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Die Schwierigkeit von Zugehörigkeit in einer Stadt, die sich durch Zerstörung und Wiederaufbau ständig im Wandel befindet, ist eines der Themen, mit denen der libanesische Regisseur Ghassan Salhab seine Filmfiguren konfrontiert. Die Zerstörung des multikonfessionellen und sozial gemischten Stadtzentrums bereits in den ersten Kriegsjahren, die zu einer Entkernung der Stadt Beirut, zu einer leeren Mitte führte, hat die Auslöschung sozialer Erinnerungsräume zur Folge. Stadtviertel erfahren entsprechend einer kriegsbedingten, zunehmenden Fragmentierung der Stadt massive Veränderungen ihrer Sozialstruktur hin zu kleineren homogenen Einheiten, wodurch die durch stark emotionalisierte Erinnerungen geprägten mentalen Topographien die physische Realität überlagern.
Der folgende Text entstand aus einem Vortrag, der am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg am 30.1. 1992 gehalten wurde. Er erschien im Druck in: Dietrich Harth (Hg.): Fiktion des Fremden. Erkundung kultureller Grenzen in Literatur und Publizistik. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag 1994, S. 83-112. In der deutschen literarischen Emigration nach Frankreich ab 1933 wird eine ganze Generation von Autoren gezwungen, ihr Denkmodell >Frankreich< mit der Realität zu konfrontieren. Das ist nicht nur ein imagologischer >Praxistest< im Vergleich von >Bild< und >Realität<, sondern es geht in diesem Ineinander von Selbst- und Fremddefinition im Grunde um die politische, geistige, psychologische Selbstfindung. Denn das positive Heteroimage >Frankreich< ist ganz eng an das sehr kritisch besetzte Autoimage >Deutschland< gebunden. Die in den images steckenden >imagotypen Makrostrukturen< werden sowohl in politische Hoffnungen und Erwartungen wie in literarische Phantasien umgesetzt. In Texten aller Gattungen - fiktionalen, journalistischen wie essayistischen - findet sich eine >fiktionale Sehweise< von Frankreich, die auf ihre Strukturen, auf Statik und Prozeßhaftigkeit befragt werden soll.
"Das zwischen dem Herbst 1989 und dem 3. Oktober 1990 entstandene literarische Material, das von einer vielfältigen Haltung der DDR-Intellektuellen zur deutschen Wiedervereinigung zeugt, scheint mir [...] besonders wichtig. Die Textsammlung [Grenzfallgedichte : eine deutsche Anthologie] - etwa 100 Gedichte - die hier kurz besprochen wird, bildet einen vielstimmigen Kommentar, manchmal genau datiert, zu den politischen Ereignissen jener Zeitspanne, in der sich der Lauf der deutschen Geschichte radikal verändert hat."
»Die Spur, von der wir sprechen«, so Derrida in der Grammatologie, ist »so wenig natürlich (sie ist nicht das Merkmal, das natürliche Zeichen oder das Indiz im Husserlschen Sinne) wie kulturell, so wenig physisch wie psychisch, so wenig biologisch wie geistig«. Wie ist aber dann die Spur, von der Derrida hier spricht, zu denken? Und vor allem: Warum soll die Spur nicht an die Begriffe des Merkmals, des natürlichen Zeichens oder des Indices anschließbar sein?
Entlang von Claude Lanzmanns Film "Le dernier des injustes" (Frankreich 2014) analysiert Getrud Koch, wie sich der Conatus in der extremen Situation eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers, in dem es kaum noch Handlungsspielräume gibt, um das Überleben zu sichern, an den imaginären Entwurf eines Lebens bindet. Im Zentrum steht das Gespräch, das Lanzmann mit Benjamin Murmelstein, einzigem überlebendem Judenältesten und Kollaborateur, über dessen Beitrag an dem Theresienstadt-Film führt, der unter dem Titel "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt" fungiert. In ihrer Analyse geht Koch von der doppelten Struktur des Sehens aus, die das Medium Film charakterisiert: Der Film gibt etwas als Bild zu sehen und macht zugleich etwas zu einem Bild. Diese Verschränkung von konkreter Materialität und Artefakt im Film hat zur Folge, dass Leben spielen und am Leben bleiben eins werden. Der Begriff der Imagination geht, wie Koch damit zeigt, durch die technische Implementierung im Film neue Relationen mit dem Materiellen und den Körpern ein, was beide Begriffe, jenen des Conatus und jenen der Lebensnot, und das Verhältnis zwischen ihnen neu zu denken verlangt.
1998 und 2000 fanden zwei virtuelle Konferenzen im Bereich der Politik und politischen Bildung statt. Die Zielgruppe, die dabei den Weg ins Netz fand, kam aus dem Bereich Erwachsenenbildung und politische Bildung und hatte meist keine oder wenig Erfahrungen mit der Nutzung der kommunikativen Dienste des Internet. Ein explizites Ziel der beiden Veranstaltungen mußte daher die einfache Bedienbarkeit sein. Eine besondere Herausforderung lag zudem darin, die Personen, die sich deutschlandweit zu den beiden virtuellen Veranstaltungen angemeldet hatten, innerhalb der Tagungsdauer zu einer aktiven Diskussion zu motivieren. Aus den Erfahrungen mit den beiden Veranstaltungen können Hinweise auf die Gestaltung virtueller Konferenzen abgeleitet werden. Neben der Definition einer virtuellen Konferenz und ihrer Einordnung zwischen anderen Kooperations- und Kommunikationsformen im Netz, werden in diesem Beitrag die beiden Konferenzen vorgestellt und ein Fazit sowie einige Gestaltungstipps davon abgeleitet.
Das schöne Wort "Weltliteratur" verdanken wir zwar nicht Goethe, wie immer wieder behauptet wird, sondern Wieland. Goethe aber verdanken wir einen Begriff von Weltliteratur, der sich nicht auf den Kanon ihrer Meisterwerke beschränkt, wie es sowohl bei Wieland als auch im heutigen Sprachgebrauch konnotiert wird. Seine Verwendung des Begriffs umfaßt alles, was durch die Beschleunigung von Handel und Verkehr an Gedrucktem grenzüberschreitend Verbreitung findet. Dazu gehört sowohl die mit der Internationalisierung der Märkte unvermeidlich ausufernde Massenware als auch das Pretiose; die "englische Springflut" genauso wie der chinesische Sittenroman des Yü-chiao-li. Das entscheidende Definitionskriterium für Goethes Begriff der Weltliteratur ist die weltweite Rezipierbarkeit. Und was das Bedeutende vom Unbedeutenden unterscheidet, ist dennoch von denselben kommunikativen Voraussetzungen abhängig. ...
Ein Film von Claude Simon? Im Gegensatz zu Alain Robbe-Grillet und Marguerite Duras kennt man Simon nicht als Filmregisseur. Seine Vorliebe scheint im Bereich der technischen Bildmedien eher der Photographie zu gelten als dem Film: Simon veröffentlichte zwei Bände mit eigenen Photographien (Album d’un amateur von 1988 und Photographies von 1992) und auch seine Romane machen insgesamt weniger den Film zum Thema als die Photographie: Nicht nur enthalten Simons Romane immer wieder lange Beschreibungen fiktiver (oder realer) Photographien und Postkarten (in L’Herbe, Histoire, La Bataille de Pharsale, L‘Acacia), auch modelliert er Bewußtsein und Gedächtnis seiner Protagonisten häufig als ein photographisches. Erinnerungen – das läßt sich vor allem an Le Vent (1957) zeigen – können jederzeit die Qualitäten einer photographischen Aufnahme annehmen, werden charakterisiert und beschrieben, als wären es sich nicht mentale Bilder, sondern tatsächliche Photographien. Die Mediatisierung der visuellen Wahrnehmung stellt für Simon dabei keine Entfremdung von einer nicht-medial unterstützten Wahrnehmung dar; vielmehr erlaubt sie es allererst, die subjektive und körperliche Gebundenheit einer je partikularen Perspektive zu denken.
Der ›Straßburger Alexander‹ ist seit jeher in der Forschung als bedeutendes Zeugnis der Ausformung frühhöfischer Epik gewürdigt worden. […] Er ist eine stark erweiternde und einen ganz neuen Handlungsteil hinzufügende Bearbeitung einer kürzeren Dichtung, die uns in der großen Vorauer Sammelhandschrift bezeugt ist. Christoph Mackert […] sieht den ›Vorauer Alexander‹ als eine Dichtung an, mit der laienadlige Rezipienten dazu „angeleitet“ werden, „sich phantasierend von impulsiver Unbesonnenheit zu distanzieren und die Notwendigkeit einer Vereinigung von sapientia et fortitudo zu bejahen“ […] Der folgenden Darstellung liegt die Vermutung zugrunde, dass sich das ‘Lehrhafte’ solcher Dichtungen unter anderem dadurch präzise erschließen lässt, dass erzählte Dinge in ihren möglichen Funktionen sorgfältig analysiert werden. Solche Dinge könnten dann (funktionsäquivalent etwa zu Figuren, die nur in einer bestimmten Situation einer Erzählung bedeutsames Gewicht haben und diese Szene dann in der Erinnerung des Rezipienten ‘repräsentieren’ können) als ‘Merkgegenstände’ für Handlungssequenzen fungieren.
Wenn "Der Marques de Bolibar" hier […] in eine Reihe mit bedeutenderen Texten gestellt wird, bedarf das einer Begründung. Die erzähltheoretische Frage nach der Motivation von Geschehen betrifft den narrativen Aufbau literarischer Werke, nicht ihren ästhetischen Wert. In den vier bislang untersuchten Texten war der Aufbau einer doppelten Welt beziehbar auf umfassendere metaphysische, ästhetische, sozialhistorische und psychologische Probleme. Auch im "Marques de Bolibar" werden zwar gewichtige Themen und Motive verwendet – der Ewige Jude tritt auf, es geht um Apokalypse und kollektiven Wahn. Diese Elemente werden jedoch nur als Versatzstücke verwendet und erschöpfen sich in ihrer narrativen Funktion. Andererseits: Gerade weil er kein "Loch in den Bauch der Welt reden" wollte und sich auf das Handwerk einer durchdachten Handlungsfügung beschränkte, gelang es Perutz, unter allen fünf Autoren die doppelte Motivationsstruktur am prägnantesten auszuarbeiten. Während die Erzählstruktur der doppelten Welt bei Goethe der Auseinandersetzung mit romantisch-metaphysischem Wirklichkeitsverständnis diente, bei Hoffmann eine verdeckte Poetik ausdruckte, bei Vischer psychopathologischen und bei Mann regressiven Hintersinn er-öffnete, ist sie bei Perutz nurmehr Instrument zur Befriedigung gehobenen Unterhaltungsbedürfnisses. Diese unterschiedlichen Funktionen derselben narrativen Struktur werden am Schluß noch ausführlicher zu erörtern sein.
Zwischen Animismus und Computeranimation : das Unheimliche als Unbegriff im 20. und 21. Jahrhundert
(2011)
In ihrer ausführlichen Einführung in die Thematik des Bandes widmet sich Anneleen Masschelein den divergenten Konzeptualisierungen des Unheimlichen nach Freud. Quer durch unterschiedliche Disziplinen zeichnet sie die uneinheitlichen 'Wucherungen' des Begriffs bis in die Gegenwart nach. Das Unheimliche, so ihre zentrale These, ist als Konzept weniger das Ergebnis einer organischen Entwicklung, sondern je Resultat ihm aufgepfropfter heterogener Bedeutungen und Theorien. Diese Ambivalenz hat dem Begriff einerseits permanente Infragestellungen eingetragen, weil sie zu Denkansätzen geführt hat, die sich sehr weit von Freud entfernten. Andererseits ist diese Offenheit seine Stärke, weil sie zu fortwährenden Aktualisierungen Anlass gegeben hat. Masschelein geht diesen historischen Neubestimmungen des Unheimlichen, insbesondere seinem Verhältnis zum Belebten und Unbelebten nach. Sie erörtert, wie es sich vom Animismus am Ende des 19. Jahrhunderts bis zu Robotik, Virtueller Realität und Computeranimation im 21. Jahrhundert konzeptuell transformiert hat.
Die Klasse gliedert sich in Zwergstrauchheiden (Ordnung Calluno-Ulicetalia Tüxen 1937 em. Preising 1949) und Borstgras-Rasen (Ordnung Nardetalia Preising 1949). Die Zusammenfassung dieser beiden Vegetationsformationen in einer Klasse ist umstritten (Oberdorfer 1978: 208), erscheint aber aus mitteleuropäischer Sicht aufgrund floristischer Gemeinsamkeiten gerechtfertigt. Gegenüber der gebräuchlichen Bezeichnung Nardo-Callunetea Preising 1949 ist der ältere Name Calluno-Ulicetea maßgeblich.
Den Romanen des "philosophischen Schriftstellers" Italo Calvino lassen sich grundlegende Fragen der zeitgenössischen Ästhetik entnehmen. Sie eröffnen einen Horizont, innerhalb dessen sich auch das theoretische und literarische CEuvre des "Roman-schreibenden Philosophen" Umberto Eco bewegt, ja es scheint fast, als befänden sich die Werke beider in einem Dialog. Jedes lebendige Kunstwerk ist, wie Eco betont, ein Kunstwerk in Bewegung, offen für neue interpretative und kommunikative Möglichkeiten sowie für neue Möglichkeiten des ästhetischen Genusses. Der Interpretationsprozeß gleicht einer Pendelbewegung zwischen der "Offenheit" der Rezeptionsmöglichkeiten und der "Geschlossenheit" bzw. Bestimmtheit des Werkes durch seine Struktur. Der Interpret steht demnach innerhalb einer nicht stillzustellenden Bewegung. in deren – immer erneut notwendigen – Nachvollzug er sowohl Erkenntnisse über die "kombinatorischen Möglichkeiten des Codes" gewinnt, als auch über "die Codes (...) einer bestimmten Periode der Kunstgeschichte." Daher ist es die Aufgabe der semiotischen Interpretation eines ästhetischen Textes, "das strukturierte Modell für einen unstrukturierten Prozeß eines kommunikativen Wechselspiels" zu liefern. Für Eco ist die Interpretation ein pragmatisch-hermeneutischer Prozeß, der im "Taumel der Möglichkeiten" bestimmte Bedeutungsmöglichkeiten ausschließt und andere privilegiert. Ein "epochales" Kunstwerk ist nach Eco eine "epistemologische Metapher", es repräsentiert ein "diffuses theoretisches Bewußtsein", das von den wissenschaftlichen und ästhetischen Theorien seiner Zeit gespeist wird. Dies gilt in besonderem Maße für die Romane Calvinos und Ecos: Der "Held" ihrer Romane ist der Interpretationsprozeß im Spannungsfeld zwischen Autor, Text und Leser. Dabei geht es um die Frage: Wie wird sich der Interpret im Verlauf der Interpretation seiner Rolle als Interpret bewußt? Die Absicht Ecos und Calvinos ist eine aufklärerische: Sie wollen einen "neuen Leser" schaffen, der sich seiner Rolle als Leser bewußt ist und der die Verantwortung für seine Lektürekonzeption übernimmt. "Ein Text will für seinen Leser zu einem Erlebnis der Selbstveränderung werden".
Zweizahn-Melden-Ufergesellschaften : Bidentetea tripartitae Tüxen, Lohmeyer & Preising in Tüxen 1943
(1990)
Zweizahn-Melden-Ufergesellschaften besiedeln Standorte, die vom Winter bis in das Frühjahr hinein lange unter Wasser stehen und wo nach Rückzug des Hochwassers offene Böden zurückbleiben oder neue Sedimente abgelagert werden. Auf diesen häufig sehr nährstoffreichen (stickstoffreichen) Schlammböden, die erst spät im Jahr abzutrocknen beginnen, entwickelt sich innerhalb von nur drei bis fünf Monaten eine Pioniervegetation aus Sommerannuellen, die im August und September optimal entwickelte Aspekte zeigt und danach rasch abstirbt. Flußmelden-Gesellschaften (Verband Chenopodion rubri) besiedeln vor allem Flußufer, während Zweizahn-Gesellschaften (Verband Bidention tripartitae) häufiger an Teich- und Grabenufern, nassen Wegrändern sowie landwirtschaftlich beeinflußten Plätzen wachsen.
Speakers of Russian from the former Soviet Union and speakers of Turkish form the two biggest groups of immigrants in Germany. There is a number of surveys, that focus on early second language acquisition of kindergarten and primary school children in these ethnic groups. In this article, I will discuss differences and similarities of the second language acquisition process, that Russian and Turkish speaking children go through. I will compare not only the interlingual development (pronunciation, lexicon, syntax and morphology) but also the sociocultural context. For this purpose the data of my case studies will be contrasted with the other research results.
Komplikationen von Zeitreisen sind nicht unvertraut. Entfaltet werden sie in einem eigenen Genre von Geschichten. Die erste namhafte Erzählung, in der eine Zeitreise mit Hilfe einer Zeitmaschine unternommen wird, ist schon dem Titel nach einschlägig, ja ikonisch: 'The Time Machine', 1895 verfasst von H.G. Wells. Dabei handelt es sich um einen Urtext der Science Fiction, wofür besonders wichtig ist, dass hier die Reise in eine äußerst ferne Zukunft führt. Bevor ich mich diesem Text ausführlicher zuwende, schicke ich einige Bemerkungen zur wissenschaftlichen Denkbarkeit und technischen Machbarkeit von Zeitreisen voraus. Im Anschluss an Wells’ klassisch-modernes Modell der Zukunftsreise werde ich dann zwei Romane aus den 1990er Jahren besprechen, in denen Zeitreisen in die Vergangenheit führen: 'Timeline' von Michael Crichton (1999) und 'Making History' von Stephen Fry (1996). In diesen Geschichten zeigt sich eine für das späte zwanzigste – und auch noch für das beginnende einundzwanzigste – Jahrhundert charakteristische, wohl mit Recht als 'postmodern' zu charakterisierende Fixierung auf Vergangenheit und Historizität. Ähnliches gilt für Robert Zemeckis’ Filmtrilogie 'Back to the Future' (1985–1990), die ich abschließend erörtern werde. Hier wird auf virtuos selbstbezügliche Weise ein zugleich spannendes und komisches Hin und Her zwischen den Zeitformen inszeniert und ins bewegte Bild gesetzt.
Zur Übersetzung literarischer Titel : Titelübersetzungen aus sprachwissenschaftlicher Perspektive
(2013)
Literarische Titel dienen nicht nur zur Identifizierung und Anpreisung eines Werkes, sondern sie geben oftmals auch direkte Hinweise zur Aufschlüsselung des Geschehens, des Themas oder des Werksinnes, ehe noch eine Aufklärung des Lesers durch den Text stattgefunden hat (vgl. Hellwig 1984: 6, Lämmert 1993: 144 u. Schweikle 1990: 465). Bei der Wahl der Überschrift für sein Werk zeigt der Autor daher größte Sorgfalt, um die Bedeutung und Aussagekraft zu intensivieren. Auch bei der Titelübersetzung sind diese Aspekte zu berücksichtigen. Die Übersetzungen von literarischen Titeln werden jedoch meist kritisiert, weil sie angeblich dem Original nicht entsprechen (vgl. Tanış Polat 2007a: 580ff.). Das Ziel der vorliegenden Studie besteht darin, anhand einer qualitativen und quantitativen Analyse Titelstrukturen nach Form, Frequenz und Distribution zu untersuchen, um Aufschluss über besondere übersetzungsstrategische Entscheidungen bei Werken der zeitgenössischen Literatur zu liefern und auf diese Weise mit einer wissenschaftlichen Argumentation der erwähnten Kritik entgegen zu treten. Der Beitrag ist folgendermaßen strukturiert: zunächst werden relevante Eigenschaften der literarischen Titel umrissen, danach folgt die Darstellung der Probleme, die die Titelübersetzung von literarischen Texten betrifft. Im Anschluss werden mit Hilfe einer Korpusanalyse, die sich auf übersetzte Titel aus dem Deutschen ins Türkische konzentriert, übersetzungsstrategische Entscheidungen untersucht. Die Analyse stützt sich auf die Gegenüberstellung von 270 zeitgenössischen Titeln. Mit einer Auswertung der Analyseergebnisse wird die Untersuchung abgeschlossen.
Das Konzept der Intersektionalität hat sich in den letzten Jahrzehnten in den Geistes-, Sozial- und Lebenswissenschaften als überaus einflussreich erwiesen. Auch in der Literaturwissenschaft gewinnen Intersektionalitätstheorien zunehmend an Bedeutung. Der Beitrag geht von dieser Entwicklung aus und fragt zunächst allgemein danach, wie sich das Konzept für literaturwissenschaftliche Methoden und Fragestellungen fruchtbar machen lässt, in denen die Beschäftigung mit Intersektionalität über ein Verständnis dieser als reine Identitätstheorie hinausgeht. Die Analyse von Bernardine Evaristos preisgekröntem Roman "Girl, Woman, Other" (2019) führt anschließend vor, wie Identitätsfragen aus intersektionaler Perspektive nicht nur Interdependenzen der Ungleichheiten zwischen Figuren in den Blick nehmen, sondern auch die systemischen Grundlagen dieser Ungleichheiten sowie deren Einbindung in eine hegemoniale Kulturindustrie. Mit seiner Thematisierung von Intersektionalität als Thema auf mehreren Ebenen dient der Roman als Beispiel, wie das Konzept als Theorie und Methode die Literaturanalyse bereichern kann, und umgekehrt, welche Impulse sich aus der Beschäftigung mit Literatur und narratologischen Analysekategorien wie Perspektive und Perspektivenstruktur auch für die Intersektionalitätsforschung gewinnen lassen.
Zur Topographie des Kapitols
(1898)
Es liegt nahe, dass das Äsop-Kapitel des ›Liber de moribus egregiisque dictis omnium philosophorum et poetarum‹, der philosophiegeschichtlichen Enzyklopädie eines anonymen Bearbeiters, das Interesse der Fabelforschung gefunden hat: Der Fabelbestand ist verzeichnet im Katalog von Gerd Dicke und Klaus Grubmüller. Hier findet sich auch der wichtige Hinweis darauf, dass die Fabelepimythien regelmäßig einen „Sentenzeneinschub“ enthalten. Versucht man, die Sentenzen zu identifizieren, so zeigt sich bald, dass sie, nicht selten versatzstückartig integriert, verschiedenen lateinischen Proverbiensammlungen und Spruchcorpora zuzuordnen sind und (nicht nur) mit Blick auf überlieferungsgeschichtliche Zusammenhänge eine lohnende Quelle für die Parömiologie bilden. Anknüpfend an die Forschung zum Verhältnis von Fabel und Sprichwort bzw. Fabel und Proverbium, möchte der vorliegende Beitrag anhand des Äsop-Kapitels des ›Liber de moribus‹ darlegen, inwiefern die Interferenz von Fabel- und Proverbiensammlung textgenerierende Funktion im Sinne einer produktiven Textkompilation besitzen kann.
[I]n der folgenden Skizze [soll] argumentiert werden, dass eine Rückführung unterschiedlicher Lesarten auf unterschiedliche syntaktische Verhältnisse […] unangemessen ist. Vielmehr sol1 aufgezeigt werden, dass es sich um eine ausschließlich semantische Frage handelt, die syntaktische Struktur in jeder Hinsicht aber die immerselbe ist. […] Unser Gegenstandsbereich fasst somit Fälle zusammen, die unter anderen Gesichtspunkten differenziert werden. [...] Diese Gesichtspunkte, nach denen die Differenzierung erfolgt, sind semantischer Natur. Für unsere syntaktische Analyse nehmen wir in Anspruch, dass sie auf alle Adverbialstrukturen zutrifft, mit Ausnahme von Satzadverbialen und (den diesen strukturell gleichen) Adverbialsätzen. Gezeigt wird dies jedoch nur an Fallen wie oben, an Adjektiven in modaladverbialer Funktion. Diese Adjektive fassen wir im übrigen kategorial als das auf, was sie ihrer Form nach sind, nämlich unflektierte Adjektive.
Zur semantischen Entwicklungsgeschichte von „wollen“ : Futurisches, Epistemisches und Verwandtes
(2000)
The paper addresses the longstanding question of whether the copular verb "werden" ('become') is a transitional, i.e. telic, or a nontransitional, i.e. atelic, verb, or verb that is unspecified with regard to telicity. By means of standard tests and historical considerations, it is argued that the verb is telic and refers to accomplishment situations. Nevertheless, there are two types of copular "werden"-clauses with regard to which this view may seem questionable at first sight. First, some "werden"-clauses appear to refer to achievements. This, however, is not a matter concerning the semantics of werden. Rather, the crucial cases are accidentally instantaneous because their predicative complements are absolute predicates. Hence, they do not allow for extended transitions from one state to another. Second, some other "werden"-clauses, expecially those with comparative complements, sometimes appear to refer to processes. However "werden" combined with a comparatival adjective can be shown to be able to refer to clear accomplishment situations. The process-effect is due to a common phenomenon of reinterpretation that leads to iterative transitions between degrees.
Die Rhetorik, die im Türkischen als "Belagat/Belagat Sanatı" (Hitabet Sanatı) bezeichnet wird, ist ein mehr oder minder ausgebautes System gedanklicher und sprachlicher Formen, die dem Zweck der vom Redenden in der Situation beabsichtigten Wirkung dienen können (Lausberg 1990: 13). In vielen verschiedenen Bereichen wie Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Theologie und Werbung wird in großem Maße von der Rhetorik profitiert. Der Anwendungsbereich der Rhetorik ist jedoch nicht nur auf das Reden begrenzt; die Rhetorik liefert ein detailliertes Modell zur Herstellung von Texten und kann deshalb auch als Texttheorie verstanden werden (Braungart 1997: 290). In diesem Zusammenhang wird die Rhetorik als Instrument der Textbeschreibung und –analyse bezeichnet (Braungart 1997: 290). Laut Gero von Wilpert (2001: 687) übt die Rhetorik durch die künstlichen Schmuckformen einen starken Einfluss auf die schriftlichen Texte, insbesondere auf die Literatur, aus, da die Dichter oder Schriftsteller ihre Werke mit der ästhetischen Kraft der Sprache erstellen. In den Texten wird die Rhetorik durch die sprachlichen Formen und Figuren präsentiert, die im Deutschen als "Rhetorische Figuren" und im Türkischen "Edebi Sanatlar" bezeichnet werden.
Die folgende Untersuchung hat das Ziel, die deutschen rhetorischen Figuren mit den türkischen zu vergleichen und Ähnlichkeiten sowie Unterschiede zwischen den rhetorischen Figuren anhand von den Beispielsätzen in beiden Sprachen aufzudecken und zu analysieren.
Die Sprache ist ein variables, sich ständig entwickelndes Phänomen, weshalb es schwierig ist, eine endgültige Norm festzusetzen. Noch schwieriger kann es sein, wenn man eine Fremdsprache mit ihren oft schwankenden Normen erlernen möchte und dabei keine Möglichkeit hat, sich bei der Kommunikation auf seine sprachlichen, in der Kindheit erworbenen Erfahrungen zu verlassen wie Muttersprachler/innen. Die Fremdsprachenlerner sind also davon abhängig, was alles ihnen von der jeweiligen Sprache präsentiert wird. Damit wird umso mehr Verantwortung in die Hand der Lehrer/innen und Lehrwerksentwickler/innen gelegt, denn sie entscheiden, welche Aspekte der Sprache und welche 'Norm' die Schüler/innen kennen lernen. Im Beitrag wird deswegen der Frage nachgegangen, wie sich Lehrwerke am Beispiel 'Deutsch als Fremdsprache' mit sprachlichen Normen und den Abweichungen von der sprachlichen Norm bzw. Besonderheiten der Sprache auseinandersetzen. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich vor allem auf drei Aspekte dieser Problematik: Ausgewählte Typen von Abweichungen und Unregelmäßigkeiten der Sprache aus den Bereichen Grammatik, Wortschatz und Phonetik, Art und Weise von deren Präsentationen aus der Perspektive der Verständlichkeit und deren Bewertung als zentral oder als abweichend bzw. peripher. Nach diesem Kriterium werden Unterschiede zwischen neueren und älteren Lehrwerken und zwischen Lehrwerken deutscher und tschechischer Autor/innen thematisiert.
Die seit der jüngeren Bronzezeit verstärkt auftretenden Bogenschützen und Schleuderer bedurften eines spezifischen Trainings und einer Ausbildung, die weg vom Individualkämpfer zum Kämpfer im Verbund ausgerichtet war. Dieser Prozess wird als Professionalisierung in der Kriegsführung und als einschneidende Veränderung im Konfliktgeschehen in der Bronzezeit verstanden. Der Begriff der Professio nalisierung wird daher zunächst in seiner technischen Bedeutung verwendet. Mit der Entwicklung von einer individuellen zu einer organisierten und in der Gruppe ausgeübten Aktion sind eine Steigerung der Effizienz und eine Standardisierung verbunden, die zur Verbesserung der Qualität – eben dem bewaffneten Konflikt führt. Seit der jüngeren Mittelbronzezeit und in der Spätbronzezeit sind durch spektakuläre neue Befunde Befestigungen bekannt geworden, die Spuren von Angriffen und Zerstörungen durch Brand/ Feuer aufweisen. Dabei kamen Fernwaffen zum Einsatz, Pfeil und Bogen sowie Schleuderkugeln und Speere. Jedoch scheinen solche Konflikte keine alltäglichen Ereignisse gewesen zu sein, da von den meisten Befestigungen keine Hinweise auf Konflikte oder Gewaltereignisse vorliegen.
Stellt man die Frage nach den enzyklopädischen Weltentwürfen des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, so führt kein Weg am Phänomen des Hypertextes vorbei - hypertextuelle Netzstrukturen, das wissen gerade auch die Lexikologen, erweisen sich für die Darstellung komplexer Wissenszusammenhänge als besonders geeignet. So haben wir heute im Rahmen von Daten-CDs und des World Wide Web die Möglichkeit, auf Enzyklopädien zuzugreifen, die offline wie online als Hypertexte organisiert sind - etwa die Encyclopaedia Britannica.
Zur Lehrhaftigkeit der ›Treuen Magd‹Wenn man schon aus fast allen Erzählungen etwas lernen kann, so soll man es in besonderer Weise aus Erzählungen vom Exempeltyp, die ja eine Lehre explizieren und ihre Gültigkeit in einem Handlungsteil belegen oder ‘beweisen’. Die Exempelerzählung gilt als ein recht urtümliches literarisches Phänomen, in der Regel glatt gefügt und einfach zu deuten. Beim Märe ›Die treue Magd‹ liegt das Moment des Belehrens auf der Hand, der Zusammenhang von Lehre und dargestellter Handlung ist offensichtlich, und so sollte das hübsch erzählte Stück der Deutung keinen Widerstand entgegensetzen.
[D]ie Analogie zwischen den vertikalen Ordnungen der Körper- und der Gesichtszonen [wird] in mindestens einem wesentlichen Detail gestört. Dieses Detail ist die Nase. In der alteuropäischen Physiognomik bildet sie ein herausragendes Detail in dem umfassenden System der Ähnlichkeiten, das den Menschen nicht nur zu den kosmischen Elementen, sondern auch zu den Tieren und deren Eigenschaften in Beziehung setzte. [...] Spätestens seit dem 18. Jahrhundert wird diese Tierähnlichkeit als ganze prekär, und das macht gerade die Nase zu einem physiognomischen Ärgernis.
Die tschetschenische und die deutsche Sprache gehören bekanntlich zu unterschiedlichen Sprachfamilien. Die traditionelle morphologische Klassifikation zählt das Tschetschenische zu den agglutinierenden Sprachen. Dennoch zeigt das Tschetschenische viele gemeinsame Züge mit den Sprachen anderer genealogischer Strukturen, so zum Beispiel – unserer These nach – mit dem Deutschen auf dem Gebiet der Phonetik. Hinsichtlich der Morphologie und der Syntax gib es Ähnlichkeiten mit den slawischen Sprachen, vornehmlich dem Russischen. Die tschetschenischen Sprachforscher betonen aber, dass ihre Sprache unter den anderen kaukasischen, agglutinierenden Sprachen einen besonderen Platz einnimmt, weil man in ihr viele Merkmale der Flektierbarkeit beobachten kann, besonders bei der Deklination von Gattungsnamen, Adjektiven und Partizipien.
Sicherlich hat der Begriff Erbe gegenüber konkurrierenden Begriffen wie dem der Tradition als einer bis in die Lebensverhältnisse hinein fraglosen Beziehung zum Hergebrachten oder dem der Rezeption als einer allein szientifischen Form der Vergangenheitsaneignung einsehbare Vorteile. Er faßt mehr als ein nur wissenschaftsgeleitetes Vergangenheitsverhältnis. Er ist vorbegrifflich angesiedelt in Lebens- und Eigentumsverhältnissen und legt auch in seinem wissenschaftlichen Gebrauch diese, sein Vorverständnis prägende Nähe zu Formen und Regeln gesellschaftlichen Lebens nicht ab. Doch verkehren sich - unbedacht - Vorteile leicht in Nachteile. Es sollten daher die wissenschaftsmethodischen, -theoretischen und -geschichtlichen Verwendungen des Erbebegriffs ebenso überlegt werden, wie die vorbegrifflichen, teils metaphorischen Implikationen, die den Begriffsgebrauch mitbestimmen. Denn gerade letztere entfalten, aus dem wissenschaftlich kontrollierten Kontext entlassen, eigene politische und ideologische Wirkungen. Auf beides kann ich nur knapp eingehen. Wenn ich von wissenschaftlichen Implikationen des Erbebegriffs spreche, die kaum Beachtung finden, denke ich beispielsweise an das Verhältnis der Metapher 'kulturelles Erbe' zu ihrer juristischen Basissemantik; es hat eine wissenschaftsgeschichtliche Vorgeschichte. Wenn ich von außerwissenschaftlichem Vorverständnis spreche, denke ich an den alltagssprachlichen Wortgebrauch und die Alltagserfahrung.
Seit mehr als 60 Jahren dominiert in der historisch-phonologischen Umlaut-Landschaft EIN Aufsatz, eine vierseitige Skizze des althochdeutschen Umlauts von W. Freeman Twaddell. Keller (1978: 160) nennt diese Theorie 'one of the finest achievements of American linguists'. Ähnliche Lobsprüche findet man mehrmals in der Literatur und der Artikel bleibt bis heute noch DER Eckpfeiler der Umlaut-Debatte (s. Krygier 1997, Schulte 1998).
In den letzten paar Jahren haben wir mit einigen Kollegen – Anthony Buccini, Garry Davis, David Fertig, Dave Holsinger, Robert Howell, Regina Smith – einen neuen Ansatz entwickelt, die wir "ingenerate Umlaut" nennen. "Ingenerate" heißt hier ungefähr 'vorprogrammiert, inhärent, angeboren' und deutet darauf hin, daß wir die Wurzeln vom Umlaut in der Phonetik – noch genauer: in der Koartikulation – suchen. Auch meinen wir, die allmähliche Entfaltung des Prozesses in den "Ausnahmen" zum Umlaut sehen zu können, mit anderen Worten genau in den umlautlosen Formen, die in der Twaddellschen Tradition als willkürliche Ergebnisse der Analogie gesehen werden müssen.
Ekphrasis is a tool used with the purpose opening different levels of meaning in a literary text, which can be seen in Patricia Görg’s tale “Glücksspagat”. In the tale, parallel to the representation of the daily life of the museums keeper Maat, the reader is faced with fragments of ekphrasises of paintings and TV-simulations. The richness of this tale is achieved particularly due to the alternations between the ekphrasises. This article discusses the various functions of the use of Ekphrasis and simulations in the tale and focuses on the way they contribute to the creation of meaning.
Mit der Frage nach der Grundordnung gehen die Untersuchungen dieses Bandes hinter bzw. vor die juristische Semantik des Verfassungsbegriffs zurück. Denn dieser ist, wie andere moderne Fachtermini auch, das Ergebnis einer Verengung. Die 'Verfassung', zunächst ein 'Erfahrungsbegriff', "der den politischen Zustand eines Staates umfassend wiedergibt", habe sich zum Begriff für den "rechtlich geprägten Zustand eines Staates" verengt und falle "nach dem Übergang zum modernen Konstitutionalismus mit Gesetz in eins", währenddessen der Begriff des Gesetzes nun "die Einrichtung und Ausrichtung der staatlichen Herrschaft regelt" und "damit selbst vom deskriptiven zum präskriptiven Begriff" wird, so Dieter Grimm, der die genannte Verengung damit erklärt, dass der Begriff der 'Verfassung' seine "nichtjuristischen Bestandteile zunehmend" abgestoßen habe. Diese nichtjuristischen Bestandteile aber sind Grundlage und Voraussetzung des Grundgesetzes, das sich eine Gemeinschaft gibt, um sich als politisch-rechtliches Gebilde zu konstituieren. Sie betreffen das Selbstverständnis eines politischen Gemeinwesens, ob Land, Staat oder Föderation, das tiefer und weiter zurück reicht als das Gesetz.
[...]
Damit rühren die nichtjuristischen Bestandteile des Verfassungskonzepts an Erfahrungen, Überzeugungen und Prinzipien, nach denen ein Gemeinwesen gebildet wird. Deren normative Kraft wird dadurch verfestigt, dass ihnen Verfassungsstatus verliehen wird – vorausgesetzt man könne einem Gemeinwesen einen einheitlichen Willen, einen volonté generale, unterstellen. Da das in der historischen Realität seltener der Fall ist, kommen in der Formulierung der grundlegenden Prinzipien einer Verfassung auf je unterschiedliche Weise religiöse, ethnische, geographische, sprachlich-kulturelle oder auch sittliche Aspekte zum Zuge, von denen dann zumeist einer als prioritär bewertet und deshalb allen anderen vorangestellt wird: als übergeordneter Gesichtspunkt. Wenn etwa die Bundesrepublik Deutschland im Grundgesetz als "freiheitlich demokratische Grundordnung" definiert ist, dann sind darin leitende Prinzipien formuliert, die sich in diesem Fall auf vorausgegangene historische Erfahrungen gründen, konkret auf die Lehren, die aus Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg gezogen wurden. Das gilt ähnlich für die Europäische Union, die ihr Selbstverständnis als "wirtschaftliche und politische Partnerschaft zwischen 27 europäischen Staaten" auf die Erfahrungen der Kriege des 20. Jahrhunderts zurückführt.
Die Germanistische Institutspartnerschaft zwischen der Staatlichen Pädagogischen Universität Barnaul (Linguistisches Institut) und der Europa-niversität Viadrina Frankfurt/Oder (Fakultät für Kulturwissenschaften) existiert seit 1993. In dieser Kooperation wurden im Laufe der Zeit gemeinsame Vorstellungen über die wichtigsten Maßnahmen entwickelt, die für eine Umstrukturierung und Modernisierung der germanistischen Lehre und Forschung an der russischen Hochschule geboten erscheinen.
Zur Entstehung und Struktur ungebändigter Allomorphie : Pluralbildungsverfahren im Luxemburgischen
(2006)
Aus gesamtgermanistischer Perspektive verfügt das Luxemburgische über ein außergewöhnliches Maß an Pluralallomorphie bzw., nach H. GIRNTH (2000), an Heterograffimie. Oberstes Prinzip dabei scheint die deutliche Markierung der Kategorie 'Plural' direkt ani bzw. im Substantiv zu sein. Die morphologische Komplexität betrifft mehrere Dimensionen: Zum einen ist es die Vielzahl an Pluralisierungsprinzipien, die von additiven über modulatorische und Nullprozesse bis hin zu subtraktiven Techniken reichen, zum zweiten die Vielzahl an konkret sich manifestierender Allomorphie. Schließlich ist der maximale . Ausbau des reinen Umlauttyps auch bei Einsilblern hervorzuheben. Selbst Fremdwörter können noch heute ihren Plural mit reinem Vokalwechsel bilden, und dies auch auf nebenbetonten Silben. Aus diachroner Perspektive bildet. der reine Vokalwechsel einen wichtigen Endpunkt einer sich seit Jahrhunderten in diese Richtung vollziehenden Entwicklung. Aus synchroner Perspektive ist es mittlerweile verfehlt, noch - wie etwa beim deutschen Pluralsystem - von Umlaut zu sprechen, da längst eine Arbitrarisierung .des Vokalwechsels stattgefunden hat, die fast ablautähnliche Züge erreicht hat. Zusammenfassend gelangt man zu dem Eindruck, dass sich das Luxemburgische - etwa im Hinblick auf die subtraktive Pluralbildung - fast jedweden phonologischen Wandel zu Nutze macht bzw. - im Hinblick auf den Umlaut über die Morphologisierung sogar produktiv werden lässt. Aus der vorliegenden Untersuchung ergeben sich mehrere Fragestellungen, die Gegenstand weiterer Untersuchungen sein sollten. Zuerst wären genaue quantitative Erhebungen vorzunehmen, um die Nutzung und Verteilung der einzelnen Verfahren zu ermitteln. Auch die Produktivität der Regeln müsste untersucht werden. Des Weiteren ist noch ungeklärt, welche Regeln es genau sind, die die Distribution der Allomorphe steuern. Nimmt man z.B. das Englische mit seinen drei Pluralallomorphen [IZ], [z] und [s], so ist deren Verteilung rein phonologisch - nach dem Auslaut des Substantivs - gesteuert: Endet es auf einen Sibilanten, folgt silbisches [IZ] (horse-s ['horsIz]), endet es auf einen stimmhaften Laut, folgt stimmhaftes [z] (dog-s), und auf einen stimmlosen folgt stimmloses [s] (cat-s). Das Deutsche, das insgesamt neun konkrete Pluralallomorphe "besitzt, erlaubt auf grund der Singularform kaum Erschließbarkeit des Plurals, wie die folgenden drei einsilbigen Reimwörter gleichen Genus demonstrieren: der Hund - die Hunde, der Grund - die Gründe, der Mund - die Münder. Prosodische Kriterien wie die AkzentsteIle, syllabische (Silbenzahl), phonologische (Auslaut) und morphologische Kriterien " einschließlich der Genuszugehörigkeit fuhren nicht immer zum Ziel: Bei vielen Substantiven muss der Plural - siehe oben - mitgelernt werden, d.h. er ist Bestandteil des Lexikons. Was das Luxemburgische betrifft, so scheint das Steuerungsinstrumentarium komplexer zu sein, doch ist dies nur eine durch Stichproben gewonnene Vermutung, die zu fundieren wäre.
Wer das Wort ›Anfang‹ verwendet, dem das Grimmsche Wörterbuch schon in der Phase der kürzeren Artikel drei Spalten widmet, sollte mindestens in zweierlei Hinsicht differenzieren: Zum einen hinsichtlich der Frage, ob es um einen räumlichen oder einen zeitlichen Anfang geht, und zum anderen hinsichtlich des semantischen Unterschieds zwischen ›initium‹ und ›principium‹. Den Strukturen unseres Denkens gemäß suchen wir die ›Prinzipien‹ bei den zeitlichen ›Anfängen‹. Daher ist es schwer, beides zu entkoppeln, daher verbirgt sich hinter der Rede von zeitlichen Anfängen vielfach die von Gründen. »Im Anfang war das Wort«: Damit fängt nicht nur das Johannesevangelium an, sondern auch das Grimmsche Wörterbuch. Der Satz in Joh. 1,1 spricht über den Grund aller Gründe, nicht ›nur‹ über die Urgeschichte; bei den Brüdern Grimm ist er mehrdeutig: ein Zitat aus der logozentrischen Tradition und eine Devise für Philologen, bei der es allerdings ebenfalls um das Wort als ›Grund‹ geht, als Grundlage lexikographischer Arbeit nämlich – aber in dieser Eigenschaft ist kein absoluter Grund. Mit der Rede vom ›Anfangen‹ geht es oft um die Denkbarkeit absoluter Anfänge.
Über die Diskussionen zum Autor lässt sich ein Überblick gewinnen, wenn man das Problemfeld danach einteilt, wie Autor, Text und Leser zueinander in Beziehung gesetzt werden. Wir gehen im Folgenden zunächst auf solche Positionen ein, die den empirischen Autor in die Interpretation literarischer Texte einbeziehen. Dann stellen wir Positionen vor, die den empirischen Autor aus dem Umgang mit Literatur ausschließen und sich lediglich auf Aspekte des Textes stützen wollen. Von diesen sind noch einmal jene Positionen abzusetzen, die ebenfalls auf den empirischen Autor für Zwecke der Interpretation literarischer Texte verzichten, nun aber nicht den Text, sondern die Position des Lesers in den Vordergrund stellen. Der Akzent liegt also entweder auf dem Autor, auf dem Text oder auf dem Leser.
Die Moderne ist durch die Intensität ihrer Auseinandersetzung mit dem Schweigen charakterisiert. Aber auch frühere Zeiten interessierten sich für das Schweigen, man sprach und erzählte von ihm, setzte es rhetorisch ein, verstand es (oder meinte es zu verstehen), kommentierte es, bediente sich sogar einer elaborierten Topik des Schweigens […].Doch mit der Moderne kommt es zu tiefgreifenden Verschiebungen in der Konstellation von Sprache und Schweigen. […] Zum einen gewinnt das Schweigen selbst neue Bedeutungsdimensionen, […] vor allem in seiner Eigenschaft als Hinweis auf all das, was jenseits der Grenzen der Wörter und des Sagbaren liegt. Zum anderen modifizieren und erweitern sich die Formen, in denen das Schweigen in die literarischen Werke einbezogen wird. Neben vielfältigen Thematisierungen, expliziten Beschreibungen und Interpretationen des Schweigens stehen Formen der Evokation und der Inszenierung des Schweigens durch die Strukturen der Texte selbst - Experimente, welche es darauf anlegen, das Schweigen gleichsam gestisch in literarische Prozesse einzubeziehen und durch Strategien der Textgestaltung zu konkretisieren. Auf dem weiten Feld solcher Experimente mit ästhetischen Manifestationsmöglichkeiten der Stille, der Lautlosigkeit, der Nicht-Artikulation berühren sich die Interessen moderner Literatur und Musik. Aber auch die bildende Kunst beteiligt sich am Großprojekt einer Evokation, Reflexion und Semantisierung des Schweigens.
Zur Einleitung
(2000)
Das »Labyrinth« […] ist von hochgradiger Aktualität für Prozesse der Selbstbeschreibung des Menschen als handelndes, produzierendes und denkendes Wesen. Es bedarf jedoch, wenn Unklarheiten vermieden werden sollen, bei der Rede von Labyrinthen der Verständigung darüber, welcher Strukturtypus damit gemeint ist. Es bedarf ferner einer zumindest groben Verständigung über die Perspektive, aus der das »Labyrinth« betrachtet, erlebt, erfahren wird (Dädalus, Theseus, Minotaurus), oder über die Kombination von Perspektiven. Einer nicht weiter begründbaren Vorentscheidung unterliegt die Beantwortung der Frage, ob man zu jedem Labyrinth einen Dädalus als Konstrukteur hinzudenken muß. Offen ist auch die Frage, ob man es zulassen oder gar fordern soll, ein »Außen« des Labyrinths zu denken. Der Denkansatz, demzufolge alle Labyrinthe zumindest prinzipiell durchschaubare und gedanklich rekonstruierbare Strukturen sind, ist grundlegend verschieden von einem Denken, das den Menschen ausschließlich innerhalb des Labyrinths verortet und ihm die Möglichkeit eines Heraustretens abspricht, weil es kein Außen gibt.
Weimar ist als Geburtsstätte der Klassik ein zentraler Ort unseres kulturellen Erbes. Goethe, Schiller, Herder und Wieland sind Namen, die der Stadt in der Provinz bis heute weltweite Beachtung sichern. Wie aber kam es dazu, dass Weimar zu dieser Metropole der deutschen Geistesgeschichte wurde? Welchen Anteil hatte im späten 18. Jahrhundert die Politik der Herzogin Anna Amalia und ihres Sohnes Herzog Carl August an der einzigartigen kulturellen Blüte, die sich um 1800 in ihrem Fürstentum entfaltete? Aus Anlass des 200. Todestages Anna Amalias und des 250. Geburtstages Carl Augusts gibt die Ausstellung »Ereignis Weimar – Anna Amalia, Carl August und das Entstehen der Klassik 1757–1807« Antworten auf diese Fragen. Sie wurde von der Klassik Stiftung Weimar in Zusammenarbeit mit dem Sonderforschungsbereich »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800« der Friedrich Schiller-Universität Jena konzipiert. Vor dem Hintergrund der Biographien beider Herrscherpersönlichkeiten beleuchtet die Ausstellung die Traditionen der Häuser Sachsen und Braunschweig, veranschaulicht die prekäre politische und wirtschaftliche Lage zur Zeit des Regierungsübergangs von Anna Amalia auf ihren Sohn Carl August und thematisiert die Versuche der Regierung, mit vielfältigen Reformen der drängenden Probleme Herr zu werden. Nach anfangs erfolglosem Engagement auf wirtschafts- und machtpolitischem Gebiet stellte sich Erfolg und Fortune in der Kulturpolitik ein. An die Stelle eines zunächst dilettantisch gepflegten »Genietreibens« trat eine zunehmend professionelle Lenkung von Wissenschaft und Kunst, die zu einer einzigartigen Konzentration geistig-kulturellen Kapitals in Sachsen-Weimar führte. Dieses »Ereignis Weimar« brachte dem kleinen Herzogtum seine Reputation als geistiges Zentrum Deutschlands ein. Am Ende rettete diese einzigartige Position das Fürstentum auch über die Fährnisse der napoleonischen Zeit hinweg. Zitiert nach: Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung vom 02. April 2007
Das öffentliche Reden über den Holocaust wird […] durch bestimmte Regeln geprägt, die festlegen, wer in welcher Form, mit welchen Begründungen und Argumenten, in welchen Medien und an welches Publikum gerichtet über den Holocaust sprechen darf. Erst die Existenz solcher Regeln macht es sinnvoll, von einem eigenständigen öffentlichen Holocaust-,Diskurs' zu sprechen. […] Auch im ästhetischen Feld läßt sich die Beschäftigung mit der Ermordung der europäischen Juden als ein eigenständiger Diskurs beschreiben. […] Ebenso wie das Reden über den Holocaust insgesamt ist der ästhetische Holocaust-Diskurs zunächst, scheinbar neutral, durch seinen Gegenstand definiert. Aber auch hier sind Regeln wirksam, die festlegen, wie man mit diesem Gegenstand künstlerisch umzugehen habe. Während in der zeitgenössischen Literatur, Kunst und Ästhetik im Namen der Postmoderne Konzepte der Simulation, Ambiguität, Entreferentialisierung und der Tod des Autors propagiert werden, bestimmten und bestimmen Postulate wie Authentizität, Wahrhaftigkeit, moralische Integrität und Beglaubigung durch Autorschaft die Produktion, die Gestaltung, die Rezeption und die Bewertung von Kunst über den Holocaust. Diese Postulate gelten, in der Literatur, quer durch die Gattungen für Erzähltexte, Drama und Lyrik; sie gelten für Avantgardewerke ebenso wie für populäre Kunst, für verschiedene Medien und Künste wie Text, Malerei, Photographie, Film, Denkmal, Performance und Musik.
Mit der Trias "Neue Zeit - Neue Kunst - Neue Technik" sind die Leitideen vormärzlicher Kunsttheorie und -praxis päzis umschrieben. Zunächst schien es so, daß mit der neuen Zeit, dem in der Julirevolution sichtbar gewordenen Bündnis von König und Volk eine schöne, bedeutungsvolle Zeit anbrechen würde, [...]
Dieser Enthusiasmus sollte allerdings nicht lange anhalten. An die Stelle der Schöheit trat bekanntlich die Karikatur des Bürgerkönigs, an die Stelle des Pathos die Farce, an die Stelle von Geist das Geld, ein Umstand, der freilich nicht auf Frankreich besschränkt blieb [...]