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"Das schöne Gedicht auf den Vogel ..." : Anmerkungen zu Hofmannsthals Rezeption Walt Whitmans
(1986)
Die Bedeutung des amerikanischen Dichters Walt Whitman (1819-1892) für Hugo von Hofmannsthal im einzelnen ausmachen zu wollen, ist nicht einfach und kann auch nicht Ziel dieser Ausführungen sein. Vielmehr soll es darum gehen, Spuren zu verfolgen, die einer solchen Untersuchung dienlich sein können. Dem kurzen Überblick über die Rezeption Whitmans im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert folgen eine genauere Untersuchung des Briefwechsels zwischen Hofmannsthal und Ottonie von Degenfeld, welcher gegenüber Hofmannsthal Whitmans Gedicht "Out of the Cradle Endlessly Rocking" wohl als das "schöne Gedicht auf den Vogel, der um seine Frau klagt" erwähnte, sowie der vollständige Abdruck des Gedichtes und dessen deutsche Übersetzung von Johannes Schlaf.
Die vielfache Überlagerung epochaler Bewußtseinsschichten, die Rettung erotischer Sprachgewalt bei gleichzeitiger Präsentation christlicher Sublimation der Erotik, die Spannung zwischen Sensualismus und Spiritualismus disponieren das Volkslied zur Herausforderung neuer ästhetischer Lösungen; Heines Tannhäuser sucht sie im Widerspiel von Deutschland und Frankreich und im Zusammenspiel von alter und neuer Poesie.
Ein armer Student und angehender Dichter gedenkt, seine schlechte Kasse durch Kopieren von Manuskripten bei einem etwas dubiosen Hofrat und Archivarius aufzubessern, der, wie gemunkelt wird, in seiner einsamen Villa am Dresdner Stadtrand Alchemie betreibe. Wenn sich Anselmus, so lautet der Name des studentischen Helden in E. T. A. Hoffmanns Erzählung "Der goldne Topf", auch im gewöhnlichen Leben etwas tolpatschig, ja zerstreut benimmt, seiner Schreibkünste ist er sich doch sicher. Um so schlimmer ist für ihn die Einsicht, daß sein ganzer Stolz, "seine Handschrift in elegantester englischer Schreibmanier" dem Archivar, seinem neuen Lehrmeister, überaus mißfällt.
Anna Chiarloni analysiert und interpretiert exemplarisch und vergleichend einzelne Gedichte bzw. Gedichtausschnitte aus Günter Herburgers 1991 erschienen Lyrikband "Das brennende Haus": "Späte Schicht", "Die Mole", "Anglunipe", "Heimkehr", "Mein Newton", "Die Zigeunerin", "Die Kopenhagener Deutung", "Rückkehr", "Das Versteck", "Grönland", "Die imaginäre Haltestelle", "Heimweh", "Tee", "Lied" und "Einstand".
Ästhetische Modernisierung in der DDR-Literatur : zu Texten Volker Brauns aus den achtziger Jahren
(1992)
Angesichts der Stagnation bzw. des Verfalls der realsozialistischen Gesellschaft und der Erosion ihrer Ideologie sowie ihrer Literaturprogrammatik bricht der Autor [Volker Braun in den frühen achziger Jahren] mit der Monosemietradition des Offizial-Diskurses (Dogmatik des Marxismus-Leninismus, Modus der autoritativen Geltung). Dieser Bruch ergibt sich aus seiner neuen poetischen Konzeption, in der er Literatur radikal auf Subjektivität fundiert und das Konzept einer polyphonen Diskursivität entwickelt als Grundlage und Rahmen der literarischen Kommunikation. Von dieser neuen poetischen Konzeption aus, die Braun in seinem Essay "Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität" skizziert und die mit der literarischen Praxis der frühachtziger Jahre korrespondiert, erschließen sich die Texte aus dieser Periode (und vice versa). Im folgenden untersuche ich Brauns programmatisches Gedicht "Das innerste Afrika" als Beispiel für sein Neues Sprechen.
In ihren letzten Lebensjahren verküpft Nelly Sachs das Thema des Schweigens mit dem der Suche nach einer Sprache, nach einem "verlorenen Alphabet", das dem Menschen die göttliche Ordnung der Schöpfung "jenseits des Staubs" wieder zugänglich macht. Die Anlehnung an die Kabbala und an Jokob Böhmes Mystik gestaltet nun ihre Lyrik und gibt ihren Gedichten einen gelegentlich hermetischen Charakter wie im vorliegenden Text aus dem dritten Teil von "Glühende Rätsel" (1964), 2. Band ("Suche nach Lebenden", Suhrkamp 1971, S. 77).
"Das zwischen dem Herbst 1989 und dem 3. Oktober 1990 entstandene literarische Material, das von einer vielfältigen Haltung der DDR-Intellektuellen zur deutschen Wiedervereinigung zeugt, scheint mir [...] besonders wichtig. Die Textsammlung [Grenzfallgedichte : eine deutsche Anthologie] - etwa 100 Gedichte - die hier kurz besprochen wird, bildet einen vielstimmigen Kommentar, manchmal genau datiert, zu den politischen Ereignissen jener Zeitspanne, in der sich der Lauf der deutschen Geschichte radikal verändert hat."
Der Ausdruck 'Ideenfluchten' ist mehrdeutig. Einmal bezeichnet er die Flucht in die Ideen, Anzeige eines gepeinigten Daseins, sodann die Flucht der Ideen, ihre tendenzielle Entleerung durch ein sich überstürzendes Denken. Schließlich kann man ihn so verstehen, wie man von 'Zimmerfluchten' spricht: als eine Anordnung, in der jeder Raum – jede Idee – zunächst dazu einlädt, sich aufzuhalten, während das uneinsehbare Ganze unwiderstehlich zur Progression drängt... Der flüchtige Aufenthalt, das Kokettieren einmal mit dieser, einmal mit jener Ideenverbindung, die perspektivische Verkürzung und der aus ihr resultierende Vorgriff, der den Rückzug als die angemessene Weise voraussetzt, mit einer bestimmten Aufgabe zu einem Ende zu kommen, dies alles sind Erscheinungsformen eines Denkens, das sich an der Zeit weiß, die es primär als vergehende benennt.
Als Schlußstein und Bilanz ihrer literaturgeschichtlich so folgenreichen Zusammenarbeit gaben Arno Holz und Johannes Schlaf 1892 im Berliner Verlag Fontane & Co einen Band mit dem Titel "Neue Gleise" heraus, der alle ihre naturalistischen Gemeinschaftswerke enthielt: von der Erzählung "Papa Hamlet" (1889) bis zum Drama "Die Familie Selicke" (1890). Als eine Art Satyrspiel ließen sie ihm im gleichen Jahr eine letzte Koproduktion folgen, die freilich ganz und gar nicht mehr naturalistisch anmutet: "Der geschundne Pegasus. Eine Mirlitoniade in Versen von Arno Holz und 100 Bildern von Johannes Schlaf". Es handelt sich dabei um eine Bildergeschichte im Stile Wilhelm Buschs, in der die beiden Freunde (denn damals waren sie es noch) selbstironisch die relative Erfolglosigkeit ihrer literarischen Doppelexistenz verarbeiteten. Schlaf zeichnete sich und seinen Partner bei unübersehbarer Porträtähnlichkeit als zwergwüchsig-kindische Protagonisten, ausgestattet mit einem Erkennungszeichen, das beide durch alle Bilder des Buchs begleitet und gewissermaßen als Emblem ihrer bohemehaften Opposition zur bürgerlichen Gesellschaft dient. Dieses Erkennungszeichen ist eine gestreifte Tröte. Der französische Ausdruck dafür lautet "Mirliton"; er hat einem bekannten Pariser Cabaret jener Zeit den Namen und dem "Geschundnen Pegasus" die Gattungsbezeichnung "Mirlitoniade" gegeben, in der natürlich auch die Anspielung auf Miltons Epos mitschwingt. Die Verserzählung selbst nimmt auf das Instrument nur in der ersten Strophe Bezug:
Zwei Knaben hier
mit viel Pläsir Mißbrauchen Feder und Papier
Und blasen möglichst mit Elong
Das Klopp-Klipp-Klapphornmirlitong.
Nimmt man diese Verse beim Wort, so verraten sie uns etwas, was noch niemand realisiert zu haben scheint: die Provenienz des "Geschundnen Pegasus" von der Klapphorn-Dichtung. Das Mirliton wird ja offenbar mit dem Klapp(en)horn gleichgesetzt - einem im Laufe des 19.Jahrhunderts außer Gebrauch gekommenen trompetenähnlichen Signalhorn mit sechs Klappen.
Entwurf der Lyrik
(1994)
Die Frage, auf die dieses Buch eine Antwort zu geben versucht, lautet: Was weiß die Lyrik? Die Frage richtet sich an die europäische Tradition, soweit sie dafür in Betracht kommt, also an die Neuerfindung der Poesie in der Renaissance und die prägnanten Momente im achtzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, in denen das Projekt der Dichtung als einer eigenen Wissensinstanz im analytischen Zusammenspiel mit den Wissensmodellen der Zeit wieder aufgenommen und weiter getrieben wurde. Die Untersuchungen zu Celtis, Shaftesbury, Klopstock und Valéry (mit einem kurzen Ausblick auf Stefan George) haben modellhaften Charakter, sie gelten den Grundvorstellungen, die in Werk und Theorie der genannten Autoren ihre Stunde hatten.
Vermeintliche Freiheit
(1996)
Interpretation des Gedichts "Klage der Ceres" von Friedrich Schiller. [...] gerade "Alexis und Dora" sei, schreibt [Schiller] an Goethe, "so voll Einfalt [...], bey einer unergründlichen Tiefe der Empfindung", daß sie dem proklamierten Muster der Empfindung vollkommen zu entsprechen scheint. Seine Theorie gibt Schiller jedoch auch die Kritik ein, er vermisse bei der Idylle eine anhaltende Grundstimmung, zu rasch wechselten Glücksgefühl und Eifersucht innerhalb dieser Dichtungsweise. Auf Schillers rezeptionsgeschichtlich wirkungsträchtiges Mißverständnis wird hier eingegangen, weil es durch Goethes folgende Revanche in Form der in bedeutendem Ton vorgetragenen Unverbindlichkeiten zur "Klage der Ceres" auf Schillers Elegie zurückgewirkt hat.
Wenn sich die Proponenten der IFWG entschließen, das Jahrbuch Sympaian unter das Thema "Musikalität bei Werfel" zu stellen, gilt es wohl als ausgemacht und als unumstrittene Tatsache, daß das Werk Franz Werfels "musikalisch" ist. Tatsächlich beschäftigt sich bereits eine der frühesten wissenschaftlichen Arbeiten über den damals noch lebenden Autor mit diesem Merkmal seines Werkes, nämlich die Dissertation Adolf D. Klarmanns aus dem Jahre 1931, die den Titel "Musikalität bei Werfel" trägt. Klarmann ist auch der Autor des Beitrags über Franz Werfel in einem der Standardwerke zum deutschen literarischen Expressionismus, in dem 1969 von Wolfgang Rothe herausgegebenen Sammelband Expressionismus als Literatur. Diesen Aufsatz beginnt Klarmann mit einer musikalischen Geschichte um Franz Werfel, die fast schon legendenhafte Züge trägt.
Wer heute die Modernität von Georges Lyrik behauptet, hat das Frühwerk, also Zyklen wie "Algabal" (1894), "Das Jahr der Seele" (1897) oder den "Teppich des Lebens" (1899) im Blick. Im Einklang mit der Poetik von Georges Lehrmeister Stephane Mallarme, der Lyrik französischer und belgischer Symbolisten scheinen sich diese Gedichte radikal von der Erfahrungswelt losgesagt und allein das Dichten selbst - den Inspirationsmoment, den kreativen Sprachprozeß, das gelungene Artefakt -a zum Gegenstand zu haben. Von ihnen unterscheiden sich die anschließenden Gedichtbände "Der Siebente Ring" (1907), "Der Stern des Bundes" (1919) und "Das neue Reich" (1928) durch ein Zurücktreten von Wortartistik und Sprachreflexion, und rascher als angemessen wäre hat man sich zu einem recht schematischen Kontrastdenken verführen lassen. Dessen Logik folgend, pflegt ein Großteil der Forschung der reinen, alle Buchstäblichkeit transzendierenden Spiritualität des Frühwerks die didaktische Intention der späteren Bände entgegenzustellen, dem Credo für das utopische Reich der Poesie hier das Plädoyer für ein (wenn auch "geheimes") "Deutschland" dort, der antimimetischen Poesie eine realistische, einer Kunst, die sich im Zirkel unendlicher sprachlicher Repräsentation dreht, eine andere, der Bezeichnung und Sachverhalt vorgeblich eins sind.
An der Behauptung, Georges Gedichte seien modern, ist entschieden festzuhalten, wenn es zu ihrer Legitimation auch neuer Modernitätskriterien bedarf. Im Bemühen, diese Suche voranzutreiben, konzentrieren sich die folgenden Überlegungen auf die von Georges Dichtung und Literaturpolitik stets bedachte Problematik der sprachlichen und bildlichen Repräsentation.
Die vorliegende Studie, ein überarbeiteter und erweiterter Teil meiner Magisterarbeit "Der Mythos des Anderen. Sprechakte und Sprachräume jenseits des Herrschaftsdiskurses in der DDR-Lyrik der siebziger und achtziger Jahre", beschäftigt sich mit der sogenannten "jungen" ostdeutschen Literatur aus der späten DDR, die unter der irreführenden Chiffre "Prenzlauer- Berg-Literatur" in die Forschung eingegangen ist. Sie konzentriert sich auf eine Strömung innerhalb dieser Literatur, die sich vorläufig mit dem Begriff "Sprachkritik" umschreiben läßt. Stefan Döring und Bert Papenfuß-Gorek gehören zu den bekanntesten Vertretern dieser Strömung. In exemplarischen Textanalysen gilt es, charakteristische Merkmale ihrer Dichtung herauszuarbeiten und einen Zugang zu den mitunter sperrigen Texten anzubieten. Bert Papenfuß-Gorek ist einer der wenigen Prenzlauer-Berg-Literaten, der sich auch auf dem westdeutschen Buchmarkt etablieren konnte - bis heute erschienen von ihm mehr als zwölf Gedichtbände sowie zahlreiche Beiträge in Zeitschriften und Anthologien. 1989 wurde er mit dem Erich Fried-Preis ausgezeichnet. Grund genug, abschließend einen Blick auf die Nach-Wende-Lyrik dieses Autors zu werfen.
Spätestens seit den Untersuchungen von Heinrich Henel besteht in der literaturwissenschaftlichen Forschung weitgehend Einigkeit darüber, dem lyrischen OEuvre C. F. Meyers einen festen Platz in der Vorgeschichte der literarischen Moderne zuzuweisen. Die Neigung zum Statischen, der Duktus distanziert-objektivierenden Sprechens und die tendenzielle Verselbständigung der Form lassen in den Augen der meisten Interpreten zumindest einen Teil dieser in ersten Fassungen seit 1860 entstandenen Gedichte als Vorwegnahme der symbolistischen Lyrik Georges, Hofmannsthals oder Rilkes erscheinen - Bernhard Böschenstein apostrophiert Meyer daher gar als "Hermes der Jahrhundertwende".
Dieser emphatische Modernitätsbefund bringt freilich Probleme mit sich. So wurde zum einen die Frage, wie die Symbolismus-Vorläuferschaft Meyers zu erklären, zu verstehen sei, bislang entweder gar nicht oder - in der älteren Forschung - nur höchst inadäquat beantwortet durch den anachronistischen Hinweis auf einen im 19. Jahrhundert angeblich stattfindenden Übergang von der Erlebnislyrik zum Symbolismus, der sich auch in Meyers Lyrik manifestiere.
Die Sekundärliteratur zu Johannes Urzidil, die in den Sechzigerjahren doch beträchtlich war, als der Autor noch lebte und durch seine häufigen Lesereisen nach Europa, seine liebenswürdige Art und seine überzeugende Kunst des Vortrags, seinen literarischen Ruhm steigerte, widmet sich meistens dem reifen Werk Urzidils, seinen im amerikanischen Exil entstandenen Erzählungen, Gedichten, Feuilletons, Essays, Memoiren, dem einzigen Roman, dem Goethe-Buch (dessen erste Fassung bereits in den 30er Jahren entstanden ist). Das Frühwerk der lOer und 20er Jahre wird in den meisten Arbeiten nur gestreift, als ob es zu unbekannt wäre oder vielleicht zu wenig interessant für die Rezensenten oder gar zu schlecht im Vergleich mit dem reifen Spätwerk?
Wenn man sich mit der Literatur der siebziger Jahre beschäftigt, stößt man zwangsläufig auf den Begriff der ‚Neuen Subjektivität’, ersatzweise auch auf den der ‚Neuen Innerlichkeit‘. Gemeint ist damit eine ungenaue Gemengelage, die die verschiedensten Texte und Tendenzen in Lyrik und Prosa zusammenzufassen versucht. An negativen ebenso wie an positiven Fixpunkten läßt sich feststellen: Eine Kritik an der Studentenbewegung und an den sich im Anschluß daran formierenden neu-linken Parteien wird von den Vertretern der ‚Neuen Subjektivität‘ artikuliert, um dagegen ganz offensiv die Bedürfnisse des Einzelnen, die Begehrlichkeiten des Subjekts, einzuklagen. Um typische Produkte aus jenen Jahren handelt es sich bei den Gedichten von Born oder Kiwus. Beide Texte folgen dem Ratschlag des Lyrikerkollegen Günter Herburger, der im Blick auf die neue Lyrik davon geredet hat, daß hierin keine Metaphern verwendet werden sollen, damit die Alltagssprache allererst zur Geltung kommen kann. Alltag, Stagnation, wenn man so will, Entfremdung – das sind die prägenden Erfahrungen, die sich in der Lyrik, aber auch in vielen Prosatexten der Zeit zeigen. Zu den mit beachtlichen Erfolgen als Prosaautor debütierenden Schriftstellern zählt der Österreicher Gernot Wolfgruber, der in rascher Folge zwischen 1975 und 1981 vier Romane vorgelegt hat, die das Schicksal kleinbürgerlich- proletarischer Helden erzählen: Von den Drangsalierungen in Elternhaus und Schule, dem Stigma des Proletarierdaseins, berichten diese Entwicklungs- und Desillusionierungsromane geradeso wie von den Hoffnungen und Enttäuschungen, die mit dem sozialen Aufstieg verbunden sind.
Das letzte der drei Gedichte unter dem Titel „Schutt“, ein Text von nicht zu überbietender Prägnanz, Strenge und Verhaltenheit, entstand vermutlich mehr als ein Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg. Karge sechs Zeilen, veröffentlicht erstmals 1965. Die wie beiläufig vorgetragenen Verse lassen an den verlegenen Versuch eines Kindes denken, gegen seinen Willen ein Gedicht aufsagen zu müssen. Doch ist das fiktive Ich die Stimme einer geprüften Frau, die, identisch mit dem realen Ich, während eines Luftangriffs verschüttet, drei Tage lang lebendig begraben war. Der Schock, dazu Alpträume der Erinnerung an die eigenen Eltern, die noch in der letzten Phase des Krieges Bomben zum Opfer fielen, das Bewußtsein, sie tot aus den Trümmern ihres Hauses hervorgegraben zu haben, ließen sie verstummen. Zögernd löst sie sich aus dem Zustand der Verstörung. Widerstrebend, aus welchem Antrieb auch immer, gibt sie das Schweigen auf. Mühsam sucht sie die Sprache wiederzugewinnen. Die Erfahrung der Katastrophe, die Vergangenes und Gegenwärtiges miteinander verkettet, hat seelische Wunden hinterlassen. Wie sind die Folgen solcher Heimsuchung zu verarbeiten? Äußert sich in dem Gedicht eine vom Tode Verschonte oder eine zum Leben Verurteilte? Wie steht es um die Beziehung der verschütteten Stimme zum verstummten Wort?
Welche Verstehensschwierigkeiten der Text "Nach den Prozessen" bereitet, läßt sich nach dessen erster Lektüre bereits ansatzweise, nach weiteren Leseprozessen noch genauer beschreiben. Das Gedicht „Nach den Prozessen” ist voller Lesewiderstände, schon allein aufgrund der ineinander verschlungenen Metaphernkomplexe und metaphorischen Vieldeutigkeiten. Daher ist ein Gespräch über das Verstehen des Gedichts stets auch ein Gespräch über die Konstituiertheit von Texten und über die Prämissen eigenen Verstehens, also auch über die Bedingungen und die Grenzen der eigenen Bereitschaft, sich auf jene Arendtsche „Geschichtsschreibung” einzulassen, die selbst nicht voraussetzungslos ist, sondern der Ästhetik der Moderne und ihrem emphatischen Anspruch auf poetisch verbürgte ‘Wahrheit’ folgt. Als Alternative zur Geschlossenheit einer Gesamtinterpretation könnten in verstärktem Maße auch offene, durchaus miteinander konkurrierende Zugänge zu Autor und Werkerprobt werden.
Paul Celans Gedichte begleiten uns schon ein halbes Jahrhundert und sind doch weitgehend fremd geblieben. Manchen Anstrengungen zum Trotz haben sie ihre Widerständigkeit bewahrt und befremden noch immer, sind also im Sinne von Harald Weinrich "imagines agentes" par excellence. Ihre ebenso herausfordernde wie leise anklopfende Poetik ist wenig erkannt, geschweige verstanden worden. Dabei frappiert dieser Dichter mit seiner Aufforderung: „Machs Wort aus.“ Ob dieser imperativischen Zumutung möchte es einem beinahe die Sprache verschlagen. Doch bemerkt man dann vielleicht, dass es nur an einem selbst liegt, sie wiederzuerlangen und das Wort von neuem auszumachen. Zu einer solchen Neubestimmung des Wortes und der Sprache fordern Celans Gedichte auf, seit die großen Verheerungen und Verwerf- ungen dieses zu Ende gehenden zwanzigsten Jahrhunderts über die Menschen hereingebrochen sind. Zu keiner früheren Zeit sind sie von so systematischer Vernichtung heimgesucht worden wie in diesem Jahrhundert.
[Anna Chiarloni] scheint, daß solche Gedichte aus dem Bedürfnis entstanden sind, erneut an eine fortschrittliche Tradition anzuknüpfen. In der Tat ist Müller jetzt viel näher bei Bertolt Brecht und Peter Weiß angesiedelt, als bei Wagner oder Nietzsche. Hier ist keine Ideologie der Vergeblichkeit, keine Selbstabdankung zu spüren. Im Gegenteil verwendet der Dichter seine eigene Biographie - im Gedicht 'SEIFE IN BEYREUTH' die Struktur des persönlichen Gedächtnisses - um eine entschiedene (marxistische) Interpretation des Phänomens Auschwitz zu behaupten. Das robuste "Jetzt weiß ich" der 16. Zeile stammt aus der Überzeugung, daß seine individuelle Erfahrung Geltung für das besitzt, was mit Begriffen wie "kollektives" oder "historisches Gedächtnis" umschrieben wird. Gleichzeitig artikuliert Müller provokativ seine Unzugehörigkeit zu einer Welt, die das Nachleben des Faschismus zu lange geduldet hat. Hier will er keinen intellektuellen Wohnsitz haben. So wirkt der Text als Sicherung seiner eigenen historischen Identität.
Achim von Arnim hat bei der Bearbeitung seiner Erzählung "Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau" zwei Quellen benutzt und umgeschrieben. Das Entscheidende dabei ist, daß die eine Quelle französischer Provenienz ist und aus der Zeit vor der Revolution stammt, die zweite hingegen eine deutsche Fassung aus der nachrevolutionären Zeit darstellt. Bislang wurden im Blick auf die Umschrift Arnims nur motivliche Übernahmen und adaptierte "sprachliche Eigenheiten" festgestellt. Unberücksichtigt blieb, daß beide Vorlagen Arnims eine je eigene narrative Struktur und poetische Form besitzen.
Hans-Georg Soldat rezensiert die 2001 im Suhrkamp Verlag erschiene Textsammlung "Rückseiten der Herrlichkeit. Texte und Kontexte" von Kurt Drawert. In einer Collage von Gedankenfetzen, nachträglichen Überlegungen, Beobachtungen, Reminiszenzen und Spekulationen verdichtet sich tatsächlich der Eindruck, Zeuge eines unbeschreiblichen Geschehens zu sein. Eine Meisterleistung, die in der neueren deutschen Literatur ziemlich einsam dastehen dürfte.
Tagungsbericht zum internationalen Arbeitsgespräch in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 12.-13. September 2000
Die niederländisch-deutschen Kulturbeziehungen sind als ein wichtiges Element im Prozeß der europäischen Kulturgeschichte in den letzten Jahren verstärkt Gegenstand der Forschung geworden. Dabei wurde die Gattung der Lyrik, deren zentrale Rolle im Literatursystem mit je verschiedener Begründung in der Literaturwissenschaft seit einiger Zeit wieder stärker betont wird, noch ungenügend berücksichtigt, auch wenn gelegentlich auf den großen Einfluß niederländischer Dichtung und Poetik (z. B. Heinsius) auf den deutschen Sprachraum im 17. Jahrhundert hingewiesen wurde. Um hier den Erkenntnisstand zu verbessern, fand am 12. und 13. September 2000 im Bibelsaal der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel ein internationales Arbeitsgespräch zum Thema "Die niederländische Lyrik und ihre deutsche Rezeption in der Frühen Neuzeit" statt.
Die Thematik der Dekadenz ist in Trakls Lyrik von zentraler Bedeutung. Das Wort 'Verfall', das er auch als Titel für ein bekanntes Sonett gewählt hat, gehört zu seinen poetischen Hauptmotiven. Mit der Décadence-Atmosphäre in Trakls Gedichten korrespondieren suggestive Bildelemente wie Dämmerung, Abend, Dunkel, Herbst, Tod und die Imagination der 'Verwesung', die seit Baudelaires Gedicht "Une charogne" zum Vorstellungsrepertoire der Décadence-Literatur zählt. Mit Assoziationen dieser Art verbindet sich bei Trakl ein entsprechendes Spektrum geistigpsychischer Befindlichkeiten und Stimmungen, in dem Melancholie, Klage, Passion, Einsamkeit und Wahnsinn besonders hervortreten. Symptomatisch sind Gedichttitel wie "Untergang", "Melancholie", "Trübsinn", "Die Schwermut", "Der Herbst des Einsamen", "Herbstseele", "Ein Herbstabend", "Nähe des Todes", "Dämmerung", "Melancholie des Abends", "Im Dunkel", "Passion" und "Klage".
Hans-Georg Soldat rezensiert für NDR 3 / Radio 3 den 2002 im Suhrkamp Verlag erschienen Lyrikband "Frühjahrskollektion" von Kurt Drawert. Kurt Drawerts Sprache ist karg, überlegt, seine Bilder gleichsam effizient in einem durchaus aktuellen Sinn. "Frühjahrskollektion" heißt der schmale Band von Kurt Drawert, der sich natürlich nicht darin erschöpft, die allgemeine Eile zu beklagen, obwohl die "Zeit" in vielen Gedichten eine Rolle spielt.
Schon seit einiger Zeit ist innerhalb der Germanistik eine Interessenverschiebung von der Literatur- zur Medien- und Kulturwissenschaft zu beobachten, die sich auch institutionell durchsetzt. So interessant ihre Ergebnisse in kulturgeschichtlicher und teils auch theoretischer Hinsicht sind, so scheint es mir doch, daß das eigentliche Zentrum der Germanistik immer noch die Literatur zu sein hätte, daß dieser Gegenstand aber von theoretischen und historischen Konstruktionen zunehmend verdeckt wird. Das Folgende kann daher als kontrapunktische Übung in textnaher Interpretation verstanden werden. Gedichte eignen sich zu solcher Übung in besonderer Weise. Mörikes Um Mitternacht gehört zu den Gedichten, deren Bildzusammenhang sich dem Leser kaum erschließt. In der Sekundärliteratur wird es als nahezu unverständlich bezeichnet, weil es sich nach außen abschließe. Anlaß genug, das Gedicht noch einmal vorzunehmen Es wird hier dem späteren Am Rheinfall kontrastiert, um einer einseitigen Auffassung der Lyrik Mörikes vorzubeugen.
Rolf Dieter Brinkmann, so lautet meine These, arbeitet gerne und häufig mit einer polysemischen Dissemination von Mikrostrukturen, die sich frei von jeder logischen Anordnung quer im lyrischen Raum bewegen. Die meisten Texte entwickeln dieses Verfahren aus einer alltäglichen Situation, die sie in einer alltagsnahen, scheinbar unstilisierten Sprache festhalten. Auch letzteres ist ein herrschender Trend der Lyrikszene in den 70er Jahren.
Die Identitätssuche des Dichters Paul Celan findet, wie wir sehen, in seinen literarischen Texten genauso Ausdruck wie im Text, welcher der Text seines Lebens war. Mögen die Person eines Dichters und das lyrische Ich seiner Gedichte auch so eng zusammengehören, dürfen sie dennoch nicht verwechselt werden, wobei die Entfernung zwischen ihnen groß oder klein sein kann. Bei Paul Celan ist sie so klein, dass wir seine Gedichte mit vollem Recht "sprechende Zeugen seiner Existenz" nennen können, sowie auch der Existenz all derjenigen, denen er nahe stand und die für die seine Gedichte Zeugnis ablegen. So hängt die Identität seiner Gedichte mit seiner eigenen Identitätssuche als Person und als Poet zusammen. Paul Celan übersetzte aus sechs Sprachen: aus dem Russischen, Englischen (auch aus dem amerikanischen Englisch), Italienischen, Rumänischen, Portugiesischen und Hebräischen. Seine Übersetzungen aus diesen Sprachen machen sowohl vom Umfang her als auch hinsichtlich ihrer Qualität einen gewichtigen Teil seines literarischen OEvres aus. Darüber hinaus übersetzte er aus dem Ukrainischen und muss auch mit dem Jiddischen und Polnischen vertraut gewesen sein. Celan spielte weder seine literarischen Übersetzungen zugunsten seiner eigenen Gedichte noch umgekehrt herunter. Im Gegenteil, mit hochentwickeltem Bewusstsein betrachtete er sowohl seine eigenen, als auch die von ihm übersetzte Lyrik als Teile seines Werks.
Lyrik: Intermedial
(2003)
Der eine Lyriker ist enttäuscht vom Film; sein „Kinematograph“ zeigt ihm nur „ein lautlos tobendes Familiendrama“ mit Eifersucht und dann eine „Älplerin auf mächtig steilem Wege“: Und in den dunklen Raum – mir ins Gesicht – Flirrt das hinein, entsetzlich! Nach der Reihe! Die Bogenlampe zischt zum Schluss nach Licht – Wir schieben geil und gähnend uns ins Freie. Der andere Lyriker ist begeistert vom Film; sein „Kinodirektor“ macht alle Menschen für einen Groschen glücklich, indem er ihnen „das einzige Paradies der Welt“ öffnet: Ich schenke euch die Schöpfung Gottes: das Paradies, ohne Schlange und Apfel. Fluch dem Skeptischen, der lächelnd an die Leinwand klopft Und sagt: Das ist ein weißes Tuch! Fluch diesem Lügner; denn das ist das Leben, das reellste Leben.
Ausgegangen wird von einer Kontinuität struktureller Vorgaben durch die Frühromantik mit erkennbaren Umakzentuierungen Mitte der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts, die im Vormärz experimentell erprobt werden. Die neuere Vormärzforschung tendiert dazu, in Abgrenzung zum späteren poetischen Realismus die Literatur, d.h. keineswegs nur die politisch progressive, durch ihre kühnen literarischen, die Innovationen der Wissenchaften aufgreifenden Experimente zu charakterisieren. Aus dem Gesichtswinkel literarischer Experimmtierfreudigkeit, die Herausforderungen der Modet+rnisierung und Temporalisierung annimmt und zugleich bestreitet, wird eine paradoxale poetologische Grundfigur erkennbar, die für Romantik und Vormärz gleichermaßen gilt, nämlich: sich in den Krisenbrennpunkt der eigenen Zeit hineinzuschreiben, um sich zugleich in ästhetische Distanz zu begeben. Die Ausfaltung dieser paradoxalen poetologischen Grundfigur in Romantik und Vormärz sei in vier Durchgängen problematisiert:
1. Strukturelle Vorgabe: "Führungswechsel der Zeiten"
2 Archivierung und Aktualisierung 'doppelbödiger' Schreibweisen
im Spannungsverhältnis von Poesie und Publizistik
3. Wechselverwiesenheit: Vormärz in der Romantik und Romantik
im Vormärz
4. Die Austreibung des Romantischen im Vormärz
5. Reflexive Gegenwart als zentrale Bezugszeit. Akzentverlagerung von der Romantik zum Vormärz
Die Gedichte Goethes [...] sind keine autonomen Einzelgebilde. Das lyrische Gebilde muß in seiner momenthaften Abgeschlossenheit mit anderen Mitteln als eine "Rolle" der Wahrheit kenntlich gemacht werden. Auch ein konsequenter zyklischer Bau wäre dafür ungeeignet, denn auch er ergäbe schließlich ein abgeschlossenes Gebilde. Das probateste Mittel, Kontingenz der Oberfläche und Consensus der "Wahrheit" zu gestalten, ist das lyrische Ensemble.
Der Titel „Jemandssprache“ bezieht sich kontrafaktisch auf Paul Celans Gedichtband „Die Niemandsrose“. (...) [In dem ersten Teil seine Aufsatzes bezieht sich Volker Mertens] auf die aktuelle Situation im Fach, in einem zweiten (...) [votiert er] für eine spezifische Gegenstandsbestimmung und einen bestimmten Umgang mit den methodischen Paradigmen, in einem dritten für eine Überwindung der Schwelle zwischen Älterer und Neuerer Literatur, (...), in einem vierten (...) [gibt er] eine vergleichende Interpretation je eines Gedichts von Heinrich von Morungen und von Paul Celan als Beispiel für eine Überschreitung der im Fach institutionalisierten Epochengrenze.
"Vor einem Bild", so Arthur Schopenhauer, "hat Jeder sich hinzustellen, wie vor einem Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde; und, wie jenen, auch dieses nicht selbst anzureden: denn da würde er nur sich selbst vernehmen." Es ist, als hätte Günter Eich eben diese Aufforderung ernst genommen und in ein subversives Sprachspiel verwandelt. Sein Gedicht "Munch, Konsul Sandberg" aus dem Jahre 1963 erweist sich dabei als ebenso bemerkenswerter wie eigenwilliger Beitrag zum Thema "Text und Bild". [...]Wenn Günter Eichs Gedicht aus dem Band "Zu den Akten" von 1964 etwas aus dem Bild übemimmt, was gleichsam ins Auge springt, so ist es jene genannte Ambiguität zwischen Präsenz und Entzug, zwischen Flächigkeit und Plastizität der Gestalt, die der Text nun seinerseits, in einer Art "overkill" gleichsam, radikalisiert. Eich besingt nicht das Bild, er kokettiert nicht mit der Tradition des Bildgedichtes, er treibt und hintertreibt vielmehr die Erwartung des Lesers durch die Konstruktion eines provozierenden Sprechers. Einer solchen Konstruktion scheinen Fragen vorausgegangen zu sein, wie: Kann ein Text etwas von der Spannung und Energie, die das Gemälde ausstrahlt, "übersetzen"? Läßt sich etwas von der (Nach-)Wirkung dieses Bildes fassen, ohne in gängige Register zu verfallen, mit denen Bilder in der Regel kommuniziert werden? Kann, mit anderen Worten, das Verhältnis von Text und Bild anders artikuliert werden als im Modus der Beschreibung, eines Narrativs oder einer hermeneutischen Belehrung - Modi allesamt der Bemächtigung, der Rivalität oder der Unterwerfung?
Rezension zu Ralf Hertel: Tanztexte und Texttänze. Der Tanz im Gedicht der europäischen Moderne, Eggingen (Edition Isele) 2002. 153 Seiten.
Ralf Hertel, freier Journalist und Mitglied des Graduiertenkollegs "Körperinszenierungen" an der Freien Universität Berlin, untersucht in dem vorliegenden Buch das Verhältnis von Tanz und Lyrik in der Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts.
Die Erfahrung von Auschwitz bleibt eine offene Wunde, eine in der Zeit dauernde Frage, die auch die Gegenwart betrifft. In seinem Gedicht "Lehren ziehen" beschwört Günter Kunert die Welt der Konzentrationslager herauf, und er findet dort die Wurzeln eines Übels, das die Existenz der Menschheit bedroht. [...] In den ersten fünf Versen läßt der Dichter eine Situation wieder aufleben, die Primo Levi mehrfach in "Se questo è un uomo" (1947) beschrieben hat [...] Das von Kunert aufgerufene Bild verweist unzweifelhaft auf diese Erfahrung. Aber nach mehr als vierzig Jahren zeitlichen Abstands läd es sich auch auf mit Elementen aus der nachfolgenden Geschichte, und nicht nur der deutschen. [...] Das nur aus einer Strophe bestehende Gedicht ist Primo Levi gewidmet, wie der geklammerte Untertitel angibt, der seinen Namen zwischen lateinischer Erinnerungsformel und den Leerzeilen zum Gedichtanfang aufspannt. Das 1989 geschriebene Gedicht erinnert an den italienischen Autor, der 1987 unter nicht geklärten Umständen umkam.
Au nombre de ces littératures d'Afrique subsaharienne, il y a la littérature gabonaise. Cependant, par rapport aux autres littératures d'Afrique subsaharienne francophone qui sont plus connues, la littérature gabonaise souffre encore d'un manque de visibilité et d'auteurs de renommée internationale. Et pourtant, il y a dans ce pays une vie et surtout une pratique de la littérature où les genres littéraires ont réussi à s'imposer. Nous donnerons d'abord un aperçu des premières écritures au Gabon; puis, à partir de cinq genres majeurs de la littérature gabonaise bien identifiés, à savoir le théâtre, l'essai, la nouvelle, le roman et la poésie, nous étudierons leur parcours général et leur évolution, depuis les premières publications jusqu'à celles de nos jours.
Die vorliegende Arbeit beschreibt den ein Jahr lang andauernden Prozess der Entwicklung meiner eigenen Poesiemaschine. Buchrückentext: Wer ist der Hirsch? Und was hat er mit dem Buch zu tun? Der Band dokumentiert auf spielerische Weise den Entstehungsprozess einer außergewöhnlich leistungsfähigen Poesiemaschine. Den drei Versionen dieser Poesiemaschine werden die bildhaften Namen Wurm, Hähnchen und Hirsch gegeben. Inspiriert von Hans Magnus Enzensbergers Einladung zu einem Poesieautomaten wagt sich der Autor «in das Labyrinth» hinein. Nach dem Vorbild der französischen Literaturgruppe Oulipo werden zunächst die Anforderungen an eine Poesiemaschine in formelle, akustische, syntaktische, semantische und kreative Einschränkungen unterteilt. Die Modellierung der syntaktischen und kreativen Aspekte orientiert sich insbesondere an der Installation Poetry Machine des renommierten Medienkünstlers David Link. Neuartig beim Hirsch ist die Verwirklichung phonetischer Algorithmen, die Gedichte mit komplexen Reimen und metrischer Regulierung ermöglichen. Abschließend wirft der Autor einen Blick in die Zukunft. Das Ergebnis stellt eine Goldgrube an Einsichten und Ideen dar für Poesiemaschinen-Entwickler der nächsten Generation. Inhalt: Aus dem Inhalt: «Jenseits der Berechenbarkeit» - Was muss ein Poesie-Erzeuger können? - Gedichtgerüstbau anhand der GGT-Grammatik - Überraschungseffekt - Poesiemaschine Poetry Machine - Carnegie Mellons phonetisches Wörterbuch - WordNet - eine lexikalische Datenbank - POS-Tagger - Syntaktische Formeln mit dem manuellen Tagger - Blocking - Balancing - Phonetischer Beweis - Jenseits des Hirsches (Zukunft der Computerpoesie) - Computing with Words - Stephen Thalers Creativity Machine.
Der Begründer der Neuen Phänomenologie, Hermann Schmitz, rückt anläßlich einer Erläuterung des für ihn zentralen Begriffs der "implantierenden Situation" Goethes Gedicht Über allen Gipfeln ist Ruh ... in die Nähe der Haiku-Lyrik. Das von Schmitz nur beiläufig Konstellierte erweist sich bei näherem Hinsehen als aufschlußreich für das Verständnis der Naturlyrik aus Goethes erstem Weimarer Jahrzehnt. Denn es ist in der Tat die Haiku-Tradition, an der wir unseren Blick für manche Eigenheiten der lyrischen Sprache Goethes in jener Werkphase schulen können – einer Werkphase, die ich als "vorkritisch" bezeichne, da sie noch nicht unter dem Einfluß der kritischen Philosophie Kants steht und daher noch frei ist vom didaktisierenden Zug transzendentaler Subjektivität. Der japanische Blick auf den "vorkritischen" Goethe ist nicht nur von philologischem Interesse. Er zeigt uns, sehr viel weiter reichend, die Möglichkeit eines Sprechens über Phänomene, bei dem es kein die Erfahrung begleitendes und in seine Gewalt bringendes "Ich denke" zu geben scheint. ...
"Der große Dichter […] ist ein großer Realist, sehr nahe allen Wirklichkeiten " - und: "Der Lyriker kann gar nicht genug wissen, er kann gar nicht genug arbeiten, er muß an allem nahe dran sein, er muß sich orientieren, wo die Welt heute hält, welche Stunde an diesem Mittag über der Erde steht« -, das fordert Benn in seinen »Problemen der Lyrik". Mit Blick auf die Entwicklung seiner lyrischen Diktion folgt Benn diesem Imperativ "Erkenne die Lage!" (IV/362) - in geradezu stupender Weise: Ende 1941 ist für ihn die deutsche Niederlage absehbar, zum Weihnachtsfest 1941 übersendet er Oelze das Gesamt der "Biographische[n] Gedichte", welche die Keimzelle der späteren Sammlung der "Statischen Gedichte" (1948) ausmachen, und beginnt, mit einem geänderten lyrischen Stil zu experimentieren. Dieser ist durch seine Prosanähe, die Aufgabe eines geregelten Vers- und Strophenbaus und vor allem den Verzicht auf den Reim gekennzeichnet.
Die moderne Lyrik gilt als die Erfindung eines französischen Lyrikers: Charles Baudelaire (1821–1867). Das muss ungewohnt klingen, wenn man die Geschichte der Literatur seit dem 17. Jahrhundert als eine Geschichte der Modernisierungen begreift. ›Modern‹ muss hier etwas anderes bedeuten als etwa bei Charles Perrault (1628 – 1703), der sich in der ›Querelle des Anciens et des Modernes‹, der Auseinandersetzung um den Vorrang der ›alten‹ (antiken) oder der ›neuen‹ Kultur, nachdrücklich auf die Seite der ›Modernen‹ geschlagen hatte. Die moderne Lyrik gehört in den Zusammenhang jener literarischkünstlerischen Moderne, deren Anfänge in der Literaturwissenschaft auf die Mitte des 19. Jahrhunderts datiert werden. Sie setzt die spezifische Modernität der romantischen und bürgerlich-realistischen Poesie bereits voraus und negiert sie. Damit muss sie genauer jener Krise der ›neuzeitlichen‹ Moderne zugerechnet werden, die im ›Fin de siècle‹ und schließlich in und nach dem Ersten Weltkrieg für eine Reihe extremer Umbrüche im kulturellen ›Design‹ Europas steht. Heute fällt es schwer, sich vorzustellen, dass während mehrerer Jahrzehnte Gedichte zu den erregendsten Hervorbringungen der europäischen Intellektuellenkultur zählten. Eine Frage ist, wie groß die Zahl der ›Gebildeten‹ war, die an diesem Abenteuer des Geistes Anteil nahmen, eine andere die nach der Intensität dieser Erfahrungen und ihrer Ausstrahlung in andere Bereiche.
Un moment de ma vie
(2008)