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Das Medium, um das es in meinem Beitrag gehen soll, das Plakat, unterscheidet sich von jenen Medien, die in den anderen Beitragen dieses Bandes verhandelt werden, in einem. wesentlichen Punkt. Ob es sich nämlich um das Buch, die Zeitung, das Internet, die Oper, den Film, das Fernsehen oder das Radio handelt, so betreten wir die Raume, in denen diese Medien wie Rhetorik entfalten, mehr oder weniger willentlich. Das Buch haben wir in der Buchhandlung erstanden oder einer Bibliothek entliehen;' die Zeitung haben wir abonniert; die Fernsehbilder beginnen erst zu rauschen, nachdem wir das Gerät per Fernbedienung eingeschaltet haben; ins Kino oder ins Theater begeben wir uns nach Durchsicht des Spielplans. Ins Internet müssen wir uns einloggen und um Karten für die letzte Ausstellung in der Tübinger Kunsthalle haben wir unter Umstanden lange angestanden – Den Raum jedoch, in dem das Plakat seine rhetorische Wirkung entfaltet, betreten wir in der Regel auf sehr viel unvermitteltere Art und Weise, jedes Mal nämlich, wenn wir auf die Straße hinaustreten. Denn Plakate gehören mit einer solchen Selbstverständlichkeit zum urbanen Lebensraum der Moderne, dass uns für bloßes Vorkommen in einem gewissen Sinne kaum mehr auffällt. Um den Wahrheitswert dieser Aussage zu prüfen, genügt es schon, sich nur einmal zu vergegenwärtigen, an wie vielen Exemplaren dieser Gattung man allein im Verlauf eines einzigen Tages vorbeikommt. Mit ziemlicher Sicherheit werden wir bereits Schwierigkeiten haben, allein die Artzahl zu bestimmen, geschweige denn zu sagen, welchen Gegenständen sie gegolten haben. Aber das heißt keineswegs, dass diese Begegnungen spur- und wirkungslos an uns vorübergegangen waren. Denn auf eben diese Situation, auf den Umstand nämlich, dass ihm oft nur Sekunden bleiben, um seine rhetorische Macht zu entfalten, ist das Plakat sehr gut abgestellt. Fast ist man versucht, in Analogie zur Darwinschen Evolutionstheorie der biologischen Arten von einer optimalen Anpassung dieser Gattung an ihre Umwelt zu sprechen. Ja, diese Anpassung ist so hervorragend, dass von einem Veralten des Plakats selbst im Zeitalter der digitalen Medien nicht die Rede sein kann. 1m Gegenteil verzeichnet die Plakatbranche für die gerade zu Ende gegangenen neunziger Jahre enorme Wachstumsraten. Eine Erfolgsgeschichte also durchaus.
Auch wenn sich die Theorien über die Entstehung unseres Sonnensystems widerstreiten, auch wenn der Übergang von der anorganischen Materie zum organischen Leben nicht restlos geklärt ist, auch wenn es umstritten sein mag, welche unserer Vorfahren bereits zur Gattung Mensch gerechnet werden können, so gibt es doch keinen hinreichenden Grund, die Vorstellung einer durchgängigen Evolution der Natur in Zweifel zu ziehen. Dieses nachdarwinsche Weltbild ist uns so selbstverständlich geworden, daß es uns schwerfällt, einen Begriff von Natur uns zu vergegenwärtigen, in dem geschichtliches oder gar evolutives Denken keinen Platz hat. Die Vorstellung, daß die Natur eine Geschichte hat, lag aber dem Altertum fern. Auch wenn der jüdisch-christliche Mythos von einer Schöpfung der Natur und ihrer endlichen Zerstörung berichtet, so betraf dies zwar die Heilsgeschichte des Menschen, führte aber keineswegs zur Vorstellung einer in geschichtlichen Zeiträumen sich vollziehenden Schöpfung. Der Mensch war zwar in die Zeit hineingestellt, aber durch Sündenschuld und Erlösung dazu berufen, eines Ewigen Lebens teilhaftig zu werden. Das Buch der Natur, die Betrachtung der wandelbaren Dinge auf der Erde, wie die Betrachtung der unwandelbaren Gesetze am Himmel, konnten gleichermaßen nur gelesen werden als Spiegel dieser seiner Bestimmung. Von der endgültigen Auflösung dieses Weltbildes, von den damit verbundenen Erschütterungen und von der Herausbildung unseres heutigen genetisch-evolutiven Weltbildes handelt das Thema "Die Verzeitlichung der Natur". [...] Die Überlegungen sind in drei Teile untergliedert, die zugleich ein Nacheinander von Typen literarischer Naturerfahrung repräsentieren sollen. Der erste Teil hat den Titel "die Zeitlichkeit der Natur als Bedrohung und als Glückserfahrung"; das zweite Kapitel lautet: "Das Scheinen der an sich verlorenen Natur" und das dritte "Die Geschichtlichkeit der Natur als Erdleben".
Will man zu repräsentativen Aussagen über Funktion und Wirkung der frühen Komodie der DDR kommen, so wird es zweckmäßig sein, die Frage beiseite zu stellen, we1che Stücke aufgrund ihrer ideologischen Exzeptionalität oder ihrer literarischen Qualität noch heute literaturhistorisches Interesse auf sich ziehen konnten. Es wird zweckmäßig sein, sich an diejenigen zu halten, die damals Karriere machten. Die Komödie "Frau Flinz" von Helmut Baierl gehört gewiß dazu. Sie hatte beträchtlichen Erfolg in Berlin und in der Provinz, nicht zuletzt dank ihrer Inszenierung durch das Berliner Ensemble unter der Regie von Manfred Wekwerth. Im 11. Band der Geschichte der deutschen Literatur, also der Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik, gilt sie geradezu als klassisches Stuck der "Herausbildung der sozialistischen Nationalliteratur der Deutschen Demokratischen Republik" , ein Stück also, das die Kriterien dieser Literaturgeschichte wie kaum ein anderes erfüllt. Der Autor Helmut Baierl war Russischdozent, später Student des Leipziger Literaturinstituts, Verlagslektor und von 1959 bis 1967 Mitarbeiter, Dramaturg und Parteisekretär am Berliner Ensemble. Er hatte sich bereits mit Laienspielen ("Der rote Veit") und mit einem Lehrstück "Feststellung" hervorgetan, als er "Frau Flinz" schrieb. Die Komödie wurde am 8. Mai 1961 uraufgeführt, 1964 neu einstudiert und stand in dieser Fassung noch Anfang der 70er Jahre auf dem Programm am Schiffbauerdamm. Sie erreichte 175 Aufführungen.
Sehr unmittelbar scheinen Christa Wolfs Werke zu uns zu sprechen, unsere Lebensprobleme zu artikulieren, Schwierigkeiten der Selbstverwirklichung in modernen Industriegesellschaften, leidvolle Konflikte von Gefühl und Rationalität, Aufrichtigkeit und Klugheit, Hoffnung und Resignation, die recht verstandene Emanzipation der Frau nicht zuletzt. Mißverstandnisse spielen dabei eine Rolle, ungewollte, aber manchmal auch sehr absichtsvolIe, denen die Autorin resigniert widerspricht. Mal um Mal hat sie ihre Solidarität mit der sozialistischen Gesellschaftsordnung bekannt; ganz unübersehbar ist, daß ihre Werke zunächst auf deren Probleme Bezug nehmen und antworten. Vertrautheit und Gemeinsamkeit sind oft nur scheinbar. Wer den DDR-Kontext ausblendet, dem entgehen nicht nur Nuancen und Anspielungen, er lauft vielmehr Gefahr, den Sinn der literarischen Form selbst zu verfehlen. Der sogenannte gesellschaftliche Kontext ist keine Äußerlichkeit, er ist den Texten auf vielfältige Weise einbeschrieben.
Happy Ends, soviel gilt im Zeichen der Negativitätsästhetik als ausgemacht, sind ästhetisch verächtlich. Mit guten Gründen, wie es scheint: Die eben noch rechtzeitige Ankunft des rettenden Boten, das Durchschauen von Verwechslung und Irrtum in letzter Minute, die schon nicht mehr erhoffte Umkehr des auf Abwegen Wandelnden – dies sind, wenn nicht geradezu konstitutive, so doch gattungstypische Handlungsverläufe trivialer, bloß unterhaltender, kitschiger – kurz, als ästhetisch geringerwertig geltender Kunst.
Motive und Argumente der Ablehnung gehören zum topischen Repertoire der Trivialliteraturforschung: Was an solchen Produkten der Kunst und der Literatur so bedenklich ist, ist nicht das gute Ende selbst, zu dem sie führen, sondern vielmehr der ermäßigte Preis, zu dem sie es tun. Das gute Ende, zugleich mit Spannung erhofft, tritt ein als ein so nicht erwartetes, als ein in den Bedingungen seiner Möglichkeit nicht motiviertes, als sorgfältig geplante Zufälligkeit. Es sei darauf angelegt, heißt es, ein Glücksverlangen zu befriedigen, zu befriedigen aber nur im Hier und Jetzt des illudierenden Spiels. Und alle Wiederholung, zu der es das Bedürfnis errege, könne nicht darüber hinwegtäuschen, daß es, nach Maßgabe besonnen-nüchterner Vernunft, 'realistischerweise' nicht hatte eintreten können. Eben dadurch verweise es die wahre Befriedigung des Glücksverlangens ins Reich illusionärer Utopie, daß es die Gegebenheiten, die jener tatsächlich entgegenstehen, als weniger bedrängend und bedrohlich erscheinen lasse. Die Ablehnung des Happy End als Gattungsstereotyps ist also begründet in einer Interpretation seiner Funktion. Aber ist die so geartete Funktionsbestimmung notwendig und unausweichlich?
Kritik, Literaturkritik (II.) : Die Geschichte des K.-Begriffs von der Renaissance bis zur Gegenwart
(1976)
Das Wort <K.> bezeichnet bildungssprachlich heute fast ausschließlich die Rezension literarischer Neuerscheinungen und die Besprechung künstlerischer Darbietungen als Formen der Publizistik, sowie die Gesamtheit der diese verfassenden Personen. Solchem Wortgebrauch zufolge unterscheidet sich K. von der (akademischen) Literaturwissenschaft neben der Aktualität dadurch, daß sie sich der Äußerung von Werturteilen und der Einflußnahme nicht enthalten muß. In dieser engen Verwendung ist <K.> das Ergebnis eines Bedeutungswandels, dem das französische <critique> und das englische <criticism> nicht in gleicher Weise unterlegen sind, so wenig sich in beiden Sprachen ein <Literaturwissenschaft> vergleichbarer Terminus hat durchsetzen können.
Die mit dieser Arbeit einsetzende Rezeption der Rezeptionsgeschichte und Rezeptionsästhetik in der Literaturwissenschaft war – wie es scheint – durch folgende Erwartungen bestimmt:
1. Sie versprach, die "Kluft zwischen der historischen und der ästhetischen Betrachtung" zu schließen, formalistische und historisch-soziologische Betrachtungsweisen in ihrer Einseitigkeit zu überwinden und zu versöhnen und beiläufig die marxistische Literaturwissenschaft in die Wissenschaftspraxis zu integrieren.
2. Sie versprach, die Legitimationsfrage der Literaturwissenschaft zu lösen, indem die rezeptionsästhetische Methode die Literaturwissenschaftler in die Lage versetzen sollte, an der "Totalisierung des Vergangenen", will sagen an der Wiederaneignung von Werken der Vergangenheit und der Vermittlung vergangener Kunst und gegenwärtiger Kunsterfahrung teilzunehmen. Sie beanspruchte, für eine bewußt angestrebte neue Kanonbildung Kriterien bereitzustellen und damit die hoffnungslosen Aporien zu heilen, in welche der Historismus alle normativen Anstrengungen der Literaturwissenschaft gebracht hatte.
3. Sie stellte die Möglichkeit in Aussicht, die Wissenschaftsgeschichte insbesondere der Germanistik ohne allzu heftige Erschütterung zu beschreiben, indem sie erlaubte, in den literaturwissenschaftlichen Hervorbringungen der Vergangenheit ebenfalls die "sukzessive Entfaltung eines im Werk angelegten, in seinen historischen Rezeptionsstufen aktualisierten Sinnpotentials" zu sehen, ohne deswegen in den Verdacht zu kommen, einem Einrücken in diese Tradition oder einem Verzicht auf Kritik das Wort zu reden.
4. Schließlich erlaubten die vorgetragenen methodischen und theoretischen VorschIage durchaus unterschiedliche Folgerungen, vor allem aber eine Fülle von praktikablen neuen Projekten und Themenstellungen bei prinzipiell gleichbleibender Struktur der Lehr- und Forschungspraxis. Es zeigte sich, daß überall keineswegs voraussetzungslos begonnen werden mußte, daß insbesondere bei den von Jauß vorgeschlagenen Methoden der synchronen und diachronen Querschnittsanalysen, bei der Rekonstruktion von "Erwartungshorizonten" aus den Texten selbst und aus den Traditionen, in denen sie stehen, und auch bei der Rekonstruktion der "ereignishaften Geschichte der Literatur", in welcher sich Rezeption durch Kritiker und Autoren als Fundament neuer Produktionen darstellt, auf das ganze reiche Arsenal der eingeubten positivistischen Arbeitsweise der Gattungs-, Motiv- und Einflußgeschichte u. a. m. zurückgegriffen werden konnte.
Das Internet ist nicht nur ein Medium, das neue Kommunikationsformen ermöglicht, es ist selbst auch das Produkt eines verstärkten Bedarfs, Wunsches und Drangs nach Kommunikation. Beim Internet handelt es sich um ein hybrides Konstrukt, das auf drei Säulen aufruht: 1. eine neue Ordnung von Daten/ Informationen (Stichwort: Hypertext; Beispiel: Suchmaschinen wie Google), 2. die Entwicklung neuer Formen von Interaktion (Stichwort: neue Kommunikationsplattformen, Beispiele: MySpace, Facebook), 3. die globale Ausweitung der Zugangsformen (Stichwort: erschwingliche Computer und handheld devices, Vervielfältigung der Server, Knoten, Terminals). Diese drei Aspekte des Internets sind das Ergebnis zunächst eigenständiger technologischer Erfindungen und Entwicklungen, die dann miteinander fusioniert wurden. "Es ist an der Zeit, die digitale Revolution, die mehr ist als das Web 2.0, in ihrer ganzen Wucht zu erkennen", schrieb Frank Schirrmacher in der FAZ. Ich werde mich in diese grundsätzliche Debatte über das Internet und die anthropologischen und politischen Konsequenzen der neuen Datenordnung hier jedoch nicht einschalten, die derzeit von Meinungsmachern wie Frank Schirrmacher, Stephen Baker und Sascha Lobo geführt wird, sondern mich nur auf die zweite Säule, die Neugestaltung der Kommunikation durch das Web 2.0 konzentrieren.
Die Erinnerungsikonen sind datierbare Erinnerungsakte in der Geschichte, doch erzählen sie selbst keine Geschichte. Die vielen besonderen Geschichten, die sich einst um jedes konkrete Leben rankten und nach dem Tode der Person auch noch eine Weile im kommunikativen Gedächtnis der Familie, der Nachbarschaft und des Dorfes erzählt wurden, sind alle längst vergessen. Dieses Schicksal trifft über 90 Prozent unserer materiellen Hinterlassenschaften, von denen sich die Gesellschaft in periodischen Ausscheidungsprozessen trennt, ohne dabei je zu einem Thema zu machen, „wie wenig wir festhalten können, was alles und wie viel ständig in Vergessenheit gerät, mit jedem ausgelöschten Leben, wie die Welt sich sozusagen von selber ausleert, indem die Geschichten, die an ungezählten Orten und Gegenständen haften, von niemandem je gehört, aufgezeichnet oder weitererzählt werden (…).“ Dieses Universalgesetz des Vergessens gilt aber nicht nur für Hausrat und beiläufig Angesammeltes, sondern paradoxerweise auch für die Erinnerungsikonen, deren liebevolle und kostbare materielle Ausformung ihren Gedächtniswert noch eigens ausstellt. Ohne eine Sammlerin, die diesen Gegenständen nachträglich einen neuen historischen Wert zuschreibt, und ein Museum, das sie unter ihr schützendes Dach aufnimmt, würde die Nachwelt von dem Brauchtum, auf das diese stummen Zeugen verweisen, heute nichts mehr wissen.
Wenn wir es unbefangen betrachten, können wir gar nicht anders als zu dem Schluss kommen: Das Buch ist eine geniale Erfindung. Durch die Komprimierung arbiträrer Zeichen bietet es auf engstem Raum eine enorme Informationsdichte an. Für sich genommen ist die gedruckte Buchseite reine Flachware, aber durch die Beschriftung von Vor- und Rückseiten und die Bündelung von Blättern kombiniert das Buch auf raffinierte Weise die Dimensionen der Fläche und Tiefe. Es kombiniert dabei auch die lineare mit der nicht-linearen Darbietungsform. Entlang der Anordnung und Nummerierung der Seiten kann man es brav von Anfang bis zu Ende lesen, man kann aber auch (was bei der Papyrusrolle nicht möglich war) gezielt eine bestimmte Seite aufschlagen, und Ungeduldige können ins letzte Kapitel springen, wenn sie der Spannung des Krimis nicht standhalten. Wenn wir die Geschichte des Buches mit den Schminkpaletten in Altägypten und den Tontafeln in Mesopotamien beginnen lassen, hat das Buch für seine technische Evolution circa 4.500 Jahre gebraucht, um seine optimale Gestalt für Gebrauch und Verbreitung zu finden. Das geschah zur Zeit der Erfindung des Buchdrucks. Mit diesem Ereignis hat sich die Buchform stabilisiert und nicht mehr wesentlich verändert. Wenn man die Lösung eines Problems gefunden hat, muss man diese nicht mehr in Frage stellen. Das E-Book ist in diesem Sinne keine neue Mutation in der Geschichte des Buchs, sondern ein alternatives Angebot, von dem erst noch abzuwarten ist, wie und wofür es sich bewährt.
Die paradigmatische Institution des Speichergedächtnisses ist das Archiv, das gern als „Schatzkammer des Wissens“ oder „Gedächtnis der Gesellschaft“ angesprochen wird. Welche Aufgaben erfüllt es, wie hat es sich im Medienwandel verändert, mit welchen Problemen ist es konfrontiert? Diese Fragen führen mich im dritten und letzten Teil zu einer Gegenüberstellung von Archiv und Internet. Ich beginne mit einigen Bemerkungen zur Struktur und Organisation des Archivs. Das Archiv ist ein Ort der Ansammlung und nicht der Sammlung. Hier spielt der Zufall eine größere Rolle als die gezielte Steuerung, denn Archivgut fällt an und wird nicht eigens gesucht und in aller Regel nicht käuflich erworben. Mit den Tätigkeiten des Sicherns und Erhaltens ist es ganz auf eine Schutzfunktion zugeschnitten. Der gesellschaftliche Auftrag des Archivs liegt in der Konservierungs-, Ordnungs- und Erschließungsfunktion von Dokumenten. Archivare sind Dienstleister des Speichergedächtnisses in einer Zwischenstellung: sie halten Informationen vor, die später von anderen bewertet, aufbereitet und interpretiert werden. All das kann nicht die Aufgabe der Archivare sein, weshalb sie sich mit der Entscheidung der Auswahl zwischen dem, was relevant und was redundant ist, auch schwer tun und oft überfordert fühlen: „Was wertvoll oder Informationsmüll (wertlos) ist, ist in generellem Sinn theoretisch nicht begründbar.“
Hoffmann unterschätzt und disqualifiziert hier - natürlich auch im Interesse der Aufwertung eigener künstlerisch-kritischer Produktion - die Beliebtheit des spät- und popularaufklärerischen Genres der Blindenheilung, das die handfest-praktische Gegenseite des hochambitionierten und spätestens seit Diderot auch philosophisch prominenten Phänomens darstellt. Als „hochbesetzte Technik des 17./18. Jahrhunderts“ oder gar als „Urszene der Aufklärung“ verbindet das Starstechen den Gewinn des Augenlichts mit dem potentiellen Verlust anderer, ersatzweise erworbener, oft aber auch stärker als normal ausdifferenzierter Fähigkeiten. So folgt zumindest auf die literarisierte Blindenheilung regelmäßig der Wunsch nach erneuter Blindheit m – oder der Abbruch der Narration, „als bedeute das Tageslicht das Ende der Fiktion“. Peter Utz belegte diesen Konnex bereits 1990 mit Beispielen von Jean Paul über Goethe bis zu Bonaventuras Nachtwachen, machte aber auch auf den Rat von dessen Erzählerinstanz aufmerksam, die mögliche Fortsetzung der Geschichte „als Material für trivialromantische Verwertung“ zu nutzen. Hoffmann hingegen entwertet – wahrscheinlich wider besseres Wissen – das philosophische wie narratologische Problempotential der Blindenheilung, indem er probehalber eine Reihe anderer Varianten durchspielt, vom Arterienverschluss (,Aneurisma') über den Wundbrand bis hin zur geglückten Amputation.
Explizite Notenzitate in der Schönen Literatur sind selten, weisen sie doch auf die grundsätzliche Fremdheit zwischen den beiden Medien hin. Diese wurde schon in der romantischen Musikliteratur ebenso oft beschworen wie zu widerlegen versucht. Musik sei die bessere Sprache, meinten zahlreiche romantische Autoren, niemals würde die verbale Sprache sie zu erreichen vermögen. Gleichwohl kämpften Wackenroder und Tieck, Heine und Grillparzer um jene poetische Sprache, die so viel mehr sein soll als die Prosa. So überrascht es nicht, wenn nur wenige Autoren sich der Herausforderung stellen, mit dem Notentext selbst auch die Grenzen ihres eigenen Mediums zu bezeichnen - und noch weniger nutzen sie das Notenzitat als Indiz ihrer poetologischen Grundüberzeugungen. Nicht zufällig sind Hans Henny Jahnn, Arthur Schnitzler und Ingeborg Bachmann die wichtigsten nach wie vor seltenen Zeugen einschlägiger medienkomparatistischer Betrachtungen.
Der ,Neue Mann' zwischen Familie und Beruf : Erkundungen bei Hans Fallada und Joseph Breitbach
(2014)
Falladas „Kleiner Mann“ gehört zu den Erfolgstiteln der späten Weimarer Republik und darf bis heute mit uneingeschränktem Publikumsinteresse rechnen. Empathisch, realitätsnah, detailreich, aber wenig politisch engagiert, rief die Darstellung der absinkenden Mittelschicht schon in der Weimarer Republik den Vorwurf der „linken Melancholie“ hervor, der neben Fallada auch Kästner traf. Noch 1970 diente diese Kategorie dem Literaturwissenschaftler Helmut Lethen als Kampf- und Abwehrbegriff gegen einen vorgeblich „weißen“ Sozialismus, dem er die Absicht sozialer Pazifizierung zuschrieb. Die Farbwahl deutet auf die Langlebigkeit des politisch-literarischen Topos hin, hatte doch Kurt Tucholsky schon 1926 die deutsche Sozialdemokratie in dem Gedicht „Feldfrüchte“ als „außen rot und innen weiß“ charakterisiert. Joseph Breitbach greift in seinen Erzählungen „Rot gegen Rot“ und „Das Radieschen“ von 1928/29 diese Metaphorik ebenso auf wie die mit ihr assoziierten widerstreitenden Positionen. „Rot gegen Rot“ lautet auch der Titel seines 1929 bei der Deutschen Verlagsanstalt erschienenen ersten Erzählbandes. Im Gegensatz zu den politischen Kampffronten sind diejenigen zwischen den Geschlechtern erst spät, dafür aber mit eindeutigem und nachhaltigem Interesse an der „Neuen Frau“ ins Blickfeld der Literaturwissenschaft geraten. Es scheint geradezu, als habe das Erlöschen der politischen Utopie, die sich zunächst in der Weimarer Republik, dann für zahlreiche, vor allem angloamerikanische, Forscher in der DDR verkörperte, die vorherigen Hoffnungen nun auf eine grundlegende Neudefinition des Geschlechterverhältnisses verlagert: Die „Neue Frau“ sollte im Privaten und Öffentlichen realisieren, was politisch eben nicht gelungen war. […] Parallel wäre zu wünschen, dass der Literarisierung des „Neuen Mannes“ die gleiche differenzierte Aufmerksamkeit zukäme - selbst wenn er massenmedial weit weniger präsent ist als seine Geschlechtsgenossinnen. Zeichen seiner Schwäche sind schon in den 20er Jahren unübersehbar. Der „Neue Mann“ ist zumeist – ob im wörtlichen oder übertragenen Sinne – der „Kleine Mann“.
Franz Werfels Roman „Stern der Ungeborenen“ von 1945 ist bisher kaum Gegenstand des Interesses der Fachwelt des magischen, mystischen und okkulten Metiers gewesen: Ein Desiderat also? Kaum. Ist doch Werfels letzter Roman eine klassische science-fiction oder aber eine klassische Utopie, Vertreter zweier Gattungen also, die mit dem literarischen Magismus, Mystizismus und Okkultismus eben nicht vermischt werden dürften, da die Aufbauprinzipien, die Weltsicht und Weltpräsentation, die Funktionen der beiden Sorten nichts gemein haben. Der Roman Werfels trägt auch noch den Untertitel „ein Reiseroman“ und auch der – unter Werfel-Fans berühmte – „Waschzettel“ Freidrich Torbergs verweist ihn in die Familie der utopischen science-fiction: „Dieser Stern der Ungeborenen, geschrieben in der Gnadenfrist zwischen Ankündigung und Vollzug eines verfrühten Todesurteils, geschrieben von einem, der dem Tod geweiht war und vom Tod geweiht, verhält sich zu aller Utopia-Literatur wie Gulliver zum Struwwelpeter. Er wird bleiben, so lange es Zukunft gibt und Menschlichkeit, und so lange man, um sie zu schauen, entweder tot sein muß oder ein Dichter.“
Der folgende Beitrag ist im Rahmen des Forschungsprojektes der Arbeitsstelle für mährische deutschsprachige Literatur entstanden, die vor drei Jahren an der Palacký-Universität in Olmütz (Olomouc) gegründet wurde und sich im allgemeinen mit dem Sichten und Sammeln von Material beschäftigt, mit Aufdecken von verschütteten und vergessenen Spuren, mit deren Festhalten in klassischer sowie elektronischer Form und deren wissenschaftlicher Auswertung in verschiedenster Form. Die Forschung der Arbeitsstelle bewegt sich um ihr Forschungsobjekt, die mährische deutschgeschriebene Literatur, und hiermit auf dem weiten Feld der regionalen Forschung, das eben durch diese seine Weite und Breite sowohl Vorteile als auch Nachteile darbietet. Zu den Vorteilen gehört (um nur kurz Allgemeinplätze zu streifen) der unumstößliche heuristische und historische Wert einer solchen Arbeit, denn längst hat die Literaturgeschichte erkannt, dass die kanonbildende Orientierung bloß an den großen Werken der sogenannten Weltliteratur die Geschichte verzerrt oder gar verfälscht, zu Verflachungen und Pauschalisierungen führt und außerdem Ideologien transportiert.
Wie sah die neue Erzählstrategie aus, die Ret Marut entwickelt hat, seitdem er in Mexiko saß und sich Traven nannte? Welchen neuen Pakt mit den Lesern bot er an und schloss er faktisch für die Dauer seiner weiteren Produktion? [...] Er suchte (um es erst einmal pauschal zusammenzuraffen) von den Erfahrungen seiner neuen Existenz aus, mit Zuhilfenahme sozialer Imagination, ein verlässliches Kontinuum von Situationen zu schaffen, das ein Publikum fesselnd unterhalten und dabei noch anschaulich politisch belehren konnte. Die Tradition der Abenteuerstory aus fremden Weltteilen bot ihm dazu ein hin-reichend ausbaufähiges Muster. Geeignet für seine Zwecke wurde dieses Muster aber erst dadurch, dass er es gegen den Strich bürstet: Er reduziert die Exotik auf solche Merkwürdigkeiten, die die tatsächliche (etwa tropische oder maritime) Besonderheit einer fremden Welt unterstreichen (mit kleinen Übertreibungen). Er versetzt keine Helden: keine besonders starken, mutigen oder edelmütigen Wesen dort hinein, sondern x-beliebige Menschen. Und er konzentriert das Abenteuerliche auf das wirkliche Abenteuer, sich in kapitalistisch organisierten Arbeitsverhältnissen durchzuschlagen und dabei, so gut es geht, Mensch zu bleiben.
Dieses eigenständige Schreibziel, das Traven mit nur wenigen Abenteuerschriftstellern sowie mit Upton Sinclair und Egon Erwin Kisch teilt, machte ein ganzes Bündel von Änderungen an dem gut eingeführten und nach wie vor vitalen Genre der abenteuerlichen Geschichte erforderlich. Die Lebensstellung und die Haltung des Helden, die Seriosität des Erzählers, der keine Lust hat zu diktieren oder geheimes Wissen, geschweige denn Allwissenheit vorzuflunkern, die Lockerheit oder Straffheit des Handlungsfadens mussten ebenso neu konzipiert werden wie der Umgang mit den auf die Pelle rückenden, aber notwendig zu bändigenden Gegebenheiten des Dschungels und der Prärie und mit der Vielfalt von Unterhaltsmöglichkeiten, die alle nach dem eintönigen ökonomischen Muster der Ausbeutung gestrickt waren. Um die tragenden Pfeiler dieser narratologischen Poetik zu untersuchen, die im Wesentlichen von den frühen vier oder fünf Romanen des neuen Erzählgestirns Traven bis zu seinem 'Caoba'-Zyklus vorhielt (von 1925 bis 1940), halte ich mich an den Roman 'Der Wobbly' (1926), der als 'Die Baumwollpflücker' (von 1928 an) berühmt wurde. Da jeder Roman Travens als selbständige Einheit für sich konzipiert ist, gelten meine Ausführungen streng genommen nur für diesen einen Roman. Immerhin liefert er, den Traven vermutlich als ersten ausgearbeitet hat, wichtige Vorentscheidungen für das ganze neugestaltete Genre und ein Kaleidoskop von Erzähl-künsten, die der Autor weiterhin eingesetzt hat.
Dass aller Anfang schwer ist, wird Ende des 18. Jahrhunderts exemplarisch deutlich, als sich die prominenteste deutsche Dichterfreundschaft zu formieren beginnt. Denn nach einigen mühsamen Annäherungen kommt es erst am 20. Juli 1794 zur entscheidenden Begegnung zwischen Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller, die das Initialmoment der sogenannten Weimarer Klassik bildet. Goethe wird die Begegnung retrospektiv als „Glückliches Ereigniß“ charakterisieren und den Arbeitsbund in Anerkennung der gemeinsamen ästhetischen Leistungen als „Aufsprung zu einer höhern Cultur“ bewerten.
Bereits in seinen Räubern (1781) enthüllt Friedrich Schiller, wie eminent machtpolitisch das Medium Schrift bzw. der Akt des Schreibens eingesetzt werden kann. Dabei veranschaulicht er, dass sich die Konkurrenz zwischen dem Vater und dem Zweitgeborenen letztlich in einer Konkurrenz divergierender Schreibintentionen äußert. […] Die materiale Dimension des Schreibens […] besitzt auch für Schiller eine maßgebliche Bedeutung. Das wird insbesondere daran sichtbar, dass sich Schiller, sobald er außerordentlicher Professor in Jena geworden ist, sofort einen Schreibtisch anschafft […]. Im Kontext dieser materialen Vorrausetzungen ist auch de inspirative Dimension des Schreibens zu berücksichtigen […]. Schiller schätzte bekanntlich den für ihn anregenden Geruch fauliger Äpfel, die ständig in einer Schublade in seinem Arbeitszimmer aufbewahrt werden mussten. […] Mit der Niederschrift der „Botschaft“ bzw. der „Ideen“, ist die kreative Dimension des Schreibens erreicht. Da die Erzeugnisse dichterischer Schreibakte zumeist in konkrete Publikationszusammenhänge eingebunden sind, muss schließlich auch die ostentative Dimension des Schreibens in den Blick genommen werden.
Mit dem Anbruch der Moderne sind es verstärkt Persönlichkeiten von besonderer geistiger Größe, die als erinnerungswürdig etabliert werden. Dazu zählt in besonderem Maße die Gruppe der Künstler, die aufgrund des erstarkten Geschichtsbewusstseins im 18. Jahrhundert mehr und mehr als „Erinnerungsmarken“ im kulturellen Gedächtnis verankert werden. […] Im Hinblick auf bedeutende Dichterpersönlichkeiten erweitert sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Form des ehrenden Andenkens auf entscheidende Weise. […] Aus der Schaffung von „Gedächtnisräumen“ wie Dichterhaus, Museum oder Ausstellung resultiert nicht nur eine neuartige Topographie des Dichtergedenkens, sondern auch eine neue Form institutionalisierter Erinnerungskultur. Während das Dichterhaus authentische Lebens- und Wirkungsräume vergegenwärtigt, gibt das Dichtermuseum anhand ausgewählter Exponate einen Überblick über eine individuelle Lebensentwicklung oder eine bestimmte Werkperiode. Die Ausstellung wiederum widmet sich unter einer inhaltlichen Perspektive biographischen oder thematischen Fragestellungen. Waren solche Gedächtnisräume ursprünglich vielfach ein Ort der Erbauung, ist inzwischen längst ein Bildungsauftrag dieser Institutionen in den Vordergrund getreten. Das „Bewahren und Behalten“ ist zur funktionalen Voraussetzung der pädagogischen Vermittlung geworden.
Der Beitrag streift einige in der Forschung um die Prager deutsche Literatur feststehende Erklärungsmuster und Klischees (die Prager deutsche Literatur sei im Ganzen eine „jüdische Literatur“ gewesen, die radikal akkulturierende Haltung der älteren Prager Generation, der scharfe Umbruch um 1910, die „Rückkehr zu jüdischen Wurzeln“, die Prager deutsche Literatur als Erbin der „menschenschöpferischen“ und kabbalistischen Mystik der Renaissance, Max Brod und den Prager Zionismus, die typisch jüdischen Komponenten im Werk Prager deutscher Autoren) und erwägt bei jeder der genannten rezeptiven Behauptungen deren empirisch-faktografische Messbarkeit bzw. deren – auf den Texten der Prager deutschen Literatur selbst fußende – „Mythen-Trächtigkeit“.
Es gibt keinen anständigen Germanisten, ja keinen belesenen Gebildeten, der den Namen Musil nicht gehört hätte. Nur relativ wenige wissen aber, dass Robert Musil ein deutschmährischer Autor ist, der mit Mähren auf vielfache Weise verbunden ist, bzw. falls sie es wissen, messen sie dieser – scheinbar nur biographisch-positivistischen interessanten Marginalie – keine große Bedeutung zu. Wir wollen versuchen, das bereits Bekannte zu Musils mährisch-böhmischen Kontexten und Kontakten zusammenzutragen (dabei auf die Leistungen der vorherigen Forschergeneration hinzuweisen), zugleich wollen wir Desiderata aufzeigen und schließlich die Bedeutung der Tatsache, dass Musil ein deutschmährischer Autor war, neu reflektieren und bewerten.
Am 25. Februar 1789 teilt Friedrich Schiller seinem Freund Christian Gottfried Körner mit: „Das lyrische Fach, das Du mir anweisest, sehe ich eher für ein Exilium, als für eine eroberte Provinz an. Es ist das kleinlichste und auch das undankbarste unter allen. Zuweilen ein Gedicht lasse ich mir gefallen […].“ Diese unverblümte Selbstaussage lässt Schillers Verhältnis zur Lyrik in einem bedenklichen Licht erscheinen: Weder scheint er sich auf dem Feld der lyrischen Dichtung heimisch gefühlt zu haben, noch hat er offenbar die Ausarbeitung von Gedichten für sonderlich lohnenswert gehalten. Gemildert wird diese entschiedene Distanzierung einzig durch den Umstand, dass er zugesteht, wenigstens „zuweilen“ im lyrischen Fach tätig werden zu wollen. Ist daraus nun zu schließen, dass Schiller seine Gedichte nur als gelegentliche Nebenprodukte begriffen hat?
Herders Agency
(2012)
Die Titelgebung des vorliegenden Beitrags ist eine wortkarge und durchaus irritierende Formulierung. Wer weiß, ob ein wiedergeborener Herder hier nicht gleich die aktuelle Version von „Gallikomanie“, das fortgeschrittene Stadium des englisch-amerikanischen Sprachimperialismus des anfänglichen 21. Jahrhunderts diagnostizieren und darin ein ihm vertrautes Problem, das eigene Fremde im Fremden des Anderen wiedererkennen würde? Und da würde er bezüglich des Titels eigentlich richtig liegen, geht es hier doch um eine Entfremdung, um die Aufstellung eines hermeneutisch nur bedingt zulässigen Vergleichs eines neueren Kulturkritikers mit einem älteren, oder was noch schlimmer ist, des älteren mit einem neueren - um einen Begriff von Handlungsmacht, agency. Darüber hinaus ist bei dieser Anknüpfung an Herder aus mindestens zwei weiteren Gründen Vorsicht geboten. Zum einen haftet Herders Werk und dessen Rezeptionsgeschichte ein unguter Nachgeschmack an, der den Namen Herder gerade in politischen, ideologiekritischen und auch postkolonialen Diskursen zu einem Label geraten lässt, das die falsche Strategie der Identitätsschaffung bezeichnet. Zum anderen ist der postkoloniale Diskurs auf ein politisches Handeln ausgerichtet, dessen Konsequenz man bei Herder bei noch so großer Anstrengung - schon aus historischen Gründen - nicht zufriedenstellend finden würde. In Bezug auf beide Einwände gilt es also das Gebot zu beherzigen, „jede Form der politischen Aktualisierung im Interesse Herders mit äußerster Vorsicht und geschärftestem Blick für historische Differenzen aufzunehmen.“ Die Rettung ist im vorliegenden Zusammenhang just aus dem unerlässlichen hermeneutischen Bewusstsein zu holen, dass die Beachtung der genannten Differenz, die Bewahrung einer Differenz zwischen „Nachahmung“ und „Nacheiferung“, wie Herder sagen würde, die produktive Aneignung des älteren Kulturkritikers im Kontext des neueren nicht nur vorstellbar und sinnvoll macht, aber auch zu beherzigende Resultate für die Lektüre beider Autoren verspricht.
Eine Reihe von Sprachgesten des jungen Herder haben nachhaltige Wirkung gehabt und wurden zum literaturhistorischen Paradigma des Lebensgefühls einer Generation, zu Merkmalen des Sturm und Drang. Allem voran pflegt man jene Rhetorik zu diesen Gesten zu zählen, mit der sich Herder von den „vielen Beyträge[nl des Jahrhunderts“, d. h. von der zeitgenössischen Gelehrsamkeit distanziert. Tatsächlich werden in seiner Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) die „Erfahrung“, die „That“, die „Anwendung des Lebens, in dem bestimmtesten Kreise“ dem „abgezogne[nl Geist“, der selbstgefälligen Sprachgewalt der Aufklärung gegenübergestellt und auch die Institutionen der „Letternkultur“ kritisiert. […] Herders Charakterisierung seiner Epoche als des „Jahrhundert[sl des Bücherlesens“ wird darüber hinaus in der Attesten Urkunde des Menschengeschlechts (1774) verbunden mit einem apokalyptischen Denken, das eine Schelte der Aufklärung einschließt. Für Ralf Simon schafft die Buchkultur eine „medientheoretisch“ signifikante Situation: Das große Archiv, das durch den Buchdruck ermöglicht und bis einschließlich des 18. Jahrhunderts errichtet wurde, erhebt sich über die Zeit und wird zum Medium einer Art papierenen Posthistoires.
Die Auseinandersetzung mit freimaurerischen Themen hat in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bekanntlich auch in Texten ihren Niederschlag gefunden, die sich an Schnittstellen der freimaurerischen Literatur und des Schaffens literarisch-philosophisch etablierter Autoren befanden, als solche später mitkanonisiert und als repräsentativ für freimaurerische Problemlagen ausgelegt wurden. [...] Das historisch Kontingente - das Enttäuschende des Logenalltags - wird durch dessen nicht-freimaurerische Theorie nicht nur korrigiert, sondern restlos beseitigt. In dem Maße, wie sich das Geheimnis als inhaltslos zu erkennen gibt, wird Freimaureltum zum leeren Namen. Womit jedoch ein Soziales, das von geheimen Gesellschaften dauernd akzentuierte Bewusstsein, Gesellschaft zu sein verloren geht. Für die freimaurerische Quantitätssteigerung von Soziabilität - für deren spezifische Verschärfung der Zwischenlage zwischen Individuum und Gesellschaft - hat, so die hier zu entwickelnde Ansicht, nicht die (eh unzugängliche) historische Praxis des Freimaurertums an sich einzustehen. Es muss da noch mehr geben, z.B. andere Sprach- und Theorieregister, die gewissermaßen zwischen dem historisch Kontingenten und dem allgemein Historischen zu liegen kommen. Hier gilt es anzusetzen. Gesucht wird ein Verständnis, nicht des Sozialen im Allgemeinen, vielmehr der Ausgestaltung des Sozialen unterhalb makrosoziologischer Perspektiven. Eine Erfassung des Institutionellen, das nicht lediglich mit der Geschichte von Logen, aber auch nicht mit dem Prinzip selbst zusammenfällt, eher zu deren Schnittstelle wird. An der sich die organisatorische Potenz der Institution als eines Dritten (das nicht nur Ritual und auch nicht nur Literatur ist) entäußert. Unter diesem Blickwinkel werden im Folgenden Herders Annäherungen ans Problem des Freimaurertums gesichtet und ausgewertet.
Es hatte sich eingestellt, was für einige Jahrzehnte, nicht nur für Herder und nicht nur für Männer den Weg eines Topos zu einer Gattung und einer Gattung zum Buch bahnen sollte. Und vice versa. Es begann die Karriere ,zerstreuter Blätter', deren Mode - soweit es sich bei der gegenwärtigen Forschungslage beurteilen lässt - um 1800 ihren Anfang nahm und die sich bis um 1900 behauptete. In dieser Erfolgsgeschichte geht es genau um die genannte Titelgebung, deren Herkunft sich aus dem Wortfeld ,zerstreuter Sachen' sozusagen bequem herauskristallisiert. Denn es steht fest, dass die Sprache auch Schriften und Papieren immer schon erlaubte, zerstreut zu werden oder eben einfach chaotisch herumzuliegen. Seit dem frühen 18. Jahrhundert verzeichnen die Kataloge zerstreute Gedanken, Gedichte, Anmerkungen, Nachrichten und Aufsätze. Auch finden sich genug vermischte, gesammelte, ,verlohrene' und natürlich fliegende Blätter, und man begegnet auch jener professionellen Tätigkeit, die später die Herausgeber zerstreuter Blätter kennzeichnen wird.
Die Frage, ob sich ästhetische Postulate ins Konzept des „ganzen Menschen“ integrieren lassen, rückt in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts immer mehr ins Zentrum des anthropologischen Diskurses. An ihr verlaufen Fronten, die den Anspruch auf Ganzheitlichkeit selbst zu fragmentarisieren scheinen. Zum Problem wird nämlich, ob das, was ein Ganzes ist - der Mensch in seinem unverschönerten physischen und psychischen Funktionszusammenhang -, überhaupt noch als ein Gegenstand betrachtet werden kann, der dem emphatischen Menschenbild des Jahrhunderts entspricht. [...] Während die Wissenschaften vom Menschen den Weg zu ihrer bevorstehenden Ausdifferenzierung im 19. Jahrhundert einschlagen und beginnen, die Idee der Ganzheit aufzugeben, rettet sich der Mensch vor den Folgen des ihm im 18. Jahrhundert gewidmeten Interesses erst einmal in die Ästhetisierung seiner Wertungssysteme. [...] Trotzdem ist nicht alles ein Ganzes, was schön ist, und schön, was ein Ganzes ist. Im anthropologischen Stimmengewirr sind auch Programme vernehmbar, die der anthropologischen Gefahr gegenüber unbekümmert den Anspruch auf eine philosophische Begründung des Menschen aufrechterhalten, ohne dessen Aisthetisierung in Ästhetisierung aufgehen zu lassen. Besonders interessant gestaltet sich dies im Fall Johann Karl Wezels, dessen Werk - neben zahlreichen anderen philosophischen und historischen Aktualitäten - auch mit dem zeitgleich entstehenden ästhetisch-anthropologischen Diskurs in unterschwelliger Diskussion steht.
Revolutionspoetik : Benjamin Noldmanns Beitrag zum literarischen Werk Adolph Freiherrn Knigges
(2006)
Überblickt man nun Knigges Werke, so lässt sich in ihnen nicht nur die bewusste Unterscheidung von Handlungen und gesprochenen sowie geschriebenen Worten beobachten, sondern auch ein fast unermüdliches Wiederholen bestimmter Worte und Meinungen verfolgen. Gleichwohl versuchen diese Worte immer wieder sehr unpoetisch an Handlungen, just an politische Handlungen, anzuknüpfen. Ob es sich um Benjamin Noldmann, Peter Claus, Joseph von Wurmbrand oder andere Erzählerfiguren Knigges handelt, in jedem Fall wiederholt der Text etliche Male und in überzähligen Versionen - ob in aller Deutlichkeit oder verschlüsselt - kritische Diagnosen der sozialen und politischen Situation auf deutschem Boden, umfangreiche Inventare der Missstände kleiner und größerer Fürstentümer, Karikaturen der bürgerlichen und adligen Lebenswelt, und nicht zuletzt Ratschläge, wie und zu welchem Nutzen was daran zu ändern wäre. [...] Im folgenden soll der Ausblick auf das textuelle Umfeld konkurrierender Knigge-Texte der Kürze wegen, so weit möglich, eingeschränkt, und das Augenmerk auf den bereits genannten Roman gerichtet werden. Die drei Leitthesen der Arbeit (Sprachlichkeit, Skeptizismus, Literarizität) werden dabei in ihrem wechselseitigen Zusammenhang zum gemeinsamen Hintergrund der einzelnen Kapitel, deren Gliederung sich durch Themen und Probleme der Interpretation des Romans leiten lässt.
An talentierten Literaten hat es im klassischen Weimar sicherlich nicht gemangelt - aber auch an streitbaren Männern (und Frauen) nicht. Mag der Literatur- und Bildungskanon des 19. Jahrhunderts hierüber einige zeit hinweggetäuscht haben, es wurden - spätestens mit Anbruch der Sozialgeschichte - auch andere Karten aufgedeckt, womit nicht lediglich die auf beiden Seiten der deutsch-deutschen Grenze verlaufende literaturhistorische Entdeckung des Klassenkamfes gemeint ist, vielmehr dessen spätere, macht- und institutionspolitische Aspekte berücksichtigende Version der beachtung 'feiner Unterschiede'. [...] Es ist klar geworden, dass es sich im wirkmächtigsten Dichterbund der deutschsprachigen Literaturgeschichte um ein Tun "nicht füreinander, sondern sehr viel mehr gegen die anderen" handelte; dass sich hinter der Nachbarschaft „die Front Schillers und Goethes gegen den Rest der dichtenden Welt, besonders gegen Weimaraner und jene in Jena“ - Berlin, Halle etc. - verbarg. [...] Die nachfolgenden Überlegungen sind einer der literarischen Episoden dieses Konflikts gewidmet.
In seinem Buch „Das Offene. Der Mensch und das Tier“ hat Giorgio Agamben eine treffende Bezeichnung für jenes ebenso gewaltige wie gewaltsame Unternehmen gefunden, in dessen Rahmen durch die Kultur- und Philosophiegeschichte hindurch die Natur des Menschen bestimmt werden sollte. Der Mensch sei, so Agamben, eine Hervorbringung „von unablässigen Teilungen und Zäsuren“. Durch das Bsetreben, das, was er ist, von dem zu trennen, was er nicht ist, werde auf der Grundlage historischer Oppositionen wie Mensch/Tier, human/inhuman, normal/anormal etc. eine Grenze konstituiert und immer wieder überschritten, die, anstatt ein Innen und ein Außen zu errichten, „in erster Linie das Innere des Menschen durchzieht“. Die „Erzeugung des Humanen“ erfolge demnach „notwendigerweise mittels einer Ausschließung (die immer auch ein Einfangen ist) und einer Einschließung (die immer schon eine Ausschließung ist)“.
Es ist üblich, die drei Autoren Marie von Ebner-Eschenbach, Ferdinand von Saat und Jakob Julius David, die (ähnlich wie der Jubilar) mit dem mährischen Land verbunden sind, zusammen zu denken und zu behandeln; man spricht gelegentlich sogar vom "mährischen literarischen Triumvirat". Für die Olmützer "Arbeitsstelle für mährische deutschsprachige Literatur" sind die drei genannten Dichter die "Vorzeigeautoren", deren anerkannt großes Werk dem tatsächlichen - oder nur virtuellen - Ansturm der Anzweiflungen der Methoden und des Sinnes der Regionalforschung standhält, wenn aus dem Lager der "großen", der "Weltliteratur"-Geschichte gefragt wird: Ist die Gefahr nicht zu groß, mit dem Objekt und den Methoden der Regionalforschung immer bloß auf Mittelmäßiges, Geringes, künslerisch Schwaches zu stoßen, sich im Fahrwasser der Trivialität, der bloßen Gebrauchsliteratur zu bewegen?
Die Sekundärliteratur zu Johannes Urzidil, die in den Sechzigerjahren doch beträchtlich war, als der Autor noch lebte und durch seine häufigen Lesereisen nach Europa, seine liebenswürdige Art und seine überzeugende Kunst des Vortrags, seinen literarischen Ruhm steigerte, widmet sich meistens dem reifen Werk Urzidils, seinen im amerikanischen Exil entstandenen Erzählungen, Gedichten, Feuilletons, Essays, Memoiren, dem einzigen Roman, dem Goethe-Buch (dessen erste Fassung bereits in den 30er Jahren entstanden ist). Das Frühwerk der lOer und 20er Jahre wird in den meisten Arbeiten nur gestreift, als ob es zu unbekannt wäre oder vielleicht zu wenig interessant für die Rezensenten oder gar zu schlecht im Vergleich mit dem reifen Spätwerk?
Der Titel des Beitrages ist freilich mit Absicht provokativ gewählt, denn den Kennern der deutschböhmischen Literatur sind Autoren wie Rothacker und Watzlik, Strobl und Pleyer, Hohlbaum und Ott, Göth und Altrichter, Stauff und die Teichmann nur als anstößige Beispiele von Schriftstellern bekannt, die im ‚Kampf ums deutsche Volkstum in Böhmen‘ an prominenten Stellen standen, die negativsten Auswüchse des Sudetendeutschtums repräsentierten, häufig die besonders abscheuliche Gattung des Grenzlandromans pflegten und nach 1945 die revanchistischen Ansätze eines Teils der Vertriebenen kanalisierten. Warum in aller Welt soll Johannes Urzidil, der letzte große Erzähler der Prager Schule, der große Humanist, der Homo vere humanus, Prags Menscheitsdämmerer, der hinternationale Troubadour des alten Prag – (so nur einige Überschriften von Aufsätzen über Johannes Urzidil) – warum soll Johannes Urzidil mit revanchistischen Autoren in einer Reihe genannt oder gar verglichen werden?
Was ist „deutschmährische Literatur“? Versuch der Definition eines unselbstverständlichen Objektes
(2011)
Trotz geringem gesellschaftlichem Auftrag beschäftigt sich die „Olmützer Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur “ seit 1998 mit dieser Literatur und ist seit ihrer Gründung einem Rechtfertigungszwang ausgesetzt, der durch bloßes heuristisches Forschen nicht befriedigt werden kann. Alle in der Arbeitsstelle entstandenen Aufsätze, Studien, Dissertationen, Sammelbände gehen – mehr oder weniger dezidiert, mehr oder weniger polemisch – auf den Legitimierungszwang ein und versuchen ihr Objekt zu definieren, dem etwaigen Publikum plausibel zu machen und die Beschäftigung mit ihm zu rechtfertigen. Abhängig vom Thema einzelner Studien werden verschiedene Akzente gesetzt, doch manche Punkte wiederholen sich leitmotivisch. Diese neuralgischen Stellen müssen erst bedacht und beschrieben werden, bevor ein definitionstüchtiges Fazit formuliert werden kann.
Alles, was einen Sauer-, Nadler-, Kafka-, Schnitzler-Forscher, einen Romantik-, einen Methodologie- und Germanistik-Historiker, einen Kenner der Prager deutschen Literatur an Körner interessieren könnte, ist bereits – in früherer und neuester Zeit – von Eisner, Fischer, Wellek, Klausnitzer, Eichner, Krolop, Fliegl, Härtl, Sauder, Fohrmann gesagt worden. Freilich nicht in zusammenfassender Art etwa eines würdigenden Sammelbandes: Eine selbständige Körner-Tagung und ein Körner-Sammelband würden sich lohnen, denn auf einem solch zeitlich wie räumlich breiter abgesteckten Feld könnte man die (in den genannten Schriften manchmal nur angedeuteten) Thesen und Themen des Körnerschen Werkes breiter ausführen, die methodologischen und weltanschaulichen Kämpfe innerhalb der germanistischen Kreise seit Scherer beleuchten, die Positionen der Prager germanistischen Ordinarien innerhalb dieser Kreise absteckten, das komplizierte Knäuel der deutsch-tschechisch-jüdischen Beziehungen im Prag der Zwischenkriegszeit ansatzweise entwirren. Außerdem verdient Josef Körner, ein großer Kenner der deutschen Romantik, glücklicher Entdecker und verlässlicher Herausgeber verschollen geglaubter romantischer Texte, bissiger, brillianter Rezensent, schonungsloser Kritiker aller Verstöße seiner germanistischen Zeitgenossen gegen wissenschaftliche Sauberkeit, fleißiger Begleiter neuester Literatur und Literaturwissenschaft, Josef Körner, ein bezugsreicher Mann, der am Ende sein Leben und Werk trotzdem nicht anders bewerten konnte als einen Scherbenhaufen, verdient unsere Aufmerksamkeit und Erinnerung.
Bilinguismus in Böhmen
(2010)
Wenn wir den schillernden und lustigen Bilinguismus am langweiligen Monolinguismus messen, verbinden wir mit ihm eine höhere (verdoppelte) Sprachkompetenz, tieferen (weil komparationsfähigen) Einblick in die Funktionsweise der Sprache, Fähigkeit zum Sprachspiel, dank gesteigerter Sprachkompetenz ein breiteres und tiefer dringendes Weltwissen, unchauvinistische, humanere Einstellung zur Welt und außerdem Erinnerung an bessere Zeiten. Das tun wir, obwohl wir freilich wissen, dass Bilinguismus kein sprachlicher Idealzustand ist, denn selten – so belehren uns die Linguisten – kommt der Bilinguismus als Äquilinguismus daher, so dass eine der beiden Sprachen leicht (oder schwer) unterentwickelt sein kann, unvollkommen und außerdem für kauderwelsche Verunstaltungen durch die andere Sprache anfällig. Das gute Gefühl, das wir beim Lesen solcher Erinnerungen haben, kann nicht nur daher rühren, dass vergangene und also durch den wohltuenden Schleier des selektiven Vergessens (des Bösen) „entschmerzte“, idyllisierte Zustände geschildert werden (erinnerte Idylle bleibt idyllisch, auch wenn sie einsprachige Zustände schildert), sondern es scheint der Zustand der Zweisprachigkeit an sich positive Wertungen zu ernten und zu verdienen.
München und Bayern; Leipzig und Dresden; Graz und Bratislava: Vor dem Hintergrund des Deutschen Kriegs und seiner Koalitionen bezeichnen alle Ortsnamen die vom preußischen Standpunkt aus Feindliche und damit auch den „Orient“ in dem Sinn eines „großen Anderen“, den Edward Said an den „westlichen“ Diskurspraktiken herauspräpariert hat. Unter diese Funktion, als „Synonym des Exotischen, Weiblichen und Geheimnisvollen“ zu dienen, sind natürlich auch die Sexualisierungen des Orients zu verrechnen, die ihren Ausdruck im Topos von der Hure Babylon gefunden haben, wie ihn Johannes der Täufer schon bei Wilde gegen Salome richtet. Wildes bzw. Strauss' Salome gibt ein case study nicht nur für den Orientalismus, sondern auch für die Erste Frauenbewegung her. Salome, die sich schon in den Evangelien mit ihrer Mutter erfolgreich gegen einen Patri- und Tetrarchen verbindet, usurpiert hier, bei Wilde und Strauss, eine männliche Rolle, die bis in die Macht- und Sexualsymbolik des Blicks reicht. Solch eine Entmächtigung des männlichen Blcks durch die Frau taucht im Doktor Faustus in einer anderen, obendrein noch französischen „Judenoper“ wieder auf […].
Das Wunschkind ist ein tränentreibendes Buch, das das in der christlichen Passionsgeschichte über die Jahrhunderte gesammelte Pathos einsetzt. Der Plot, den es nutzt und besetzt, ist der Opfertod des christlichen Erlösers, erzählt aus der Perspektive der Pathosträgerin: Stabat Mater. Nur ist es bei Seidel nicht der himmlische Vater und die Verheißung des himmlischen Vaterlandes, sondern die Mutter, die das Opfer des Sohnes aus purer Mütterlichkeit bringt. Über die Mutter wird die Leidensgeschichte ins Nationale wendbar. Der treffend benannte Sohn Christoph verkörpert ganz das national vereinte Deutschland, denn in ihm mischen sich Rheinland und Preußen, preußischer Protestantismus und rheinischer Katholizismus. "Christophs Leben und Sterben für Deutschland" hätte der Roman auch betitelt sein können. Für dieses Opfer müssen Mütter ihre Söhne als "Priesterinnen" bereit machen, indem sie sie gegen die Verlockungen der "Schauspielerinnen" immunisieren.
Traditionellerweise reichte die Darstellung des Herrn von Ikonen über Andachtsbilder bis zur sogenannten Bibel der Armen, die nicht nur durch das Wort, sondern durch Bilder lehrt. Für Hegels Ästhetik wird diese Verbildlichungshilfe ad recte credendum zur Darstellungsfunktion der romantischen Kunst schlechthin, einer Kunstform, deren wahrer Inhalt „die absolute Innerlichkeit“, und deren „entsprechende Form die geistige Subjektivität“ sein soll. In INRI erreicht diese Darstellungsform ihr Ende in der Modephotographie. Mit dem Inbegriff des seelenlosen Körpers, dem Körper von Mannequins, haben Rheims und Bramly im Inbegriff seelenloser Kunst, deren Blick ein toter ist, ins Bild der Darstellung gesetzt, was für Hegel Inbegriff romantischer Kunst sein sollte.
Strenger als im 19. Jahrhundert hat die Kleidung die Geschlechter nie geteilt. Nicht nur zogen sich Männer und Frauen extrem verschieden an; verschieden war vor allem auch das Verhältnis der Kleidung zum Geschlecht. Männlich heißt das unmarkierte Geschlecht, weiblich dagegen heißt die markierte Geschlechtlichkeit. ,Sein' ewig unauffällig dunkler Anzug gibt den idealen matten Grund, auf dem ,sie' durch das Leuchten der Seiden, den Glanz der Juwelen, den Schimmer der nackten Haut und das Elfenbein des Dekolletes erst richtig zur Wirkung kommt. [...] Im bürgerlichen Zeitalter finden wir uns, was das Verhältnis der Geschlechter zueinander angeht, wenn nicht in einem neuen, so doch radikalisierten Zustand. Die gesellschaftskonstituierende Grenze verläuft nicht mehr zwischen adelig und nicht-adelig, sondern zwischen weiblich und männlich. Die Opposition weiblich/männlich wird aber von einer zweiten Opposition gedoppelt, der von adelig und bürgerlich, wobei adelig zu einer Metapher für scheinhafte Macht geworden ist. Die für uns wichtigste, dritte Opposition ist die von eigentlich/männlich/bürgerlich versus uneigentlich/weiblich/rhetorisch.
Obwohl noch nicht ausreichend geklärt ist, wie belesen Schmidt im Bereich der literarischen Moderne eigentlich gewesen ist, als er um 1950 mit ersten literarischen Veröffentlichungen und um die Mitte der fünfziger Jahre sogar mit seinen ersten prosatheoretischen Entwürfen an die Öffentlichkeit trat, läßt sich seinen Äußerungen doch soviel entnehmen, daß wir seine Kenntnis der außerdeutschen europäischen Moderne wohl eher als sehr bescheiden und lückenhaft ansehen müssen. Die Quellenlage spricht dafür, daß außer Alfred Döblin, Hans Henny Jahnn, Hermann Hesse und, im Wortspielerischen, Expressionisten wie August Stramm nur wenige andere moderne Autoren ihm für sein Werk Pate gestanden haben, am wenigsten noch die großen Vertreter der europäischen Moderne. Schmidt, vom Faschismus samt der verabscheuten Wehrmachtszeit zu einem der zahlreichen 'transzendentalen Obdachlosen' der Nachkriegszeit transformiert, siedelte seine private literarische Ahnengalerie stattdessen vorzugsweise im 18. und 19. Jahrhundert an; Vorbilder waren ihm, dem selbst erklärten "Verirrten aus dem 18. Jahrhundert", unter anderem Wieland, Fouqué, Tieck, Poe, Dickens und Stifter.
Schriftsteller sind auch nur Menschen und wollen sich genauso an der jeweiligen Tagesdebatte beteiligen können und sich im Diskursgeschehen der Gesellschaft genauso Gehör verschaffen wie der 'normale' Bundesbürger (wenn sie nicht selbst schon Ursache der Tagesdebatte sind). Doch ist ein Autor 'nur' ein 'normaler' Bundesbürger? Hat er oder sie nicht eine besondere Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft, gebührt seiner oder ihrer Stimme nicht ein besonderes Gewicht in der öffentlichen Debatte? So haben wir's doch seit dem deutschen Idealismus gehalten: der Dichter ab Stimme des Volkes, als Statthalter des Gewissens, als Wegweiser und Vordenker, Mahner und Warner und was noch alles mehr. […] An zwei Beispielen, Heinrich Böll und Martin Walser, will [der Autor] nicht nur prüfen, warum gewisse 'menschliche' Äußerungen, die sie taten, „durch Publizität zum Spott oder zum Skandal“ wurden, sondern auch wie sich beide Autoren nachträglich dazu äußerten, und was wir daraus wohl schlußfolgern können.
Arno Schmidt wäre nicht Arno Schmidt, wenn er bei seinen Lesern nicht anecken wollte. Er war ein Meister der Provokation. Nichts liebte er mehr als Leser egal welchen Couleurs vor den Kopf zu stoßen, in seinem Frühwerk vor allem Konservative und Gläubige, in seinem Spätwerk sogar auch seine liberalen und linken Anhänger. In seiner Essayistik und Funkessayistik über deutschsprachige und angelsächsische Autoren war solch gezielte Irritation sein Metier. Paradebeispiele sind seine Funkessays und Aufsätze über Goethe,Stifter, Karl May, Edgar Allan Poe und James Joyce. [...] Rabiat in seiner Kritik an der Gegenwartsgesellschaft suchte Schmidt Zuflucht vor den ungeliebten und ennervierenden Zeitgenossen im intellektuellen Gespräch mit seiner selbsterwählten literarischen Ahnengalerie. Diese Ahnen kamen freilich nicht immer ungeschoren davon: mal waren sie Gegenstand seines Lobes und seiner Verehrung, mal seines Zornes oder Spotts, wie wir gleich auch beim Fall Dante sehen werden.
"Bin auff disse Welt gebohren worden" : Geburtsdatierungen in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen
(2012)
Bei der geschichtswissenschaftlichen Untersuchung von Zeitkonzeptionen und -praktiken des 16. und 17. Jahrhunderts galten bisher - zu häufig - die Publikationen Kosellecks als Standardtexte, deren Thesen meist unhinterfragt auf die zu erforschenden Quellenbestände übertragen wurden. Bei Berücksichtigung der gegen diese jüngst geäußerten, gravierenden Einwände ist es wichtig, frühneuzeitliche Zeitkonzeptionen und -praktiken auf methodisch reflektierte Weise neu zu untersuchen und sich dabei auch anderen methodologischen Herangehensweisen zuzuwenden. [...] Ziel dieses Aufsatzes ist es, die Komplexität der Vergangenheit aufzuzeigen, indem die Quellen und damit letztlich die historischen Akteure mit ihren Kosmologien, Bedeutungszuschreibungen, Handlungspielräumen und sinnstiftenden Interpretationsmöglichkeiten in den Vordergrund gestellt werden. Der Fokus meines Untersuchungsinteresses liegt hierbei auf den gesellschaftlich nicht exponierten Persönlichkeiten.
Die folgenden Überlegungen nehmen ihren Ausgang von der in An die Teutschen beispielhaft realisierten Figuration des "Erweckens". Ich verstehe die "Nation" im Sinne zeitgenössischer kulturwissenschaftlicher Ansätze als Konstrukt, das jenen Texten, die von ihm erzählen, keineswegs vorgängig ist, sondern von diesen Texten erst "ins Leben gerufen" wird. Dann aber stellt sich die Frage nach den rhetorischen Mechanismen dieses Vorgangs, nach der Art und Weise, wie Texte die Nation "erwecken".[...] Meine These lautet, dass insbesondere pathetische Artikulationen sich für solche Weckrufe anbieten und maßgeblich an der Erschaffung der Nation beteiligt sind. Der Rückgriff auf Hermann, wie ihn Arndts pathetische Texte beispielhaft vollziehen, ist nur ein Element dieses Verfahrens.
"Und wie steht es denn in Ägypten?" - das möchten in Ludwig Tiecks Roman Franz Sternbalds Wanderungen (1798) zwei europäische Reisende von einem dritten wissen, der dagewesen ist. Die Frage ist von besonderer zeitgenössischer Brisanz, beginnt doch im gleichen Jahr, in dem der Roman erscheint, eine militärische Unternehmung, die Ägypten (wieder einmal) in den Blickpunkt des europäischen Interesses rücken wird. Von der napoleonischen Campagne d'Égypte können Tiecks Protagonisten freilich noch nichts wissen. Deren Teilnehmer - neben den Soldaten zahlreiche Wissenschaftler, Künstler und Abenteurer - versorgen im Laufe der nächsten Jahre Europa mit einer Fülle von Berichten, Informationen und Materialien.
Über das Gänsespiel, (Jeu de l’oie, Giuoco dell’Oca, Juego de la Oca, Game of the Goose,Ganzenspel, Gaasespil), ein Würfellaufspiel mit 63 Feldern, ist bereits viel geforscht und geschrieben worden. Die Forschung durch einen kleinen Mosaikstein zu bereichern und dem Jubilar dadurch eine Freude zu bereiten, ist das Ziel [des] vorliegenden Beitrages. Wie zu zeigen sein wird, hat die Druckgraphik – ein bevorzugtes Forschungsgebiet des Jubilars – bei der Ausbreitung des Spiels von seinen Anfängen an eine große Rolle gespielt. Diese in Italien oder Frankreich zu suchenden Anfänge des Gänsespiels werden in der Forschung allgemein auf die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert gelegt, und es herrscht Übereinstimmung darüber, dass das Spiel zunächst in Adelskreisen beheimatet war und um Geld gespielt wurde, bevor es mit Hilfe gedruckter populärer Spielbogen allmählich in andere Bevölkerungsschichten vorgedrungen ist und letztendlich in der Kinderwelt landete.
Inzwischen haben die im Cyberspace entwickelten neuen Kommunikationsmittel starke Veränderungen des Frauenbildes im Humor mit sich gebracht. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Frauen die Produktion von Humor nicht mehr allein den Männern überlassen, sondern selbst aktiv in diesen Prozess eingreifen. Dieser Aspekt ist von der volkskundlichen Erzählforschung bisher nur unzureichend wahrgenommen worden. Es erscheint daher lohnend, den damit einhergehenden neuen Phänomenen, die sich vor allem in der Cyberkultur herausgebildet haben, nachzugehen und sie durch ausgewählte Beispiele zu veranschaulichen.
Den Menschen als Abbild Gottes aufzufassen, war mehr als nur eine theologische Richtungsentscheidung im spätantiken Europa. Sie betraf auch die Literatur. Grundsätzlicher als bisher von den Literaturgeschichten in den Blick genommen, ist die Bedeutung der christlichen Anthropologie für die europäische Literatur – das ist die These, die hier plausibilisiert werden soll. Doch nicht so, als dass diese europäische Literatur seit der Spätantike einfach christlich in ihren Themen noch in ihren Formen geworden wäre. Das ist sie sicherlich auch vielfach der Fall, man denke nur an die Durchsetzung etwa des Codex anstelle der Buchrolle, der Entfaltung neuer Gattungen wie der Legenden oder christlicher Moralvorstellung in den Büchern von Sebastian Brant bis Dostojewski. Vielmehr so, dass die europäische Literatur eine andere geworden ist, weil sie sich mit der christlichen Auffassung vom Menschen als Abbild Gottes auseinanderzusetzen hatte. Denn diese Lehre stellt die Literatur und andere Künste grundsätzlich in Frage, eben weil sie den Menschen so radikal in Frage stellt.