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Osthessen ist ein stark gegliederter Mittelgebirgsraum. Fruchtbare Tal- und Beckenlandschaften eignen sich für Ackerbau, die höheren Regionen vor allem zur Wald- und Weidewirtschaft. Es gibt zahlreiche salzhaltige Quellen. Kupferschiefer steht im nördlich gelegenen Richelsdorfer Gebirge an, und Eisenerze sind aus dem Vogelsberg und in lokalen Vorkommen zwischen Kalbach um Motten belegt. Während der Bronze- und Eisenzeit vollzieht Osthessen eine vielschichtige Entwicklung. Die Fulda-Werra-Gruppe, die in der Mittelbronzezeit einen einheitlichen Kulturraum bildet, zerfällt am Übergang zur Spätbronzezeit. Stattdessen befindet sich die Region nun im Kontakt- und Übergangsbereich verschiedener Kulturen. Auch in der Eisenzeit liegt Osthessen zunächst am nördlichen Rand der Hallstattkultur, bevor es in der Frühlatènezeit vorübergehend unmittelbarer Teil der Latènekultur wird. Nach den sog. Keltischen Wanderungen während der ausgehenden Mittel- und Spätlatènezeit rückt die Region dann wieder an die Peripherie der Latène- bzw. Oppidakultur. Während der gesamten Zeit ist Osthessen eine wichtige Kontakt- und Distributionszone, die stark durch Güter- und Ideenaustausch, aber auch durch Migration geprägt wird. Bei ersten Grabungen im Jahr 2016 wurde im Rahmen des LOEWE-Projekts der Stallberg näher untersucht, der von der älteren Forschung in die Eisenzeit datiert wurde, durch die Auffindung eines spätbronzezeitlichen Messers aber eine größere zeitliche Tiefe vermuten ließ. Bei den Ausgrabungen traten überraschenderweise Funde aus der Michelsberger Kultur zutage. Einige 14C-Daten konnten ein jungneolithisches Alter bestätigen, lieferten aber auch Daten aus dem Hochmittelalter.
Die Prähistorische Archäologie ist neben zahlreichen anderen Wissenschaftsdisziplinen damit befasst, menschliche Gewalt und Krieg zu beschreiben und historisch einzuordnen. Sie ist darüber hinaus in der Lage, einen Blick in vorstaatliche Zeiten zu werfen und Entwicklungen über lange Zeiträume zu verfolgen. Gleichwohl spielen Modellvorstellungen, die sich an Staaten der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit orientieren, bei der Deutung prähistorischer Befunde eine dominante Rolle – so entsteht der Eindruck, dass Gewalt und Krieg die menschlichen Gesellschaften schon immer in ähnlicher Weise prägten, wie sie es bis heute tun. Dabei wird selten zwischen Gewaltformen unterschieden, Traumata gelten generell als Belege für Krieg, und auch die Gründe für die Kriege scheinen den heutigen zu gleichen – genannt seien Ressourcen, Territorien und Besitz. Schon ein kleiner Blick in ethnologische Quellen zeigt, dass dieses Bild nicht stimmen kann, und eine genauere Analyse archäologischer und anthropologischer Befunde ergibt erhebliche Unterschiede zwischen Zeiten und Regionen, die mit den gängigen Modellen nur schwer erklärbar sind. Diese Problematik wird anhand einiger Beispiele verdeutlicht.
Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht der Versuch der Klärung einiger für das LOEWE-Projekt zur bronzezeitlichen Burgenforschung zentraler theoretischer Begriffe und Konzepte wie Burg/Befestigung, Gewalt und Konflikt. Sie verweisen auf drei unterschiedliche und bislang nur ungenügend miteinander verknüpfte Forschungsfelder, nämlich die prähistorische Burgenforschung, die historisch-kulturwissenschaftliche Gewaltforschung und die politik- und sozialwissenschaftliche Konfliktforschung. Im Anschluss an eine kurze Vorstellung dieser Forschungsfelder, in der auch ihre jeweilige Genese beleuchtet wird, diskutiere ich vor allem die Frage nach möglichen Schnittstellen, aber auch nach existierenden Unverträglichkeiten bzw. Widersprüchen zwischen diesen Konzepten. Ein abschließendes Fallbeispiel kombiniert Ideen aus dem Bereich des frühneuzeitlichen Festungs- und Herrschaftsdiskurses (Machiavelli) mit zeitgenössischen Erklärungsansätzen zum bronzezeitlichen Burgenbau.
Das Fränkische Reich erreichte unter Karl dem Großen seine weiteste Ausdehnung und hatte sich in Europa als weitere Großmacht neben dem Byzantinischen Reich, den Slawen und den Arabern etabliert. Der Burgenbau spielte hierbei eine entscheidende Rolle. Wie sahen diese Burgen aus, sowohl die Befestigung als auch die Innenbebauung und –struktur? Welche Funktionen hatten die Anlagen, gab es Veränderungen in Funktion und demgemäß Struktur, eventuell neue Funktionen oder neuartig gestaltete, strukturierte Burgen? Welche Rolle spielte der Burgenbau vom 7. bis 10. Jh. ‒ auch aufgrund der politisch-sozialen Entwicklungen? Diesen Fragen wird vor allem unter archäologischen Gesichtspunkten nachgegangen, ohne dabei die historische Gesamtsituation und deren regionale und überregionale Ursachen und Auswirkungen aus den Augen zu verlieren. In einem Überblick wird zunächst auf die zeitliche und geographische Entwicklung des frühmittelalterlichen Burgenbaus eingegangen. Der Hauptteil behandelt verschiedene wichtige Funktionen mit einschlägigen Beispielen: Burgen als administrative Zentralorte, als Refugien, zur Sicherung von Verkehrswegen, in militärischer Funktion, in der Bedeutung für den Bau von Pfalzen, als fortifikatorische Absicherung von Bistumssitzen sowie von Königs- und Klosterhöfen, als frühe Adelsburgen oder die Rolle der Burgen in frühterritorialen Landesherrschaften sowie im frühmittelalterlichen Landesausbau und zuletzt bei der Herausbildung und Befestigung von Städten. Das 10. Jh. stellt eine Blütezeit für den Burgen- und Befestigungsbau dar, der wie nie zuvor im Frühmittelalter vielschichtig und differenziert-multifunktional war. Darüber hinaus waren die Burgen immer auch ein Symbol der Macht bzw. Herrschaft als Ausdruck des adligen Schutzverständnisses mit repräsentativer Funktion.
Der Beitrag beschäftigt sich mit der historischen Überlieferung zu Burgen und anderen Befestigungen zwischen ca. 750 und 900 u. Z. Anhand von vier Beispielen aus unterschiedlichen Quellengattungen wird gezeigt, dass Befestigungen ein zentraler Bestandteil der karolingischen Welt waren. Die Bezeichnungen für Befestigungen umfassen ein großes terminologisches Spektrum, das sich mit den Begriffen deckt, die auch für städtische Siedlungen verwendet wurden (urbs, civitas, castellum, oppidum). Dies zeigt, dass Befestigungen und städtische Siedlungsformen zeitgenössisch nicht konsequent unterschieden wurden. Sie müssen daher zusammen betrachtet werden. Im zweiten Teil des Beitrags geht es um die Träger von Befestigungen, zunächst um die fränkischen Könige, die man in der Forschung zumeist für die alleinigen Träger des Burgenbaus hält. Aber auch andere Träger waren bedeutend: Bischöfe übernahmen die Verantwortung für die Befestigungen ihrer Städte, wie an den Beispielen Worms und Rom gezeigt wird, und auch Laien, wie etwa die bayerische Familie der „Waltriche“ und der Franke Iring, verfügten über Burgen. Unterhalten und erbaut wurden Burgen in fränkischer Zeit mithilfe von Dienstverpflichtungen, die für alle Freien galten, aber auch im Rahmen von Grundherrschaften.
Die archäologische Forschung zu befestigten Anlagen der Vorgeschichte, vor allem zu jenen Komplexen der Bronze- und Eisenzeit Mitteleuropas, basierte in der Vergangenheit maßgeblich auf Postulaten, die sich von Analogien zu antiken Quellen ableiteten. Demnach waren Befestigungen vor allem Ausdruck zentralisierter Sozialsysteme, errichtet auf Weisung von Führungspersönlichkeiten, die an der Spitze einer Hierarchie standen und mit den Befestigungen ihre Zentralorte gegen feindliche Übergriffe absicherten. In dem Beitrag wird jedoch gezeigt, dass sowohl die Notwendigkeit einer hierarchischen Sozialstruktur zur Errichtung von Fortifikationen als auch die vermutete zentralörtliche Funktion von Befestigungen im Lichte ethnographischer Quellen durchaus keine Universalien darstellen.
Das Anliegen des Beitrages ist es, auf wissenschaftliche Metanarrative als vernachlässigten Faktor bei der Interpretation archäologischer Funde und Befunde im Allgemeinen und bronzezeitlicher im Besonderen hinzuweisen. Diese Narrative zeichnen kohärente Bilder von Epochen, in welche neue Evidenzen eingepasst werden, denen so kaum die Möglichkeit eingeräumt wird, die voreingerichteten, in sich plausiblen und suggestiven Deutungsmuster und Deutungsroutinen in Frage zu stellen. Kontrastierend diskutiert werden die dominanten Metanarrative bezüglich des Neolithikums und der Bronzezeit: Während Ersteres das einer friedlicher Zyklizität beschreibt, ist Letzteres eines der Agonalität und des Fortschritts, dessen Wirkmächtigkeit und Hermetik anhand zweier populärwissenschaftlicher Darstellungen beispielhaft aufgezeigt wird.
Der Beitrag beschäftigt sich mit der Quellenlage zur Organisation der Bronzemetallurgie in West-, Süd- und Nordwestböhmen. In allen Regionen kommen Belege für den Herstellungsprozess während der gesamten Bronzezeit kontinuierlich vor. In Nordwestböhmen stammt die Mehrheit der Quellen aus der Urnenfelderzeit. Hier zeigen sich der gute Zugang zu den Rohstoffvorkommen (Zinn, Kupfer) im Erzgebirge/Krušné hory und die Beziehung zu den Flüssen Elbe/Labe und Eger/Ohře. Westböhmen bildet in der Bronzezeit ein Randgebiet mit nur wenigen metallurgischen Belegen, aber mit sehr guten Bezügen zu Zinn und Kupfer (vor allem im nördlichen Teil). In Südböhmen, wo der Schwerpunkt in der Frühbronzezeit (fast keine Funde aus Ha B) liegt, lassen sich die Kommunikationswege und Verbreitung entlang der Moldau/Vltava beobachten. Die Mehrheit der Produktionsorte fügt sich in das Siedlungsnetz ein und nutzte lokale Lagerstätten. Es konnten einige potenzielle Zentralorte der Metallurgie identifiziert werden. Allgemein überwiegen die Funde aus den Flachsiedlungen gegenüber den Höhensiedlungen (vor allem in Nordwestböhmen). Es gibt folglich keine ausschließliche Beziehung der Bronzemetallurgie zu den Burgwällen, womit Vorstellungen, die Elite organisiere die Bronzemetallurgie, widerlegt werden. Die Organisation der bronzezeitlichen Metallurgie war sicher komplexer.
In Böhmen kommen Burgwälle fast während der ganzen Bronzezeit vor (Bz A2-Ha B3). Ihre Anzahl kulminiert in Perioden, die ausgeprägte Kulturveränderungen begleiten, also am Übergang von der älteren zur mittleren Bronzezeit (Bz A2/Bz B1) und auch in den Umbruchsphasen der Urnenfelderzeit (Bz C2/Bz D, Ha B1 und Ha B3). Ihre Lage in der Landschaft ist variabel: Burgwälle sind Teil eines zugehörigen Siedlungsverbandes, sie liegen an Grenzen von Siedlungskammern und auch in strategisch bedeutenden Lagen ohne direkte Verbindung zu den zeitgleichen Siedlungen in der Umgebung. Diese Variabilität weist eine chronologisch-geographische Abhängigkeit auf und deutet auf unterschiedliche Funktionen der Burgwälle in den einzelnen Kulturen der Bronzezeit hin. Variabel ist auch ihre Gestaltung: Während der älteren Bronzezeit war ihre Konstruktion durch südöstliche Einflüsse inspiriert, in der mittleren Bronzezeit begegnen wir auch befestigten Siedlungen mit modifizierter primärer Funktion, in der Urnenfelderzeit ist die morphologische Variabilität der Burgwälle am ausgeprägtesten. Am Ende der Bronzezeit gibt es Burgwälle, deren Konstruktion schon die Gestalt der mächtigen hallstattzeitlichen Herrensitze hervorruft. In Böhmen kennen wir aktuell fast zweihundert Burgwälle aus der Bronzezeit. Ihre tiefergehende Auswertung ist allerdings schwierig, weil die zugänglichen Daten nur von Surveys oder kleinen Sondierungen stammen.
Die größte bronzezeitliche Befestigung Europas in Corneşti-Iarcuri wird seit 2007 durch das Muzeul Naţional al Banatului, die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main, das Museum für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin und bis 2015 die University of Exeter wieder intensiv erforscht. Durch Grabungsschnitte an den Holz-Kasten-Erde-Mauern und in der Siedlungsfläche, durch großflächige magnetische Messungen und systematischen Oberflächenbegehungen sowie paläobotanische Untersuchungen ergibt sich zwischenzeitlich eine recht detaillierte „Biographie“ Corneşti-Iarcuris. Im Rahmen von Rettungsgrabungen beim nahen Autobahnbau und anderen Grabungsprojekten in Rumänien und Ungarn zeigt sich, dass Corneşti-Iarcuri zwar durch seine Größe und Komplexität heraussticht, aber in dieser Landschaft nicht alleine steht. Zahlreiche kleinere unbefestigte (temporäre?) Siedlungen finden sich im Umfeld, ebenso bis zu 400 ha große befestigte Anlagen. Es zeichnet sich für die späte Bronzezeit im Banat zunehmend ein enges Netz aus riesigen und befestigten Zentren, von denen Corneşti-Iarcuri mit über 1760 ha das mit Abstand größte ist, und kleinen Dörfern, Weilern oder Gehöften ab. Corneşti-Iarcuri als möglicher primus inter pares kann nur im Vergleich und Zusammenhang mit seinem Hinterland verstanden werden.
Vorwort
(2018)
Nicht nur die begrifflichen Schwierigkeiten stellen die Auseinandersetzung mit dem Nichtwissen vor Probleme. Darüber hinaus erweist sich auch die zentrale Frage nach dem Zusammenhang von Literatur und Nichtwissen als schwierig. [...] Die begriffliche Unbestimmtheit des Nichtwissens ermöglicht zwar eine breite Anschlussmöglichkeit an die Literatur. Dass Themen wie Ignoranz, Vergessen, Missverstehen, Vorurteil oder Dummheit zum Gegenstand literarischer Darstellung geworden sind, scheint evident zu sein. Ob Literatur selbst aber darüber hinaus über einen strukturellen Bezug zum Nichtwissen verfügt, ist damit noch lange nicht geklärt. [...] In diesem Zusammenhang spielt die Frage nach der Bedeutung von Nichtwissen und Dummheit in der Literatur der Moderne eine zentrale Rolle, scheint die philosophische Moderne mit ihrer Gründungsfigur Kant doch diejenige Wissensordnung zu sein, die eine strenge Unterscheidung zwischen dem Wissen und dem Nichtwissen zu etablieren sucht. In Frage steht also, wie der Übergang zwischen vormodernen und modernen Auffassungen des Nichtwissens in der Literatur zu fassen ist. Besonders deutlich wird das in der Lyrik. Nicht nur verkörpert die Lyrik diejenige moderne Gattungsform, die sich in der Form der Apostrophe in unmittelbarer Weise an das Nichtwissen zu adressieren vermag. An so unterschiedlichen Gedichten wie Matthias Claudius' "Abendlied" und Friedrich Hölderlins "Blödigkeit" kann zugleich der Übergang von der Vormoderne zur Moderne im Zeichen des Umgangs mit dem Nichtwissen erläutert werden.
Die Frage nach der Erkenntnisleistung der Psychoanalyse wird im Kontext aktueller Debatten leicht, vielleicht allzu leicht gegen Freud und seine Nachfolger entschieden. Der fast schon stereotyp erfolgende Hinweis darauf, dass Freuds Leistung in der Entdeckung des Unbewussten lag, Lacans in der These, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert sei, reicht allein nicht aus, um diese Frage beantworten zu können. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, geht Lacan in seiner Rückkehr zu zugleich über Freud hinaus, indem er die wissenschaftliche Grundlage der Psychoanalyse nicht auf ein positives Wissen zurückführt, und sei es das um das Schibboleth der Psychoanalyse, den Ödipuskomplex, sondern auf eine spezifische Form des Nichtwissens, die der Psychoanalyse als einer neuen 'docta ignorantia' vorsteht. Mit dem Ausweis der Psychoanalyse als einer Lehre des Nichtwissens, der Unwissenheit und des Nicht-Wissen-Könnens vollzieht Lacan auf einer anderen Matrix als sein Vorbild jene Subversion des Wissens, die bereits Freuds Entdeckung des Unbewussten bedeutete, und damit eine Aktualisierung der Psychoanalyse zu einer - paradoxen - Grundlagenwissenschaft, die ihr noch immer eine herausragende Stellung im Feld der Geisteswissenschaften und der Verhältnisbestimmung von Natur- und Kulturwissenschaften sichert.
Im Fall Sades stellt sich die Frage, ob er nicht als in seiner Zeit unmöglicher Romanautor letztlich einen Diskurs begründet hat, der weit über die Libertinage hinausgeht und eine "Ästhetik der Delinquenz", so Manfred Schneider, das philosophische wie literarische Schreiben über Sexualität, Verbrechen und Strafe in der Moderne bis zu Bataille und zu Foucault selbst entscheidend mitbestimmt hat. Um diese Problemstellung zu erörtern, geht der vorliegende Aufsatz zunächst auf Foucaults alles in allem zwiespältige Einschätzung des Sadeschen Werkes ein, um die Analyse in einem zweiten Schritt um die Vermittlungsfigur von Georges Bataille zu erweitern. Die exemplarische Analyse einer Passage aus Sades "La Nouvelle Justine" soll es darüber hinaus erlauben, das infame Netzwerk der Libertinage und den damit verbundenen Zusammenhang von Literatur und Institution näher zu bestimmen. Dass das Netzwerk der Libertinage, das Sade in seinem Doppelroman um die ungleichen Schwestern Justine und Juliette entfaltet, auf einer Logik des Tausches ruht, die mit Foucault zugleich als eine bestimmte Form der Infamie zu bestimmen ist, weist zugleich auf die enge Verknüpfung von Recht und Literatur, von ästhetischen und juristischen Diskursformen hin, die die historische Institution Literatur bis heute prägen.
Weil die Bibel als formativer Text der europäischen Kultur bis in die Neuzeit hinein einen zentralen epistemischen Ort hatte sind an ihr historisch schon sehr früh Instrumente zur Suche entwickelt worden, die nicht nur für die Vorgeschichte modernen Suchens interessant sind, sondern auch auf paradigmatische Weise zeigen, wie die Instrumente der Suche das Wissen selbst prägen: in diesem Sinne das besondere geistliche Wissen der Schrift, das in ihrer Durchsuchbarkeit immer wieder aktualisiert, ja erst eigentlich konstituiert wird. Denn zur Heiligen Schrift wird die Schrift gerade in dem Maße, in dem man sie in jeder Situation verwenden kann, und das kann man eben besonders gut, wenn man schnell das Richtige in ihr findet. Das soll im Folgenden an einigen der wichtigsten und charakteristischsten Suchinstrumente gezeigt werden: den Konkordanzen, den Polyglotten, den Kanontafeln, Harmonien und Synopsen.
An Lessing und Lenz lässt sich zeigen, dass die Modernisierungsbewegung kontingenter verläuft, als es die soziologische Theorie glauben möchte, und dass sie den überlieferten Formen der Heiratsregeln mehr verdankt, als auf den ersten Blick vielleicht sichtbar wird. Vor diesem Hintergrund möchte der vorliegende Beitrag nicht nur die Familienbilder in den Dramen Lessings und Lenz' auf dem Übergang in die Moderne zur Darstellung bringen. Der vergleichende Blick auf das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama will zugleich den Blick für den mythischen Kern schärfen, der im Familiendrama verhandelt wird. In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, zunächst einen kurzen Blick auf den Ort der Familie im antiken Drama zu werfen, um darauf aufbauend anhand von Claude Lévi-Strauss' Untersuchung über "Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft" den Kernbereich der Familienbildung, die Heiratsregeln, zu erhellen, bevor auf dieser Grundlage Lessings "Emilia Galotti" und Lenz' "Der Hofmeister" in den Blick rücken.
Die leitende Prämisse der folgenden Überlegungen besteht auch in der These, dass Hegel mit dem Ende der Kunst eine Einsicht formuliert hat, die für die literarische Moderne konstitutiv ist. Mit der vordergründigen Wiedereinsetzung Hegels verbindet sich allerdings ein kritischer Einwand, der sich wiederum von Hölderlin her formulieren lässt. Wie die Auseinandersetzung mit Hegels Ästhetik deutlich macht, lässt die Verschränkung von Gattungspoetik und Geschichtsphilosophie, den Ort der modernen Literatur auf eigentümliche Weise unbestimmt. In dem Maße, in dem Hegels einseitiger Blick auf die seiner Meinung nach vorbildliche Kunst der Antike an der Eigengesetzlichkeit der Poesie in der Moderne vorbeigeht, erscheint Hölderlins Poetik als ein Korrektiv, das die negative These vom Ende der Kunst erst produktiv werden lässt. Das Ziel der folgenden Ausführungen liegt dementsprechend darin, ausgehend von der gattungspoetischen und geschichtsphilosophischen Bestimmung von Tragödie und Lyrik bei Hegel und Hölderlin einen Begriff der Poetik zur Geltung zu bringen, der die These vom Ende der Kunst ernst nimmt und es dennoch erlaubt, eine Poetik der Moderne zu entwickeln. Damit ist zugleich das methodische Vorgehen der Arbeit gekennzeichnet. In einem ersten Schritt geht es darum, Hegels These vom Ende der Kunst in einem kritischen Durchgang durch seine Ästhetik noch einmal eine bestimmte Plausibilität abzugewinnen. Die Diskussion der Verschränkung von Geschichtsphilosophie und Gattungspoetik, die Hegels Ästhetik auszeichnet, führt in einem zweiten Schritt zu einer kritischen Rekonstruktion seiner umstrittenen Lektüre der Sophokleischen "Antigone", die zugleich zu Hölderlins Poetik als einer Alternative zu Hegels Ästhetik überleitet, in deren Zentrum die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Recht steht.
Dummheit und Witz bei Kant
(2009)
In der Auseinandersetzung mit Kants Ästhetik haben sich drei Formen abgezeichnet, die ihren Ort weniger im Scharfsinn der Philosophie als vielmehr im Witz der Poesie finden: die Einfalt, die zugleich den inneren Zusammenhang von Ethik und Ästhetik in Kants System verkörpert, das Monströse, das auf die Konfrontation des Menschen mit der furchterregenden Größe der Natur zurückgeht, und das Phlegma, das eine eigentümliche Leerstelle zwischen dem ästhetischen Gebrauch der Urteilskraft und den ethischen Ansprüchen der Vernunft markiert. Die drei Begriffe der Einfalt, des Monströsen und des Phlegmas verkörpern eine Ambivalenz von Natur und Vernunft, ästhetischem Spiel und moralischem Ernst, Witz und Dummheit, die Kant nur in ein philosophisches System einfangen kann, indem er ihre bedrohliche Seite suspendiert. Wie Jean Paul zeigt, ist die Literatur der Ort, an dem sie eine andere Sprache finden.
Schöndummheit. Über Ignoranz
(2008)
Der reizvolle Begriff der Schöndummheit geht, im Verbund mit ähnlich attraktiven Ausdrücken wie dem der "Dummlistigkeit", auf Robert Musil zurück. Im Rahmen seiner Rede vom 17. März 1937 mit dem ebenso schlichten wie vielsagenden Titel "Über die Dummheit" zeigen Ausdrücke wie Schöndummheit und Dummlistigkeit an, dass es sich bei Fragen der Ignoranz, als deren Teil die Dummheit im Folgenden zu bestimmen sein wird, um Probleme handelt, für die keine eindeutigen Lösungen parat stehen. [...] Angesichts der von John Locke skizzierten Ausgangslage, derzufolge der Bereich des Nichtwissens immer umfassender ist als der des Wissens, eine Einsicht, die auch dem "Mann ohne Eigenschaften" zugrunde liegt, ist die Rede "Über die Dummheit" die systematische Ausarbeitung eines Problems, das im Zentrum des "Mann ohne Eigenschaften" steht. Im Folgenden wird es jedoch weniger darum gehen, Musilexegese zu betreiben, als vielmehr darum, mit Musils Hilfe und über ihn hinaus das unerschöpfliche Reich der Ignoranz zu durchwandern. Drei Problemzusammenhänge dienen der Vermessung des Terrains der Ignoranz als Leitfaden: die Unmöglichkeit, auf indifferente Art und Weise über Dummheit zu sprechen, der Zusammenhang von Ignoranz, Klugheit und Verstellung, sowie die Schwierigkeit, Unwissenheit zu definieren.
Angesichts der Vielfalt der unterschiedlichen Beiträge zum Thema der Liminalität stellt sich zugleich die Frage nach der theoretischen Grundlegung des Begriffes im Zwischenraum von Ethnologie und Diskursanalyse. Der vorliegende Beitrag knüpft an mögliche Erweiterungen des Liminalitätsbegriffes in anderen Disziplinen an, möchte im Blick auf den Zusammenhang von Liminalität und Literalität jedoch zugleich den Akzent verschieben, indem er Freuds Psychoanalyse zum Gegenstand der Diskussion nimmt. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist nicht nur die Tatsache, dass sich im Denken Freuds auch in seinen unterschiedlichen Phasen immer wieder die Auseinandersetzung mit liminalen Phänomenen beobachten lässt, sondern zugleich der eigentümliche Ort von Freuds eigenem Schreiben im Zwischenraum von Wissenschaft und Fiktion. Das gilt für die frühe, gemeinsam mit Fließ entwickelte Theorie von der grundsätzlichen Bisexualität des menschlichen Wesens wie für die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Traums als einem Übergangsstadium zwischen Schlaf und Erwachen. Eine besondere Bedeutung gewinnen Theorie und Schreiben der Liminalität bei Freud in seinen späten Ausführungen zur Ich-Theorie, in denen die frühe Unterscheidung von Bewusstem und Unbewusstem eine Revision erfährt, die zugleich zu der Begründung eines Oberflächenmodells führt, in dem das Phänomen der Liminalität neu fundiert wird. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich nach einem kurzen Seitenblick auf die Bedeutung der Liminalität für das Denken Walter Benjamins daher auf zwei zentrale Schriften Freuds, "Die Traumdeutung" und "Das Ich und das Es".
Schriftkultur und Schwellenkunde? Überlegungen zum Zusammenhang von Literalität und Liminalität
(2008)
In einem ersten Schritt geht es um die begriffliche Klärung der Ausdrücke Literalität und Liminalität, um auf dieser Grundlage mögliche Anschlusspunkte zwischen beiden Bereichen zu markieren, ohne in die doppelte Gefahr einer völligen Unverbindlichkeit oder einer zu großen begrifflichen Enge zu fallen. Das Ziel der folgenden Überlegungen besteht demzufolge darin, von der Frage, was eigentlich gemeint ist, wenn von Literalität und Liminalität gesprochen wird, bis zu der weiterführenden Frage vorzudringen, was in Zukunft geleistet werden kann, wenn sich gezeigt hat, dass die Begriffe Literalität und Liminalität nicht nur für sich unverbunden nebeneinanderstehen, sondern sich wechselseitig ergänzen und so unterschiedlichen Forschungsprojekten Raum geben.
Ist das Schwert, das der Braut vom Mann aus Okinawa überreicht wird, das zentrale Symbol für den Mythos, der in KILL BILL erzählt und zugleich dekonstruiert wird, so lassen sich an der Geschichte des Schwertes auch die wesentlichen Stationen des Handlungszusammenhangs aufzeigen, der Tarantinos vierten Film kennzeichnet. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich - neben Exkursen zu Homer und der ganz anderen Begegnung von fernöstlicher und amerikanischer Tradition im Kino Takeshi Kitanos und nach grundsätzlichen Überlegungen zur Affektpolitik des Films - zunächst auf das vierte Kapitel des Films, um anhand der Leitmetapher des Schwertes den Remythisierungstendenzen des Films nachzugehen und deren Dekonstruktion aufzuzeigen.
Der folgende Beitrag rekapituliert anhand der aufeinander aufbauenden Positionen von Marcel Mauss, Georges Bataille und Jean Baudrillard zunächst die religionssoziologische Bestimmung des Tausches im Rahmen der polemischen Entgegensetzung von Archaik und Moderne der französischen Theoretiker, um in einem zweiten Schritt am Beispiel der Antigone auf die Frage nach dem Zusammenhang von Tausch und Tod zurückzukommen, die schon bei Hesiod aufgeleuchtet war und auf die Baudrillard mit dem Begriff des Symbolischen zurückzukommen versucht.
Im Rahmen eines Lehr-Lern-Forschungsprojekts wird ein neues Format des "Forschenden Lernens" erprobt und dessen Wirkungen und Wirksamkeiten werden erforscht. Im Zentrum stehen hierbei von den Studierenden entworfene Videodokumentationen über die von ihnen durchgeführten Forschungsprojekte. Diese Videodokumentationen stellen gleichzeitig ein neues Prüfungsformat dar. Im Kontext der vorliegenden Studie wurden die Zusammenhänge verschiedener Dimensionen der Leistungsmotivation mit der Wahl einer Prüflings- oder Studienleistung untersucht. Daten wurden an einer Stichprobe von 104 Studierenden (92 % weiblich) im Masterstudiengang Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt erhoben. Das innovative Prüfungsformat (Videoprojekt) wurde von den Studierenden als interessant bewertet. Auch wenn deskriptiv-statistisch die Ergebnisse in die postulierte Richtung weisen, konnten inferenzstatistisch keine signifikanten Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Faktoren aktueller Motivation in Lern-/Leistungssituationen und der Häufigkeit der Wahl dieses Prüfungsformates nachgewiesen werden.
Du, er und sie, wir, ihr und die Anderen, einige, viele, alle – und dazwischen Ich.
Wie können ästhetische Zugangsweisen und sinnlich-kreative Lernmethoden in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern aussehen? Vielleicht denken wir auf Anhieb an Rollenspiele im Geschichtsunterricht, Karten zeichnen in Erdkunde, geistliche Lieder im Religionsunterricht, eine Wahlsimulation in Politik und Wirtschaft – doch wie bald gehen uns die Ideen aus? Nun ist ein ästhetischer Zugang aber mehr als eine Sammlung von Methoden und Projekten; vielmehr kennzeichnet ihn ein bestimmter Blick auf die Inhalte des Unterrichts und auf die Menschen, die an diesem mitwirken. Einen solchen Blick zu gewinnen, ist Ziel des Workshops.
Das klingt sehr grundsätzlich – und ist daher am besten möglichst konkret zu erschließen. Thematisch heißt das in diesem Fall die Beschäftigung mit dem Leben zwischen Individualität und Sozialität, Selbstbestimmung und Abhängigkeit, mit Fragen von Identität(en), Alterität(en), Gruppen und sozialen Kontexten.
Methodisch meint "Beschäftigung" dabei durchaus auch ein Reflektieren, in erster Linie aber wird das unmittelbare Erfahren, Ausprobieren und Erfinden im Mittelpunkt stehen – z.B. beim Vortragen, Inszenieren, Zeichnen, Erzählen, Gestalten oder Spielen.
Der erwähnte, ganz besondere Blick auf die Dinge und Menschen verlangt nämlich nicht nur ein Beobachten derselben von außen, sondern ein tätiges Miteinander – dazwischen Ich!
Die vorliegende reflektierende wissenschaftliche Arbeit untersucht und vergleicht die Wahrnehmung von Studierenden aus unterschiedlichen Kulturkreisen betreffend ihre Studienbedingungen. Die Studierenden kommen aus dem Fachbereich Erziehungswissenschaften und studieren an zwei Universitäten in Deutschland und Bangladesch. Ziel der empirischen Untersuchung ist es, von den Studierenden angefertigte Fotografien zu analysieren und die Wahrnehmungen der Studierenden über die jeweiligen Studienbedingungen im Zuge qualitativer Interviews zu vergleichen. Um möglichst realitätsnahe empirische Ergebnisse zu erzielen, war mein persönlicher Aufenthalt vor Ort an beiden Universitäten notwendig. In meinem zweimonatigen Forschungsaufenthalt wurde mit Hilfe der Methodik der Reflexiven Fotografie ein qualitativmethodischer Zugang zu den persönlichen Lebenswelten der Studierenden ermöglicht. Im Ergebnis wurde deutlich, dass die Studierenden aus Bangladesch eine deutlich positivere Wahrnehmung vorwiesen als jene aus Deutschland.
Der Altphilologe Nietzsche verstand die Sprache einer Epoche als Merkzeichen deren kulturellen Klimas. Er sagte auch wie nebenher: "Die Geschichte der Sprache ist die Geschichte eines Abkürzungsprozesses". Damit bekommt er heute so drastisch Recht, wie Absturz das Fallgesetz beweist. Müssen die Sprechenden, die Schreibenden sich immer schneller und schneller verständigen, so dass vereinbarte Sprachkürzel wie Zuruf in der Not eben noch eine gemeinsame Fluchtroute durchs Leben melden? Was heißt überhaupt sich verständigen, da sie längst dazu übergegangen sind, sich zu 'informieren'? Urteile werden in der Kurzform geprägter Wort-Münzen akzeptiert und weitergereicht. Viele Landsleute können keinen vollständigen deutschen Satz mehr bilden. Die Zeitungen konzentrieren das Wahrnehmen auf die Stereotypen von Ereignissen, bei irregulären Zielstellungen des Staates (gegen 'Putin', gegen 'Terror') in regierungskonforme Sprachschablonen gefasst, die Denklinien vorgeben. Gutes Urteil steht fest vor dem Ereignis. Als Gefangene der wie Fesselungen verteilten Termini, finden sich die Wege zu eigenen Sätzen verlegt. Das tägliche Leben spielt in den mails und apps, und wie das Gespräch zwischen Personen verdrängt wird von der Technisierung der Nachrichtenzeichen für Partner und Freunde, die alle zu Bekannten werden, so verbreitet sich die ameriko-englische Geräte- und Hersteller-Sprache wie befreiender Auszug aus der Provinz in die große Welt.
In seinen "Paradigmen zu einer Metaphorologie" übertrug Hans Blumenberg den Begriff 'Halbzeug' aus dem Bereich der industriellen in den der philosophischen Produktion und stiftete so eine Metapher für die vorläufigen, nicht vollends durchgearbeiteten Stadien der Text- und Gedankengenese. Denn Halbzeuge sind ihrem Begriff nach vorgefertigte Rohmaterialformen, Werkstücke oder Halbfabrikate einfachster Form, die kein Rohstoff mehr sind, zum fertigen Produkt aber erst noch weiterverarbeitet werden müssen. Ob tatsächlich die "Paradigmen" selbst, wie Blumenberg nahelegte, in diesem Sinne als philosophisches Halbzeug verstanden werden müssen, soll hier nicht Thema sein. Christian Voller geht es vielmehr darum, die Reichweite der Metapher anhand Blumenbergs eigener philosophisch-literarischen Arbeitsweise zu erproben. Dabei denkt er insbesondere an jenen Zettelkasten, der bekanntlich ein elementarer Bestandteil dieser Arbeitsweise gewesen ist.
Nachdem Schöpfungspläne und 'invisible hands' an Überzeugungskraft verloren haben, hat die Differenzerfahrung erheblich zugenommen. Je unklarer und unübersichtlicher das große Ganze geworden ist, desto mehr hat das "nicht-festgestellte Thier" (Nietzsche) - das sich selbst nicht zu finden weiß, vielmehr immerzu gewinnen und verlieren muss - sich mit den vorliegenden Brüchen und Lücken im Weltenbau, den Widersprüchen und Konflikten in der Lebenswelt und den trostlosen Aussichten auf Krankheit und Tod auseinanderzusetzen. Wenn der Schöpfer nicht antwortet und es kein einendes Band mehr gibt, das alles zusammenhält, bedarf es neuer Strategien der Orientierung sowie einer Aufmerksamkeit für die kleinen und großen Differenzen, Unvollkommenheiten und Unversöhnlichkeiten.
Wissenschaft
(2018)
Das Wort 'Wissenschaft' markiert eine lexikalische Lücke - im Englischen. Es ist für diese Sprache ein 'intraduisible'. Mindestens zwei Wörter braucht das Englische, um das Gemeinte zu bezeichnen: 'science' für die Naturwissenschaften und - symptomatisch in Pluralform und Variabilität - 'arts' oder 'humanities' für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Einheit 'der Wissenschaft' lässt sich im Englischen und anderen Sprachen, die über das inklusive 'Wissenschaft' nicht verfügen, also nicht einfach ausdrücken.
Weltschmerz
(2018)
"Nur sein [Gottes] Auge sah alle die tausend Qualen der Menschen bei ihren Untergängen - Diesen Weltschmerz kann er, so zu sagen, nur aushalten durch den Anblick der Seligkeit, die nachher vergütet." Und so kommt er in die Welt, dieser eigentümliche Schmerz, der im Kontext seiner literarischen Geburt zunächst ein rein göttliches Befinden auszudrücken scheint, als 'Genitivus objectivus' vielleicht aber auch den Schmerz der Welt postuliert. Sein Schöpfer Jean Paul (1763−1825) hat den Begriff im Text nicht eigens markiert, ihn weder formal noch erklärend als Neuschöpfung konstituiert. Der Weltschmerz tritt eher beiläufig auf (das "so zu sagen" im Zitat bezieht sich auf das göttliche Aushalten desselben); er fügt sich in den Text, als wären Autor und Leser gleichermaßen vertraut mit ihm. Und tatsächlich wird der 'Weltschmerz' im Nachhinein als eine Art Begriffsvehikel für ein weitgehend älteres Befinden gedeutet - eine innere Zerrissenheit und Trauer über die Unzulänglichkeit der Welt -, das keiner zusätzlichen Erläuterung bedurfte und in der Spätromantik lediglich ein neues sprachliches Gewand erhielt.
Weltmusik
(2018)
Der Begriff der Weltmusik produziert Fremdheit. Die Erzählung seiner Geschichte beginnt üblicherweise mit der Verwendung durch den Musikwissenschaftler Georg Capellen, der 1905 für einen 'neuen exotischen Musikstil' plädiert: Waren 'exotische' Motive bislang nur als "Kuriosum" in der europäischen Musik vertreten, erhofft sich Capellen, "falls unsere Komponisten sich in die neuen Ausdrucksformen einzuleben und die fremdartige Nahrung in eignes Blut umzuwandeln vermögen", die Etablierung eines "exotisch-europäische[n] Mischstil[s] oder (um mich phantastisch auszudrücken) eine[r] 'Weltmusik'". Dabei spielt für Capellen keine Rolle, dass in dieser Reduktion auf die Harmoniestrukturen europäischer Kunstmusik gerade die Charakteristika zahlreicher außereuropäischer Musiken ausgestrichen bleiben müssen; zu schweigen von der Inkommensurabilität der europäischen Taktordnung mit anderen Formen der Rhythmik. Bereits 1902 verweist Friedrich Spiro indes auf eine verwickelte Geschichte des Begriffs.
Die Begriffsgeschichte ist vom Singular besessen. Pluralformen kommen nur unsystematisch und am Rande vor. Darin gleichen die mehrbändigen Lexika, Gumbrechts "Pyramiden des Geistes", den allgemeinen Wörterbüchern, in denen der Plural gemeinhin nur abgekürzt und kodiert zwischen Klammern vorkommt: "(-en, ‑en)". Der Obergrundbegriff ist für Koselleck bezeichnenderweise der "Kollektivsingular", ein Wort, das die Fähigkeit verloren hat, einen Plural zu bilden. Begriffe wie 'Geschichte' und 'Fortschritt' sind im Plural vorgekommen und haben damit verschiedene Prozesse und Zeitverläufe beschreiben können. Aber im Laufe des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts haben eine Verengung und eine Vereinheitlichung stattgefunden, die zur Verdrängung der Pluralbildungen führten. Plötzlich haben sie nicht mehr die Kraft, distributive Pluralformen in die Welt zu bringen, 'Geschichten' und 'Fortschritte', die eine mehrzeitige Welt voraussetzen. Nunmehr treten sie nur im Singular, mit kollektivem Subjekt auf. 'Fortschritt' heißt jetzt immer Fortschritt der Menschheit. Ein für alle Mal grenzt die Begriffsgeschichte Parallelwelten, Multiversen, die Realität der Quantenphysik aus der Semantik der Begriffe aus, im selben Moment, als sie zu "unseren Begriffen", so Koselleck, werden. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, sollte über ein Lexikon des Plurals, der Pluralbildungen nachgedacht werden, ein Lexikon "Geschichtliche Grundbegriffe 'pluralis'", oder "Geschichtliche Grundpluralbildungen".
Weltanschauung
(2018)
In einem leicht zugeschnittenen Sinn kann die Einsicht, dass "Welt je schon übersetzt" ist, als gedanklicher Kern der im 19. Jahrhundert sich durchsetzenden 'Weltanschauung' betrachtet werden. Dass die Welt dem Menschen niemals gar nicht und niemals vollständig gegeben ist, dass sie immer schon da und doch immer neu zu perspektivieren ist, hat in diesem Wort Ausdruck gefunden. Dadurch wird nun allerdings weniger verständlich als umso verwirrender, dass auch 'Weltanschauung' den 'Untranslatables' angehört. Als lexikalische Instanz eines modernen Pluralismus kann dieses Wort in seiner einzelsprachlichen Unbeugsamkeit nicht recht überzeugen.
Welt, je schon übersetzt
(2018)
Zum Exportschlager, also zum Fremdwort in anderen Sprachen, wurde das Wort 'Welt' vor allem dank seiner Bedeutung VIII (in der bis XII reichenden Zählung des Artikels im "Deutschen Wörterbuch"), die Johannes Erben im einleitenden Teil des Artikels als "metaphorische anwendungen mannigfacher art" charakterisiert und so erläutert: "überall, wo der sprecher auf ein abgeschlossenes ganzes, auf universale fülle, welcher art auch immer, zielt, springt das wort welt als bezeichnung ein: für 'einen in sich geschlossenen bezirk verschiedener art, der in seiner eigenständigkeit und eigengesetzlichkeit gleichsam ein all im kleinen darstellt'". Gerade "metaphorische anwendungen" legen damit einen semantischen Kern frei, der sich auf verschiedenste räumliche Referenzbereiche beziehen kann (also etwa keineswegs, wie dies die heute vermutlich häufigste Verwendung insinuiert, mit "V. erdkreis" zu identifizieren ist). Dass die Bedeutung VIII zugleich diejenige ist, dank welcher aus einem Alltagswort ein philosophischer Begriff wird, bezeugt der entsprechende Artikel im "Historischen Wörterbuch der Philosophie".
Vorahmung
(2018)
Unter dem Eintrag 'ahmen' vermerkt das Campe'sche "Wörterbuch der Deutschen Sprache" von 1807: Das Wort gebe es zwar nicht, doch es müsse einmal geläufig gewesen sein und so etwas wie "thun, verrichten, handeln" bedeutet haben - diesen Rückschluss lasse das noch lebendige 'nachahmen' zu und möglicherweise auch die 'Ameise'. Campe plädiert nicht nur dafür, das verlorene 'ahmen' wieder einzuführen, er möchte insbesondere zu der Neubildung 'vorahmen' anregen. Von gleicher Machart wie sein begriffliches Gegenstück, das Nachahmen, werde sich das Wort schnell einbürgern und hätte den unschätzbaren Vorteil, dass man in betreffenden Kontexten nicht länger auf Fremdworte wie 'Original' und 'originell' zurückgreifen müsse. Das Kompositum 'Vorahmung' erscheint seinerseits eher fremdartig, als Hans Blumenberg es genau 150 Jahre später in seinem Aufsatz zur "Nachahmung der Natur" aufnimmt. Auch im Jahr 1957 ist das Wort keineswegs gängig, dank seiner einfachen Form aber auch nicht unverständlich. Es ist vielmehr unselbstverständlich, d. h. im basalen Sinn fragwürdig.
Verblendungszusammenhang
(2018)
'Verblendungszusammenhang' ist kein Wort aus der Fremde. Aber das, was der Begriff ausdrücken möchte, seine Intention, muss dem souveränen, vernünftigen Subjekt gewissermaßen fremd bleiben. Jeder Bestandteil des Kompositums und die zugrundeliegenden Verben und Nomen - Verblendung, blenden, Blindheit, blind, Zusammenhang, zusammen, Hang, hängen - stammen aus dem Deutschen und haben für sich genommen eine alltägliche, nicht-fachsprachliche Bedeutung und Verwendung. Zusammengenommen jedoch und in der Bedeutung, die die Rede vom Verblendungszusammenhang bei Theodor W. Adorno erhält, könnte uns das Wort fremder nicht sein. Denn vielleicht kommt die Intransigenz der Kritischen Theorie, ihre Radikalität und all das, was auch heute noch an ihr provoziert und nicht selten zum Widerspruch oder gar zur affektiven Abwehr reizt, nirgends so sehr zum Ausdruck wie in diesem einen Wort: Verblendungszusammenhang.
Oυτοπία - Utopie
(2018)
Als der englische Lordkanzler Sir Thomas More im Jahr 1516 nach einem Titel für sein neuestes Werk suchte, war 'Utopia' nicht die erste Wahl. Altphilologen unter den Utopieforschern haben auf die bedenkliche Wortfügung 'Utopia' in der Bedeutung von 'Nicht-Ort' aufmerksam gemacht. Der bekannte klassische Philologe Bernhard Kytzler z. B. schrieb 1982: "'Utopia' ist eine wohl schlagende, aber sprachlich falsche Bildung." Aus dem griechischen τοπος ("Ort") und der verneinenden Vorsilbe ου zusammengesetzt, habe dies im Lateinischen ein Kunstwort ergeben, das nicht schlechthin grammatikalisch falsch, sondern vom Autor absichtsvoll in dieser Falschheit ausgestellt worden sei! Morus hätte wissen müssen, dass die griechische Sprache bei der Verneinung eines Substantivs die Vorsilbe a benutze, bekannt als ahistorisch, amusisch, anormal. "War sich Morus seines Fehlers gar nicht bewusst? Oder hatte er Gründe, die ihn bewogen, seine sprachlich schiefe Schöpfung beizubehalten?"
Ur
(2018)
Die Partikel 'Ur' gehört zu den unheimlichen 'intraduisibles' der deutschen Sprache. Die Wörter, denen sie vorsteht, erscheinen archaisch, allerdings auf eigentümlich standardisierte Weise. Sie geraten "ins barbarisch Wilde oder in industrielle Reklame" - so Theodor W. Adorno in einem kleinen Beitrag für die Süddeutsche Zeitung aus dem Jahr 1967. Dort bekundet er sein Erschrecken über das Wort 'Uromi' in einer Todesanzeige, das er nicht nur als "Grimasse" vermeintlicher Nähe, sondern sogar als "Maske von Unheil" kritisiert. Das Unheil liegt für ihn in einer schamlosen Familiarität, die sich der eigentlich gebotenen Trauer versagt. Gerade darin hat das unpassend platzierte Ur-Wort einen historischen Index, allerdings einen, der aus der Geschichte direkt in die Vorgeschichte weist: "Das Uromi ist ein prähistorisches Monstrum."
Troika
(2018)
Im (west-)europäischen politisch-administrativen Sprachgebrauch der Gegenwart finden sich kaum russische Wörter. Die Karriere des russischen 'Troika' ist so ein seltener Fall, der auch in Russland Aufmerksamkeit weckte. Ins öffentliche Bewusstsein gelangte der Begriff erst nach 2000, als die EU eine Dreiergruppe - die Troika - aus Vertretern der Europäischen Zentralbank, des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Kommission einsetzte, um die Sparmaßnahmen der griechischen Regierung während der Staatsschuldenkrise zu überwachen. Die begriffliche Assoziation zu den unter gleichem Namen bekannten außergerichtlichen Straftribunalen in der Sowjetunion der Stalinzeit war wohl zu offensichtlich, weshalb die EU auf Drängen Griechenlands die Bezeichnung 'Troika' später durch den neutralen Begriff 'Institution' ersetzte. Warum die EU einen politisch derart kompromittierten Begriff überhaupt in ihren Sprachgebrauch aufnahm, scheint nur schwer nachvollziehbar. Reduziert man allerdings die Begriffsgeschichte der 'Troika' allein auf die semantische Spur des Straftribunals, bleiben die Registerwechsel zwischen höchst unterschiedlichen kulturellen Bereichen im 20. Jahrhundert ausgeblendet.
Vielleicht denken derzeit die meisten zuerst an das Auto, wenn von 'Trabant' die Rede ist. Vielleicht sogar an dessen himmelblaue Ausführung, selbst wenn sie im Straßenbild inzwischen fremd geworden ist. Und wenn man 'fremd' mit 'unbekannt' übersetzt, dann trifft das den Trabanten nicht nur, weil der Begriff ein Fremdwort ist, sondern auch, weil unbekannt ist, aus welcher Fremde es stammt. Seine Herkunft ist nicht zweifelsfrei belegt. So hat man seinen Ursprung im Italienischen, im Deutschen oder im Türkisch-Persischen vermutet, von wo es über das Ungarische und Rumänische in die westeuropäischen Sprachen gelangt sein könnte. Im Grimm'schen Wörterbuch werden diese Annahmen jedoch samt und sonders als nicht stichhaltig verworfen. Umso wahrscheinlicher aber sei seine Herkunft aus dem Tschechischen, woher es zur Zeit der ersten Hussitenkriege entlehnt wurde, wobei dem dort schon im 15. Jahrhundert nachweisbaren 'dráb', dem 'fuszkrieger', im Deutschen die Endung '‑ant' hinzugefügt worden sei, ein Muster, wie es auch bei 'sarjant' oder 'brigant' verwendet worden war.
"Toughness has been rather out of fashion, as a masculine virtue", so William Gibson schon 2002. Die 'toughe Frau' scheint dagegen noch in aller Munde: zumindest im deutschsprachigen Raum gilt 'tough' als reflexartig einspringende Vokabel für die Kennzeichnung weiblicher Erfolgstypen: "kämpfende Amazone", "eiserne Lady" oder 'superwoman' bleiben als denkbare Synonyme ohne jede Chance. In hoffnungslos inflationärem Gebrauch schreiben die Titelzeilen der Lifestyle- und Frauenmagazine nahezu jeder in den Fokus gerückten Person das Epitheton zu, das zumindest in dieser Verwendung als unübersetzbar gelten muss, vielleicht aber auch gar keiner Übersetzung bedarf: handelt es sich doch - entgegen allem Anschein - um ein deutsches Wort, vermutlich so urdeutsch wie 'Handy'.
Synergie
(2018)
'Synergie', von griech. 'syn' ('mit', 'zusammen') und 'en-ergeia' ('Wirken'), beschreibt heute kooperative Effekte in der Natur, Wissenschaft und Gesellschaft, für die der aristotelische Satz "Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile" gilt. Doch 'Synergie' ist nicht nur ein Wort der Gegenwart. Mitte des 19. Jahrhunderts wird 'Synergie' (Adj. 'synergetisch') als Fremdwort in der deutschen Sprache mit der Bedeutung "Mitwirkung, Hilfe" angeführt. Bereits früher in die Bildungssprache eingegangen ist der 'Synergismus' (Adj. 'synergistisch'), die "Lehre von der freien Mitwirkung der Menschen zu ihrer Seeligkeit". Beide Einträge verweisen zunächst auf die Philosophie und christliche Theologie der Antike.
Der georgischen Sprache fehlt es nicht an mehr oder weniger alltäglich gebrauchten deutschen Fremdwörtern. Den meisten haftet ihr Umweg durch das Russische an, den sie während der kaiserlichen und späteren sowjetischen Herrschaft über Georgien gemacht haben. [...] Allerdings stößt man in dem prägenden sowjetgeorgischen Fremdwörterbuch, das zwischen 1964 und 1989 dreimal aufgelegt wurde, gerade beim Eintrag 'schtraikbrecheri' auf eine durchaus seltsame Bestimmung: "schtraikbrecher-i (dt. 'Streikbrecher') - in kapitalistischen Ländern: eine Person, die während des Streiks arbeitet und den Streik stört." Die stillschweigende Voraussetzung, Streikbrecher existierten nur "in kapitalistischen Ländern", weil es in den sozialistischen keine Streiks gebe, wirft in ihrer Verlogenheit erst recht die Frage nach der Vor- und Nachgeschichte dieses Begriffs auf.
Die programmatische Allgegenwart des 'Sozialen' nährt den Verdacht, wir hätten es hier mit einem leeren und nichtssagenden Plastikwort zu tun, das vielleicht gebildete Dignität und moralisches Engagement vortäuscht, aber semantisch durchaus nicht zu fassen ist, weil es eben nichts Bestimmtes zu bedeuten vermag. Clemens Knoblochs These ist hingegen, dass 'sozial' in den Jahren um 1900 zu einer semantischen Chiffre wird, in der sich die Erfahrung reflexiv verdichtet, dass die dringlichsten Probleme der industriekapitalistischen Entwicklung diejenigen sind, die durch diese Entwicklung selbst erst hervorgebracht werden. Platt gesagt: die unbeabsichtigten Nebenfolgen des allgemeinen Fortschritts: Pauperisierung breiter Bevölkerungsschichten, Landflucht, Proletarisierung, Stockungen im Warenabsatz, Armuts- und Elendsseuchen, Analphabetismus etc. müssen sowohl 'staatlich' als auch 'gemeinschaftlich' bearbeitet werden. Mittels 'sozial' erhalten all diese (im Schlagwort der "sozialen Frage" resümierten) Probleme so etwas wie eine Adresse. Und fortan wird 'sozial' programmatischer Bezugspunkt all dessen, was sich auf die unerfreulichen Folgen und Begleiterscheinungen der kapitalistischen 'Entwicklung' bezieht. Es wird kompensatorisch, es wird (linguistisch gesprochen) nicht nur zum Relationsadjektiv, sondern zu einem pauschalen Verweis darauf, dass die qua 'sozial' modifizierten Nominalphrasen (bzw. das, was sie nennen) einen Bezug auf das Problem der gesellschaftlichen Kohäsion haben. Diese Facette fehlt naturgemäß völlig im lateinischen 'socialis', das die ausdrucksseitige Quelle des heute in vielen Sprachen vertretenen Internationalismus 'sozial' ist.
Software
(2018)
Software regiert die Welt. Software hat die alte Unterscheidung von Geist und Materie - aufgemischt. Im engeren, in der und durch die Informatik terminologisch gewordenen Sinn meint der Begriff die Programme, die auf Universalrechenmaschinen (als der Hardware) zum Laufen gebracht werden können. Aber auch deren Bedienungsanleitungen wurden weiland dazu gezählt. Ebenso sind auch die gemäß den Befehlen der Programme verarbeiteten Daten und Adressen nicht Hard-, sondern Software. Die ganze heutige Bilderwelt im Web und auf den Milliarden Handys, alle gestreamte und downgeloadete Musik, nicht anders als dieser Text hier (bevor er in Druck gegangen sein wird): Alles ist Software. Und nichts ist Software. Weil ja auch jenseits der Schrift auf Papier, der Spur im Vinyl, des Granulats von Silbersalzen, kurzum: im sogenannten Digitalen nichts ohne die physikalisch-elektrischen Zustände der es prozessierenden Schaltkreise geht. Insofern gilt: Es gibt keine Software. Es gibt nur das Milliardengeschäft der Illusion, dass alles Software sei. Vielleicht könnte man sagen, dass 'Software' zu nichts anderem ge- und erfunden wurde, als um genau diese 'coincidentia oppositorum' von Alles und Nichts zu bezeichnen - oder hinter ihrer Bezeichnung zu verstecken. Beide Seiten machen jedenfalls erklärlich, dass es ein eigenes Wort für die Sache brauchte. Als Fremdwort außerhalb des englischen Sprachraums kann die einmal etablierte Vokabel, ebenso Unklarheiten mit sich führen, wie sie als 'terminus technicus' (im Englischen wie in anderen Sprachen) auch für das genaue Gegenteil, nämlich wissenschaftliche Präzision, einstehen kann.
Theodor W. Adornos berühmt-berüchtigte Verteidigung des Fremdworts als "Exogamie der Sprache" wirft neben anderen Fragen auch die auf, ob denn hier Fremdsprache gleich Fremdsprache sei. [...] Immerhin lenkt Adornos Vergleich die Aufmerksamkeit auf einen in der Begriffsgeschichte unterschätzten Aspekt: Bedeutungsveränderungen, die eine Terminologie durchläuft, sind nicht selten mit sich wandelnden emotionalen Konnotationen verbunden. Begriffsgeschichte ist auch eine Geschichte der 'languages of emotion'. Besonders deutlich wird das an Begriffen wie 'Roboter'.
Rettungsschirm
(2018)
Macht sich die Zweideutigkeit des "Rettungsschirms" im Deutschen vor allem in Gestalt seiner visuellen und metaphorischen Figurationen bemerkbar, fällt sie im Englischen schon auf wörtlicher Ebene auf. Denn das Englische kennt zwei unterschiedliche Worte für die benannte Sache, sodass der Schirm entweder als 'umbrella' ("Regenschirm") oder als 'parachute' ("Fallschirm") auftreten muss. So finden sich denn auch beide Varianten in der englischsprachigen Berichterstattung über die Eurokrise. Die entsprechenden Formulierungen 'rescue umbrella' oder 'rescue parachute' lassen sich dabei in der Regel als Übersetzungsversuche aus dem Deutschen erkennen. Darüber hinaus finden sich beide Varianten häufig in englischsprachigen Einlassungen deutscher Krisenkommentatoren, die für diese Einrichtung werben oder sie kritisieren wollen. Viele englischsprachige Fachpublikationen, in denen explizit von 'rescue umbrella/parachute' die Rede ist, stammen auch aus der Feder deutscher Autorinnen und Autoren. Dieser Befund lässt die Vermutung zu, dass es sich bei dem Rettungsschirm um eine genuin deutsche Wortschöpfung handeln könnte. Die Vermutung lässt sich durch eine Reihe sprachwissenschaftlicher Untersuchungen bestätigen, die sich mit der Metaphorik der Finanzkrise beschäftigt haben. Das Gesamtbild der unterschiedlich angelegten empirischen Studien lässt recht klar erkennen, dass der Rettungsschirm eine der dominierenden Metaphern im deutschen Krisendiskurs und offenbar auch ein spezifisch deutsches Sprachgebilde ist.
Resilienz
(2018)
Im 'Posthistoire', so kann man wohl feststellen, wird die Aufgabe der Abblendung sozialer Risiken von Begriffen übernommen, die dem weiten Feld ökologischer Debatten entnommen sind. In diesem Sinne hat Norbert Bolz unlängst die inflationäre Rede von 'Nachhaltigkeit' oder 'sustainability' analysiert. [...] Die Übertragung des Begriffs der Nachhaltigkeit aus dem Bereich der Forstwirtschaft in den Bereich gesellschaftspolitischer Debatten hat ihren Grund in der utopischen Aufladung ökologischer Ansätze in den Natur- und Ingenieurswissenschaften seit den sechziger Jahren. Das von Bolz benannte Problem ist also nicht allein eines der politischen Rhetorik, sondern darüber hinaus das einer zunehmend undeutlicher werdenden epistemischen Differenz von Natur und Gesellschaft. Dies schlägt sich in der Verwendung von Begriffen nieder, die gleichermaßen natürliche und soziale Prozesse zu beschreiben vermögen und sich dabei zugleich als wirkmächtige Metaphern für die Programmatiken eines soziotechnisch ausgerichteten Regierens anbieten. Exemplarisch lässt sich dies am Begriff der 'Resilienz' studieren.
Trotz der sorgsam gepflegten Begriffsgeschichte (kaum ein geistes- oder sozialwissenschaftliches Fachwörterbuch ohne entsprechendes Lemma) scheint 'Religion' ein auffällig unkonkreter, im Grunde ungeklärter Begriff, der in Anbetracht dessen in seinem Alltagsverständnis erstaunlich wenig erklärungsbedürftig scheint. Das Problem der Religionswissenschaft, ihren Gegenstand zu bestimmen, - dies soll hier als Indiz für das Problem mit dem Begriff 'Religion' dienen - liegt vielsagenderweise u. a. darin, dass keine Definition in der Lage ist, alles, was man als Religion zu bezeichnen gewohnt ist, gleichzeitig abzudecken und jeder Definitionsversuch als einseitig und letztlich als voreingenommen abgelehnt wurde. Es gab nie und gibt bis heute keine konsensfähige Definition und einige Fachvertreter*innen geben gar zu bedenken, so etwas wie Religion gebe es im Grunde eigentlich gar nicht.