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Träge und arbeitsscheu ist der römische Gesandte, den Francesco Vettori am 23. November 1513 Niccolò Machiavelli gegenüber skizziert – ein Mann, der lieber schmökernd in der Stube sitzt, sich mit Freunden tummelt oder mit Mädchen von zweifelhaftem Ruf vergnügt und der nicht daran denkt, den Austausch mit anderen Gesandten zu pflegen oder überhaupt wichtige Leute zu treffen. Und wenn er doch einmal zur Feder greift, berichtet er keine brisanten Details über politische Entwicklungen, liefert keine scharfsinnigen Analysen der gegenwärtigen Situation, sondern füllt seine Briefe mit Belanglosigkeiten, die der schlichten Erheiterung des Lesers dienen. Der Mann, über den Francesco Vettori dies berichtet, ist er vermeintlich selbst. Das satirische Selbstportrait, das der Gesandte an der Kurie in Rom augenzwinkernd von sich entwirft, zeigt deutlich, dass zu Beginn des 16. Jahrhunderts bereits eine Reihe recht klarer Vorstellungen existierte, wer oder was ein Gesandter zu sein hatte, welchen Normen er folgen musste und vor allem, was er leisten sollte. Und die Verfestigung dieser Vorstellungen war eben einhergegangen mit der Ausbildung eines ständigen Gesandtenwesens, dessen nähere Betrachtung in Rom besonders spannend zu sein verspricht, da die Kurie zwar in mancher Hinsicht ein typisch europäischer Hof war, während sie in manch anderer Hinsicht aber, durch die besondere spirituelle und rechtliche Rolle des universalen Kirchenoberhauptes, auch atypisch war und nicht ihresgleichen kannte. Hier, in diesem "'supranational' centre for European diplomacy" (105), wo sich mehr Gesandte als an allen anderen europäischen Höfen aufhielten, war das Ringen um Benefizien besonders ausgeprägt, war das liturgische Zeremoniell mehr als anderswo ausgebildet; hier in diesem "international gossip shop" (105) flossen besonders viele Informationen zusammen, trafen Normen aller Art aufeinander. In diesem Schmelztiegel kamen viele diplomatische Praktiken miteinander in Berührung, wurden fusioniert und fortentwickelt. ...
Catharina Gowers, Waldemar Könighaus, Marcus Schütz, Cornelia Scherer, Thorsten Schlauwitz, Victoria Trenkle, Judith Werner und natürlich dem spiritus rector des Unternehmens und einem der besten Kenner der Papstgeschichte, Klaus Herbers, kann man nur den größten Dank aussprechen, dass sie sich der höchst mühsamen und komplizierten Aufgabe angenommen haben, den "Jaffé" in einer dritten Auflage zu überarbeiten. ...
Treffen im Titel eines Sammelbandes zwei Worte aufeinander, die auf einigermaßen aktuelle kulturwissenschaftliche "Turns" verweisen, im vorliegenden Fall auf den "Iconic" und den "Performative Turn", so liegt der Verdacht nahe, dass hier entweder alter Wein in neue Schläuche verpackt wird oder dass modische Schlagworte inhaltliche Leere verdecken sollen. Beide Befürchtungen erweisen sich im vorliegenden Band glücklicherweise als unbegründet. Stattdessen zeigt sich deutlich, wie gerade das Konzept der Performanz zu einem neuen Verständnis der Rolle von Bildern und ihrer Wirksamkeit im hoch- und spätmittelalterlichen lateinischen Europa beitragen kann. Um diesen zeitlichen und räumlichen Schwerpunkt herum, der sich aus der Zusammenarbeit der Brüsseler Groupe de recherche en histoire médiéval (GRHM) und der Pariser Groupe d’anthropologie historique de l’Occident médiéval (GAHOM) ergibt, versammeln sich Beiträge, die zudem auch die (christliche) Antike, Byzanz, die Frühe Neuzeit und sogar das 20. und 21. Jahrhundert in den Blick nehmen. ...
Der soziale Status der frühen Christen ist nach wie vor umstritten; die Antwort hängt immer auch davon ab, wie man das Christentum in der Gesellschaft des römischen Reiches verortet. Die ältere Idee, es habe sich um eine reine Unterschichtenreligion gehandelt, wird heute kaum noch vertreten; aus den paulinischen Briefen wird jedoch mit Recht auf eine prekäre ökonomische Situation jedenfalls einiger frühchristlicher Gemeinden geschlossen. Unbestreitbar ist die Zugehörigkeit einiger Mitglieder aus den höchsten gesellschaftlichen Schichten zum Christentum ab dem späteren 2. Jh. n. Chr., während sie für das 1. Jh. n. Chr. in der Regel als unwahrscheinlich oder gar unmöglich gilt. Es ist diese letztere Annahme, die Alexander Weiß in seiner Habilitationsschrift auf den Prüfstand stellt und – dies sei vorweg genommen – überzeugend widerlegt. ...
Lange ist es noch nicht her, da klagte Werner Paravicini in seiner Besprechung der Biographie Ludwigs XI. von Jean Favier, dass dieser Herrscher seit einigen Jahrzehnten in recht dichter Folge mit beleg- und anmerkungslosen Arbeiten im Stil der "haute vulgarisation" bedacht werde (Kendall, Gaussin, Bordenove, Heers, Gobry und eben Favier), ein wissenschaftlichen Ansprüchen genügendes Werk seit dem 1928 von Pierre Champion vorgelegten dagegen fehle (Francia 30/1 [2003], S. 376f.). Und nunmehr erneut ein Buch, das sich nahtlos in diese Reihe fügt und obendrein den Blickwinkel sogar noch bewusst verengt: Der Verfasser konzentriert sich ausschließlich auf die Person Ludwigs und will darüber hinaus keine Zeit und Welt erschließen; er beschränkt sich auf die Darstellung dessen, was den Herrscher nach seinem Dafürhalten – bis auf Jagd, Tiere und Musik – allein interessierte: "Louis se passionnait pour le pouvoir, la guerre et la politique, il en sera donc question presque à chaque page" (S. 10). ...
Nein, in vorliegender Form hätte diese Doktorarbeit nie veröffentlicht werden dürfen, weist sie doch, hochgerechnet, eine sicherlich im vierstelligen Bereich liegende Zahl an Fehlern, Nachlässigkeiten, ja Schlampereien auf. Ein Leser, der sich bis zum bitteren Ende durchgekämpft hat, dürfte fassungslos auf einen Kampf zurückblicken, den der Autor seinerseits mit der, nein: gegen die deutsche Sprache führte, um dabei an elementaren Regeln der Grammatik, Zeichensetzung und bisweilen sogar an der Orthografie zu scheitern. A. Willershausen ist mithin nicht nur dem Genetiv und Dativ, sondern der deutschen Sprache überhaupt feind. Ähnlich sieht’s im Lateinischen und Französischen aus; oft sind nicht einmal gedruckte Texte korrekt wiedergegeben. Und ganz schlimm wird’s, wenn Deutsches und Französisches zusammenstoßen: "Vermittlung Gui de Boulognes […] Verhandlungen Talleyrands de Périgord auf der Poitier-Kampagnes" (S. 81, Anm. 349) ‒ "Sainte-Maria-Madelaine" (S. 196). Diese zwei Beispiele müssen hierfür aus Platzgründen genügen; generell gilt, dass mein Monita-Leporello sehr, sehr lang ist und bei Bedarf eingesehen werden kann. Doch jedem, der sich der Mühe der Lektüre nur eines einzigen Kapitels unterzieht, dürften die vielen Fehlleistungen ohnehin auffallen. Die Verantwortung für all das liegt natürlich beim Autor, aber sicher sind hier auch kritische Fragen an den Doktorvater und den Zweitgutachter sowie an einen Verlag zu stellen, der die Vorlage offensichtlich unbesehen, geschweige denn lektoriert zum Druck freigab. ...
Auch nach mehr als 70 Jahren gehört die britische Appeasement-Politik zu den umstrittenen Themen der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Schon im Zweiten Weltkrieg als "Guilty Men" bezichtigt, und dann nach 1945 von Churchill wortgewaltig als Schwächlinge und einfältige Toren an den Pranger gestellt, gelten Neville Chamberlain und seine Mitstreiter seinen Kritikern als Politiker, die die wahren Ziele von Hitlers Außenpolitik nicht erkannten und so seinem Machtzuwachs nicht rechtzeitig Grenzen setzten. Demgegenüber verweisen seine Unterstützer auf die begrenzten Möglichkeiten der britischen Außenpolitik, die einen härteren Kurs der Eindämmung nicht zugelassen hätten. ...
In ihrer 2015 veröffentlichten Studie zum römischen Bindungswesen "Was die römische Welt zusammenhält" analysiert Angela Ganter cliens-patronus-Beziehungen in der Zeit zwischen Cicero und Cyprian. Ihr Ansinnen ist es dabei, "das Wechselverhältnis von patronalen Haltungen und politischem Einfluss neu zu reflektieren" (S. 23). Im Fokus ihrer Untersuchungen stehen Verhaltensweisen und Wertvorstellungen von Patronen und Klienten gerade auch im Hinblick auf politisch-gesellschaftliche Veränderungen und Verwerfungen zwischen dem 1. Jahrhundert v. Chr. und dem 3. Jahrhundert n. Chr. Diese lange Zeitdauer strukturiert Ganter durch einzelne Fallstudien, die sie als "Tiefenstudien" (S. 25) bezeichnet. ...
Agincourt/Azincourt 1415 – und 600 Jahre später eine neue Schlacht, diesmal der Publikationen, Tagungen und Veranstaltungen bis zur Nachstellung des Kampfs am Ort wie auch mit Playmobil-Figuren, ja bis zum Poesiewettbewerb und Rollstuhlfechten unter der Ägide eines "Agincourt 600 Comittee". Aus solch überbordender Fülle ragt der vorliegende Band indes heraus: kein Jubiläumsschnellschuss, sondern eine parallel zur Londoner Ausstellung "The Battle of Agincourt" mit Sorgfalt und Bedacht erstellte Sammlung von Beiträgen aus der Feder von Kennern der Materie unter drei Leitthemen "The Road to War – The Battle – Aftermath and Legacy". Was aber schon vor der Lektüre auf den ersten Blick besticht, ist die durchgängig farbige, z. T. großformatige Bebilderung in vorzüglicher Qualität und deren nicht minder vorzügliche Kommentierung; angesichts dessen und einer bis ins Layout ansprechenden Aufmachung hat der Preis des Bands fast als günstig zu gelten. ...
Auf diese Idee muss man erst einmal kommen. Gibt es für Historiker etwas Banaleres als Schuhe, um den Charakter des Nationalsozialismus zu entschlüsseln? Geht das überhaupt? Ja, es geht, und es geht sogar ganz großartig, jedenfalls wenn man so viel Einfallsreichtum, Sorgfalt und Mühe aufwendet wie Anne Sudrow, die dafür 2010 zu Recht mit dem Preis des Historikerverbandes ausgezeichnet worden ist. ...
Freundschaftsvorstellungen des Mittelalters und die politisch-soziale Bedeutung der Freundschaft sind keine "jungen" Gegenstände mehr: Schon in den 1990er Jahren unterstrich Gerd Althoff die Bedeutung der hochmittelalterlichen amicitiae, und seinen Pionierarbeiten folgten weitere Studien, die das Mittelalter räumlich und zeitlich recht breit erfassten. In dieser Forschungslandschaft müssen sich neue Beiträge entsprechend sorgfältig positionieren. ...
Das hier zu besprechende Buch könnte durchaus im Regal der Ratgeberliteratur stehen, wo es von einem klugen Buchhändler unter Titeln wie "Easy self-business" oder "Einmaleins des modernen Karrieremanagement" eingeordnet wurde. Dabei handelt der Band gar nicht von den Schremps, McKinseys oder Kerrys unserer Tage. Seine Helden gehörten stattdessen allesamt dem vornehmsten Gremium der heiligen römisch-katholischen Kirche an, waren erfolgreich bei ihrer "Jagd nach dem roten Hut", sind einmal im Zeitraum zwischen 1500 und 1800 von Päpsten zu Kardinälen kreiert worden. Durch die Art und Weise jedoch, wie in diesem Sammelband ein gutes Dutzend purpurrote Kurienkarrieren aus dem Zeitalter des Barock nachgezeichnet werden, treten soziale Muster und Gesetzmäßigkeiten, persönliche ‚hard‘ und ‚soft skills‘ zutage, von denen man einige für verblüffend aktuell halten mag – Faktoren und Fähigkeiten, die auch heute noch nach oben befördern, und dies längst nicht nur auf Kirchentreppen. Ein solcher Befund könnte im allzu seriösen Geschichtswissenschaftler den Verdacht schüren, hier handle es sich um triviale Rückprojektionen einer viel späteren Zeit in doch so ganz andere geschichtliche Epochen hinein. Aber gerade das Gegenteil ist der Fall. Denn die Wahrnehmung historischer Alterität wird in der Einführung des Herausgebers als geradezu konstitutiv für das angewandte historiographische Konzept erklärt: Ihr hohes Credo der Unterhaltsamkeit ("Wir wollen den Leser über das Leben in der Vergangenheit informieren und ihm dabei die Beschäftigung mit dieser Vergangenheit so leicht, so angenehm, so unterhaltsam wie möglich machen", S. 7) können die Autoren erklärtermaßen nämlich nur dann erfüllen, wenn sie das "Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart" (S. 8) wirklich herausarbeiten, also die historisch fernen Wertesysteme, Etiketten und Rahmenbedingungen aus ihrer Zeit heraus zu verstehen suchen und in ihrer ganzen Gegenwartsdifferenz auch deutlich machen. Dass am Ende dem heutigen Leser dann doch so vieles bekannt und karrieretechnisch immer noch brauchbar erscheint, spricht nicht allein – aber auch – für katholisch-konfessionskulturelle Genialität im Umgang mit anthropologischen Konstanten. Jedenfalls mag das durchweg herzerfrischend geschriebene Buch aufgrund einer solchen Aktualität seinen Weg nicht nur auf die Schreibtische der gelangweilten Zunft, sondern auch auf die Nachttische der schlaflosen Aufsteiger von heute finden! ...
"Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird." Der berüchtigte Aphorismus sollte Historikerinnen und Historiker nicht von der Beschäftigung mit "Monstern" und dem "Monströsen" abhalten, versprechen diese doch zahlreiche Einsichten. Auch wenn nicht jeder gleich eine eigene Disziplin der "Monster Studies" anstreben wird, wie Mittman es in seiner programmatischen Einleitung mit Augenzwinkern formuliert (S. 1f.), eröffnet ein teratologischer Blick der kulturhistorischen Analyse originelle und weiterführende Perspektiven auf normative Diskurse und Selbstzuschreibungen. Monster mögen aus modern-rationalistischer Sicht nicht zuletzt als Wesen erscheinen, die ein lediglich imaginiertes Dasein führen (so ein Vorschlag für einen "Minimalkonsens", mit dem Dendle sein Fazit enden lässt, S. 448), aber dies macht sie doch keineswegs zu rein imaginären Wesen. Vielmehr spiegeln sie in subversiver Unterwanderung die Bruchstellen und Probleme, die jeder Komplex identitärer Selbstzuschreibungen angesichts systemisch nicht integrierbarer Kontingenzen aufweist.
Philipp der Schöne drohte stets ein wenig unterzugehen zwischen dem Glanz seiner burgundischen Vorgänger von Philipp dem Kühnen bis Karl dem Kühnen, den Memorialleistungen seines Vaters Maximilian, des "letzten Ritters", und dem weltumspannenden Ausgreifen Kaiser Karls V. In den letzten Jahren aber wurde er zunehmend aus diesem Schattendasein befreit: Bereits 2003 erschien eine magistrale Biographie aus der Feder J.-M. Cauchies’, 2006 bot Philipps 500. Todestag den Anlass zu einer Ausstellung der Königlichen Bibliothek in Brüssel. Begleitet wurde dieses Projekt von dem hier vorzustellenden Katalogband, wobei der Rezensent die Ausstellung selbst bedauerlicherweise nicht besuchen konnte. ...
Die Reflexion über das Verhältnis von Mittelalter und Moderne stellt zwar keine ganz neue Thematik dar, aber man darf man sich beim zu besprechenden Band zunächst getrost den begleitenden Worten von Terry Jones (Monty Python) anschließen: "It’s a feast of literature and medievalism. I hope you enjoy it." Wenn der Genuss in der Folge doch nicht ganz uneingeschränkt ist, so liegt dies keineswegs an der Qualität der versammelten Beiträge. Vielmehr wird man schlicht bedauern, dass just Terry Jones, der im Juni 2013 auf der Tagung an der Universität von St. Andrews vortrug, aus der dieser Seamus Heaney gewidmete Band hervorging, seinen Beitrag nicht zum Druck brachte. ...
Der Protestantismus ist die Konfession des Wortes, Bilder bzw. bildliche Darstellungen als Visualisierungen von Glaubensinhalten haben deshalb per definitionem weder im Calvinismus noch im Luthertum Bedeutung. Mit dieser vereinfachten Charakterisierung, die sich im Fachpublikum ebenso wie unter interessierten Laien lange gehalten hat, setzt sich das Buch von Bridget Heal, Reformationshistorikerin an der Universität St. Andrews, in einer beeindruckenden Analyse der Entwicklungen für das Luthertum auseinander. ...
Der Titel lässt eine Behandlung von Streitschriften und anderen Zeugnissen aus der Zeit des großen abendländischen Schismas erwarten, mit denen sich Vertreter der zwei bzw. drei Obödienzen positionierten und einander bekämpften. Doch vor die Quellen hat die Verfasserin die Theorie gesetzt: Ohne Habermas, Bourdieu und Foucault kein Jean Gerson, Simon de Cramaud oder Nicolas Eymerich. Man wähnt sich anfangs weniger in der Welt der Pariser Universität und der avignonesischen Kurie um 1400 als im soziologischen und literaturtheoretischen Oberseminar (die klassische Ideengeschichte wird kurzerhand als "très périmée" beiseite geschoben [S. 13]) und fürchtet, zumindest als nicht eben theorieversessener Historiker, schon den anstehenden Marsch durch entsprechende Textwüsten, zumal die Autorin expressis verbis einen anderen Ansatz als Hélène Millet vertritt, die sich mit ihren – am Dictum Lucien Febvres "Et l’homme dans tout cela?" orientierten – biografischen und prosopografischen Arbeiten um die Erforschung des Schismas bekanntlich sehr verdient gemacht hat: "Hélène Millet aime cerner les hommes du temps, quand j’aime scruter les textes" (S. 16). ...
"Dies sei die Geschichte eines Buches, es ist ein Buch über ein Buch". Mit diesen Worten eröffnet Cecilia Hurley ihre voluminöse und detailreiche Untersuchung zu Aubin-Louis Millins "Antiquités nationales ou Recueil des monumens pour servir à l’Histoire générale et particulière de l’Empire françois […]" (1790–1798). Der Verfasser verband mit dessen Veröffentlichung die Absicht, all die französischen Denkmäler und Bauwerke, denen nach ihrer Verstaatlichung durch die Nationalversammlung der voreilige Verkauf, Plünderungen und ikonoklastische Zerstörung drohte, zu retten, indem er sie abbildete und beschrieb. Am Ende lag eine präzise Dokumentation von historisch bedeutsamen französischen – also der Nation gehörenden – Denkmälern vor, die sowohl in Paris als auch in den Provinzen bzw. Departements zu sehen waren. Ebenso wurden aber einige aufgeführt, die bereits zerstört worden waren. Das fünfbändige Werk umfasste 23 Hefte, erschien bis auf wenige Ausnahmen im Monatsrhythmus und enthielt rund 325 Abbildungen. Millins Anliegen war es, allen "wahrhaftigen" Staatsbürgern die Geschichte Frankreichs vor Augen zu führen. Allerdings handelte es sich um keine exklusiv monarchische, kirchliche oder familiengenealogische Geschichte, sondern vielmehr um eine, die sich ebenso aus den bedeutsamsten wie auch aus zweitrangigen Geschehnissen zusammensetze. Die in den 61 Artikeln illustrierten Denkmäler – in primis die niedergerissene Bastille, gefolgt von Klöstern, Abteien, Schlössern sowie den in ihrem Innern befindlichen Denkmälern wie Grabmälern, Inschriften, Kirchenfenstern etc. – fungieren in Millins Werk als strukturierende Elemente, um die herum sich historische Erzählungen und Anekdoten ranken. Diese nämlich standen nicht im Mittelpunkt künstlerischer oder architektonischer Betrachtungen. Als Zeugnisse der Vergangenheit boten sie der Geschichte aber doch ihren Stoff: Es ging eben um monuments historiques. ...
Celia Applegates neues Buch erzählt die Vorgeschichte eines überdeterminierten Ereignisses: der Aufführung einer gekürzten Version von J. S. Bachs Matthäus-Passion in Berlin 1829. Das Ereignis hatte viele (mögliche) Bedeutungen. Biografisch markierte es den Durchbruch Felix Mendelssohn Bartholdys als ernsthafter Akteur auf der Berliner, deutschen (und internationalen?) musikalischen Bühne. Musikalisch brachte es die Wiederentdeckung Bachs als Vokalkomponist, auf die eine bis 1833 andauernde Aufführungswelle und Neueditionen folgten. Allgemeinhistorisch könnte man argumentieren, dass Bach 1829 zum 'deutschen Erinnerungsort' wurde, der künftig eine Ikone des deutschen Kulturnationalismus, in dem die Musik bekanntlich eine Schlüsselrolle spielte, darstellte. Applegate geht es dagegen vorwiegend darum, 1829 als Endpunkt darzustellen: die Aufführung brauchte "einen Saal, eine Partitur, Sänger, Instrumentalisten, einen Dirigenten, ein Publikum" (173) - warum kamen die ausgerechnet 1829 zusammen? Sie schildert fünf Entwicklungsstränge, die in Berlin zusammenliefen. Mendelssohn Bartholdy konnte sich durch das relativ risikofreie Experiment einer Aufführung historischer Musik 1829 - nach einer gescheiterten Opernpremiere, einer Reise nach Paris und einer Wanderung durch Deutschland - in einer besonderen Weise präsentieren: als Experte für nationale, respektable, religiöse Musik. Letztlich bleibt aber auch nach Applegates Recherchen offen, welchen genauen Anteil an der Konzertplanung Mendelssohn, Carl Friedrich Zelter und Eduard Devrient hatten. Zweiter Punkt: die allmähliche Erhebung der Musik von einer Quelle bloßer, schwer analysierbarer und national unspezifischer Unterhaltung zu einer ästhetischen Form des Ausdrucks, der Kommunikation und Artikulation nationaler Besonderheit fand in philosophischen Debatten vor allem um und nach 1800 statt. Drittens profitierte die Aufführung von einer wachsenden, protestantisch geprägten, nord- und mitteldeutschen Musikpresse. Vor allem Adolf Bernhard Marx und seine Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung veranstalteten zugunsten Bachs und des Berliner Konzerts eine regelrechte publicity-Kampagne, der es auch darum ging, dem Publikum die wahre Bedeutung des Stückes (und die 'richtige' emotionale Reaktion) nahe zu bringen. Der Chor, der in Berlin auftrat, bestand aus Männern und Frauen. Das war zwar musikalisch nicht völlig neu, aber bei Aufführungen von Kirchenmusik hatte es das bislang nicht gegeben. Entscheidend war, dass es ein besonderer Chor war: eine Ansammlung musikalischer Laien in der Berliner Singakademie, die selten öffentlich auftraten und somit in doppelter Hinsicht einen Gegenpol zu weiterhin unter einem gewissen Prostitutionsverdacht stehenden weiblichen 'Bühnen-Profis' bildeten. Schließlich hatte die mit den preußischen Kirchenwirren verbundene Krise der protestantischen Kirchenmusik Bach im Besonderen und Kirchenmusik im Allgemeinen für eine säkulare (oder doch zumindest säkularere) Verwendung freigegeben, die zugleich erlaubte, Bach konfessionell zu delokalisieren und auch für ein katholisches deutsches Publikum annehmbar zu machen. Das elegant geschriebene Buch liefert einen sehr bemerkens- und bedenkenswerten Beitrag zur Musik-, Kultur- und Nationalismusgeschichte des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts in Deutschland. Mäkeln kann man natürlich immer: etwa, indem man fragen würde, ob der Rückgriff auf Mack Walkers eher statisches Bild der deutschen Gesellschaft (vgl. 61, 67) wirklich besser zu Applegates Interpretation passt als neuere Portraits einer dynamischeren, mobileren Gesellschaft [1], oder ob nicht auch der Blick auf nationale Vorstellungen um 1800 ein weniger stärker hätte differenziert werden können. Das ändert freilich nichts daran, dass man selten ein so kluges, spannendes, konzises und wohlproportioniertes Buch lesen wird. Anmerkung: [1] Vgl. Theodore Ziolkowski: Berlin. Aufstieg einer Kulturmetropole um 1810, Stuttgart 2002; Helga Schultz: Das ehrbare Handwerk: Zunftleben im alten Berlin zur Zeit des Absolutismus, Weimar 1993; Lothar Gall: Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989.
Welche Formen der menschlichen Interaktion können für das demokratische Athen des 5. und 4. Jhs. v. Chr. rekonstruiert werden und in welche normativen Konzepte und sozialen Regelwerke waren sie eingebettet? Der von Christian Mann, Matthias Haake und Ralf von den Hoff herausgegebene Sammelband behandelt diese Fragestellungen auf einer interdisziplinären Ebene und beinhaltet die Beiträge zu einer altertumswissenschaftlichen Tagung, die im November 2006 an der Universität Freiburg im Breisgau veranstaltet wurde. Wie bei Tagungsbänden üblich stellt sich auch hier für den Rezensenten bereits beim Blick auf das Frontispiz die zentrale Frage: Fügen sich die einzelnen Beiträge sinnvoll in das übergeordnete Konzept und in den bereits im Titel angekündigten methodischen Rahmen? Inwiefern wurde also im vorliegenden Fall den Fragen nach "Rollenbildern" nachgegangen, und welche konzeptuellen Entwürfe werden von den jeweiligen Autoren angeboten, um die programmatischen Begriffe "Medien", "Gruppen" und "Räume" jeweils einzeln, aber auch in ihren Beziehungen zueinander zu fassen? ...
Prostitution war Anfang des 20. Jahrhunderts für Frauenrechtlerinnen kein selbstverständlicher Programmpunkt. Als 1902 auf dem Pariser congrès du travail féminin zwei Teilnehmerinnen versuchten, das Thema einzubringen, sorgte der Vorstoß für Heiterkeit und stieß unmissverständlich auf Ablehnung. Die Damen täten dem Feminismus Unrecht, wenn sie über Prostitution genauso debattieren wollten wie über Malthusianismus, lautete ein Zwischenruf. Ohne Zweifel fürchteten viele Frauen, ihrem Streben nach Gleichstellung zu schaden, wenn sie sich in der Öffentlichkeit für die Rechte "leichter Mädchen" einsetzten. Wer zu viel über den Alltag und die Probleme von Prostituierten wusste, machte sich verdächtig und riskierte, den eigenen Ruf zu beschädigen. Umso erstaunlicher ist es, dass es schon Mitte des 19. Jahrhunderts Frauen gab, die das Thema dennoch aufgriffen und die staatliche Reglementierung des Gewerbes in Frage stellten. ...
Der Zweite Weltkrieg und die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik in den besetzten Gebieten haben im öffentlichen Bewusstsein der europäischen Nationen tiefe Spuren hinterlassen. Auschwitz - inzwischen als Symbol für die Ermordung der Juden verstanden - scheint zum negativen Referenzpunkt einer gesamteuropäischen Identität zu werden. Eine solche Globalisierung vergangenheitspolitischer Deutungsangebote verdeckt jedoch, dass die Mehrzahl fachwissenschaftlicher Studien zum kollektiven Erinnern und Gedenken immer noch in den nationalen Diskursen verankert ist. Oder positiv gewendet: Die Zeit globaler und international vergleichender Studien hat gerade erst begonnen. ...
Historikerkommissionen haben sich zu maßgeblichen Institutionen im öffentlichen Umgang mit Geschichte entwickelt. Nicht nur Ministerien, auch Unternehmen, Stiftungen, Verbände oder Vereine beauftragen Gruppen professioneller Historiker, wenn es darum geht, sich mit Themen der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, die in einer breiteren Öffentlichkeit als brisant erachtet werden. Vor allem seit den 1990er-Jahren haben Historikerkommissionen an Bedeutung gewonnen – und dies ist kein Zufall. Erstens entstand nach der politischen Wende 1989/90 in den Ländern Mittel- und Osteuropas die Möglichkeit und Notwendigkeit, sich mit den untergegangenen kommunistischen Diktaturen zu beschäftigen. Zweitens rückte aber auch in Westeuropa die Verantwortung für die Massenverbrechen des Nationalsozialismus und des Faschismus stärker als zuvor in den Fokus der Öffentlichkeit, da der gesellschaftliche Einfluss derjenigen Eliten und Bevölkerungsteile nachließ, die die Zeit vor 1945 aktiv mitgestaltet hatten. Die daraus folgenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Deutung der Vergangenheit erhöhten das Bedürfnis nach geschichtswissenschaftlicher Klärung. ...
Zum 60. Jahrestag des Kriegsendes von 1945 haben sich die ehemaligen Kriegsgegner europaweit im Großen und Ganzen einträchtig ihrer Opfer erinnert. Ein solch harmonisches Bild ist nicht selbstverständlich und auch nicht allerorts gegeben. Die neuerlichen Aufregungen rund um das geplante Zentrum gegen Vertreibung bestätigen, dass im erinnerungspolitischen Bereich zwischen der Bundesrepublik und ihren westeuropäischen Nachbarn noch immer mehr Gemeinsamkeiten bestehen als mit den Staaten Mittel- und Ostmitteleuropas. Denn über die Frage der Massenverbrechen der Nationalsozialisten hinaus ist noch der Streitherd von "Flucht und Vertreibung" zu klären. Die Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission hat es sich zur Aufgabe gesetzt, die strittigen Punkte im deutsch-tschechischen bzw. deutsch-slowakischen Verhältnis der letzten anderthalb Jahrhunderte zu erforschen – ihr verdanken wir den vorliegenden Sammelband. Die Herausgeber folgen dabei dem Programm einer "Europäisierung des historischen Gedächtnisses", also der Erarbeitung einer Erinnerungslandschaft im europäischen Kontext. Durch weitere Aufklärung über die konkreten Entwicklungen und Schwierigkeiten innerhalb der Erinnerungsgeschichte der letzten 50 Jahre soll der Band dafür Grundlagen schaffen und "vorläufige Ergebnisse zu ausgewählten Forschungsthemen" bieten (S. 16f.). ...
Gerhard Ritter zählt zu den wichtigsten bundesdeutschen Historikern der Nachkriegszeit, doch bislang gab es keine Biographie, die sein gesamtes Werk und Leben darstellte. Diese Lücke hat Christoph Cornelißen nun mit seiner voluminösen und gut lesbaren Habilitationsschrift geschlossen. Cornelißen stellt in drei Teilen "Lehrjahre und akademische Kultur bis 1933", "Historisch-politisches Denken und Handeln 1933-1945" und "Revision und Traditionspflege seit 1945" dar, in denen er Kontinuität und Wandel der Fragestellungen sowie der politischen Zielsetzungen von Ritters historiographischer Arbeit nachspürt, dem politischen und gesellschaftlichen Hintergrund, vor dem seine Texte entstanden sind und auf den sie Bezug nahmen, der Resonanz seines Werks und schließlich den Möglichkeiten und Schwierigkeiten, dem methodischen Postulat der "Objektivität" gerecht werden zu können. ...
Den "vagabundierenden Blick" zwischen den verschiedenen Teilbereichen der modernen Geschichtswissenschaft will der Sammelband vermitteln. Das Ergebnis präsentiert sich jedoch als ein verwirrendes und wenig kohärentes Nebeneinander von umfassenden methodischen Zugriffen und spezialisierten Teilfeldern. ...
Nicht das Phänomen ist außergewöhnlich, das Thévénaz Modestin in ihrer Studie detailliert analysiert, sondern vielmehr die Tatsache, dass sie es trotz mancher Verluste im Original aufgrund einer glücklichen Quellenlage so präzise nachvollziehen kann: Es handelt sich um die Vereinigung der beiden Teile einer Doppelstadt, hier der bischöflichen Cité und der bürgerlichen Ville inférieure , die in Lausanne bis 1481 zwei in ihrer Verfassung getrennte Gemeinschaften bildeten. Doppelstädte dieser Art, die sich häufig durch die Gründung einer Neustadt neben einer bereits vorhandenen Anlage bildeten, sind weithin bekannt. Nur zu häufig wird man aber die Umstände der Vereinigung, die nach unterschiedlicher Dauer der Koexistenz und zum Teil auch Rivalität durchgeführt werden konnte, lediglich summarisch erhellen können, so dass mancher Aspekt der Prozesse im Dunkeln bleibt, die mit der Zusammenlegung zweier Rechtseinheiten verbunden waren. ...
"Das Private ist politisch", lautete ein Slogan, unter welchem die deutsche Frauenbewegung ab 1968 eine Auseinandersetzung mit der etablierten Geschlechterhierarchie einforderte. Und politisch ist das Private auch nach Dagmar Herzog, die mit dem vorliegenden Band einen gelungenen Überblick über die Geschichte der Sexualität in Europa liefert. Seien es Fragen der Empfängnisverhütung, Homosexualität, Pornographie, Vergewaltigung oder der Geschlechtskrankheiten, stets waren die nationalen Regierungen unweigerlich involviert, weil sie nicht umhin kamen, Regelungen zu fixieren und somit Verhaltensmuster vorzugeben oder diesen mit der juristischen Rahmenordnung zu folgen. Das Buch reicht aber weiter, indem es sich auch die Rekonstruktion sexueller Ethiken zum Ziel setzt: Welche Gedanken und Empfindungen waren mit Sexualität verbunden, was löste Ängste aus, was wurde bekämpft? Inwiefern änderte sich die Einstellung der Gesellschaften im Laufe des Jahrhunderts? Denn letztlich ging es immer wieder aufs Neue um die Deutungshoheit, was richtig und was falsch ist. ...
Vor einigen Jahren hat sich eine Gruppe jüngerer französischer und tschechischer Historiker zwar nicht gleich zum Kreuzzug, so doch zur Widerlegung der Doktrin von Gralshütern des reinen Kreuzzugs zusammengetan, nach der das Ende der Bewegung mit dem Tunisunternehmen Ludwigs des Heiligen und dem Fall Akkons 1291 besiegelt gewesen sei. Die Aktivitäten dieses Kreises haben ihren Niederschlag in bislang vier Bänden einer Reihe gefunden, die sich mit ironischem Seitenblick auf besagte Gralshüter "Croisades tardives" nennt (vgl. S. 5). Hatten eigentlich bereits die Arbeiten von Nicolae Iorga, Aziz Atiya und Kenneth Setton den Nachweis erbracht, dass es sich bei jenen "späten" Unternehmen keineswegs um einen sinnentleert-kostümierten "Triumph der Dekadenz" (Hans Eberhard Mayer) handelt, so gebührt in unseren Tagen u. a. Norman Housley und Jacques Paviot – einem der Initiatoren der Forschergruppe – das Verdienst, die natürlich sich ändernde, so doch fortwährende Wirkkraft und die vielfältigen Facetten der Kreuzzugsidee bis in die frühe Neuzeit hinein aufgezeigt zu haben. Und ebendies bestätigen jetzt erneut die von Finanz- und Organisationsfragen handelnden Beiträge des vorliegenden Bands. Wenn es um so handfest Konkretes wie Planung und Ausrüstung und vor allem um den pekuniären nervus rerum ging, blieb für vage Ritterromantik und nostalgische Mythenbeschwörung kein Platz. ...
Wohl kaum ein(e) Mittelalterhistoriker(in) kann umhin, bei der Lektüre des folgenden Satzes die Augen zu verdrehen: "Für alle, ob jung oder alt, gehören die Burgen zum 'schönen' Mittelalter" (S. 36). Eine solche Reaktion erklärt sich aus der Situation, in der wir Mittelalterhistoriker oft stecken: Kommentare wie, "Ich war vor kurzem auf einem Mittelaltermarkt/einer Burg. Das müsste Dich doch interessieren …" gehören wohl zum nichtwissenschaftlichen Alltag jedes Mitglieds unserer Spezies. Das ganze Studium über wurde man von Juristen, Politologen, Zeitgeschichtlern etc. belächelt, die dachten, sie würden die Welt verstehen, weil sie sich etwas intensiver mit den bundesrepublikanischen Gründervätern auseinandergesetzt hatten, einige UN-Abkürzungen mehr konnten und tatsächlich glaubten, mit der pax americana habe die erste Hegemonialmacht das Licht der Welt erblickt. Gerade als Mittelalterhistoriker(in) fällt einem immer wieder auf, wie viele Leute denken, sie hätten Verständnis für das Funktionieren menschlicher Gesellschaften, nur weil sie sich einen oberflächlichen historischen Überblick über das 20. Jahrhundert angeeignet haben. Nur selten sehen solche Leute, dass die Mittelalterwissenschaften – über Burgen und Ritter hinaus – massenhaft Themen zu bieten haben, ohne die unsere heutige Welt nicht verständlich wäre. Auf diesem Hintergrund erklärt sich die oben beschriebene, vorschnelle Reaktion auf Jacques Le Goffs Einführung ins Mittelalter für Kinder, die mit Rittern, edlen Frauen, Burgen, Kathedralen, Kaisern, Päpsten, Königen etc. aufwartet, dem klassischsten aller Mittelalterbilder. Denn gerade dieses Bild ist es, dass Nichtspezialisten über diese ach so archaische und primitive Zeit lächeln lässt, in der man ja tatsächlich noch auf Eseln oder Pferden ritt, noch religiös war und außerdem noch Hungersnöte kannte. Man sieht ja täglich in den Nachrichten, wie wunderbar wir die Probleme der Menschheit – viele schon im Mittelalter bekannt – in den Griff bekommen, wie weit wir uns von unseren "archaischen Wurzeln" entfernt haben …
Hans von Hentig war ein impulsiver Abenteurer mit wenig Respekt vor Autorität. Und er war ein extrem schreibfreudiger Wissenschaftler, der zu den Begründern einer modernen, durch die Verbindung juristischer und medizinisch-psychologischer Kenntnisse und Zugänge bestimmten Kriminologie gehörte. Hans von Hentig wurde 1887 als Sohn des Rechtsanwalts Otto Hentig geboren. Dieser hatte zunächst in Berlin praktiziert, bevor er als Spezialist für Wirtschaftsrecht 1893 zum Verwalter der Güter Karl Egon IV. zu Fürstenberg und 1900 zum Staatsminister des Herzogtums Sachsen Coburg und Gotha wurde; letzteres Amt brachte der Familie die Nobilitierung ein. ...
Muss man eine Geschichte der Ritterschaft bei den Germanen des Tacitus beginnen? Man muss, wenn man wie Dominique Barthélemy davon überzeugt ist, dass die gegenwärtig noch herrschende Theorie von der "Erfindung der Ritterschaft" ("l’invention de la chevalerie") um 1100 in Frankreich allzu sehr von Nationalstolz und ideologischen Interessen genährt worden sei, um als historische Wahrheit akzeptiert zu werden. ...
Die gesammelten Briefe des Peter von Blois waren ein außerordentlich erfolgreiches Werk, in mehr als zweihundert Handschriften bis ins 15. Jh. weit verbreitet, 1519, 1600, 1667 gedruckt und in dieser letzten Fassung Vorlage für die bis heute einzige Gesamtausgabe im 207. Band von Mignes Patrologia latina . Diesem Briefwerk verdankt Peter seinen Ruf, und trotz moderner Kritik am unvollkommen und unsystematisch gebildeten, zum Plagiat neigenden Urheber sind sie doch eine erstrangige, äußerst vielseitige Quelle für die westeuropäische Geschichte der zweiten Hälfte des 12. Jhs., bieten nicht nur Material für die Bildungs- und Kulturgeschichte, für das Studium höfischen Lebens, für die Charakteristik der Monarchie Heinrichs II., sondern reflektieren eine ganze Welt mit ihren Veränderungen in den persönlichen Erfahrungen einer ehrgeizigen, an vielen Machtzentren mit Großen der Zeit verbundenen Hochbegabung, die in ihren Erwartungen jedoch oft enttäuscht worden ist. Peter von Blois war gewiss kein origineller Kopf, aber ein großer Vermittler der Wissenschaft seiner Zeit an die Höfe der Bischöfe und an alle, die lateinischen Ausdruck auf hohem Niveau beherrschen wollten, ein intellektueller Repräsentant seiner Epoche, dem wir das beste zeitgenössische Porträt König Heinrichs II. verdanken und die kulturgeschichtlich überaus wertvolle Hofkritik (hier Nr. 49). ...
Das Thema Krieg und Gewalt hat in den vergangenen zwei Dekaden in den verschiedenen kulturwissenschaftlichen Disziplinen eine neue Aufmerksamkeit erlangt. Der Schwerpunkt lag dabei vor allem auf den Kriegen der Moderne und Gegenwart, während Gewalt in ihren verschiedenen Erscheinungsformen einen Untersuchungsschwerpunkt der Frühneuzeitforschung bildet. Der hier vorzustellende interdisziplinäre Sammelband, der aus einer Sektion des Konstanzer Historikertages von 2006 hervorgegangen ist und um drei Aufsätze erweitert wurde, positioniert sich an der Schnittstelle dieser beiden Forschungsfelder Krieg und Gewalt und bietet durch die Fokussierung auf visuelle Repräsentationen zugleich eine Öffnung der Geschichtswissenschaften hin zu bildwissenschaftlichen Fragestellungen. Damit leistet er einen wichtigen Beitrag zur frühneuzeitlichen Kriegsgeschichte und ihren bildlichen Darstellungen im Medium der Sprache und der Bilder, einem besonders in der deutschsprachigen Forschung nach wie vor zu wenig beachteten Thema. ...
Hypothese 1: Ein Verleger hat eine Idee. Es fehlt auf dem Markt ein handliches Buch über die antiken Theater, griechische wie römische. Ein älteres Buch mit dem Titel "Antike Theater in Attika und auf der Peloponnes" ist vergriffen, der Verlag des genannten Buchs hat seine Produktion eingestellt. Der Autor wird gefragt, ob er nicht sein Buch in erweiterter Form neu auflegen möchte. – Hypothese 2: Ein Autor hat ein Buch unter dem Titel "Antike Theater in Attika und auf der Peloponnes" 1996 beim tuduv-Verlag in München herausgegeben. Das Buch ist inzwischen vergriffen, der Verlag hat seine Produktion eingestellt. Der Autor fragt bei einem anderen Verlag an, ob Interesse an einer Neuauflage besteht. Er erhält eine positive Antwort, wird aber aufgefordert, den Inhalt des Buchs zu erweitern und Theater außerhalb der genannten Landschaften zusätzlich zu berücksichtigen.
Keine Hinweise erlauben es dem Rezensenten, sich für die Gültigkeit der einen oder der anderen der beiden Hypothesen zu entscheiden. ...
So verlockend der Begriff der Grenze angesichts der Aufmerksamkeit sein mag, die er in mediävistischen Publikationen der letzten beiden Jahrzehnte genießt, als Kernvokabel des vorliegenden Bandes darf man ihn nicht allzu stark beim Wort nehmen: Zwar blicken die versammelten 18 Beiträge aus dem Zeitraum von 1919 bis 1993 immer wieder auf Phänomene, die stark durch die Verortung in geographischen und kulturellen Grenzsituationen geprägt sind. Als eigentliches Thema wird aber – der Ausrichtung der ganzen Reihe entsprechend, die auf ambitionierte 14 Bände angelegt ist – die "(latein-)europäische Expansion" zwischen 1000 und 1500 bestimmt, welche die Herausgeber als Vorstufe der modernen Globalisierung ausweisen (S. XII). Eingangs avanciert gleichwohl Frederick Turner mit seiner berühmten "frontier"-These zur Leitfigur, und seine Auftritte ähneln durchaus der Charakteristik, die Robert I. Burns in seiner prägnanten Zusammenfassung der aragonesischen Verhältnisse des 13. Jahrhunderts einleitend präsentiert: "... a kind of vampire, killed on many a day with a stake through his Thesis, yet ever undead and stalking abroad" (S. 53). ...
Es ist schon merkwürdig: Für keines der großen Konzilien des Spätmittelalters schien in den letzten Jahren eine Gesamtdarstellung so nah wie im Fall des Pisanum. Dieter Girgensohn und Hélenè Millet legten eine Fülle von Einzelstudien vor, doch keiner der beiden goss sie in die Form eines opus magnum, sieht man von einem Aufsatzband der französischen Kollegin ab. Durch Mona Kirsch erfuhr die Synode 2016 eine zwar viele Facetten erfassende Würdigung im Rahmen einer ritualgeschichtlich grundierten Geschichte des allgemeinen Konzils im Spätmittelalter, zu der für sie aber die auf Pisa folgenden und damit eng verbundenen Versammlungen von Konstanz und Basel nicht gehörten. Und nun erklärt Florian Eßer gleich mehrfach, bei seinem hier anzuzeigenden, immerhin 874-seitigen Werk handele es sich keinesfalls um eine Gesamtdarstellung. Was die Frage aufwirft, wer angesichts einer solch zerklüfteten Landschaft partieller Monumente das finale Wagnis überhaupt noch angehen mag.
Am ehesten wohl Florian Eßer selbst, der eine auf umfassender Kenntnis der ungedruckten wie gedruckten Quellen beruhende und die gesamte Forschung zum Thema rezipierende Studie vorgelegt hat, die weniger als Dissertation – die sie ist – denn fast schon als Habilitationsschrift gelten darf. Nur wünscht man sich und ihm, dass er sich künftig in der Kunst des Kürzens und Streichens übt. Denn hier wird viel in der Sache wohlgemerkt Treffendes derart breit bis in die feinsten Einzelheiten und Verästelungen ausgeführt, ja ausgewalzt, dass dem Autor am Ende dabei offensichtlich selbst nicht mehr so recht wohl war, widmet er sein Opus doch Freundin, Eltern und Freunden, "auch wenn (beziehungsweise weil) sie es vermutlich nie lesen werden" (S. 14). ...
Wer Eugenik als "bürgerliche Pseudowissenschaft" oder "präfaschistisches" Element abtut, wird der Komplexität dieses historischen Phänomens nicht gerecht. Spätestens seit Michael Schwartz die Affinitäten zwischen deutschem Sozialismus und eugenischer Sozialtechnologien für die Jahre vor 1933 nachwies, steht außer Frage, dass diese Wissenschaftsbewegung unabhängig von der nationalsozialistischen Rassenhygiene analysiert und interpretiert werden muss. Nicht zwangsläufig war eugenisches Gedankengut mit rechtslastigen, rassistischen Ideologien verknüpft, auch im linken Lager fanden die Ideen Anklang. Dass es sich um keine homogene Strömung handelte, hat die internationale Forschung bereits aufgedeckt, indem sie je nach Nation ganz unterschiedliche Stilrichtungen ausmachte. Aufgrund der unterschiedlichen Wege, welche die Eugenik auf internationaler Ebene einschlug, bietet ihre Geschichte aber auch ein herausragendes Beispiel für die "soziopolitische Bedingtheit von Wissenschaftsentwicklung" (Michael Schwartz). Fasst man Eugenik als sozialtechnologisches Programm auf, das die Fortpflanzung bestimmter Bevölkerungsgruppen nach erbgesundheitlichen Kriterien zu steuern versucht, so wird zudem begreiflich, warum sich Anfang des 20. Jahrhunderts ein weltübergreifender Trend ausbildete, der nicht notwendigerweise Euthanasie oder rassistische Züchtung anvisierte, sondern auch auf eine Präventivmedizin zum umfassenden Erhalt der Volksgesundheit abzielen mochte. Die Historisierung der Eugenik ermöglicht es, diese als Wissenschaft neu zu bewerten und ihrem Verhältnis zu Genetik, Demographie, Psychologie und anderen Disziplinen nachzugehen. ...
Nein, Langeweile kommt bei Franck Collard nicht auf, ist er doch Historiker des Gifts und der Leidenschaft. Seit seinem Werk "Le crime de poison au Moyen Âge" greift er immer wieder das Problem des Einsatzes von Gift in der Welt des Spätmittelalters, vor allem im 15. Jahrhundert, auf; einem Saeculum, in dessen erster Hälfte – zumal in einem im Innern zerrissenen und vom Hundertjährigen Krieg heimgesuchten Frankreich – ebenso das Thema der "passions" eine zentrale Rolle spielt, dem er bereits 2015 die Studie "Politique des passions et anthropologie des pulsions à la cour de Charles VII" widmete . Eine Annäherung an Jeanne d’Arc unter solches Vorzeichen zu stellen lag nahe, einmal aufgrund besagter "passions au sens de déchirements" im Königreich, sodann angesichts von Johannas "passion au sens d’exaltation affective et d’amour extrême" wie auch – mit Blick auf ihren Prozess und Tod in Rouen – wegen ihrer "passion … au sens de souffrance sacrificielle" (S. 11). ...
Trotz des enggefassten Titels bietet die vorl. Arbeit mehr als nur eine Untersuchung der angesprochenen "Waldenserprozesse", die in den Jahren 1459–60 die Einwohner von Arras und über die Stadt hinaus auch die umgebenden Territorien erschütterten. In einem breiten Panorama versucht der Autor eine Neudeutung der Häretiker- und Hexenprozesse, die über eine rein ideologiekritische Analyse materieller Interessen der Verfolger hinausgeht. In drei großen Abschnitten zum "Trugbild der Verfolgung", zum "Weg der burgundischen Herzöge zur Souveränität" und zur "Logik der Inquisition" werden Ablauf und Umfeld der Prozesse entwickelt, in denen 34 Personen verschiedenster sozialer Situierung eines Paktes mit dem Teufel beschuldigt und als Ketzer verurteilt wurden. Von besonderem Interesse mag hier die über weite Gebiete ausgreifende Entwicklung des Imaginaire eines "Hexensabbats" sein, welche den behandelten artesischen Raum mit den Randgebieten Savoyens verbindet, wo ebenfalls die Figur des magischen Flugs auf einem Stock und des Bündnisses mit dem Teufel früh präsent wird. Grundlage der Ausführungen zu Arras sind u. a. der jüngst neu edierte "Waldensertraktat" des Johannes Tinctorius sowie die bereits von Hansen publizierte Recollectio casus, status et condicionis Valdensium eines anonymen Autors, der Mitglied des Inquisitionstribunals war und vielleicht mit Jacques du Bois identifiziert werden kann, dem Dekan des Domkapitels von Arras. Wie aber lässt sich die frenetische Verfolgung von randständigen Personen ebenso wie von städtischen Honoratioren erklären, die der Stadt als ganzer massive Nachteile brachte, da die unsichere Situation ihren Ruf soweit schädigte, dass auswärtige Händler den Kontakt vermieden? Folgt man Mercier, so stand mehr im Hintergrund als eine spontane Aufwallung religiösen Fanatismus’ oder der Versuch, sich einzelner Personen unter einem unangreifbaren Vorwand zu entledigen. Detailliert geht er dem Prozessverlauf nach (soweit dies angesichts der großen Brandverluste des lokalen Archivs möglich ist), über weite Passagen anhand der chronikalischen Überlieferung Jacques du Clercqs. Diese Quelle zeigt in Verbindung mit der anonymen Recollectio den Weg zu einem geradezu entgrenzten juristischen Verfahren auf, in dessen Verlauf das Wort der Angeklagten immer mehr an Zeugniswert verlor und lediglich das gesuchte Eingeständnis der dämonischen Verbindung als vollwertige und wahrheitsgemäße Aussage akzeptiert wurde. Wenn hier die üblichen Schranken und Vorsichtsmaßnahmen beim Einsatz der Folter fallen, so ist dies in erster Linie mit dem Stellenwert zu erklären, den die Vorstellung der Majestätsbeleidigung, der "lèse-majesté", erhält. ...
Für die Erforschung der spätantiken Herrscherideologie hat Andreas Alföldi (1895-1981) Grundlegendes geleistet. Ihm gelang es, bildliche Darstellungen zum Sprechen zu bringen und ihre Bedeutung für die Repräsentation der Kaiser zu verdeutlichen. In dieser Tradition bewegt sich der Tübinger Althistoriker (und zeitweilige Assistent Alföldis) Frank Kolb mit seinem hier anzuzeigenden Buch. Darin führt er die verstreuten, von verschiedenen altertumswissenschaftlichen Disziplinen vorangetriebenen Forschungen zur spätantiken Herrscherideologie zusammen, die er durch eigene Beiträge wesentlich beeinflußt hat. ...
Völlig zu Recht ist diese bei Jean-Bernard Marquette an der Universität Bordeaux 3 gearbeitete Dissertation mit dem "Prix de la fondation Charles-Higounet" der Académie nationale des sciences, belles-lettres et arts de Bordeaux ausgezeichnet worden, steht sie doch würdig in der guten regionalgeschichtlichen Tradition dieses großen Gelehrten, dessen Arbeiten und Methoden sich immer wieder mit der deutschen landesgeschichtlichen Forschung auseinandergesetzt haben. ...
Rezensionen über Festschriften laufen Gefahr, sich in Plattitüden zu ergehen. Denn die Gründe sowohl für den Charme als auch die Crux der Festgaben hängen eng zusammen: Dankbar möchte man der zu ehrenden Person ein Stück von dem zurückgeben, was diese Person zur Forschung beigetragen hat. Nun ist aber auch wissenschaftliches Schreiben ein kreativer Prozess und Erkenntnis und Relevanz fallen nicht auf einen gut gemeinten Wunsch hin vom Himmel, weil jemand Geburtstag hat. Auch dies ist eine Plattitüde, doch muss es erwähnt werden, da auch Heribert Müller, "sich solchen Ehrungen gegenüber Skepsis bewahrt [hat]". Wenn der Jubilar sich wenige Jahre nach der letzten Festgabe – betont keine Festschrift – zu seinem 70. Geburtstag nun doch mit einer solchen beschenkt sieht, wird er dies den Herausgeberinnen sowie Autorinnen und Autoren wohl in Hinblick auf diese in Umfang als auch Qualität überdurchschnittliche Festschrift gewiss nachsehen. ...