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Indem Benjamin die "Umkehr" als zentrales Element herausgreift – also das Verwandeln von Leben in Schrift und nicht von Schrift in Leben -, löst er Kafka aus einer nur auf das Judentum beschränkten Bedeutung und zeigt dessen Relevanz für das Verständnis von Geschichte überhaupt. Die Form des Kafka’schen Werks enthalte "Hinweise auf einen Weltzustand". Insofern tut sich in der Auseinandersetzung zwischen Benjamin und Scholem bezüglich der Frage von Heiligkeit und Schrift etwas Neues auf: Wie wahre Hoffnung nur für die Hoffnungslosen ist, so erscheint das Verständnis echter Heiligkeit als rein theologischer Kategorie durch die Erkenntnis der nicht mehr heiligen Schrift bedingt.
Schreibszenen des Billets
(2015)
Es ließe sich unschwer eine veritable Bibliothek aus Briefwechseln, Briefstellern, Briefforschung zusammenstellen. Zum Billet, "Briefgen", "Zedul" oder "Blättchen", also zur Vorgeschichte der SMS, könnte man gerade mal einen kleinen Schuber füllen. Diese Asymmetrie ist erklärungsbedürftig und im Blick auf ganz andere als in sogenannten "ordentlichen" Briefen praktizierte Schreibszenen auch aufschlussreich.
Bereits in seinen Räubern (1781) enthüllt Friedrich Schiller, wie eminent machtpolitisch das Medium Schrift bzw. der Akt des Schreibens eingesetzt werden kann. Dabei veranschaulicht er, dass sich die Konkurrenz zwischen dem Vater und dem Zweitgeborenen letztlich in einer Konkurrenz divergierender Schreibintentionen äußert. […] Die materiale Dimension des Schreibens […] besitzt auch für Schiller eine maßgebliche Bedeutung. Das wird insbesondere daran sichtbar, dass sich Schiller, sobald er außerordentlicher Professor in Jena geworden ist, sofort einen Schreibtisch anschafft […]. Im Kontext dieser materialen Vorrausetzungen ist auch de inspirative Dimension des Schreibens zu berücksichtigen […]. Schiller schätzte bekanntlich den für ihn anregenden Geruch fauliger Äpfel, die ständig in einer Schublade in seinem Arbeitszimmer aufbewahrt werden mussten. […] Mit der Niederschrift der „Botschaft“ bzw. der „Ideen“, ist die kreative Dimension des Schreibens erreicht. Da die Erzeugnisse dichterischer Schreibakte zumeist in konkrete Publikationszusammenhänge eingebunden sind, muss schließlich auch die ostentative Dimension des Schreibens in den Blick genommen werden.
Ich möchte im Folgenden Flauberts gattungslosen Text der Tentation de saint Antoine – das 'Werk seines Lebens' ("oeuvre de ma vie") – als jenen metatextuellen Ort vorstellen, an dem Flaubert über Jahrzehnte hinweg den Status poetischauktorialen Sprechens experimentiert hat. Flauberts Antonius ist ein Wüsteneremit, der eine Nacht lang standhaft die seltsamsten dämonischen Erscheinungen abwehrt. Dabei nimmt der biblische Text insofern eine herausragende Funktion ein, als Antonius' Versuchungen durch die Lektüre der Heiligen Schrift allererst ausgelöst werden. Entscheidend ist aber, dass die anonyme Erzählstimme, die den Text präsentiert, Antonius nicht als jemanden darstellt, der vom Glauben (an die Heilige Schrift) abgefallen wäre, sondern als einen Eremiten, der temporär einer Halluzination erliegt. Damit bleibt der Antonius der Tentation ein christlicher Asket, der an die Heilige Schrift glaubt, womit er sich – und das macht die metapoetische Relevanz des Textes aus – der Modellierung desjenigen Romanciers widersetzt, der für seine Literatur das Göttliche beansprucht. Anders als Emma Bovary, die sich wegen ihres sentimentalischen Glaubens an die Schrift umbringt, und anders als Bouvard und Pécuchet, die dumm an den gleichen Wert aller Literatur glauben und die Schrift nur noch kopieren, legt Antonius eine absolute Resilienz im Glauben an die einzige Heilige Schrift an den Tag. Die Tentation de saint Antoine wirft damit ein neues Licht auf das moderne Erzählen im Zwischenraum von Religion und Literatur: Sie markiert – weder Heiligenvita noch Roman – einen theatralischen Ort an den Rändern der Literatur, an dem Erzähler und Figur sich ihre Positionen in einem agonalen Spiegelverhältnis abringen. Bezogen auf Flauberts paradoxes Autorkonzept des deus absconditus zeigt sie weniger dessen starke als dessen schwache Seite: Der Schreiber der Tentation ist ein Zweifler, der ganze Bibliotheken ins Spiel bringt, der der Heiligen Schrift ihr Heiliges entzieht und der seine Souveränität als narrateur von einer starken, widerständigen Figur immer wieder infrage gestellt sieht. Als narrativer deus absconditus ist er so unsichtbar, dass er von einer Rezeption, die die Antoniusfigur umstandslos als Maske des 'Eremiten von Croisset' auffasst, nicht einmal wahrgenommen wurde.
Die Weltschmerzorganisation (IASP) definiert Schmerz als "ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis", das als 'drückend', 'scheußlich', 'heiß' oder als '7' auf einer Skala dargestellt werden kann. Er lässt sich als erhöhte neuronale Aktivität beschreiben und kann mittels bildgebender Verfahren in spezifischen Hirnarealen 'sichtbar' gemacht werden. Und doch bleibt der Schmerz ein rein subjektiv erlebtes Phänomen, das sich strikten Messungen entzieht. Wann also wird ein Reiz zum Schmerz? Der Vortrag spürt der Wandlungsfähigkeit des Schmerzerlebens anhand von Beispielen aus Wissenschaft, Kultur und Geschichte nach.
Zum Schluß ein vergleichendes Resümee der Einzelinterpretationen und ein paar allgemeinere Überlegungen zum historischen Ort der 'doppelten Welten'. In der Gruppe der untersuchten Werke steht Goethes Roman nicht nur in zeitlicher Hinsicht zuerst. Von den "Wahlverwandtschaften" aus lassen sich die anderen Werke als Modifikationen eines Paradigmas beschreiben. Dafür ist es nur von zufälliger Bedeutung, daß Hoffmann in "Der Zusammenhang der Dinge" auf die "Wahlverwandtschaften" ausdrücklich verweist und daß Mann während der Arbeit an "Der Tod in Venedig" Goethes Roman mehrmals gelesen hat. Es geht hier nicht um genetische Abhängigkeiten, sondern um Unterschiede innerhalb des systematischen Rahmens einer Textsorte. Auf dieser Basis stellen sich die anderen vier Werke als Ästhetisierung (Hoffmann), ridikülisierende Psychopathologisierung (Vischer), phantastische Psychologisierung (Mann) und tendenzielle Trivialisierung (Perutz) der paradox verdoppelten Motivationsstruktur der "Wahlverwandtschaften" dar.
Schleppen und Schleifen
(2015)
Schleppen und Schleifen sind einander etymologisch verwandt. Seit dem 13. Jahrhundert soll die Ähnlichkeit von Schleppen und Schleifen bereits in der Deutschordensdichtung belegt sein; das Grimm'sche 'Wörterbuch' notiert, dass "die identität von schleppen und schleifen" um 1430 erkannt und erstmals in Wörterbüchern erfasst wurde. Nun sind Schleppen und Schleifen nicht nur Verben für den mehr oder weniger identischen Vorgang, etwas unter Mühe langsam, schwerfällig und mit großem Kraftaufwand am Boden entlang zu ziehen, sondern auch Pluralformen von Substantiven. Die Schleppe und die Schleife bezeichnen dabei geradezu das Gegenteil der verbalen Bedeutung: Anders als die Verben 'schleppen' und 'schleifen' sind sie nicht mit Mühe, Last und Erschöpfung konnotiert, sondern stehen vielmehr für Luxus und Verschwendung - für die unendliche Leichtigkeit des Seins.
Schlachtengedenken im Spätmittelalter : Riten und Medien der Präsentation kollektiver Identität
(1991)
Ein Eintrag in dem 1432 angelegten "Liber statutorum opidi Dursten" im kölnischen Vest Recklingshausen galt der Abhaltung des sogenannten Streitfeiertags. Der Stadtbucheintrag beginnt mit lateinischen Gedenkversen, die von der Verjagung der Herren von Merveldt durch das Dorstener Schwert zwei Tage nach Thomas 1382 berichten. Es folgt der Beschluß von Bürgermeister, Schöffen und Rentmeister der Stadt Dorsten: Alljährlich soll man am Montag vor dem Mittwinterabend, also am "strytvyrdages avent", am Abend feiertäglich läuten und Vesper und Vigilien begehen. Dabei soll der acht Männer gedacht werden, die in diesem Streit tot geblieben sind, sowie all jener, die um der Stadt willen gestorben sind oder noch sterben werden. Der Stadtbote hat Bürgermeister, Schöffen und Rentmeister bei Strafe von zwei Quarten Weins aufzufordern, an Vesper und Vigilien teilzunehmen und danach zu den Gräbern zu gehen, zunächst zum Friedhof vor St. Nikolaus-Feld und danach zum Kirchhof.
Was einen "Edlen Verbrecher" ausmache, aus welchen habituellen oder biografischen Attributen er sich charakteristischerweise zusammensetze und welche Funktionen ihm als Sozialtyp, Männlichkeitskonzept und Heros der Literatur und des Dramas, des Marionettentheaters und des Volkslieds zukommen können, fesselte die Kulturgeschichtsschreibung bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. [...] An Typologien des Edlen Verbrechers als eines politik-, sozial- und psychohistorisch ausdeutbaren Fluchtpunkts kollektiver Phantasien mangelt es nicht. Sieht man genauer hin: nicht auf den ewiggleichen Typ, sondern auf dessen Modifizierung, Perspektivierung und Modellierung, kurzum: auf dessen Diskursivierung, bietet der edle Delinquent nichts weniger als eine einheitliche Moral oder Psychologie, sei sie nun idealisierend, kriminalisierend oder, wie im populären Marionettentheater üblich, komisierend. So spricht vieles dafür, dass die literarischen Gattungen und nicht-literarischen Textsorten - also all die Protokolle und "Aktenmäßigen Geschichten", Anekdoten und Lieder, Novellen und Romane, Laientheater- und Marionettentheaterstücke - die Typenbildung ganz unterschiedlich prägten beziehungsweise voneinander abweichende Typen mit differenten Biographien hervorbrachten. Womöglich bewohnt der historisch-anekdotische, der epische, lyrische und theatrale Schinderhannes im 19. Jahrhundert gar nicht jenes eine Haus des Edlen Verbrechers, das ihm die Geistes- und Kulturwissenschaften gebaut und zugewiesen haben? Und womöglich ist er weder als Figur noch überhaupt als Typus, sondern bloß als Name anzusehen, dem wechselnde Diskurse kriminalistischer, pädagogischer, moralischer, künstlerischer Ausrichtung wechselnde Bedeutungen, Funktionen und Plätze im kollektiven Gedächtnis wechselnder Gruppen gaben? [...] In der Folge soll die im 19. Jahrhundert von Anekdotik, Lied und (Marionetten-)Theater konstruierte fiktive Kollektivbiographie des Schinderhannes Johannes Bückler textsortenspezifisch re-vidiert und in eine Soziobiographie aus Dichtung und Wahrheit übergeführt werden.
»Wie ist der Spazirgang durch Europa bekommen?« Mit dieser ungewöhnlichen Frage beschließt Johann Wolfgang Goethe seinen Brief, den er am 8. März 1803 an den Dichterfreund Friedrich Schiller richtet. Ungewöhnlich erscheint die Frage deshalb, weil Schiller bekanntermaßen nicht sonderlich viel reiste und die Grenzen des deutschen Territoriums zeitlebens nicht überschritt. Eine Italienische Reise, auf die sich Goethe Ende der 1780er Jahre begibt, oder ein Spaziergang nach Syrakus, wie ihn Johann Gottfried Seume im Jahr 1802 unternimmt, fehlen in Schillers Biographie. Doch in Goethes Brief ist auch von keiner Reise, sondern schlicht von Friedrich Schlegels neuer Zeitschrift Europa die Rede, deren erstes Heft im Februar 1803 erschienen war. Auskunft darüber, wie ihm dieser »Spazirgang […] bekommen« sei, gibt Schiller zwar nicht, aber es ist zu vermuten, dass er ihm sicher nicht missfallen hat. Denn im Beitrag »Literatur« erwähnt Schlegel unter anderem die »Schillerschen Trauerspiele«, die er zu »eine[r] Reihe von Versuchen poetischer Darstellungen auf dem Theater« rechnet, die »hoffen lassen, daß bald ein hinlängliches Fundament vorhanden seyn werde, um unter einer Direction, die der des Weimarischen ähnlich wäre, ein Theater zu gründen, das durchaus nur im Gebiete der schönen Kunst seine Existenz hätte […].« Dass um 1800 eine Zeitschrift gegründet wird, die programmatisch den Namen ›Europa‹ trägt, spricht für die Popularität des europäischen Gedankens, dessen Bedeutungshorizont kultur-, sozial- und ideengeschichtliche Perspektiven vereint.
Die romantischen Schriftsteller haben in einer gleich bleibenden polemischen Stoßrichtung, nämlich in Bezug auf Schillers ironielose Idealisierung, rhetorische Sentimentalität und "sentenzenreiche" Manier dessen Darstellungsweise scharf, ja überscharf herauspräpariert. Sie haben dabei Eigenheiten Schillers treffsicher karikiert; aber auch entscheidende ästhetische Innovationen übersehen und abgedunkelt.
Von den im Folgenden veröffentlichten Strophen finden sich in der weiterhin unentbehrlichen Reinmar-Ausgabe Gustav Roethes nur ein paar Zeilen. Es handelt sich um den Schlussteil der unten mit III. bezeichneten Strophe, die damit also nur partiell als unediert gelten kann (bei Roethe Nr. 252). Dieses Textstück hat Roethe nach einem Pergamentblatt ediert, das um 1855 von Wilhelm Crecelius zusammen mit anderen Fragmenten im Archiv der Fürsten von Ysenburg auf Schloss Büdingen entdeckt worden war. Er machte seine Funde 1856 in der ›Zeitschrift für deutsches Altertum‹ bekannt, unterließ allerdings bei dem dann von Roethe aufgenommenen Textfragment einen Hinweis auf Reinmar. Unter den von Crecelius veröffentlichten Funden waren auch einige Blätter, die derselben Handschrift angehört haben mussten wie das genannte Blatt. Bei seinen Nachforschungen im Büdinger Archiv waren Crecelius freilich mehrere Blätter entgangen. Eines dieser Blätter, das den fehlenden Anfangsteil der erwähnten Strophe enthält, tauchte im Jahr 1912 auf. Es wurde vom Archiv an Otto Behaghel nach Gießen zur Bestimmung gesandt, der es mit einer Transkription zurückschickte, jedoch die Zusammengehörigkeit der beiden Blätter und damit auch der beiden Textstücke nicht erkannt hatte. Erst bei der Arbeit am ›Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder‹ konnte 1986 der Zusammenhang festgestellt werden. Dabei ergab sich auch, dass der nunmehr vervollständigten Strophe zwei andere Strophen vorausgehen, die bis dahin vollkommen unbekannt waren. Sie werden hier nun erstmals gedruckt.
Hervorgegangen ursprünglich aus der Ratsbibliothek und der Bibliothek des Barfüßerklosters, ist die spätere Entwicklung der Bibliothek eng verbunden mit der bürgerlich-demokratischen Geschichte Deutschlands vom Zeitalter der Französischen Revolution bis zur Errichtung des Zweiten Kaiserreichs. Die Frankfurter Bibliothek ist die Bürgerliche unter Adligen: In ihrer 500-jährigen Geschichte war sie nie Adelsbibliothek, nie Hofbibliothek, als Bibliothek einer ehemals reichsunmittelbaren freien Stadt repräsentiert sie vor allem das historische Erbe der stadtbürgerlichen Kultur des Reiches. ...
Die Senckenbergische Bibliothek hat ihren Ursprung in der Stiftung des Frankfurter Stadtarztes Johann Christian Senckenberg (1707–1772) von 1763. Senckenberg investierte während seines Lebens einen erheblichen Anteil seines Einkommens in den Aufbau seiner Privatbibliothek. So kaufte er alle wesentlichen Neuerscheinungen seiner Zeit und erwarb auch viele ältere Werke antiquarisch. Gegen Ende seines Lebens umfasste seine Bibliothek etwa 10.000 Bände. Diese Bibliothek ging an das von ihm gestiftete Senckenbergische Medizinische Institut. Schon bald nach seinem Tod wurde ein großer Teil der nicht-medizinischen Literatur versteigert. Der medizinische Bestand wurde in der Folgezeit stark erweitert. ...
Zeitmaschinen regulierten den Verkehr zwischen Gegenwarten und Vergangenheiten – und nichts anderes als eine Zeitmaschine war es auch, was Freud im Angesicht der Ruinen unter dem Titel Psychoanalyse entwickelte. Unter dem Eindruck wissenschaftlich vertiefter Ruinenfreuden wird der freie Verkehr zwischen beiden Domänen wissens- und sichtbestimmend: Die phantastische Topographie Roms hing in Gestalt einiger Piranesis in Freuds Arbeitszimmer; ein Gipsabdruck der Gradiva hing zwischen Couch und Kachelofen. Weil Freuds Blicke beständig an der Antike hingen, musste er eine Theorie entwickeln, in der sich Vergangenheit und Gegenwart ebenso wechselseitig durch drangen wie in seiner Lieblingsstadt. Ebenso wie er auf seinen Reisen Orte sah, an denen sich Vergangenheit und Gegenwart, Häuser und Ruinen "nicht deutlich unterscheiden lassen", wird die Überlagerung, Überblendung und Verkeilung von Gegenwart und Vergangenheit zum Merkmal einer avantgardistisch en Wissenschaft namens Psychoanalyse. Angesichts der Piranesis war es nur noch ein kleiner Schritt zu der "phantastischen Annahme", die nicht nur dem Unbehagen in der Kultur von 1930, sondern der gesamten Psychoanalyse zugrunde lag: nämlich der, "Rom sei nicht eine menschliche Wohnstätte, sondern ein psychisch es Wesen von ähnlich langer und reichhaltiger Vergangenheit, in dem also nichts, was einmal zustande gekommen war, untergegangen ist, in dem neben der letzten Entwicklungsphase auch alle früheren noch fortbestehen."
The paper starts with a semantic differentiation between the notions of sentence topic and discourse topic. Sentence topic is conceived of as part of a semantic predication in the sense of Y. Kim's work. Discourse topic is defined, as in N. Asher's Segmented Discourse Representation Theory, as a discourse constituent that comprises the content of (part of) the larger discourse.
The main body of the paper serves to investigate the intricate connection between the two types of topic. For restricting the context of investigation, a specific relation between discourse constituents, Elaboration, is chosen. If Elaboration holds between two discourse constituents, one of them can be identified as the explicit discourse topic with respect to the other one. Whereas an elaborating sentence - with or without a sentence topic - is used to infer a 'dimension' for extending the discourse topic, the role of the sentence topic if it occurs is to mark an 'index' for predication along that dimension. The interaction of elaborating sentences and their topics is modelled by means of channel theoretic devices.'
Bisherige Modelle der Textauswahl für den Literaturunterricht argumentieren ausschließlich text- bzw. themenorientiert oder sie berücksichtigen maximal eine einzelne bei Schüler:innen vorliegende Differenzkategorie wie z.B. Gender. Solche differenzorientierten Ansätze sahen sich zudem der Kritik ausgesetzt, durch die besondere Fokussierung der jeweiligen Ungleichheitskategorien diese - wie durch das Differenzdilemma beschrieben - eher festzuschreiben bzw. zu reproduzieren. Ausgehend von diesem Forschungsstand legt der Beitrag am Beispiel von Anke Stellings Kinderroman "Erna und die drei Wahrheiten" dar, inwiefern eine intersektionale Perspektive die Lektüreauswahl für den Literaturunterricht verbessern und präzisieren kann. Die Analyse von schüler:innenseitig vorliegenden intersektionalen Verschränkungen ist geeignet um zu beschreiben, wodurch im Bereich der Text-Leser:innen-Passung individuelle Zugangshürden, aber auch Zugangserleichterungen entstehen. Der Beitrag votiert in diesem Sinne ebenso für eine textseitige Analyse, die genau überprüft, auf welche Weise allgemein für Schüler:innen einer bestimmten Altersstufe als zugänglich geltende Themen im jeweiligen Text konkretisiert werden. Dem Konzept einer thematisch begründeten Kinder- bzw. Jugendgemäßheit wird diesbezüglich die Frage entgegengestellt, inwiefern auf der Textoberfläche präsentierte Konstellationen den Zugriff auf ein zugrundeliegendes relevantes Sujet für Lernende mit jeweils individuellen Voraussetzungen überhaupt erlauben.
Das Marburger Religionsgespräch kann man als eine Urszene des neuzeitlichen Übergangs von Präsenz- zu Repräsentationskultur lesen, die sich an dem zentralen christlichen Ritual der Eucharistie entfaltet: Zwinglis Versuch, das Abendmahl als zeichenhafte Repräsentation zu verstehen, steht Luthers Bestehen auf der Präsenz gegenüber. Urszenen sind freilich immer komplex – und komplexer, als dass sie in allgemeine Formeln wie etwa ‚von der Präsenz zur Repräsentation‘ aufzulösen wären. Bemerkenswert ist bereits, dass der Dissens nicht zwischen der traditionellen Interpretation als Messe und der neuen Abendmahlspraxis verläuft, sondern innerhalb der letzteren. Bemerkenswert ist weiter, dass nicht zwei Deutungen miteinander konkurrieren, sondern mindestens drei Modelle im Spiel sind, die sich verschiedener Begrifflichkeiten bedienen: Form und Substanz in der Transsubstantiationslehre, Sinn und Bedeutung in Zwinglis Modell, Tropen und Redefiguren bei Luther. Diese Modelle durchdringen einander nicht nur, sie werden auch eigenartige Kompromisse eingehen, wenn etwa die lutherische Theologie bald in ihrer Polemik gegen die Reformierten immer häufiger auf das Substanzmodell zurückgreifen wird. Die Rede von Modellen macht aber auch deutlich, dass hier mehr auf dem Spiel steht als einfache konzeptuelle Unterscheidungen: Es geht auch um das Verhältnis von Diskursen, Disziplinen, Evidenzquellen, also etwa um die Frage, welche Argumente in der Kontroverse herangezogen werden dürfen, oder wie man mit der Schrift umzugehen habe – bis hin zu Praktiken der Inszenierung dieser Argumente wie Luthers Kreideschrift. Vor allem wird die Logik der Kontroverse deutlich, in der sich beide Seiten beständig voneinander abgrenzen und gerade dadurch gegenseitig negativ bestimmen, so dass auch die Unterscheidung von Präsenz und Repräsentation nicht einfach vorausgesetzt werden kann, sondern Teil der Kontroverse ist und sich in ihr herausbildet.
Sagen, was sonst kein Mensch sagt : Elfriede Jelineks Theater der verweigerten Komplizenschaft
(2008)
Die Interaktion von Bildern und Schrift definiert zwar den Comic nicht; dieser Interaktion in Comics nachzugehen, bietet jedoch wesentlichen Aufschluss darüber, was die spezifische historische und moderne Ästhetik dieser unter den vielen denkbaren Kunstformen ausmacht, die mit Bildern in Sequenz Sinn oder Narration generieren. Der Beitrag geht dieser Spur an drei Beispielen aus 'Astérix', aus Demian5s 'When I am King' und aus Matt Fractions 'Hawkeye' nach; er stützt sich dabei auf Jacques Rancières Beschreibungen des ästhetischen Regimes.
Safa Brura
(2013)
Im Aufsatz "Die Aufgabe des Übersetzers" von 1921 entwickelt Walter Benjamin den Gedanken einer 'reinen Sprache' (GS IV, 9–21), angeregt von der antiken jüdischen Idee einer 'klaren Sprache' – hebr. שׂפה ברורה (Safa Brura) –, die in der Bibel im Buch Zefanja (3,9) erwähnt wird. Gemäß den Schriften ist diese Sprache eine menschheitsumgreifende 'Muttersprache', die von allen Völkern am Ende der Zeit benutzt werden wird. Als Musiker zu Beginn des 21. Jahrhunderts erfahre ich die Realität als das exakte Gegenteil dieser Prophetie. Der Turm von Babel wäre das viel geeignetere biblische Bild, um die zeitgenössische musikalische Wirklichkeit zu reflektieren (freilich ohne die katastrophalen Konsequenzen). Während der Pluralismus der Stile und Ideen ethisch gesehen zu begrüßen ist, stellt er auch eine Herausforderung für das Schaffen dar.
Rückkehr des Autors? : Literatur und kulturelle Autorität in der interkulturellen Kommunikation
(2008)
Während ihrer Feldforschung in Nigeria erzählt die Ethnologin Laura Bohannan den Stammesmitgliedern der Tiv die Geschichte von Hamlet […] Ihre eigene sowie die europäische Interpretationsautorität überhaupt werden ihr von den Stammesältesten aus der Hand genommen. […] Mit ihrem kulturellen Wissen behaupten sie, den Schlüssel für die „wahre“ Bedeutung von Shakespeares „Hamlet“ zu besitzen. […] Aber auch die Tiv gehen von der kurzschlüssigen Voraussetzung aus, dass kulturelles Wissen anthropologisch zu begründen und daher universalisierbar sei. […] Dieses interkulturelle Szenarium, in dem Deutungsautoritäten aufeinanderprallen, ist aufschlussreich für die Frage der literarischen Autorität überhaupt. Muss die Darstellungs- wie Auslegungsautorität von literarischen Texten nicht gerade die Grenzen kultureller Zugehörigkeit überschreiten, um in einer entstehenden Weltgesellschaft zu einem nicht nur westlichen „Vorhaben interkultureller Repräsentation“ beitragen zu können? Diese Frage sprengt das traditionelle Dreiecksverhältnis von Autor-Text-Leser. Denn die Grenzüberschreitungen der interkulturellen Kommunikation aktivieren bewusst oder unbewusst auch die jeweiligen kulturellen Bezugsrahmen, welche die literarische Darstellung und Deutung ihrerseits erst „autorisieren“. Gerade wenn Texte zwischen verschiedenen Kulturen zirkulieren – sei es durch Mehrsprachigkeit des Autors (wie z.B. bei Joseph Conrad, Elias Canetti, Yoko Tawada usw.), durch Übersetzung oder durch interkulturelle Intertextualität –, kommt nicht mehr nur literarisch-narrative, sondern auch kulturelle Autorität unübersehbar ins Spiel.
In der Moderne wird das Menschengesicht, das lange Zeit Sinnbild für die Ebenbildlichkeit Gottes und somit für menschliche Ganzheitlichkeit war, radikalen Auflösungsprozessen unterzogen. Zugleich scheinen immer wieder Erlösungsutopien durch, die eine neue Suche nach dem verlorenen oder erst noch zu schauenden Gesicht initiieren. Dieser Doppelstrebigkeit wird im Folgenden unter dem Leitbegriff des Rätsels nachgegangen. Letzterer lässt sich hierbei auf seinen zweifachen altgriechischen Ursprung zurückführen, auf 'griphos' ('Fischernetz, Schlinge': Ratespiel) und 'ainigma' ('dunkle Andeutung': das Rätselhafte). Das Rätsel wird in der Theologie seit jeher - in der Philosophie vermehrt in der Moderne – mit dem Gesicht (in seiner Doppeldeutigkeit von gesehenem und sehendem Gesicht) assoziiert, dessen Les- und Lösbarkeit es einer hermeneutischen Bewährungsprobe unterzieht. An zwei philosophischen Werken soll in einem ersten Schritt dieses Junktim von Rätsel und Gesicht(e) im Diagramm der beiden Lösungsbewegungen von Auflösung und Erlösung nachgezeichnet werden: an Friedrich Nietzsches 'Also sprach Zarathustra' (1883–1885) und Franz Rosenzweigs 'Stern der Erlösung' (1921) sowie seinen "nachträgliche[n] Bemerkungen" hierzu in "Das neue Denken" (1925).
„Seit Jahrzehnten“, so der Münchner Kunsthistoriker Walter Grasskamp am Ende des vergangenen Jahrhunderts in einem Beitrag zur „Bilanz“ der Postmoderne-Diskussion, „muss man nun schon mit der Ungewissheit leben, nicht mehr genau sagen zu können, in welcher Epoche man sich eigentlich befindet.“ (Grasskamp 1998: 757) Die damit angesprochene Erfahrung von Verunsicherung und das hiermit zugleich verbundene desillusionäre Lebensgefühl, deren zeitgenössische Verbreitung sich nicht zuletzt an der Beliebtheit der bereits Mitte der 1980er Jahre von Jürgen Habermas geprägten Formel einer „neuen Unübersichtlichkeit“ (vgl. Habermas 1985: 139) ablesen lässt, blieb freilich nicht nur auf jene westlichen Länder beschränkt, deren Fortschritts-, Planungs- und Freiheitsvorstellungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – vor dem Hintergrund einer bis in die Anfänge der Neuzeit zurückreichenden und namentlich im Jahrhundert der Aufklärung und dann im Zeitalter der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts forcierten Rationalisierungs-Euphorie – ausgehend von den 1970er Jahren inzwischen an ihre Grenzen geraten sind.
The present study offers an analysis of the Russian copular constructions with predicate nominals. In such copular sentences two cases may mark the predicate: the nominative and the instrumental as in 'Anna byla medsestra/medsestroj' - 'Anna was-3sg.fem.a nursenom/instr'. In the present tense the copula has a null-form and the predicate nominal can only be in the nominative. I argue that the case alternation corresponds to the distinction of Stage Level and Individual Level Predicates in the sense of Kratzer (1994) and Diesing (1992), but with some objections. The copula with Instrumental forms S-Predicates, which are analyzed as predicates applying to situations referring to time. The copula with nominative forms I-Predicates, which attribute properties to individuals without referring to time. I-Predicates have no situation argument. Data that show the (in-)compatibility of copular sentences with certain spatial or temporal modifiers provide a reason to assume a situation argument in byt' + Instr but not in byt' + Nom.
Byt' behaves differently in different grammatical contexts: in contexts of sentence negation, yes/no-questions and under focus byt' + Instr behaves like a lexical category, while byt' + Nom behaves like a functional category. As a functional category byt' + Nom is non-overt in the present and is always finite. The semantic distinction between nominative and instrumental predicate NPs is pegged to an opposition between a structure with a functional copula as the only tense and agreement marker with base position in TP and a lexical copula in VP (Franks 1995, Bailyn&Rubin 1991). To explain phenomena of the copula in Russian I propose an integrated syntactic model for two copulas. The two copulas may be conceived as distinct realizations of one verbal lexical entry which will be specified as a lexical or as functional category in the course of lexical insertion. The Model of Parallel Morphology might be used to explain this phenomenon.
Uns geht es […] darum, über eckig und rund, einem Oppositionspaar, Formen, Formate, De-Figurationen und De-Konstruktionen von Geschlecht. aber auch von anderen Kategorien. die die Identität bestimmen, auszuloten. Mit welchem Oppositionspaar haben wir es hier zu tun? Oben […] im Netz. hieß es schon, dass wir das Eckige brauchen. um das Runde zu definieren, und umgekehrt. Oder aber auch, dass beide Kategorien gar nicht so leicht voneinander zu trennen sind, denn selbst der rundest geschliffene Kristall basiert auf der eckigen Struktur des Kristallgitters. Es scheint nicht so einfach zu sein. die Opposition eckig und rund aufrechtzuerhalten. Warum wird dann über dieses Paar versucht, die Kinder- und Jugendliteratur zu vermessen? Die Antwort liegt scheinbar auf der Hand – mit rund wird z.B. das Weiche. das Anschmiegsame. Kindliche oder eben das Weibliche. assoziiert. mit eckig das Härtere, Widerspenstigere, Kantigere, eben das Männliche zusammengedacht. Also 'rund' als das weibliche Prinzip? 'Eckig' als das männliche?
Die in diesem Kapitel behandelten Pflanzengesellschaften der Klassen Artemisietea Lohmeyer, Preising & Tüxen in Tüxen 1950 und Chenopodietea Braun-Blanquet in Braun-Blanquet & Mitarbeiter 1952 (ausgenommen: Ackerunkrautgesellschaften der Ordnung Polygono-Chenopodietalia Tüxen & Lohmeyer in Tüxen 1950, vergleiche dort) besiedeln vom Menschen geschaffene oder zumindest beeinflußte Standorte, die allerdings weder forst- noch landwirtschaftlich genutzt werden. Die Amplitude der Eigenschaften dieser Standorte ist groß: sie reicht von feucht bis trocken, von nährstoffreich bis nährstoffarm, von schattig bis sonnig; entsprechend hoch ist die Zahl der Ruderalpflanzengesellschaften. Unser Aufnahmematerial repräsentiert nur einen kleinen Ausschnitt dieser Vegetationsvielfalt: Viele Assoziationen, aber auch einige Verbände sind durch die Aufnahmen nur unzureichend oder gar nicht dokumentiert. Wir möchten daher auf folgende Arbeiten aufmerksam machen, in denen Ruderalpflanzengesellschaften
Hessens beschrieben werden: Knapp (1961, Vegetation der Eisenbahnanlagen), Knapp (1963, 1977, Ruderalvegetation ländlicher Gebiete), Knapp & Stoffers (1962, Uferstaudenvegetation), Dierschke (1973, 1974, nitrophytische Saumgesellschaften), Kienast (1978), Hülbusch (1979), Krah (1988, (Ruderalvegetation der Stadt Kassel), A. Fischer (1988, Ruderalvegetation der Stadt Gießen).
Der Beitrag setzt sich mit der Ambivalenz des dokumentarischen Blicks zwischen Sichtbarmachung und Othering auseinander. Im Zentrum steht der 2016 in Wien entstandene Dokumentarfilm "Brüder der Nacht" von Patric Chiha, der sich mit bulgarischen Arbeitsmigranten befasst, die in Wien als Stricher arbeiten. Das Porträt der jungen Männer dehnt die Grenzen des Dokumentarischen maximal aus und begegnet dem Problem ihrer Viktimisierung auf besondere Weise. Anhand des aktuellen Beispiels werden historische Kontinuitäten und Diskontinuitäten des dokumentarischen Blicks auf prekäres Leben und soziale Armut aufgezeigt.
Rosen in Florenz
(2016)
Die zahlreichen Bezüge auf die Rosen bezeugen, dass die Rose eine entscheidende Figur für Rilkes Dichtung und Poetik ist und dass sich diese Thematik mit Kernpunkten bereits im Florenzer Tagebuch wiederfinden lässt. Auch in den in Florenz verfassten Gedichten lässt sie sich finden, zunächst noch im Anfangsstadium und erhält dann Eingang in seine späte Dichtung. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass die Schaffensphase der Florentiner Dichtung noch im Schatten der monistischen Vision einer klaren romantisch-idealistischen Aszendenz steht und mit einer Betrachtung der Kunst verbunden ist, die noch von der "Ideologie eines künstlerischen Übermenschentums" geprägt ist. Eine Auseinandersetzung mit dem Thema der Rose in der Florentiner Zeit kann so nur unter Berücksichtigung der Aporien, Schwankungen und Zweifel in Rilkes Dichtung aus diesen Jahren gelingen.
Das Gutenberg-Museum in Mainz besitzt mit mehr als 100.000 Blättern eine der bedeutendsten Exlibris-Sammlungen weltweit. In der Reihe "Exlibris des Monats" werden jeweils ausgewählte Objekte in einer Sondervitrine präsentiert. Im Rosenmonat Juli stand 2011 ein Blatt für Rainer Maria Rilke im Mittelpunkt - Anlass, auch einmal einen Blick auf weitere Exlibris auf den Namen des Dichters und seine Wirkung im Exlibris zu werfen.
Romulus
(2004)
Der [Romulus] ist unter den antiken Fabelbüchern die einzige größere [Sammlung in lateinischer] Prosa und neben der versifizierten Sammlung des Avianus, die indes begrenzter wirkte, wichtigster Vermittler der äsopischen Fabel (Äsopika) ins [Mittelalter]. Voraussetzungen, Ausformung und Ausstrahlung des im 5. Jh. p. Chr. n. möglicherweise in Gallien erstellten Korpus sind wegen der diffusen Quellenlage nur begrenzt zu erfassen.
Die Romantiker lieben es, programmatisch aufzutreten. Daher ist es bemerkenswert, dass in ihren Manifesten die Nennung und Konzeptualisierung von Ironie, Arabeske, Humor, Phantastik und Groteske dominiert. Die Erwähnung der Satire hingegen findet sich selten, sie bleibt randständig. Und doch ist auffällig, dass zum Beispiel in den nicht zur Veröffentlichung bestimmten poetologischen Notizen Friedrich Schlegels die Satire nicht nur gleichwertig mit Ironie, Burleske, Parodie, Groteske behandelt, sondern zugleich um ihren literaturtheoretischen systematischen Ort und ihre literaturpolitische Stellung geradezu gerungen wird.
Freud soll als Theoretiker des Gedächtnisses produktiv gemacht werden. Was sich seinem Bild Roms methodisch abgewinnen lässt, ist als Aufhebung zeitlicher Struktur auch deren Überführung in räumliche Schichten. Wenn alles simultan ist, so gibt es keine Abfolge, und die Analyse kann darum nicht von Entwicklungen, sondern von Schauplätzen sprechen. Diesen kommt in der kulturwissenschaftlichen Arbeit eine herausragende Bedeutung zu, auch die folgende Untersuchung zu Geschichten und Gestalten einer Märtyrerin: der Heiligen Cäcilie, zu ihren narrativen und pikturalen bzw. plastischen Figurationen wird Freuds Modell folgen. Auch bedingt dies eine Darstellungsweise, die - wie schon diese methodischen Überlegungen - über Umwege führt. Nicht zuletzt lässt Freuds implizite Idee einer häretischen Form der Auferstehung der Toten, die ins Bild der 'Ewigen Stadt' eingetragen ist, auch die väterlichen Heilsversprechen als labil erscheinen, sodass es nicht ausgemacht ist, was passiert, wenn die Toten ihre Gräber verlassen.
Theodor W. Adornos berühmt-berüchtigte Verteidigung des Fremdworts als "Exogamie der Sprache" wirft neben anderen Fragen auch die auf, ob denn hier Fremdsprache gleich Fremdsprache sei. [...] Immerhin lenkt Adornos Vergleich die Aufmerksamkeit auf einen in der Begriffsgeschichte unterschätzten Aspekt: Bedeutungsveränderungen, die eine Terminologie durchläuft, sind nicht selten mit sich wandelnden emotionalen Konnotationen verbunden. Begriffsgeschichte ist auch eine Geschichte der 'languages of emotion'. Besonders deutlich wird das an Begriffen wie 'Roboter'.
Robert Walser's text "The Walk" enacts a narrative that is genuinely describable as one 'on the border' to non-narrativity. This paper takes a look at how "The Walk" uses indicators of narrativity / narrativeness in order to subvert them, especially by dissolving narrative times. This leads to narrative performativity. Its narrative techniques are mirrored in the very Walserian self-description of eating a meal. In the central episode of the "The Walk" the protagonist eats "pieces" (German "Stücke"), what in Walser's terminology means both sweets and narratives ("Prosastückli"). This leads to a circle of intertextuality, in which the writer reads his own text and re-writes it at the same time. Nonetheless, "The Walk" is not a pure manifestation of self-reflexivity because its non-systematic narration is undeniable. Walser's "The Walk" formulates and follows a poetics of "narrating-as-writing" which highlights both performativity and materiality of the act of narration.
Es gibt keinen anständigen Germanisten, ja keinen belesenen Gebildeten, der den Namen Musil nicht gehört hätte. Nur relativ wenige wissen aber, dass Robert Musil ein deutschmährischer Autor ist, der mit Mähren auf vielfache Weise verbunden ist, bzw. falls sie es wissen, messen sie dieser – scheinbar nur biographisch-positivistischen interessanten Marginalie – keine große Bedeutung zu. Wir wollen versuchen, das bereits Bekannte zu Musils mährisch-böhmischen Kontexten und Kontakten zusammenzutragen (dabei auf die Leistungen der vorherigen Forschergeneration hinzuweisen), zugleich wollen wir Desiderata aufzeigen und schließlich die Bedeutung der Tatsache, dass Musil ein deutschmährischer Autor war, neu reflektieren und bewerten.
Robert Eisler (1882-1949) hatte sich bereits des Öfteren und vorwiegend in englischer Sprache zu Orpheus zu Wort gemeldet. Seit dem Dritten Internationalen Kongress für Religionsgeschichte in Oxford 1908 trat er regelmäßig in England auf. Schließlich war es Eislers Buch "Orpheus - The Fisher" (1921), das den Anlass für eine Einladung an die KBW gab. Fritz Saxl (1890-1948) war durch das Buch auf ihn aufmerksam geworden, weil auch er in seinen Arbeiten Kunst- und Religionsgeschichte zusammenbringen wollte. [...] Eisler lebte in Metropolen wie Wien und Paris, aber auch lange Zeit in der Provinz - etwa in Feldafing am Starnberger See in Bayern oder in Unterach am Attersee in Oberösterreich. Er provozierte heftige Debatten, weil er die Dinge unorthodox anfasste, und das nicht nur beim akademischen Establishment, dem er nie angehörte, sondern auch allgemein seinem Lesepublikum gegenüber, dessen Selbstgewissheiten er gerne irritierte.
Nicht von einer "Nähe" der Literatur "zum Ritual" [...] gehen die folgenden Überlegungen aus. Wenn als "Definitionsmerkmale des Rituals" "Wiederholung einer Handlung, Inszeniertheit, ästhetische Elaboriertheit, Selbstbezüglichkeit, Expressivität und Symbolizität" angeführt werden, dann stellt sich gerade die Frage, inwiefern ein literarischer Text Handlung 'ist', nicht aber nur ein Ritual oder eine Wiederholung einer Handlung thematisiert oder erzählt. [...] Das Verhältnis von Ritual und literarischem Text wird allein von deren Ferne und Entferntheit her gedacht werden können und damit erst die Versuche und die Notwendigkeit der literarischen Texte, im Verhältnis zum Ritual ihre eigene Performativität zu bestimmen.
Als Hintergrund der Übersetzungen Elisabeths von Nassau-Saarbrücken wird in der Forschungsliteratur unseres Jahrhunderts wiederholt eine kulturelle Bewegung namhaft gemacht, die man mit den Begriffen ,Ritterrenaissance' oder "Ritterromantik" belegt. So spricht beispielsweise Wolfgang Haubrichs von der "aufkomrnenden Ritterrenaissance Frankreichs und Burgunds [ ... ], wo man Motive aus ,Perceval' in prunkvolle, als Palastschmuck gedachte Teppiche webte". Einen Versuch, die Werke Elisabeths in einen grösseren europäischen Zusammenhang einzuordnen, hat Josef Strelka in seiner ungedruckt gebliebenen Wiener Dissertation von 1950 unternommen: "Feudalromantische Strömungen in der Renaissancedichtung und ihre Entwicklung".
Der Begriff 'Verstreute Gedichte' klingt im Deutschen nicht gut, der Terminus 'Einzelgedichte' lenkt den Blick hin auf das Singuläre jedes Texts und weg von Gemeinsamkeiten und Gedichtgruppen. Der Titel "Uncollected Poems", den William Waters für das Treffen der Internationalen Rilke-Gesellschaft in Boston (2011) in Vorschlag gebracht hat, vermag die Balance gut zu halten, allerdings nur in der englischen Sprache. Eine erste, noch provisorische Übersetzung ins Deutsche mit 'Ungesammelte Gedichte' war wenig überzeugend, denn eine solche Fügung findet sich nicht im Repertoire der deutschen Sprache. Zusammen mit der englischen Prägung wird aber sofort klar, was gemeint ist, auch wenn ein passender editorischer Fachbegriff in der deutschen Sprache nur schwer zu finden ist. Ein Blick auf die Editionsgeschichte von Rilkes Werken erklärt, worin die Besonderheit des Falles besteht.
Rilkes Poesie des Grundes in den "Duineser Elegien" : Prolegomena zu einer metaphysischen Lektüre
(2016)
Die Perspektive auf eine Logik des Grundes mitsamt ihrer metaphysischen Diskursgeschichte in den "Duineser Elegien" ist deshalb sinnvoll, weil wesentliche ihrer Denkfiguren von Rilke poetisch aufgenommen und eigensinnig im Medium lyrischer Gestaltung neu vermessen werden: wie dem menschlichen Dasein das, worin es gründet, als Ganzes gerade deshalb entzogen bleibt, weil es darin gründet und sich dieses Gründens mittels Transzendenz und Freiheit zu vergewissern sucht. Die Paradoxie des absoluten Seinsgrundes, zwischen sich und das von ihm Begründete einen Abgrund zu legen, gerade weil er als letzter, tragender Grund aus der Logik des Ableitbaren und damit rational Rekonstruierbaren herausfällt, welche er zugleich erst ermöglicht, erfährt bei Rilke nicht nur eine poetische Zuspitzung: Die Elegien zeigen auf, wie diese Grenzfigur des Denkens einzig in lyrischer Bildlichkeit ihre adäquate Formulierbarkeit erhält.
In den lyrikgeschichtlichen Erörterungen wird überwiegend angenommen, dass die Entstehung der modernen Lyrik eine Wende in der Geschichte der Gattung bedeutet. Um die Schlüssel-kategorien dieser Annahme in Erinnerung zu bringen: Die prämoderne Lyrik habe immer einen Ansatz zur abbildenden, figurativen, naturnahen und persönlichen Darstellung bewahrt, und sie habe dementsprechend ihren Aussagen auch eine außerkünstlerische, ja oft universale Gültigkeit zugetraut; während die moderne Lyrik, in thetischer Gegenüberstellung zur früheren Periode, sich durch einen stets zunehmenden Ansatz zur abstrakten, nicht-figurativen, imaginären und objektiven Schöpfung entwickelt habe. Sie habe dementsprechend die Gültigkeit ihrer Aussagen streng darauf beschränkt, was sie in ihr künstlerisch erschaffenes Universum hineingenommen hat – wobei dieses rein eigengesetzliche, rein selbstbestimmende Universum sich auf die Breite und die Tiefe einer wahrhaftigen Religion erstrecken kann. Im folgenden Beitrag will ich darzulegen versuchen, wie sich Rilke, mit dem Titel eines berühmten Gedichts gesagt, diese prinzipielle "Wendung" angeeignet hat. Um es im voraus kurz zu resümieren: Er hat sie aus einer noch stärker selbstthematisierenden Perspektive heraus, als Schicksalswende des schöpferischen Worts, begriffen – aus dieser Perspektive aber bis zu ihrer zwei-einen äußersten Konsequenz, sei es zu kosmischer Bestätigung, sei es zu kosmischer Verneinung des schöpferischen Worts geführt.
Rilkes Leben in der Schweiz
(2014)
"Die Schweiz" ist im Zusammenhang mit Rilke zugleich ein großes und ein kleines Thema. Ein kleines Thema ist es, wenn man bedenkt, dass Rilke nur die letzten acht Jahre seines Lebens in diesem Land gelebt hat. Eben diese Jahre des Erfolgs und der Qual waren es aber auch, die für seine Größe entscheidend wurden, zumindest dann, wenn man davon ausgeht, dass alles Vorhergehende wie "Das Stundenbuch", "Das Buch der Bilder", ja sogar beide Teile der "Neuen Gedichte" und der große Roman "Malte Laurids Brigge", die "große" Arbeit nur vorbereiteten. Dies mag eine Überzeichnung sein; jedenfalls aber wird man sagen können, dass die Welt, die sich Rilke in der Schweiz erschloss, in vieler Hinsicht Neuland für ihn war.
In den folgenden Überlegungen geht es hauptsächlich um ein unpubliziertes Konvolut Rilkes von 26 Seiten mit dem Titel "Remarques à la suite de la traduction des 'Cahiers de M. L. Brigge'", das sich in der Stadtbibliothek von Colmar befindet. 'Unpubliziert' muss allerdings insofern eingeschränkt werden, als Auszüge daraus von Maurice Betz in seinem Erinnerungsbuch "Rilke vivant. Souvenirs, lettres, entretiens" (erschienen 1937 bei Emile-Paul frères in Paris, deutsch unter dem Titel "Rilke in Frankreich. Erinnerungen, Briefe, Dokumente" 1938 bei Reichner in Wien) verwendet wurden. Hier ist nicht der Ort, im Detail auf die Zitiermethode von Betz einzugehen. Es steht aber außer Zweifel, dass Betz bewusst die oft sehr kritischen Passagen von Rilkes Bemerkungen zur Übersetzung des Malte unterdrückt hat. Es geht ihm dabei offensichtlich um die Rechtfertigung seiner Übersetzung.
Rilkes "Der Geist Ariel" übt auf den Leser eine besondere Faszination aus. Ohne ganz zu verstehen, wo diese Faszination herrührt, hatte ich schon als Studentin das Gedicht ins Englische übersetzt und in einer Studentenzeitschrift der Universität Sydney veröffentlicht. Dass eine Übersetzung dieses Gedichts höchst problematisch ist, war mir damals nicht bewusst: die Übersetzungsarbeit ging ja schnell vonstatten. Damals wusste ich nichts vom komplizierten Werdegang des Gedichts, das ohne den Einfluss von Katharina Kippenberg nicht zustande gekommen wäre.
Bad Rippoldsau: wieder einmal hat die Rilke-Gesellschaft, durch günstige Umstände befördert, einen Tagungsort gewählt, an dem einst Rilke unter förderlichen Bedingungen zu weilen vermochte und der ihm in guter, durchaus sympathischer Erinnerung geblieben ist. Beide Male - sowohl 1909 wie 1913 - war es der Kur-Charakter des Ortes, der für den Dichter diese Wahl bestimmt hat. Zum zweiten Mal seit dem Frühjahr 1905 - als Rilke sich zusammen mit seiner Frau Clara Westhoff im Lahmannschen Sanatorium "Weißer Hirsch" bei Dresden einer Kur hatte unterziehen müssen - war es eine zugleich kreative wie (wenn auch leichtere) gesundheitliche Krise, die einen solchen Schritt aus physiologischen und psychologischen Gründen ratsam erscheinen ließ. Werkgeschichtlich bestimmte diese Krise ein Stocken in der Weiterarbeit an den "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge", und ebenso die wachsende Erkenntnis Rilkes, daß, nachdem 1908 nun auch der "Andere Teil" der "Neuen Gedichte" erschienen war, in seiner lyrischen Produktion ein Beharren auf ihre spezifische Typologie zu einer Erstarrung hätte führen müssen; daß somit auch ein neuer, noch ungewisser poetologischer Ansatz zu erproben sei.