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Als eines der Hauptprobleme der Rezeption deutscher Kultur in Frankreich kann die Dichotomie von Dekontextualisierung vs. Hyperkontextualisierung bezeichnet werden, wobei man das Bild von den zwei Seiten derselben Münze benutzen könnte. Die damit verbundenen Interpretationsansätze bewirken einerseits, dass bei der Auseinandersetzung mit deutscher Literatur, Philosophie und Kunst der historische, politische und soziale Kontext oft vernachlässigt oder gar ausgeblendet wird. Bereits Heinrich Heine warnte seine französischen Zeitgenossen in seinem Buch 'De l'Allemagne' (1833) vor dieser Gefahr beim Umgang mit der deutschen Romantik. Andererseits kann man ebenso häufig beobachten, wie in Frankreich geistig-künstlerische Werke aus Deutschland auf ihre geschichtlichen Entstehungsbedingungen oder politischen Implikationen bzw. Belastungen heruntergebrochen werden. Dieses Phänomen kann natürlich verstärkt in Zeiten ideologischer und kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen beiden Ländern beobachtet werden, vor allem während der Periode 1870–1945. Aber auch heute noch - ein halbes Jahrhundert nach dem deutschfranzösischen Freundschaftsvertrag - prägt die Epoche des Nationalsozialismus den Blick vieler Franzosen auf Deutschland und beeinflusst maßgeblich die Rezeption deutscher Literatur, Philosophie und Kunst.
Die hiermit aufgeworfene Frage ist die nach dem notwendigen bzw. angemessenen Grad von (politikgeschichtlicher) Kontextualisierung im französischen Verhältnis zur deutschen Kultur, wobei eine pauschale Beantwortung sich selbstredend als schwierig oder gar unmöglich erweist.
Die großen Dichter der Römer haben in der abendländischen - und nicht zuletzt in der deutschen - Literatur des 20. Jahrhunderts ein äußerst produktives Nachleben genossen. In seinem 'Tod des Vergil' (1945) befasst sich Hermann Broch einfühlsam mit Leben und Werk des Dichters der Äneis. In Christoph Ransmayrs 'Die letzte Welt' (1988) tritt Ovid als Person nie in Erscheinung, aber die Forschungen des Romanhelden enthüllen das problematische Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit im Leben Ovids während seines Exils im fernen Tomis und in den Erzählungen seiner Metamorphosen. Günter Grass' Roman örtlich betäubt (1969) bietet unter anderem eine einsichtsvolle Analyse der Bedeutung Senecas als Seismograph für jeweils drei Generationen von Deutschen der Bundesrepublik. Und Lukrez?
Titus Lucretius Carus (circa 94-54 v.Chr.), der in der Geschichte der lateinischen Literatur als epischer Dichter neben, ja manchmal sogar über Vergil gestellt wird und vor allem als wichtigster Befürworter des Epikureismus im Rom des ersten Jahrhunderts v.Chr. galt, spielt in der Literatur des 20. Jahrhunderts kaum noch eine Rolle. Wenn auch die atomistischen und vermeintlich antireligiösen Lehren seines 'De Rerum Natura' während des christlichen Mittelalters abgelehnt wurden, schätzten ihn sogar seine Gegner als einen großen Sprachkünstler. Nach seiner Wiederentdeckung in der Renaissance wurde er zunehmend als Philosoph und Naturwissenschaftler geschätzt. Aber nachdem sein Einfluss im 19. Jahrhundert bei vielen Dichtern noch hochstand, wurde sein Name danach immer seltener erwähnt. Seit der wichtigen Vortragsreihe George Santayanas über Lucretius, Dante und Goethe - Three Philosophical Poets (1910) - haben sich zwar immer wieder akademische Philosophen mit seinem Denken befasst; aber die einzige ausführliche Studie über Lukrez und die Moderne kann nur wenige literarische Beispiele heranziehen: neben den Italienern Italo Calvino und Primo Levi und dem Österreicher Raoul Schrott, die im Vorübergehen erwähnt werden, werden nur einige anglo-amerikanische Dichter zitiert, die sich aber nie ausführlich mit Lukrez oder seinem Werk beschäftigen. In einer wichtigen deutschen Forschung zur Antikerezeption wird nach Goethe nur noch Heinrich Mann erwähnt, in dessen Roman 'Die Vollendung des Königs Henri Quatre' (1938) Zitate aus mehreren lateinischen Dichtern, einschließlich Lukrez, vorkommen.
Warum dieses Schweigen?
Ist von Polyglossie oder Multilingualität die Rede, so kann damit Verschiedenes gemeint sein: Erstens die literarische Mehrsprachigkeit einzelner Autoren oder Kulturgemeinschaften, die in verschiedenen Sprachen kommunizieren und Texte verfassen – ohne dass ein und derselbe "Text" notwendig mehrsprachig sein muss. Dabei handelt es sich um ein traditionsreiches Phänomen: Man denke nur an das jahrhundertelange Nebeneinander von Volkssprache und Latein in mehreren europäischen Kulturen zwischen Spätantike und Früher Neuzeit, an das Französische als Konversationssprache unter Adligen und Gebildeten bis ins 19. Jahrhundert hinein, an die Konkurrenz von indigenen und offiziellen Sprachen in kolonialen Kontexten sowie an Regionen und Nationen wie die Schweiz, Belgien und Kanada, in denen bis heute mehrere Sprachen gleichberechtigt oder aber qua Trennung von Schrift- und Umgangssprache in Gebrauch sind. Zählt man auch dialektale Varianten dazu, so gibt es wohl keine monolingualen Nationen und auch keine monolingualen Nationalliteraturen. Neben solchen regionalspezifischen und sprachpolitischen Konstellationen gibt es außerdem verschiedenste individualbiographische, aus denen mehrsprachige Autoren hervorgehen, die in mehreren Sprachen schreiben und publizieren – diese Sprachen aber nicht unbedingt in einem Text vermischen.
Der Beitrag untersucht die verschiedenen Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit in Francesco Colonnas "Hypnerotomachia Poliphili" (1499) und François Rabelais' "Pantagruel" (1532) und "Gargantua" (1535), die auf Colonna zurückgreifen. Er unterscheidet die Wirkungen der Sprachmischung (im Sinne einer Hybridisierung der Sprache, in der erzählt wird) von den Wirkungen, welche die Polyglossie (im Sinne der Pluralität der in einem Werk verwendeten Sprachen) hervorbringt. Daraus ergeben sich auf der Ebene der Narration wie auf der von Syntax und Lexikon unterschiedliche Ästhetiken, die, indem sie den Autor in der von ihm verwendeten artifiziellen Sprache zum Verschwinden bringen, im Diskurs des Textes die Stimme des Anderen hörbar machen.
Text und Experiment : die Experimentalszene als mediale Konfiguration im Werk E. T. A. Hoffmanns
(2014)
Im literarischen Werk E.T.A. Hoffmanns nimmt das Experiment eine besondere Stellung ein. Wissenschaftliche oder parawissenschaftliche - auch alchemistische - Experimente kommen in seinem OEuvre an vielen Stellen explizit zur Sprache. In der zweiten Vigilie des bekannten 'Goldenen Topf', beispielsweise stellt der Registrator Heerbrand den geheimen Archivarius Lindhorst zunächst als einen "experimentierenden Chemiker" vor. In dem Märchen 'Klein Zaches genannt Zinnober' unternimmt der Professor Mosch Terpin so manch "physikalisches Experiment". In den Gesprächen der Serapions-Brüder ist unter anderem vom "Experiment" des Magnetismus die Rede, und in der späten Erzählung 'Der Elementargeist' kommt es noch zu einem sehr ausgiebig beschriebenen "Experiment". Dies sind lediglich vereinzelte Beispiele, die einen ersten Einblick bieten. Das "Experiment" an sich stellt ein rekurrentes Motiv des Gesamtwerks Hoffmanns dar. Wie lässt sich diese Präsenz und Prägnanz des Experimentalmoments kontextualisieren? Wie lässt sie sich begründen? Und zunächst auch: Welche Verbindungen ergeben sich genereller aus dem Zusammenhang von Literatur und Experiment?
Mit der Konstellation "Text und Experiment" ist ein Themenfeld bezeichnet, das als Schnittfläche zwischen wissenschaftsgeschichtlichen und literaturhistorischen Fragestellungen heute kein unerforschtes Gebiet darstellt. Zu den Verbindungen zwischen Experiment und literarischer Konfiguration liegt mit dem von Michael Gamper herausgegebenen Band 'Experiment und Literatur' sowie der grundlegenden, dreibändigen literaturgeschichtlichen Buchfolge zu dem Thema inzwischen eine imposante Reihe wissenschaftlicher Werke vor. Die genannten Bände stecken Grundlagen ab, liefern Einzelanalysen und geben darüber hinaus Impulse und Anregungen für die weitere Beschäftigung mit dem Gegenstand.
Die vorgestellten Beispiele aus den letzten 50 Jahren stammen aus Kurz- und Langprosa, Graphic Novel, Song und Film. Sie werden daraufhin überprüft, wie das Zusammenspiel der beiden Aspekte der Gefährdung des Menschen durch das Wasser und der Gefährdung des Wassers durch den Menschen konkret ausgeführt wurde, denn nicht in allen für diese Untersuchung ausgewählten Narrationen ist die Vorstellung von der "Selbstgefährdung des Menschen" (Böhme 1997, 18) durch die Gefahrdung der Natur gleich stark ausgeprägt oder explizit gemacht. Bei dieser Fragestellung bewegen wir uns auf einer inhaltlich-thematischen Ebene, die aber untrennbar mit der Frage nach Erzählstrategien und der ästhetischen Form der jeweiligen Erzählung verbunden ist. Diese formalen Aspekte sollen im Hinblick auf ihre Medienspezifik genauer untersucht werden. Zu fragen wäre also: Welche inhaltlichen und ästhetischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede weisen die Beispiele auf? Gibt es eine spezifische Ästhetik des 'Wasser-Schreibens'?