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Ich werde im Folgenden zunächst (1.) die Konstellation des Zukunftswissens der späten 1790er Jahre an den miteinander sowohl korrespondierenden als auch kontrastierenden Positionsbestimmungen Immanuel Kants und Johann Gottfried Herders zur Erkennbarkeit und Darstellbarkeit der Zukunft erläutern. Diese Problematik werde ich dann (2.) anhand von Friedrich Schillers Wallenstein-Trilogie (1798/99) diskutieren. Hier spielt Zukünftigkeit auf verschiedenen Ebenen eine zentrale Rolle – als strategisches Planungswissen, als divinatorische Zeichendeutung, aber auch im Einsatz von Vorausdeutungen als dramaturgisches Mittel –, so dass sich Schillers Drama auf exemplarische Weise futurologisch lesen lässt.
Stratege
(2016)
Strategen sind Zukunftsautoritäten von besonderer Ausprägung. Ihr Zukunftswissen ist entschieden 'hierarchisch', insofern es sich auf die Leitung und Führung einer mehr oder weniger großen Gruppe anderer Menschen richtet, und es ist entschieden 'agonal', insofern es sich auf die Übervorteilung eines Gegners richtet. Beide Charakteristika stehen in einer notwendigen Wechselbeziehung miteinander: Die vom Strategen geleitete Menschengruppe wird mit dem Ziel geführt, eine gegnerische Gruppe zu besiegen, die ihrerseits zu demselben Ziel ebenfalls von einem Strategen angeleitet wird. In dieser Zielhaftigkeit liegt die wesentliche Zukünftigkeit strategischen Planens und Handelns; der Stratege will also immer Teleologe sein. Sein Ziel ist aber prinzipiell doppelt: einerseits das anvisierte 'target' einer konkreten strategischen Operation, andererseits der Erfolg, auf den diese Operation – oder die Summe mehrerer Operationen – letztlich hinführen soll. Die doppelte Zukünftigkeit des eher kurzfristigen Vorausplanens und der eher langfristigen Zielvorgabe stellt ein Kernproblem fast jeder Strategie dar.
Wie verfährt man mit einem kanonisierten Text, auf den die Selbstaussagen des Autors ein schiefes Licht werfen? Wenn dies auf Werke eines Autors zutrifft, dessen Briefwechsel ebenso Teil des Kanons ist, steht der Leser vor einer besonders heiklen Aufgabe. Man fühlt sich dazu aufgerufen, den Text gegenüber jener Instanz in Schutz zu nehmen, welche innerhalb der historischen Hermeneutik das letzte Wort hat: dem von Roland Barthes als Gott identifizierten Autor.
Während Tragödien für gewöhnlich mit der Größe des Helden stehen und fallen, drückt sich Friedrich Schiller betont distanziert über den Titelhelden aus Wallenstein aus: "Er hat nichts Edles, er erscheint in keinem einzelnen LebensAkt [sic] groß, er hat wenig Würde und dergleichen." Doch Schiller schickt sogleich eine Erklärung hinterher, weshalb er das dramatische Projekt trotzdem nicht aufzugeben gedenke. Er plane "auf rein realistischem Wege einen dramatisch großen Character in ihm aufzustellen, der ein ächtes Lebensprincip in sich hat." Ohne Verklärung (wie in der Jungfrau von Orleans) oder idealistische Überformung (wie im Don Carlos) solle Wallenstein groß erscheinen, was umso schwerer fällt, weil nichts für den Protagonisten einnimmt: "Seine Unternehmung ist moralisch schlecht, und sie verunglückt physisch. Er ist im Einzelnen nie groß, und im Ganzen kommt er um seinen Zweck. Er berechnet alles auf die Wirkung, und diese mißlingt." Die Beantwortung der Frage aber, wie es Schiller angestellt hätte, die "bloße Wahrheit" des Charakters für sich sprechen zu lassen, blieb zuletzt der Literaturwissenschaft überlassen, die im Laufe der Zeit ein breites Spektrum an Antwortmöglichkeiten zur Verfügung gestellt hat. Seit den 1990er Jahren hat sich der Ansatz verfestigt, dass es sich bei solchen Selbstaussagen nicht um Geburtsschmerzen, sondern um das Eingeständnis eines scheiternden Dramatikers handle. Wenn er Goethe gegenüber erwähnt, dass es ihm "fast zu arg [sei], wie der Wallenstein mir anschwillt" und dennoch bei der großzügigen Organisation des Textes bleibt, weckt er Erinnerungen an den Zauberlehrling, der sich eine Aufgabe stellt, der er letztendlich nicht Herr werden kann.
Fundamentalkritik an der historistischen Annahme einer kohärenten, kontinuierlichen und sinnhaften Geschichte ist für die literarische Avantgarde um und nach 1900 ebenso charakteristisch wie für die Textwissenschaften des späten 20. Jahrhunderts. Doch hat sie weder hier noch dort zu einem völligen Verlust des Interesses an der 'Erforschung' und Darstellung geschichtlicher Konstellationen geführt. Wie kann dieses Paradox funktionieren bzw. welche Textstrategien sollen es entschärfen? Als zentrale Strategie zur 'Überwindung des Historismus' nehmen die hier behandelten Texte (Marie Eugenie delle Grazie: "Robespierre" 1894; Ricarda Ruch: "Der große Krieg in Deutschland" 1912-14; Alfred Döblin: "Wallenstein" 1920) einen Gattungswechsel vor: von der epistemologisch dem Historismus verwandten Form des realistischen Romans zum 'modernen Epos'. Sie bestätigen damit den geschichtstheoretischen Befund, daß Vorstellungen von bestimmten Geschichtsstrukturen und Textverfahren korrelieren, ja jene erst in diesen zur Geltung kommen. Dem Interpreten öffnet sich dadurch der Weg, das Ausmaß der Kritik am Historismus und der Ausbildung eines alternativen Geschichtsbegriffs in den Verfahren der Texte selbst zu analysieren.
In Schillers Wallenstein-Trilogie ist nicht der Zeitpunkt der Tat entscheidend, sondern der Zeitpunkt der Information. Auch Gerüchte sind Informationen, wenngleich unsichere. Sie spielen im Machtkampf zwischen Wallenstein und der kaiserlichen Partei sogar eine maßgebliche Rolle, denn dieser dreht sich, genau besehen, darum, Gerüchte als Nachrichten beim Heer glaubhaft zu machen. Wem dies als erstes gelingt, der gewinnt in dem Informationskrieg, der sich in Schillers Stück abspielt. Wallensteins Informationsoffensive verfolgt ganz deutlich dieses Ziel. Er schickt Eilboten nach Prag, die dort vermelden sollen, dass die Pilsener Truppen ihm neu gehuldigt hätten. Durch dieses als Nachricht ausgegebene Gerücht sollen sich die Prager Truppen veranlasst sehen, sich ebenfalls für Wallenstein zu erklären. Die Nachricht von den Prager Truppen soll wiederum die Pilsener Regimenter dazu bewegen, sich hinter Wallenstein zu stellen. Denn wenn Prag sich erst für ihn ausgesprochen habe, so legt Wallenstein sein Gerüchtekalkül seinem Getreuen Illo dar,
"[d]ann können wir die Maske von uns werfen,
Den hiesigen Truppen den gethanen Schritt
Zugleich mit dem Erfolg zu wissen thun.
In solchen Fällen thut das Beyspiel alles.
Der Mensch ist ein nachahmendes Geschöpf,
Und wer der Vorderste ist führt die Heerde.
Die Prager Truppen wissen es nicht anders,
Als daß die Pilsner Völker uns gehuldigt,
Und hier in Pilsen sollen sie uns schwören,
Weil man zu Prag das Beyspiel hat gegeben."
(T, III/4, 1430–1439)
Wallenstein setzt auf die Nachahmung, um eine Massendynamik zu induzieren. Er beschreibt Nachahmung als anthropologisches Charakteristikum, womit Schiller seinem Protagonisten eine Vorstellung der Aufklärung in den Mund legt.