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Allwissendes Erzählen
(2004)
›Allwissendes Erzählen‹ und ›allwissender Erzähler‹ gehören zu den literaturwissenschaftlichen Begriffen, die viel gebraucht, aber selten definiert werden. Wer in den einschlägigen erzähltheoretischen Hand- und Einführungsbüchern nach diesen Stichworten sucht, tut es häufig vergebens. [...] Einerseits wird der Begriff des allwissenden Erzählens im literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauch offenbar in einem erkenntnistheoretischen Sinne verwendet – es geht um ein durch keine empirischen Bedingungen begrenztes Wissen. Wenn allwissendes Erzählen aber in systematischer Verknüpfung (oder gar synonym) mit auktorialem Erzählen gebraucht wird, dann steht in der Regel ein anderer Aspekt im Vordergrund […]. Der Ausdruck ›auktorialer Erzähler‹ bezeichnet seit Stanzel einen persönlichen heterodiegetischen Erzähler, d.h. 'einen Erzähler, der zwar nicht der erzählten Welt angehört, aber eine individuelle Einschätzung und Bewertung des Erzählten zum Ausdruck bringt und dadurch ein bestimmtes ideologisches oder moralisches Profil gewinnt.' […] Trotz [einer] zeitweisen historischen Koppelung von allwissendem und auktorialem Erzählen handelt es sich jedoch um zwei systematisch voneinander unabhängige Aspekte, die in der Literaturgeschichte keineswegs immer gemeinsam auftreten. Im folgenden gehe ich nicht auf die moralischen Aspekte auktorialer Erzählerfiguren ein, sondern beschränke mich auf die erkenntnistheoretischen Besonderheiten allwissenden Erzählens.
Die frühe Moderne wendet sich gegen das erzählerische Ordnungsprinzip der Kausalität. Als einer ihrer ersten deutschsprachigen Vertreter hat Carl Einstein mit seinem poetischen Werk versucht, das kausal bestimmte Erzählen durch eine neue Form der fiktionalen Prosa zu ersetzen. In vielen seiner literaturkritischen und kunstgeschichtlichen Arbeiten wird der Begriff 'Kausalität' auch erwähnt. Allerdings bleibt es fast immer bei einem flüchtigen Hinweis, ohne daß eine Begründung für die Ablehnung der Kausalität als organisierendes Prinzip erzählender Texte geben würde. Offensichtlich setzte Einstein die Kenntnis des zeitgenössischen Diskussionszusammenhanges voraus – ein ellipitisches Verfahren, das heute, aus historischer Distanz, eine behutsame Rekonstruktion seiner Intentionen erfordert. Ich möchte insbesondere zeigen, daß der Begriff der Form als Gegenbegriff zur Kausalität auftritt, und daß dieser Gegensatz im "Bebuquin" auf aporetische Weise zur Geltung kommt.
Nach dem Spiel ist vor dem Spiel : erzähltheoretische Bemerkungen zur Fußballberichterstattung
(2002)
Gewiß, ein Spiel dauert 90 Minuten. Aber über ein Fußballspiel zu reden, dauert viel länger. Das Reden beginnt mit Vorberichten und Prognosen, es begleitet das Spiel mit Beschreibungen und Kommentaren, es setzt sich nach Spielende in Zusammenfassungen und Erklärungen fort. Wenige Ereignisse unseres Alltags werden in den Medien so ausführlich besprochen wie Fußballspiele. Allem Anschein nach haben Millionen von Fußballfreunden nicht nur das Bedürfnis, Fußballspiele zu sehen, sondern auch, das Geschehen auf dem Rasen zu erzählen und erzählt zu bekommen. Wer samstagnachmittags ein Bundesligaspiel im Stadion miterlebt, diskutiert in der Regel nach dem Schlußpfiff mit Freunden über das Spiel, sieht sich abends den Fernsehbericht an und liest am Montag auch noch die Reportage im Sportteil seiner Zeitung. Was leistet das schier endlose Reden über Fußball im Freundeskreis und in Fernsehen, Radio, Zeitungen und Illustrierten? Sehr allgemein gesagt, transformiert es das physische Geschehen auf dem Rasen in einen Gegenstand der Kommunikation. Wie lassen sich aber Verfahren und Funktionen dieser Transformation genauer beschreiben? Der folgende Beitrag gibt eine Antwort aus erzähltheoretischer Sicht. Er untersucht, wie Fußballspiele in simultaner Berichterstattung im Radio und retrospektiv in der Zeitung erzählerisch rekonstruiert werden. Zuvor seien einige narratologische Begriffe und Unterscheidungen eingeführt, um mit ihnen Fußball-Erzählungen an einem Fallbeispiel analysieren zu können.
Man nennt sie ,modeme Sagen‘, ,Großstadtlegenden‘ oder ,sagenhafte Geschichten von heute‘, im Englischen heißen sie ,contemporary legends‘, ,urban belief tales‘, ,belief legends‘ ,modern migratory legends‘, ‚rumor legends‘, ‚urban myths‘ oder – das ist heute der gebräuchlichste Name – ‚urban legends‘. […] Sehr häufig geht es um Ereignisse, die sich zerstörerisch auf den Körper auswirken, um Vergiftungen und Infektionen, Verstümmelungen und Tötungen. Modeme Sagen tragen sich in unserer Alltagswelt zu, an einem namentlich genannten Ort in der Nachbarschaft und zu einem bestimmten, unlängst vergangenen Zeitpunkt, und sie wurden nicht vom Erzähler selbst, aber vom Freund eines seiner Freunde erlebt. Sie erzählen von Ereignissen, die Tatsächlich an Schulen oder Universitäten, am Arbeitsplatz, in der Freizeit oder am Urlaubsort geschehen sind. Ihre Überzeugungskraft schwindet allerdings, wenn der Hörer erfährt, dass die gleiche Geschichte auch anderswo erzählt wird. Moderne Sagen sind Wandersagen, die sich wellenartig über Länder-, Kultur- und Sprachgrenzen hinweg ausbreiten. Ein und derselbe Handlungskern wird an verschiedensten Orten erzählt und jeweils an die lokale Umgebung und die individuelle Gesprächssituation angepasst […]. Sie werden im Alltag ohne ästhetischen Geltungsanspruch von jedermann erzählt und gehört. Deshalb werden sie seit den 1960er Jahren von Ethnologen und Soziologen, aber kaum von Literaturwissenschaftlern untersucht.