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Franz Kafka hat als Angestellter einer Versicherungsgesellschaft auf abstrakter Ebene immer wieder mit Odradeks zu tun, womit die Verunfallten gemeint sind, welche die Grenzen jeder Statistik sprengen und nicht mehr auf herkömmliche Weise in ein Muster übersetzt werden können. Kafkas Behörde, der AUVA, ist es darum zu tun, diesen Ausfall aus dem Sinngefüge nachträglich einzureihen und zudem vorausgreifend in verhütender Manier zu verhindern - womit zu Kafkas Zeit ein gesellschaftspolitisches Programm formuliert wird, welches zwar schon länger im Diskurs pendelt, sich nun aber in der Alltagswelt zu etablieren beginnt: "Die AUVA war in Habsburg das Prunkstück [...] eines Staates, in dem Krankheit und Unfall als gesellschaftsbildend gelten, weil sie, einmal als soziale Übel erkannt, zur Solidarität zwingen; eines Staates, [...] der 'Vorsorge' betreibt und seinem immer drohenden Ruin zuvorkommt, indem er präventiv tätig wird und zur Prävention verpflichtet; und der schließlich sämtliche Individuen versichert, um sich ihrer zugleich zu versichern - der sie also allesamt in ein statistisches Feld der Normen und Abweichungen integriert." Ein schwieriges Unterfangen, denn wie ist ein Unfall, der als ein solcher per se im toten Winkel stattfindet oder diesen gar erst etabliert, mit statistischen Mitteln überhaupt zu beschreiben, wie einzuordnen - dies die Fragen, die ein soeben erst entstehender Versicherungsdiskurs sich stellt und die Kafka dann am heimischen Schreibtisch in Form seiner Schreibprojekte immer wieder künstlerisch dekliniert, um sie ins Allgemeine zu heben. Hat Kafka doch begriffen, dass die Tagesarbeit im Amt eine statistische Denkart zu entfalten beginnt, die bald schon jeden Bereich menschlichen Lebens zutiefst prägen sollte und sich spätestens Mitte des letzten Jahrhunderts vom Staat abkoppelt und zunehmend verselbständigt; seitdem werden die Verfahren vor allem zur ökonomisch begründeten Sondierung potentieller Konsumenten genutzt, ist es in einer Marktwirtschaft doch zu einer existentiellen Notwendigkeit geworden, den Menschen als Kunden so gut wie möglich zu kennen und hierzu eine Art "Kunden-Genom" zu extrapolieren. Bis sich infolge des "computational turn" die faktisch gegebene Möglichkeit etabliert, Statistiken zu entwickeln, die eigentlich keine mehr sind: "Because in the era of big data, more isn't just more. More is different."
Ein rascher Blick in die einschlägigen Tertiärdarstellungen bestätigt: Kaum ein Autor von Rang, der sich nicht im Laufe seines Schreiblebens mit Kafka beschäftigt, kaum ein (Leit-)Gedanke, der nicht mit und an dem Prager Klassiker auf literarische Weise reflektiert ist - mit enorm vielgestaltigen Resultaten. Da wird Kafka, in einer für das Ende der 1990er Jahre erstaunlich anachronistisch anmutenden Geste, als notwendig unbestimmbares Originalgenie erkannt und verdrängt zugleich, ein andermal wiederum recht rigoros der eigenen Weltsicht vereinnahmt oder gar selbstbewusst vervollkommnet, dann wieder doppelsinnig getötet, zuletzt im Gestus theatralischer Bewältigungsarbeit beerdigt - und dergleichen mehr. Es scheint weniger, als lähme Kafka die Schriftsteller, wie Imre Kertész vermerkt, sondern als treibe er im Gegenteil zu emsigen, ja fieberhaft anmutenden Bezugnahmen an, die kaum unter einem gemeinsamen Nenner zu vereinen sind - nimmt man die verhandelten Themen, Motive und Topoi ins Visier. Überblickt man die Rezeptionen hingegen in ihrer generellen Fragestellung und zugrundeliegenden Motivation, können durchaus übergeordnete Strukturen festgestellt werden, wobei meiner Ansicht nach diejenige These besonders erfolgversprechend ist, nach welcher die so vielgestaltigen Bezüge zu Leben und Werk hintergründig stets das Originelle verhandeln: So bestimmt die schon frühzeitig einsetzende, vor allem vom Freund Max Brod geförderte und weiterhin außer Frage stehende Behauptung geradezu genialisch anmutender Originalität Kafkas den Rezeptionsdiskurs nachhaltig.