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Schulpolitische Aufsätze
(1919)
1775. Auf der Schweizer Reise, die den Werther-Goethe bis auf den Gotthardt führt. Vom Gipfel aus sieht er Italien lockend vor sich. Noch aber ist die "Heimat" ihm "das unentbehrlichste Element" (HA X, 150)1, und Goethe wagt nicht den Schritt über die Alpen. Auf dieser Reise mit den "Haimonskindern" (den Brüdern Christian und Friedrich Leopold von Stolberg sowie dem Grafen Kurt von Haugwitz alle vier in Werther-Kleidung) baden die jungen Männer in Schweizer Seen und Flüssen – "halb nackt wie ein poetischer Schäfer, oder ganz nackt wie eine heidnische Gottheit" (ebd. 153). Man kann sich denken, daß die braven Schweizer ob dieser nackten Götter Griechenlands aus Deutschland empört sind. Doch an einsamen Orten mögen sie "beim Anblick und Feuchtgefühl des rinnenden, laufenden, stürzenden, in der Fläche sich sammelnden, nach und nach zum See sich ausbreitenden Gewässers" "der Versuchung nicht zu widerstehen", dennoch "die Kleider abzuwerfen und sich kühnlich den schäumenden Stromwellen entgegen zu setzen" (ebd.). Der alte Goethe kommentiert diese "Frechheit" als "wildes, unbändiges, ja heidnisches Naturell" (ebd., 154). Rebellischen Rousseauismus, "Sturm und Drang"-Attitüde mag man von heute her geistesgeschichtlich diese Episode nennen. Genauer ist es die Entdeckung der Lust des badenden, schwimmenden, mit dem Element Wasser frei und erotisch verbundenen Leibes. Der nackte, erotische Körper und das Wasser, das ihn umrinnt, überstürzt, weich umspielt, erfrischt leicht macht, erquickt und ein "wildes, teils von der Kühlung, teils von dem Behagen aufgeregtes Lustjauchzen" weckt. Das ist gegen die moralische Enge der gesitteten, aufgeklärten, leibfeindlichen Lebensverhältnisse, denen die schäumenden Jünglinge entflohen sind, der Protest des erotischen Körpers im Namen der Antike. Noch genauer als in der moderaten, von sich selbst ablenkenden Erzählung in Dichtung und Wahrheit erkennt man dies in den fiktiven Briefen aus der Schweiz von 1796 ...
Fast 42% der in Deutschland lebenden Ausländer geben an, daß sie nicht mehr in ihr Heimatland zurückkehren wollenl, wobei die Erfahrung zeigt, daß die tatsächliche Zahl der Rückkehrer noch weitaus geringer sein wird. Der Verfasser versucht, einige rechtliche Probleme der Ausländer in der heutigen transkulturellen deutschen Industriegesellschaft zu skizzieren und dem Leser neue Gedankenimpulse zu vermitteln.
Inhalt: Vorbemerkung Multikulturalismus und der amerikanische consensus Hans-Jürgen Puhle Probleme der Institutionalisierung des Multikulturalismus Diskussionsbeitrag von Kurt L. Shell Anmerkungen zum Verhältnis von »Multiculturalism« und »Liberalism« in den USA Diskussionsbeitrag von Söhnke Schreyer Probleme der Institutionalisierung von Multikulturalismus im Politikfeld der Erziehung Diskussionsbeitrag von Ulrike Fischer Multikulturalismus im Bildungsbereich: Afrozentrismus Diskussionsbeitrag von Rüdiger Wersich Die in der vorliegenden Ausgabe der ZENAF Arbeits- und Forschungsberichte zusammengestellten Beiträge von Hans-Jürgen Puhle, Kurt L. Shell, Söhnke Schreyer, Ulrike Fischer und Rüdiger Wersich dokumentieren Aspekte einer in den zurückliegenden Semestern am ZENAF geführten Diskussion zur Problematik des Multikulturalismus in den USA. Die Diskussion begann anlässlich der Tagung der Sektion Politikwissenschaft der DGfA ("Die USA als multikulturelle Gesellschaft") in Frankfurt im November 1991. Im Sommersemester 1993 und im Wintersemester 1993/94 folgten zwei Diskussionsrunden im Rahmen des Jour Fixe des ZENAF unter dem Leitthema "Probleme der Institutionalisierung des Multikulturalismusll• Eine gemeinsame Diskussionsgrundlage bildete zunächst der in dieser ZAF-Ausgabe abgedruckte Aufsatz von Hans-Jürgen Puhle: "Multikulturalismus in den USA", der bereits (in englischer Fassung) als Vortrag auf der Jahrestagung der DGfA ("Multikulturalismus: Politische, soziale und kulturelle Konsequenzen am Beispiel der USA") in Berlin im Juni 1992 gehalten wurde. Die Publikation des Aufsatzes in einem von Berndt Ostendorf herausgegebenen Sammelband (''Multikulturelle Gesellschaft: Modell Amerika?", München) ist für 1994 vorgesehen. Die übrigen Beiträge dieser ZAF-Ausgabe sind überarbeitete Versionen von Kurz-Statements, die von den Autoren für die beiden Diskussions-Veranstaltungen am ZENAF vorbereitet wurden. Die angeregte und intensive Diskussion, an der sich eine erfreulich große Zahl von Teilnehmern aus verschiedenen Fachbereichen der Kultur- und Sozialwissenschaften beteiligten, kann diese Zusammenstellung allerdings nicht in ihrer vollen Breite repräsentieren. Für das Sommersemester 1994 ist eine Fortsetzung der Veranstaltungen am ZENAF geplant, die weitere Fragen der Problematik der Institutionalisierung des Multikulturalismus aufgreifen soll.
In den neueren literaturtheoretischen Diskussionen wird die Arbeit des Interpretierens, zumal wenn es in kritischer oder ideologiekritischer Absicht erfolgt, radikal in Frage gestellt. Es scheint, als hätte die Literaturwissenschaft die von Susan Sontag vor nun fast dreißig Jahren in ihrem Essay Against Interpretation vorgeschlagene "Erotik der Kunst" zu guterletzt noch ernst genommen und zur Sündhaftigkeit gesteigert. Das wäre doch zu viel des Sinnlichen für Germanistik-Seminare. Zwar hat die Philologie seitdem bisweilen den Tugendpfad der Hermeneutik verlassen und sich auf textlinguistische, diskursanalytische oder systemtheoretische Pfade begeben, jedoch verbürgtermaßen niemals aus Lust am Text. Trotzdem wächst die Kritik an der unermüdlichen, manchmal schwerfälligen und oft mühseligen Arbeit der Interpretation, mehren sich die Stimmen, die das Objekt des sündhaften Begehrens, sie Literatur, vor den Interpreten schützen wollen. Und zunehmend sind es grundsätzliche, das theoretische Verständnis von Autor und Werk betreffende Einwände, die laut werden.
Goethes Lebens-Erinnerungen
(1996)
Wenige Wochen nach seinem sechzigsten Geburtstag entwirft Goethe ein Schema seiner Biographie. Offenbar hält er die Zeit für gekommen, Rückschau zu halten. Das erscheint verfrüht, wenn man bedenkt, daß er seine Hauptwerke, den Diwan, die Wanderjahre, den Faust II noch vor sich hat. Doch das eine hängt mit dem anderen zusammen: Goethe schreibt seine Lebenserinnerungen nicht obwohl, sondern weil er große Projekte vor sich hat. Er vollzieht die Retrospektive nicht im Interesse einer abschließenden Bilanz, sondern des Aufspürens kreativer Impulse. Im folgenden soll gezeigt werden, daß Goethe dieses Aufspüren schöpferischer Quellen durch eine Erinnerungstechnik vollzieht, die den faktischen Gang des äußeren Lebens in bestimmter Weise transzendiert. Erinnerung der eigenen "Vita" heißt bei ihm: Innewerden der lebendigen Naturproduktivität – nicht im abstrakten Zugriff auf das "große Ganze", sondern durch Bewußtmachung der Bedingtheit des kulturellen Gedächtnisses. ...
Die gegenwärtige Debatte zur Naturästhetik erinnert in manchen Zügen an den vorstehenden Dialog aus Becketts 'Endspiel'. Die Hamms dieser Debatte, sentimentalische Physiozentriker, werden von anthropozentrischen Clovs mit letzten erkenntnistheoretischen Wahrheiten konfrontiert: "Natur als solche existiert nicht." ...
Ein Blick auf die gegenwärtige Lage der literaturwissenschaftlichen Germanistik weckt den Eindruck, daß ihre Dauerkrise, deren sie sich seit 1966 erfreut, durch zwei völlig entgegengesetzte Therapien gelöst werden soll. Die eine Lösung besteht in einer radikalen Engführung der Literaturwissenschaft, die andere in deren rückhaltloser Erweiterung. Die Frage ist, ob man zugleich ein- und ausatmen kann. Die weitere Frage ist, ob es überhaupt wünschbar ist, die sog. Dauerkrise zu beenden. Wollen wir überhaupt eine Germanistik, die von einem homogenen Theorie-Paradigma zusammengehalten und damit in der Lage wäre, zwischen den zerstrittenen Positionen Konsens zu stiften? Ich denke, wir sollten es nicht wollen. Wenn es eine Lehre von 1945 und 1989 gibt, dann die, daß man schiasmatische Wissenschaftsentwicklungen nicht bedauern, sondern begrüßen sollte. Nicht Einheit, sondern Vielheit, nicht Identität, sondern Differenz, nicht Homogenität, sondern Heterogenität schaffen das Klima für eine kreative Wissenschaft. ...
In der Schrift Der Verfasser teilt die Geschichte seiner botanischen Studien mit (1817) erinnert Goethe, wie er 1786 in Padua angesichts einer Fächerpalme die Idee zur "Metamorphose der Pflanze" faßte. Er ließ deswegen einen Gärtner die "Stufenfolge dieser Veränderungen" abschneiden und führte diese botanischen Dokumente zwischen großen Pappen mit sich. 1817 weiß er, wie dieses Verhalten zu bezeichnen ist: "Sie liegen wie ich sie damals mitgenommen, noch wohlbehalten vor mir und ich verehre sie als Fetische, die meine Aufmerksamkeit zu erregen und zu fesseln völlig geeignet, mir eine gedeihliche Folge meiner Bemühungen zuzusagen scheinen." (WA II, 6, 119-121) ...
Als ich meinen achtjährigen Sohn wieder einmal in televisionärer Trance versunken fand und mir aus seinem verglasten Blick das ganze Elend unserer Infotainment-Kultur zu starren schien, verfiel ich auf eine fragwürdige pädagogische Maßnahme. Ich streute in den nächsten Werbeblock die Information, zu meinem bevorstehenden Geburtstag könne ich mir nichts Schöneres vorstellen, als daß er mir ein Gedicht aufsage. Freilich sind Gedächtnisaufgaben Routinesache für ihn. Tapfer schluckt er seine Schulspeisung an dem, was man für kindgerechte Lyrik hält und als Stärkungsmittel gegen den heutigen Bildungsverfall durch Bildkonsum verabreicht. Und auch mich hat er schon durch eine Rezitation von Goethes Gefunden beglückt, da sie die Anschaffung eines größeren Gameboy begünstigte. Mit meinem Geburtstagwunsch aber hatte ich den Ehrenpunkt berührt. Nun mußte er zeigen, was er aus intrinsischen Motiven zu memorieren bereit war. ...
Verzeitlichung, das Leitmotiv dieses Buches, ist ein Schlüsselbegriff für das Verständnis unserer kulturhistorischen Situation. Ohne die Ablösung der Zeit vom Raum, ohne die Emanzipation temporaler Prozesse von topischen Bindungen wäre die Fortschrittsdynamik der Moderne nicht durchsetzbar gewesen. Deren Errungenschaften, das Aufbrechen starrer Ordnungsstrukturen, wie auch ihre Kehrseite, das Herausfallen aus lebensweltlichen Orientierungsrahmen, sind Resultate desselben Vorgangs. ...
Goethes Faust kann im doppelten Sinne als "Drama der Verzeitlichung" gelesen werden: Das Werk problematisiert den in ästhetischer wie außerästhetischer Hinsicht dramatischen Wandel der kulturellen Anschauungsformen vom Raum zur Zeit, von der Naturalisierung der Geschichte bis zur Historisierung der Natur. Diese Feststellung, die im folgenden konkretisiert werden soll, gründet sich auf die Beobachtung einer bemerkenswerten Korrelation. In der über sechzigjährigen Entstehungsgeschichte des Faust hat Goethe es vermocht, den jeweils aktuellen Stand seiner Auseinandersetzung mit den Akzentverschiebungen und Umwälzungen im naturgeschichtlichen Denken seiner Zeit dramaturgisch zu verarbeiten, ohne das früher Gestaltete durch das später Hinzugekommene zu ersetzen. ...
Mit Erstaunen stellen LinguistInnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz immer wieder fest, dass sich in der "kleinen" Schweiz der geschlechtergerechte Sprachgebrauch in Öffentlichkeit und Alltag weit stärker durchgesetzt hat als in den anderen deutschsprachigen Ländern. Diese Einschätzung gilt es hier zu überprüfen und, falls sie zutrifft, zu belegen. Ausserdem werden - als erster Schritt fur weitere Untersuchungen - Thesen formuliert, die Erklärungen liefern, worauf diese Entwicklung zurückgeführt werden kann. Mit diesem Artikel geben wir anband von ausgewählten, konkreten Beispielen einen Einblick in die Situation, wie sie sich zur Zeit in der Schweiz präsentiert. Wir konzentrieren uns - unter sprachsoziologischer Perspektive - auf eine erste Bestandesaufnahme mit dem Blick auf die Diskussion in den Medien, die Institutionalisierung und die Einstellungen, die die spezifische sprachliche Situation in der Deutschschweiz prägen. Einen Rahmen fur unsere Untersuchung bilden die Überlegungen von Schräpel (SCHRÄPEL 1986), die die Auseinandersetzung um nichtsexistische Sprache als ein besonderes Sprachwandelphänomen untersucht. Sprachwandel im Vollzug ist einerseits einfacher zu erfassen als einer, der weiter zurückliegt, andererseits erschwert die Fülle des greifbaren Materials auch den Durchblick und das klare Erkennen von Tendenzen. Aus diesem Grund werten wir unser Datenmaterial nicht quantitativ aus, sondern konzentrieren uns darauf, für verschiedene Aspekte typische Beispiele zu geben und so den Stand der öffentlichen Diskussion und die Breite der vertretenen Meinungen darzustellen. Es wäre verlockend, das hier vorliegende Material auch allgemeinerer Form unter der Thematik "Sprachkritik" oder "Einstellungen" zu analysieren. Dies ist jedoch nicht im Zentrum unserer Fragestellung, weshalb wir bei einigen Beispielen auf entsprechende Untersuchungen (z.B. BLAUBERGS 1980, SCHOENTHAL 1989) verweisen.
Der Roman "Die Wahlverwandtschaften" ist im ersten Ansehen ein Kammerspiel des Sozialen. Dessen Kern bilden die vier Hauptpersonen, umgeben von einer begrenzten Zahl von Nebenfiguren. Um nichts anderes scheint es zu gehen als um die Charaktere und ihre Beziehungen, die Konflikte und Motive, die psychologischen und sozialen Dynamiken. So mag man Ottilie recht geben, wenn sie in ihrem Tagebuch den berühmten Grundsatz von Alexander Pope zitiert: "...das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch" (417). Ist dieses aus bester Aufklärungstradition stammende Prinzip nicht eine treffendere inscriptio des Romans als die chemische Gleichnisrede von den Wahlverwandtschaften, die niemals wenn nicht fälschlich auf die Konstellationen des Romans angewendet werden kann? ...
Während Fausts letzte Worte seit je den Kommentierungswillen der Interpreten herausfordern, macht sie die anschließende, das Drama erst abschließende Szene Bergschluchten vergleichsweise sprachlos. Schon das opernhafte Arrangement und die überschwenglichen Reime entziehen sich dem zugreifenden Gedanken, mit dem das Gemüt sich sonst wappnen mag. Zweifellos handelt es sich hier, wo es aus schwer erfindlichen Gründen mit Fausts Unsterblichem himmelan geht, um die abgründigste Szene der ganzen Dichtung. Scheu befiel schon ihren Autor bei der Abfassung vor jenen "übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen", denen gegenüber man sich "sehr leicht im Vagen hätte verlieren können". Daß er diese Scheu überwunden und die Gefahr der Verschwommenheit "durch die scharf umrissenenen christlich-kirchlichen Figuren und Vorstellungen" zu bannen gesucht hat, wurde von den Interpreten jedoch erst recht als Verständnisbarriere erlebt. ...
Das schöne Wort "Weltliteratur" verdanken wir zwar nicht Goethe, wie immer wieder behauptet wird, sondern Wieland. Goethe aber verdanken wir einen Begriff von Weltliteratur, der sich nicht auf den Kanon ihrer Meisterwerke beschränkt, wie es sowohl bei Wieland als auch im heutigen Sprachgebrauch konnotiert wird. Seine Verwendung des Begriffs umfaßt alles, was durch die Beschleunigung von Handel und Verkehr an Gedrucktem grenzüberschreitend Verbreitung findet. Dazu gehört sowohl die mit der Internationalisierung der Märkte unvermeidlich ausufernde Massenware als auch das Pretiose; die "englische Springflut" genauso wie der chinesische Sittenroman des Yü-chiao-li. Das entscheidende Definitionskriterium für Goethes Begriff der Weltliteratur ist die weltweite Rezipierbarkeit. Und was das Bedeutende vom Unbedeutenden unterscheidet, ist dennoch von denselben kommunikativen Voraussetzungen abhängig. ...
Hans-Georg Soldat rezensiert Günter de Bruyns Aufsatzsammlung "Deutsche Zustände. Über Erinnerungen und Tatsachen, Heimat und Literatur" aus dem Jahre 1999. Fast unversehens für den Leser weitet sich die Betrachtung jüngster Gegenwart zu einer subtilen Analyse ihrer Wurzeln, wird zu einer deutschen Geschichtsschreibung allgemein, zur Darstellung der Verdrängungsprozesse, die dabei in Ost und West gleichermaßen eine Rolle spielen. Das Überzeugende daran ist, dass dies ohne jeden Eifer geschieht, unaufgeregt, überlegen und dennoch unglaublich engagiert.
Schreiber schreiben, Leser lesen. Leser schreiben, Schreiber lesen. Schreiber schreiben, Leserinnen lesen. Dichter schreiben, Literaturwissenschaftler lesen. Dichterinnen schreiben, Literaturwissenschaftlerinnen lesen. Literaturwissenschaftler schreiben, Dichterinnen lesen... Es ist ein fast unendliches Spiel der Permutationen, das man über Hunderte und vielleicht Tausende von Jahren, als ein immer weiter sich differenzierendes, nachspielen kann.
Im Frühjahr 1998 lief in New York eine Retrospektive des 47jährigen, amerikanischen Videokünstlers Bill Viola. Die Ausstellung wurde zuvor in Los Angeles gezeigt. 1999 ist sei in Europa zu sehen (Amsterdam, Frankfurt/M.), sodann in San Francisco und Chicago: ein Programm bis zum Jahr 2000. Bill Viola soll zum Klassiker werden. In New York hatte das Whitney Museum of American Art seine beiden oberen Stockwerke freigeräumt, um siebzehn Videoinstallationen Raum zu schaffen. Man betrat vollständig abgedunkelte Stockwerke, in welche die Installationsräume labyrinthisch eingebaut waren. Es gab kein anderes Licht als dasjenige, das von den Installationen selbst ausging. Man konnte sich auch von den Tönen der Installationen leiten lassen. Das Aufsichtspersonal war von Viola geschult worden, mit etwaigen Verirrten und Verwirrten im Dunkel helfend umzugehen. Die Irritationen des Orientierungssinnes waren beabsichtigt. Man sollte in eine andere Welt eintreten. Der Gang durch die siebzehn Zellen sollte zu einer Initiation in die Welt Violas, einer Reise in die kunstvollen Phantasmen eines Gehirns. Durchaus drängte sich der Eindruck auf, daß der Gang durch die labyrinthischen Installationsräumen als eine Reise durch die inneren Kammern der Imagination Violas selbst inszeniert war. Zwar richten alle Kameras ihr Objektiv immer auf irgendein Ensemble der Außenwelt und insofern ist ihnen Referenzialität technisch eingebaut. Die Ausstellungsfolge der 'Bildkammern' Violas jedoch schien so arrangiert, daß man diese Referenz zunehmend verlor. Man tauchte in eine Bilderwelt, welche nicht die Außenwelt wiedergab, sondern direkt aus dem Bildgedächtnis und der Einbildungskraft des Gehirns zu erwachsen schien. Das machte den Besuch der Ausstellung zu einem Abenteuer, aber auch zu einer Art Intimität: es war eine Art visueller Beiwohnung der Innenwelt eines anderen Menschen, ebenso aufregend wie gelegentlich auch Scham oder das Gefühl wachrufend, man sei jemandem zu nahe getreten. Beides, Abenteuer wie Intimität, hat mit Grenzen und ihrer Überschreitung zu tun. Tatsächlich sollten die Besucher diesen Eindruck gewinnen: daß sie Grenzen überschritten, die gewöhnlich von Tabus und Verboten, von Scham oder Angst besetzt sind. Das einer Initiation ähnliche Arrangement diente einer solchen Grenzüberschreitung und Passage. ...
Das Unternehmen Krieg : Paramilitärs, Warlords und Privatarmeen als Akteure der neuen Kriegsordnung
(2000)
Im Neoliberalismus werden nicht nur Staatsbetriebe privatisiert, sondern auch die Kriegführung. So übernehmen private Militärunternehmen im Auftrag des Pentagon verstärkt Kampfaufträge. In Afrika verwandeln sich reguläre Armeen in private Bergbauunternehmen. Zur Aufstandsbekämpfung rüsten in Kolumbien und der Türkei Politiker private Paramilitärs aus, die gleichzeitig vom Drogenhandel profitieren. In Afghanistan werden Warlords unter Protektoratsherrschaft mit Regierungsgewalt ausgestattet. "Das Unternehmen Krieg" geht neuen Formen der Kriegsführung nach. Statt "Staatszerfall" und "Chaos", wie in den Medien oft beschworen, zeichnen sich dabei die Konturen einer "Neuen Kriegsordnung" ab. In ihr werden private militärische Akteure von Eliten eingesetzt, um Herrschaft zu sichern. Dabei ist oft nicht mehr ein militärischer Sieg, sondern die Kriegführung selbst das Ziel, um Profite erzielen zu können. Hinterlassen werden Hunderttausende von Opfern und Gesellschaften, in denen Wege zur Emanzipation neu eröffnet werden müssen. Der Sammelband füllt diese Thesen mit Länderkapiteln zu Kolumbien, der Türkei, Mexico, Guatemala, Jugoslawien, Afghanistan, Indonesien, Kongo, Angola und den USA. Die AutorInnen versuchen einen Beitrag zur Information und Diskussion der Neuen Kriege zu leisten und zielen damit nicht zuletzt auf die Anti-kriegs-und die Friedensbewegung ab. Wichtig erscheint dabei insbesondere die Erkenntnis, dass sich die Grenzen zwischen Krieg und Frieden immer weiter verwischen. Wie die im Buch dargestellten Entwicklungen zeigen, ist das Bombardement Bagdads oder Belgrads eben keineswegs die kurzzeitige Unterbrechung eines imaginierten "Friedens" durch den Ausnahmezustand "Krieg". Vielmehr breitet sich in größer werdenden Teilen des Globus ein permanenter Kriegszustand unterschiedlicher Intensität aus, der komplexere Antworten erfordert, als die Forderung nach dem Ende der Bombardierungen. Mit Beiträgen von: Thomas Seibert, Dario Azzellini, Knut Rauchfuss, Matilde Gonzales, Boris Kanzleiter, Dr. Matin Baraki, Henri Myrttinen, Björn Aust, Lisa Rimli, Dieter Drüssel und Volker Eick
"Die Kritik der Politik", schreibt Johannes Agnoli, "stellt [...] die Frage nach dem herrschaftssichernden Charakter aller Reformen und vergißt also die Frage nach dem cui bono nicht und nach der Zweckrationalität irrationalen Verhaltens der politischen Macht. Im Mittelpunkt steht nicht die Klage und das Klagen über die Unrichtigkeit der Protagonisten und die Lügenhaftigkeit des legitimatorischen Verfahrens [...]; sondern die Anklage gegen das Prinzip, daß Herrschaft naturnotwendig und höchstens zu bändigen sei; und als Schlußerkenntnis [...], daß Herrschen, daß das autokratische oder oligarchische oder parlamentarische Bestimmen über Gesellschaft allemal zu negieren sei - möge "die Form des Staates sein wie sie wolle" (Hölderlin)." Doch dies, so fügt Agnoli hinzu, "wäre immer noch Gesinnung, kein Bewußtsein." Es genüge nicht festzustellen, "daß sich die Form Staat inzwischen als falsches Projekt erwiesen, als gescheiterter Versuch in die Geschichte eingegangen ist [...] Alle Kritik - will sie mehr sein als Gesinnung - hat ein Kriterium auszuweisen, an dessen Kategorie die Übersetzung des richtigen Denkens in die Anleitung zum Handeln möglich wird." Es gehe "weder um die Wiederherstellung der Identität von Norm und Wirklichkeit noch um die Lobpreisung des Gemeinwohls als Ziels allen politischen Handelns. Will man [...] andere Verhältnisse schaffen und nicht bloß verbesserte Herrschaft, so wird die Kategorie von vornherein selbst keine formale (bonum commune) noch eine normativ-moralische (gute Verfassung gegen schlechte Politik) sein können, sondern eine materielle." Aus der Frühzeit der Form Staat stammen die ersten großen Klagen über die Unrichtigkeit der Protagonisten der Politik und die Lügenhaftigkeit des legitimatorischen Verfahrens der Demokratie. Im Unterschied jedoch zum späteren demokratischen Gejammer verschleiern sie die Frage nach dem cui bono und nach der Zweckrationalität des Verhaltens der politischen Macht noch kaum. So wenig sie auch das Prinzip, daß Herrschaft naturnotwendig und höchstens zu bändigen sei, in Frage stellen und sosehr sie im Grunde nur die Wiederherstellung der Identität von Norm und Wirklichkeit einklagen, sie beschränken sich keineswegs auf formale oder normativ-moralische Kategorien - und was damit unmittelbar zusammenhängt: sie gewähren ästhetischen Genuß. In der Frühzeit des Staats konnte dessen Kritik eben noch tragische oder komische Form annehmen.
Wie, so frage ich, soll man als Literaturhistoriker noch über Martin Walser schreiben, ohne unter Verdacht zu geraten, ihn für seine Friedenspreis-Rede mit einem Angriff auf sein literarisches Werk abzustrafen? Auf den Knien, wie Frank Schirrmacher oder auf dem Bauch, wie Franziska Augstein ? Muß man "zittern" wie der Geehrte, wenn nüchterne Analyse und nicht Huldigung das Ziel ist? Wird man zu den "Überführungsexperten (...) auf der Suche nach jenem letzten, allen Verdacht bestätigenden Beweis" gezählt, wenn man sich auf die philologische Suche nach den Quellen der Frankfurter Rede begibt?
Issues on topics
(2000)
The present volume contains papers that bear mainly on issues concerning the topic concept. This concept is of course very broad and diverse. Also, different views are expressed in this volume. Some authors concentrate on the status of topics and non-topics in so-called topic prominent languages (i.e. Chinese), others focus on the syntactic behavior of topical constituents in specific European languages (German, Greek, Romance languages). The last contribution tries to bring together the concept of discourse topic (a non-syntactic notion) and the concept of sentence topic, i.e. that type of topic that all the preceding papers are concerned with.
This 18th issue of ZAS-Papers in Linguistics consists of papers on the development of verb acquisition in 9 languages from the very early stages up to the onset of paradigm construction. Each of the 10 papers deals with first-Ianguage developmental processes in one or two children studied via longitudinal data. The languages involved are French, Spanish, Russian, Croatian, Lithuanien, Finnish, English and German. For German two different varieties are examined, one from Berlin and one from Vienna. All papers are based on presentations at the workshop 'Early verbs: On the way to mini-paradigms' held at the ZAS (Berlin) on the 30./31. of September 2000. This workshop brought to a close the first phase of cooperation between two projects on language acquisition which has started in October 1999:
a) the project on "Syntaktische Konsequenzen des Morphologieerwerbs" at the ZAS (Berlin) headed by Juergen Weissenborn and Ewald Lang, and financially supported by the Deutsche Forschungsgemeinschaft, and
b) the international "Crosslinguistic Project on Pre- and Protomorphology in Language Acquisition" coordinated by Wolfgang U. Dressler in behalf of the Austrian Academy of Sciences.
Humboldt hat von früh an in unmißverständlicher Klarheit gesagt, was er wollte. Nämlich die Mannigfaltigkeit, die unabsehbaren Ketten, die ungeheure Verstreutheit, die überwältigende Heterogenität der Naturerscheinungen zu einer qualitativen Totalität, zu einer Idee und zu einem Ganzen zusammenzufassen, das auch noch anschaulich sein soll. Dieses Konzept liegt schon den "Ansichten der Natur" von 1808 zugrunde, ist aber viel älter und geht auf die 90er Jahre zurück. Es hat sich auch im letzten Werk, dem "Kosmos", nicht geändert. Im Konzeptuellen herrscht bei Humboldt eine eigentümliche Entwicklungslosigkeit. Dieser 'Wille zum Ganzen' ist das nunc stans in dem sonst so überaus bewegten Leben Humboldts, in dessen Verlauf er häufig genug die realen Ziele zu ändern gezwungen war, ohne doch seine Grund-Idee aus dem Auge zu verlieren. ...
Raymond Radiguet starb 1923 an Typhus, gerade zwanzigjährig. Er hinterließ zwei furiose Romane, "Le Diable au corps" und "Le bal du Comte d'Orgel", und ein paar Dutzend Gedichte. Jean Cocteau, selbst jugendverliebt und älter werdend, schreibt später im Nachwort zum ersten Roman: "Radiguet verabscheute die Oscar Wildesche Vorstellung von der Jugend. Er wäre so gern alt geworden. Heute wäre er fünfzig. Doch mit seinen unerbittlichen Händen hat der Tod ihn in der Gestalt eines Zwanzigjährigen festgebannt, ein für allemal." ...
Erotische Anatomie : Fragmentierung des Körpers als ästhetisches Verfahren in Renaissance und Barock
(2001)
1536 erscheinen die danach vielfach neuaufgelegten und erweiterten "Blasons anatomiques du corps féminin", eine Sammlung von Preisgedichten jeweils auf einzelne "Körperteile". Die Blasons sind zunächst im Anhang zur "Hécatomphile" des LéonBattista Alberti versteckt, bevor sie 1543 auch seperat gedruckt werden. Der Dichterfürst Clément Marot (1496-1541) hatte mit dem Gedicht "Le beau tétin" (Das schöne Brüstchen) das Modell vorgegeben und seine Poetenkollegen brieflich eingeladen, über schöne, sprich: reizende Teile zu schreiben – weibliche, versteht sich. Wir sind mitten im Thema. ...
Wer nach Paris kommt, sollte nicht versäumen, die Stiegen auf das Dach der Kathedrale Notre-Dame zu klettern und dort die steinernen Monstren, Fabeltiere und Dämonen zu besichtigen, durchaus Meisterwerke gotischer Steinmetz-Kunst. Noch immer kann man die Blicke imitieren, die Mitte des 19. Jahrhunderts den Künstler Charles Meryon (1821-1868) zu seinen Radierungen inspirierte: mit ihnen versetzte er die "Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts" (Walter Benjamin) unter die Zeichen eines fremdartigen und unheimlichen Tierkreises, der nicht die Ordnung des Himmels, sondern das nächtliche Gewimmel einer dämonischen Gegenwelt wiedergab. Seltsam genug ragten seit Jahrhunderten die Lamien und Empusen, die Keren und Chimären, die Teufelsfratzen und Basilisken, Drachenköpfe und Kynokephalen über das Häusermeer der Metropole, die sich gerade anschickte, zum Labor der urbanindustriellen Moderne zu werden. Die steinernen Monstren, die oft auch die Westportale besetzt hielten, weil von dort der Angriff der Dämonen zu erwarten war, dienten im Mittelalter als Wächterfiguren, welche den heiligen Raum des Kirchenbaus vor dem Eindringen der satanischen Rotten zu behüten hatten. ...
"Übersetzt", "eingeleitet", "herausgegeben von Marie Herzfeld" - so oder ähnlich steht es auf zahlreichen Titelblättern der Jahrhundertwende. Was sich dahinter verbirgt, ist eine kleine Bibliothek literarischer und kulturhistorischer Texte aus verschiedenen Sprachen, welche die Schriftstellerin Marie Herzfeld (1855-1940) einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat; vornehmlich skandinavische Literatur und Texte der italienischen Renaissance. Wenn der Name Jacob Burckhardts für eine "große Erzählung" der Renaissance steht, so betreibt Herzfeld mit ihren "Quellentexten zur Geschichte der italienischen Kultur", zwischen 1910 und 1927 im Eugen Diederichs Verlag erschienen, eine Art kleine kulturgeschichtliche Archäologie. Sie präsentiert frühneuzeitliche Originale und bietet den Lesern einen unverstellten Blick auf deren Fremdheit; andererseits gibt sie Verständnishilfen, holt das Vergangene gleichsam zoomartig heran und "verlebendigt" es durch ihren Kommentar. Ihr Focus ist ein kulturwissenschaftlicher - auch im heutigen Sprachgebrauch. Die Spurensicherung dieser Imellektuellen ohne akademische Ausbildung im engeren Sinn und ohne institutionellen Status wirft die Frage auf, wie kulturwissenschaftliche Gegenstände von Positionen der Randständigkeit entstehen können. So gefragt, ist es weder naiv noch vermessen, Marie Herzfeld für die Anfänge der Kulturwissenschaften in den Dienst zu nehmen. Allerdings bleibt das Problem, mit einem Begriff hantieren zu müssen, der nicht nur unscharf ist, sondern auch oder gerade deswegen gegenwärtig beinahe inflationär gebraucht wird – ein Schicksal, das er mit dem der "Cultur" im "fin de siècle" teilt.
Till Eulenspiegel, erzählt das 1515 in Straßburg gedruckte Schwankbuch, kommt nach Marburg an den Hof des Landgrafen von Hessen und gibt sich dort als Maler aus. Seine Mustermappe enthält die Werke anderer Künstler und so verschafft er sich einen ganz besonderen Auftrag: Er soll den Schloßsaal mit einer Ahnengalerie ausmalen, mit dem "Herkumen der Landgrafen von Hessen". Eulenspiegel verlangt 400 Gulden und legt die Hände in den Schoß. Bis zur Vollendung des Gemäldes darf den Saal niemand betreten. Die mit der ersten Rate von 100 Gulden engagierten Gehilfen werden für ihren Müßiggang gut bezahlt und lassen daher den Schwindel nicht auffliegen. Als aber der Landgraf endlich das Werk sehen will, erklärt ihm Eulenspiegel zuvor, nur ein ehelich Geborener könne etwas von dem Bild erkennen. Der Schelm zieht im Saal den Vorhang weg und erläutert mit einem Zeigestab die Ahnenbilder, beginnend mit dem ersten Landgrafen, einem Colonna von Rom, der die Tochter Justinians zur Frau gehabt habe - eine natürlich erfundene Genealogie.
Auch wenn es in der Regel eilt: bevor man ein Kunstwerk erhalten kann, muss man es angemessen zu beschreiben wissen, sonst läuft man Gefahr, grobe Fehler zu begehen. Dies gilt für ein Werk auf Basis "alter" Materialien wie Stein, Holz, Leinwand, Fasern, Bindemittel und Pigmente, dies gilt in nicht geringerem Masse für ein Werk, das moderne Materialien enthält: Kunststoffe, synthetische Farben, Halbleiter und elektromagnetische Felder. Die Definition dessen, was eigentlich das elektronische Kunstwerk ausmacht, führt mitten in die Thematik, was zu berücksichtigen und was zu unternehmen ist, wenn das Werk vom Neuzustand in die Alterungsphase eintritt. ...
Sie werden, meine Damen und Herren, diese Bilder "2001 – A Space Odyssey" von Stanley Kubrick erinnern. Dieser Film, 1968 gedreht, also noch vor der ersten bemannten Mondlandung und noch vor dem takeoff des Computerzeitalters – dieser Film ist nicht nur eine Inkunabel eines ganzen Filmgenres, sondern er hat unsere Bilder von Weltraum und Computer maßgeblich geprägt. Er vermochte dies auch deswegen, weil Kubrick hier technische Phantasien und religiöse Motive, psychodelische Zeitreisen und metaphysische Sinnsuche, Urgeschichte und Endgeschichte, Angst vor der Technik und Sehnsüchte nach einer Entgrenzung jenseits von Zeit und Raum in maßstabsetzende Bilder brachte, verbunden mit einem niemals zuvor derart ungeheuren Einsatz von Musik und einer so noch niemals zuvor gesehenen Herabsetzung des Mediums, das seit alters her als die Sphäre des Menschlichen überhaupt angesehen wurde, nämlich die Sprache. Von 141 Minuten Film sind nur 40 Minuten von Dialogen begleitet. Kubrick erweist den Film als dasjenige Medium, in welchem die visuellen Mythen unserer Zeit kreiert werden. ...
Der bürgerliche Kalender des 19. Jahrhunderts schafft eine eigene Zeitordnung. Wer 25 Jahre sein Unternehmen durch den Zeitenwechsel bringt, darf diesen Zeitraum mit goldenem Lorbeer umrahmen, ebenso derjenige, der dem Staat als Beamter ein Vierteljahrhunderts gedient hat. Eine goldene Uhr wird ihn fortan daran erinnern. Für die Ehe gleicher Dauer muß man sich mit Silber begnügen, das Goldene Zeitalter beginnt in diesem Fall erst nach fünfzig Jahren. Nicht nur das Ereignis, auch der Zeitraum selbst wird, skaliert von 25 bis 1000, kulturell erinnerungswürdig und -fähig. Wer die Jahre zählt, läßt die Verbindung zum Vergangenen nicht abreißen. Vergangenheit erhält ihren Ort und ihren Tag im Alltag der Gegenwart. Die Erinnerung der Individuen wird an Jubel- und Gedenktagen durch ein kollektives Gedächtnis abgelöst. Der 1. Mai z.B will an etwas erinnern und läßt sich dennoch auf kein ursprüngliches Ereignis zurückführen. ‘Denkmal’ kann im 19. Jahrhundert fast alles werden, nicht nur Gebilde aus Stein und Bronze, auch Profanes wie Bierkrüge, Gläser, Teller, Zigarrenkisten, Hüte: das kollektive Gedächtnis muß an ihnen nur ausreichende Flächenhaftung finden oder sich eingravieren lassen.
Deutschland 1932: die Erfahrungen des Amerikanismus und des Fordismus waren gerade verarbeitet; man hatte die neuen Geschwindigkeiten und die Vermassung der Millionenstädte ebenso studiert wie das Industrieproletariat und die frischen Angestelltenschichten; der Funktionalismus hatte in allen Bereichen der Moderne, auch im Design und in der Architektur, seinen Siegesszug angetreten; man hatte an der Metropole Berlin erstmals auch die Wahrnehmungs-Modalitäten von Big Cities ästhetisch durchbuchstabiert; man hatte indes auch mit dem schwarzen Freitag die Konsequenzen globalisierter Wirtschafts- und Börsenverflechtungen erlitten – in diesem Jahr 1932 also bildet der österreichische Schriftsteller und Naturwissenschaftler Robert Musil in seinem "Mann ohne Eigenschaften" die "soziale Zwangsvorstellung" einer "überamerikanischen Stadt", "wo alles mit der Stopuhr in der Hand eilt oder stillsteht. Luft und Erde bilden einen Ameisenbau, von den Stockwerken der Verkehrsstraßen durchzogen. Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwerkketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andre; man springt an den Knotenpunkten von einem Bewegungsapparat in den andern, wird von deren Rhythmus, der zwischen zwei losdonnernden Geschwindigkeiten eine Synkope, eine Pause, eine kleine Kluft von zwanzig Sekunden macht, ohne Überlegung angesaugt und hineingerissen, spricht hastig in den Intervallen dieses allegemeinen Rhythmus mit einander ein paar Worte. ...
Hegel hat endlos vielen Interpretationen von Tragödien, und so auch solchen der "Antigone" das Schema vorgegeben, wenn er den tragischen Konflikt als die Kollision zweier sittlicher Ansprüche bezeichnete, die beide in sich selbst gerechtfertigt sind. Für die "Antigone" hieß dies, daß die Sittlichkeit der Familie, durch Antigone repräsentiert wie erlitten, auf die Sittlichkeit des Staates stoße, die in Kreon resümiert ist. Und da beide Sittlichkeiten in sich notwendig seien, müsse die Kollision einen tragischen Terminus finden. Dies umso mehr, als zur tragischen Kollision gehöre, daß beide Positionen jeweils Momente der Gegenposition enthielten, die aber jeweils implizit und unausgedrückt blieben, so daß weder Antigone noch Kreon die Berechtigung der jeweils anderen Auffassung auch nur ansatzweise teilen könne. Unversöhnlich prallen beide Positionen aufeinander, weil die Protagonisten innere Ambivalenzen nicht zuließen. ...
Als Hintergrund der Übersetzungen Elisabeths von Nassau-Saarbrücken wird in der Forschungsliteratur unseres Jahrhunderts wiederholt eine kulturelle Bewegung namhaft gemacht, die man mit den Begriffen ,Ritterrenaissance' oder "Ritterromantik" belegt. So spricht beispielsweise Wolfgang Haubrichs von der "aufkomrnenden Ritterrenaissance Frankreichs und Burgunds [ ... ], wo man Motive aus ,Perceval' in prunkvolle, als Palastschmuck gedachte Teppiche webte". Einen Versuch, die Werke Elisabeths in einen grösseren europäischen Zusammenhang einzuordnen, hat Josef Strelka in seiner ungedruckt gebliebenen Wiener Dissertation von 1950 unternommen: "Feudalromantische Strömungen in der Renaissancedichtung und ihre Entwicklung".
Der Liebesbrief des 20. Jahrhunderts ist Ausdruck einer konkreten lebensweltlichen und historisch zu verortenden Praxis der Liebeskommunikation. Liebesbriefe sind Brautbriefe, Liebesbekenntnisse, Berichte aus dem Alltag, Soldatenbriefe, Vereinbarungen von Treffen, E-Mail-Korrespondenzen, Flirtbriefe und Zettelchen – es gibt eine reiche Palette an Funktionen und Typen. Im Hinblick auf eine Geschichte des Liebesbriefs im 20. Jahrhunderts zeigte sich, dass im Liebesbrief neben der Liebeserklärung auch „Beziehungsarbeit“ und besonders aber die Konstruktion von Intimität eine zentrale Rolle spielt. Die Kritik an der Sprache der Liebe und des Liebesbriefs (des 19. Jahrhunderts) kann bereits in den 1920er Jahren beobachtet werden. Zu einem Codewechsel kommt es in Briefen der 1960er Jahre. Die Schriftlichkeit des Liebesbriefs entfernt sich allmählich von einer ausschließlichen Schreibschriftlichkeit. Der Liebesbrief wird mehr und mehr zu einem Sprache-Bild-Text. Die neuen Medien der Liebesschriftlichkeit zeigen eine Mediatisierung auch im Bereich des Liebesdiskurses: neben neuen Liebesbrieftypen, wie dem Flirtbrief, bilden sich neue Liebesbeziehungstypen heraus. Darüber hinaus fungieren die neuen Medien immer schon selbstreflexiv als Metakommunikatoren der Modernität.
Hans-Georg Soldat rezensiert für NDR 3 / Radio 3 die im Jahr 2001 im Aufbau Taschenbuchverlag Berlin erschiene Aufsatzsammlung feuilletonistischer Arbeit "Ich bin ein Narr und weiß es" von Rolf Schneider. "Liebesaffären deutscher Literaten" ist der Untertitel des schmalen Bandes, hervorgegangen aus einer Serie für eine Berliner Tageszeitung - wobei der Begriff "Literaten" sehr weit gefasst wird. Zwanzig Geschichten um Liebe, erotische Verirrung, Abhängigkeit und oft schmerzhafte Trennung, einige etwas bekannter, manche ziemlich unbekannt, viele jedoch auch nur vergessen, weil die zugehörigen Schriftsteller bzw. Schriftstellerinnen nicht mehr präsent sind. Zur Berechtigung seines Feuilletons meint Rolf Schneider, sie seien "mehr als bloß eine Sammlung biographischer Pikanterien. Sie sind ein Stück Kultur- und Sittengeschichte." Was ebenso wahr wie banal ist, weil es auf jedes Schicksal zutrifft.
Als Friedrich Nietzsche vom Tod Gottes sprach, von der Umwertung aller Werte, habe er über eine Überschreitung der selbst gesetzten Grenzen gesprochen. Gott zu töten bedeute bei ihm letztlich, einen Gott zu töten, der bereits tot ist, bzw. den Gott nur zu beschwören, um ihn in einem Akt der Grenzüberschreitung immer wieder töten zu können: "Der Tod Gottes schenkt uns nicht einer begrenzten und positiven Welt wieder, sondern einer Welt, die sich in der Grenzerfahrung entfaltet, die sich im Exzeß, der die Grenze übertritt, bildet und auflöst." Das ist Michel Foucaults nietzscheanischer Kommentar zum Werk des französischen Sexualphilosophen Georges Batailles, der den Akt der exzessiven Grenzüberschreitung bereits in den fünfziger Jahren zur Utopie erhoben hatte. Er definierte diese Grenze jedoch nicht als eine allseits feststellbare moralische Demarkationslinie, sondern als ein flüchtiges Phänomen, das sich im Grunde erst im Moment der Transgression offenbahre.
Liest man die heute schon reichlich nostalgisch angehauchten Rückblicke auf die Blütezeit des Neuen deutschen Films in den siebziger Jahren, dann stößt man auf die Namen Fassbinder, Schlöndorff, Wenders und Herzog, vielleicht noch Kluge und Schroeter. Kaum aber noch fällt der Name Hans Jürgen Syberberg. Das ist um so erstaunlicher, da Syberberg damals im Ausland – und wo sonst, wenn nicht im Ausland, galt der Neue deutsche Film als das, was er in der Bundesrepublik nie war: als kulturelle Dominante – als der deutsche Filmemacher schlechthin angesehen wurde.
In Rückblicken auf die Germanistik der sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, in denen das Fach expandierte und so viele Studierende anzog wie kein anderes geisteswissenschaftliches, ist dennoch meist von "Krise" die Rede. Von der Bildungsöffentlichkeit wurde die Germanistik und das von ihr verbreitete Wissen als antiquiert wahrgenommen und mit einem Verfallsstempel versehen. Nicht nur der von der Literaturwissenschaft favorisierte Kanon literarischer Werke geriet in die Kritik, sondern ebenso das als gesichert geltende Fachwissen. Der Germanistik gegenüber wurden die Vorwürfe erhoben, eine Disziplin ohne ein Objekt im Sinne moderner Wissenschaft zu sein, das Wissen anderer Fächer nicht zur Kenntnis zu nehmen und die zeitgenössische Literatur zu ignorieren. Das Fach wurde so weit destabilisiert, dass seine Einheit zu zerbrechen drohte.
Nominalizations
(2002)
The present volume is a selection of the papers presented in workshops at ZAS in Berlin in November 2000 and at theUniversity of Tübingen in April 2001, devoted to synchronic and, diachronic aspects of various types of nominalizations. Nominalization has a long history in linguistic research. Its nature can only be captured by taking into account the interface between morphology, syntax and semantics on the one hand, and the interface between semantics and conceptual structure on the other.
1998 und 2000 fanden zwei virtuelle Konferenzen im Bereich der Politik und politischen Bildung statt. Die Zielgruppe, die dabei den Weg ins Netz fand, kam aus dem Bereich Erwachsenenbildung und politische Bildung und hatte meist keine oder wenig Erfahrungen mit der Nutzung der kommunikativen Dienste des Internet. Ein explizites Ziel der beiden Veranstaltungen mußte daher die einfache Bedienbarkeit sein. Eine besondere Herausforderung lag zudem darin, die Personen, die sich deutschlandweit zu den beiden virtuellen Veranstaltungen angemeldet hatten, innerhalb der Tagungsdauer zu einer aktiven Diskussion zu motivieren. Aus den Erfahrungen mit den beiden Veranstaltungen können Hinweise auf die Gestaltung virtueller Konferenzen abgeleitet werden. Neben der Definition einer virtuellen Konferenz und ihrer Einordnung zwischen anderen Kooperations- und Kommunikationsformen im Netz, werden in diesem Beitrag die beiden Konferenzen vorgestellt und ein Fazit sowie einige Gestaltungstipps davon abgeleitet.