeutung von Regeln und deren Übung ('studium' und 'exercitatio', 'étude' bei Descartes) rückt in den Hintergrund. Lamy knüpft das gelockerte Band zwischen Rhetorik und Sprache wieder enger, aber auf unerwartete Weise: Die Tropen seien selbst schon die Sprache, in der sich die Affekte wie in einem passiven Medium ausdrücken. 'Elocutio' erscheint als 'natürlicher Stil der Affekte'. Während es nicht schwer ist, von diesem Befund aus Linien von der frühen Neuzeit ins 18. Jahrhundert einschließlich Geniekult zu ziehen, weist Urmann auf den Preis dieser "cartesianischen Trübung" der Rhetorik hin: Weil Rhetorik traditionell immer eine "implizite Theorie der Praxis" gewesen sei, ist die Vorstellung von der Sprache als passives Medium eigentlich widersinnig. In Urmanns Perspektive wird Lamys Rhetorik zum Einfallstor für spätere Einfühlungsästhetiken, deren Kritik bei Nietzsche dann mit der Kritik am rationalistischen Primat des Selbstbewusstseins zusammenfällt.
Die Beiträge dieser Interjekte-Ausgabe zeichnet eine programmatische Dimension aus, die zur Revision einer Reihe von bisherigen Annahmen in der Forschung zu Stil und Rhetorik auch durch überraschende historische Schnitte anregt: von Luther und Bernard Lamy über Baumgarten und Schleiermacher bis zu Musikvideos und Theatertexten der Gegenwart.
Der historische Index für die in der Titelformulierung zum Ausdruck kommenden kontrast-und spannungsreichen Freundschaftskonstellationen in einem um 1800 sich bildenden urbanen Umfeld wird ersichtlich, wenn man die Unterscheidung von empfindsam geprägten Bekenntnisfreundschaften und diplomatisch geführten Freundschaftsnetzwerken einführt.
Anders aber als in den Deutungen der frühen dramatischen Schriften [...] ist 'Die Harzreise' bislang nicht als eine für die Topographie des jüdischen Gedächtnisses entscheidende Wegmarke eingeschätzt und interpretiert worden. Dies verwundert um so mehr, da "Die Harzreise" im Kontext eines ausgiebigen Studiums der "historia judaica" entstanden ist.
Ekphrasis ist in der rhetorischen Theorie der Antike keine Gattung der
Bildbeschreibung, wohl aber eine "Übungsform" (Progymnasmata), die sich verpflichtet durch Sprache innere visuelle Bilder zu erzeugen. Mörike ist bekanntlich ein guter Kenner der Antike, u.a. ausgewiesen als Übersetzer aus dem Griechischen. Sein Gedicht 'L. Richters Kinder- Symphonie' spielt alle Formen der Ekphrasis, des Vor-Augenstellens durch Sprache aus: die Beschreibung, die Narration, die Vision, die evidentia, auch ganz spezifische Formen wie die "Schaurede", die in der
kaiserlichen Zeit der Antike Festbeiträge mit einer impliziten Beschreibung des Festes selbst verbunden hatte.
Wissenspopularisierung
(2013)
Wilhelm von Humboldt leistet zweierlei: I. Er überträgt die Grundfigur des Klassizismus, das Eigene am Fremden zu verstehen, vom Altertum auf die modernen europäischen Nationen mit Hilfe seines Konzepts einer vergleichenden Anthropologie. 2. Er stellt die anthropologisch und geschichtsdiagnostisch zugleich intressierte Frage nach dem Potential, den Voraussetzungen, Bedingungen und Grenzen einer Nation, sich Fremdes aufzuschließen und anzuverwandeln. Damit gelang ihm gegenüber der dem Nationalgeist huldigenden Romantik zwar kein breitenwirksamer, aber ein für die deutsche Klassik richtungweisender Beitrag zur kulturellen Identitätsfindung. Er sollte bis in Goethes Weltliteraturvorstellung fortwirken.
Wie keine andere Erzählung Kleists läßt sich "Der Findling" explizit als Sequenz von 'Vorfällen' lesen. Sieben Mal wird dieser Begriff in der Erzählung als Gliederungsakzent verwendet [...], nicht mitgerechnet der Gebrauch der verbalen Form, etwa bei der Frage: 'was vorgefallen
sei' [...]. Die zeitgenössische Konjunktur des Wortes 'Vorfall' ist in der Medizin, Kriminalistik und der ihr nahestehenden Publizistik zu beobachten, und selbstredend ist dieser Begriff auch dem auf aktuelle Polizeinachrichten bedachten Herausgeber der Berliner Abendblätter, Heinrich von Kleist, geläufig.
Erich Knauf übernahm am 1. Juli 1928 die literarische Leitung der Büchergilde. [...] Er war nicht nur an einer thematischen Erweiterung der Angebotspalette um "zeitgenössisch sozialkritische Werke" interessiert. Es ging ihm offensichtlich zugleich um eine methodische Neuausrichtung des kulturpolitischen Konzeptes der Büchergilde. [...] Der Titel von Knaufs Buch 'Empörung und Gestaltung' ist [...] Programm. Er sollte implizit das neuartige sozialrevolutionäre und ästhetische Konzept für die weitere Gestaltung des Programms vorstellen.
Dem bemerkenswerten wissenschafts- und ästhetikgeschichtlichen Interesse an Friedrich Theodor Vischers Werk in der Gegenwart lässt sich ein weiterer Akzent hinzufügen, wenn man Vischers repräsentative Rolle sowohl im Vormärz wie im Nachmärz rekonstruiert und dabei vor allem auf seine Selbstkorrekturen und Revisionen die Aufmerksamkeit lenkt. In wissenschaftshistorischen Studien der jüngsten Zeit gewinnt die 'Historische Epistemologie' an Kontur.
In der Märchenforschung ist man lange Zeit überwiegend von einem Archetypus oder einem Grundmuster ausgegangen, um dann danach, gleichsam im zweiten Schritt, die Vielfalt historischer Erscheinungen als Varianten eines Typs aufzuzeichnen. Dieses idealtypische Vorgehen schätzt nicht nur die historische Ausprägung eines Märchens als sekundär ein, es geht prinzipiell auch von einer Hierarchie aus. Gegenüber derartigen spekulativen Annahmen ist man heute skeptisch und vorsichtig geworden.
Jugend sei eine "Erfindung" des 18. Jahrhunderts - wurde in der Forschung behauptet. Diese These bestreitet nicht, daß auch schon früher 'Jugend' als Altersstufe bekannt und anerkannt war. Mit rhetorischer Selbstverständlichkeit wurden seit Aristoteles gewisse anthropologische Grundmuster von Jugendlichkeit, z.B. Unbekümmertheit, Unbeständigkeit, Draufgängertum, Übertreibung, Zukunftsorientierung, Schamhaftigkeit und Freundschaftsfähigkeit unterstellt, repetiert und zitiert. Die forcierte These, das Konzept Jugend sei erst im 18. Jahrhundert entstanden, akzentuiert, daß Jugend als selbständige Lebensform ein Kennzeichen der Moderne ist.
Sicherlich hat der Begriff Erbe gegenüber konkurrierenden Begriffen wie dem der Tradition als einer bis in die Lebensverhältnisse hinein fraglosen Beziehung zum Hergebrachten oder dem der Rezeption als einer allein szientifischen Form der Vergangenheitsaneignung einsehbare Vorteile. Er faßt mehr als ein nur wissenschaftsgeleitetes Vergangenheitsverhältnis. Er ist vorbegrifflich angesiedelt in Lebens- und Eigentumsverhältnissen und legt auch in seinem wissenschaftlichen Gebrauch diese, sein Vorverständnis prägende Nähe zu Formen und Regeln gesellschaftlichen Lebens nicht ab. Doch verkehren sich - unbedacht - Vorteile leicht in Nachteile. Es sollten daher die wissenschaftsmethodischen, -theoretischen und -geschichtlichen Verwendungen des Erbebegriffs ebenso überlegt werden, wie die vorbegrifflichen, teils metaphorischen Implikationen, die den Begriffsgebrauch mitbestimmen. Denn gerade letztere entfalten, aus dem wissenschaftlich kontrollierten Kontext entlassen, eigene politische und ideologische Wirkungen. Auf beides kann ich nur knapp eingehen. Wenn ich von wissenschaftlichen Implikationen des Erbebegriffs spreche, die kaum Beachtung finden, denke ich beispielsweise an das Verhältnis der Metapher 'kulturelles Erbe' zu ihrer juristischen Basissemantik; es hat eine wissenschaftsgeschichtliche Vorgeschichte. Wenn ich von außerwissenschaftlichem Vorverständnis spreche, denke ich an den alltagssprachlichen Wortgebrauch und die Alltagserfahrung.
Karikatur
(1976)
Die Romantiker lieben es, programmatisch aufzutreten. Daher ist es bemerkenswert, dass in ihren Manifesten die Nennung und Konzeptualisierung von Ironie, Arabeske, Humor, Phantastik und Groteske dominiert. Die Erwähnung der Satire hingegen findet sich selten, sie bleibt randständig. Und doch ist auffällig, dass zum Beispiel in den nicht zur Veröffentlichung bestimmten poetologischen Notizen Friedrich Schlegels die Satire nicht nur gleichwertig mit Ironie, Burleske, Parodie, Groteske behandelt, sondern zugleich um ihren literaturtheoretischen systematischen Ort und ihre literaturpolitische Stellung geradezu gerungen wird.
Die erste Voraussetzung für eine Neuausrichtung des Verhältnisses der Künste und Medien zueinander bestand darin, dass jede und jedes von ihnen Eigenständigkeit und Gleichwertigkeit beanspruchen konnte. Keine Kunst und kein Medium sollte als zweitrangiger Dienstleister begriffen und missbraucht werden. Illustration von Texten wurde infolgedessen genauso abgelehnt wie eine schlichte Beschreibung einer malerischen Vorgabe.
Meine Überlegungen zielen [...] nicht nur spezifisch auf eine Anfang der 80-er Jahre des 20. Jahrhunderts führende Interpretationsrichtung, die damals bis auf den Kommentar einer Historisch-kritischen Ausgabe durchschlug. Meine Bemerkungen richten sich darüber hinaus auf die Problematik eines positivistisch ausgerichteten Kommentars angesichts eines Œuvres, das bei genauerem Hinsehen nicht nur eine gewisse Nähe zum Positivismus aufweist, sondern zugleich auch Kritik und Distanz. Eine Historisch-kritische Edition trägt von ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Genese her positivistische Züge. Der "Detailrealismus" und der dokumentarische Zug in Annette von Droste Hülshoffs Werk kommt dem entgegen.
Wie sehr gerade Kunst dem Geheimnisbedarf einer modernen Gesellschaft gerecht wird, kann ein Seitenblick auf ein in der Aufklärung gemachtes, faszinierendes und gescheitertes Experiment zeigen, das den Geheimnisbedarf der Gesellschaft auf gesellschaftlicher und lebensweltlicher Ebene zu befriedigen versuchte. Ich denke an die Konjunktur der Freimaurerei als einer Form des modernen Geheimbundes.
Das Merkmal der Vielstimmigkeit mag für Rühmkorfs auf Rede und Gegenrede angelegtes essayistisches, kritisches und polemisches Schreiben, das sich mitunter als sprechendes Fechten im literarischen Handgemenge zeigt, unstrittig sein; zu Anfang seines lyrischen Schaffens jedoch war für die Lyrik Dialogizität ein mehr als ungewöhnliches Ansinnen; es war geradezu provokant. Denn Lyrik, vornehmlich moderne Lyrik, war festgelegt auf "poetische Monologizität".
Schreibszenen des Billets
(2015)
Es ließe sich unschwer eine veritable Bibliothek aus Briefwechseln, Briefstellern, Briefforschung zusammenstellen. Zum Billet, "Briefgen", "Zedul" oder "Blättchen", also zur Vorgeschichte der SMS, könnte man gerade mal einen kleinen Schuber füllen. Diese Asymmetrie ist erklärungsbedürftig und im Blick auf ganz andere als in sogenannten "ordentlichen" Briefen praktizierte Schreibszenen auch aufschlussreich.
Ich will versuchen, an einem Spezialfall der Ornamentästhetik zu zeigen, wie die Arabeske, damals auch Arabeskgroteske genannt, aufgrund ihrer traditionellen Disposition zu einem der bedeutendsten Grenzgänger innerhalb der klassizistischen Ästhetik wird: Sie ist hervorragend geeignet zum autonomen Spiel. Daher avanciert sie auf der einen Seite zum Favorit klassizistischer Ornamentästhetik, gefährdet aber auf der anderen Seite durch die ihr eigene, unbändige Einbildungskraft beständig den Ordnungsgedanken des Klassizismus. Die Arabeske als Grenze einer Grenzziehungskunst scheint mir geeignet, die Spielregeln klassizistischer Ästhetik und die Notwendigkeit oder wenigstens Möglichkeit des Übertritts zur Romantik plausibel zu machen.