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The concept of the “magic circle” (Johan Huizinga) defines the stage and the specific performative conditions for magic to work. This concept which was applied by Huizinga to spaces such as the courtroom, the church or the theatre is extended in this essay to the page of the literary text. It is argued that something of the age-old magic of oral poetry is preserved in contemporary German memory fiction that stages an encounter with dead family members. In novels by Peter Härtling (Nachgetragene Liebe) and Uwe Timm (Am Beispiel meines Bruders) a repressed past is emotionally revisited and at the same time exposed to new reflection in the light of hindsight. The therapeutic setting of “family constellation” is introduced as another manifestation of the magic circle in our contemporary world in which latent traumas are acted out and worked through in a cathartic process.
Vom wüsten Raum zur affektiven Provinz : westliche Semantisierungen östlicher Landschaft 1800−1960
(2011)
In Europa meint die Zuschreibung der Himmelsrichtung stets mehr als eine rein kartographische Situierung. Was als "Osten" bezeichnet wird, unterliegt historisch ständigen Verschiebungen, bei denen sich eine enge Kopplung zwischen geographischer und semantischer Dimension verfolgen lässt. Bei dieser beweglichen Grenzziehung nimmt Deutschland einen besonderen Platz ein: Das Land erscheint in Selbst- wie Fremdbeschreibungen als Hybrid zwischen Ost und West und unterhält gleichzeitig eine eigene Faszinationsgeschichte mit der Figur des Ostens, die zwischen Abwehr, Okkupation und Identifikation schwankt. Es bildet daher den Ausgangs- oder vielmehr Durchgangsort, um im Folgenden die semantischen Wanderungen im (westlichen) Blick auf östliche Landschaften nachzuzeichnen. Die Etappen reichen von der Wahrnehmung der Gegend um Berlin als wüsten Raum um 1800 bis zur affektiven Besetzung der ehemaligen deutschen Gebiete in Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Aus geographischen Provinzen werden dabei Provinzen des Gedächtnisses.
Beirut und Berlin, die libanesische und die deutsche Hauptstadt, weisen – neben zahlreichen evidenten Unterschieden – eine Reihe von Parallelen auf, die im Zusammenhang mit Krieg und Teilung, Zerstörung und Wiederaufbau ihres Stadtzentrums stehen. Ähnlich wie die Gegend um den Potsdamer Platz in Berlin nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und in den Jahrzehnten der deutschen Teilung war das Beiruter Stadtzentrum im Laufe des Bürgerkriegs (1975−1990) zu einer Art Niemandsland geworden. Als Schauplatz heftiger Kämpfe war es bereits zu Beginn des Krieges weitgehend zerstört und in der Folge von Bewohnern wie Geschäftsleuten verlassen worden. [...] Im Anschluss an einen kurzen Exkurs zur Geschichte des Beiruter Stadtzentrums werden im Folgenden einige Ausschnitte aus der Debatte vorgestellt. Auf der einen Seite wird es um die Wiederaufbaupläne gehen, um die mit hohem Aufwand betriebene Medien-Kampagne und das Vorgehen der mit dem Wiederaufbau betrauten Immobilienfirma sowie um den Widerstand, den dies hervorrief. Auf der anderen Seite werden künstlerische Positionen, Einwände und Gegenentwürfe vorgestellt: Am Beispiel zweier in den 1990er Jahren erschienener Romane wird illustriert, wie das Beiruter Stadtzentrum als Schauplatz für Debatten dient, in denen Fragen von Identität, Erinnerung und Verantwortung verhandelt werden.
Im Folgenden werden zunächst punktuell symbolische und literarische Codierungen des Schwarzmeerraumes aus russischer bzw. sowjetischer Perspektive skizziert, um dann erneut auf Brodskys Entwurf einer mentalen Topographie in "Flucht aus Byzanz" zurückzukommen. Die (sowjet-)russischen Erfahrungen und Einschreibungen konnotieren den gesamten Essay. Brodskys antiöstliches Pathos erweist sich vor dem autobiographischen Hintergrund als eine antiimperiale Geste, als Abrechnung mit der Unfreiheit des Sowjetimperiums.
Das im Norden Ägyptens an der Küste des Mittelmeers gelegene Alexandria gehört zu denjenigen Städten, deren Name auch literaturhistorisch einschlägig ist. Der von gegenwärtigen Besuchern meist als schäbig und heruntergekommen erlebten modernen Großstadt steht dabei das literarisch überhöhte Bild einer levantinisch-kosmopolitischen Gesellschaft gegenüber, die von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts in voller Blüte stand.
Die offizielle Rhetorik der "unverbrüchlichen Freundschaft" ("nerušimaja družba") und der Brüderlichkeit zwischen den Völkern der Sowjetunion vermochte bereits zu Sowjetzeiten nur schwer zu verbergen, dass Konzept und Praxis der sowjetischen "Völkerfreundschaft" keineswegs identisch waren. Die angestauten Spannungen entluden sich nach dem Zerfall der Sowjetunion in Spannungen, die sogar den Charakter bewaffneter Auseinandersetzungen annehmen konnten. (Davon war im Beitrag von Giorgi Maisuradze die Rede.) Zur Ambivalenz der sowjetischen Nationalitätenpolitik gehörte, dass die nationalen Kulturen durchaus eine Förderung erfuhren, ihre Entfaltung jedoch den machtpolitischen Interessen und dem ideologischen Rahmen untergeordnet wurde. Und schließlich gab es eine reale Praxis des Zusammenlebens im Raum des Sowjetimperiums, die von vielen Menschen in ihrem Alltag als reale Freundschaft erlebt wurde. Der Zerfall der Sowjetunion wurde daher von vielen Sowjetmenschen als ein dramatischer Verlust erlebt. Es geht mir nachfolgend aber nicht darum, die Nachwirkungen des Konzepts der sowjetischen (in ihrem Kern stalinschen) "Völkerfreundschaft" oder Nationalitätenpolitik bis heute zu untersuchen. Vielmehr will ich an einem Text aus der russischen Literatur der 1970er - 80er Jahre und des vom gleichen Autor aus der postsowjetischen Perspektive und somit gleichsam als Postscriptum zu lesenden Textes untersuchen, auf welche Weise in beiden der traditionelle russisch (bzw. sowjetisch)-georgische literarische Freundschaftsdiskurs fortgeschrieben oder aber, im Gegenteil, unterlaufen wird. Bei dem Beispieltext handelt es sich um Andrej Bitovs "Georgisches Album" ("Gruzinskij al’bom") und den von ihm 2003 ursprünglich als Vorwort zur deutschen Ausgabe geschriebenen Essay "Wofür wir die Georgier geliebt haben" ("Za čto my ljubili gruzin").
Der in Pamuks Memoiren zentrale Begriff 'hüzün' lässt sich nicht einfach mit Melancholie übersetzen. Im Gegensatz zu dem individuell erlebten Gefühl der Melancholie – im Türkischen verwendet Pamuk hier den dem Französischen entlehnten Begriff 'melankoli' – beschreibt 'hüzün' ein kollektives Gefühl, das die Stadt in ihren Bewohnern auslöst. 'Hüzün' ist die Reaktion auf die Schwarzweißatmosphäre der Stadt an einem grauen Wintertag, Ausdruck der Schicksalsergebenheit ihrer Bewohner und gleichzeitig ein Gefühl, das der Anblick der Ruinen der einstmaligen osmanischen Hauptstadt im Betrachter hervorruft. Pamuks Werk zeichnet das Bild der Istanbuler als eine affektive, durch 'hüzün' verbundene Gemeinschaft. [...] Die Memoiren veranschaulichen die Faszination, die für Pamuk mit den melancholischen Porträts der Stadt in der westeuropäischen wie der türkischen Literatur, Kunst und Fotografie verbunden ist. Sie verfolgen, wie der Autor sich 'hüzün' als Quelle literarischen Schaffens zu eigen macht. Ob und zu welchem Zweck Pamuk, wie Kemal und Tanpınar vor ihm, 'hüzün' zu einem kollektiven, nationalen Affekt stilisiert, soll im Folgenden untersucht werden.
Alles, was einen Sauer-, Nadler-, Kafka-, Schnitzler-Forscher, einen Romantik-, einen Methodologie- und Germanistik-Historiker, einen Kenner der Prager deutschen Literatur an Körner interessieren könnte, ist bereits – in früherer und neuester Zeit – von Eisner, Fischer, Wellek, Klausnitzer, Eichner, Krolop, Fliegl, Härtl, Sauder, Fohrmann gesagt worden. Freilich nicht in zusammenfassender Art etwa eines würdigenden Sammelbandes: Eine selbständige Körner-Tagung und ein Körner-Sammelband würden sich lohnen, denn auf einem solch zeitlich wie räumlich breiter abgesteckten Feld könnte man die (in den genannten Schriften manchmal nur angedeuteten) Thesen und Themen des Körnerschen Werkes breiter ausführen, die methodologischen und weltanschaulichen Kämpfe innerhalb der germanistischen Kreise seit Scherer beleuchten, die Positionen der Prager germanistischen Ordinarien innerhalb dieser Kreise absteckten, das komplizierte Knäuel der deutsch-tschechisch-jüdischen Beziehungen im Prag der Zwischenkriegszeit ansatzweise entwirren. Außerdem verdient Josef Körner, ein großer Kenner der deutschen Romantik, glücklicher Entdecker und verlässlicher Herausgeber verschollen geglaubter romantischer Texte, bissiger, brillianter Rezensent, schonungsloser Kritiker aller Verstöße seiner germanistischen Zeitgenossen gegen wissenschaftliche Sauberkeit, fleißiger Begleiter neuester Literatur und Literaturwissenschaft, Josef Körner, ein bezugsreicher Mann, der am Ende sein Leben und Werk trotzdem nicht anders bewerten konnte als einen Scherbenhaufen, verdient unsere Aufmerksamkeit und Erinnerung.
Was ist „deutschmährische Literatur“? Versuch der Definition eines unselbstverständlichen Objektes
(2011)
Trotz geringem gesellschaftlichem Auftrag beschäftigt sich die „Olmützer Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur “ seit 1998 mit dieser Literatur und ist seit ihrer Gründung einem Rechtfertigungszwang ausgesetzt, der durch bloßes heuristisches Forschen nicht befriedigt werden kann. Alle in der Arbeitsstelle entstandenen Aufsätze, Studien, Dissertationen, Sammelbände gehen – mehr oder weniger dezidiert, mehr oder weniger polemisch – auf den Legitimierungszwang ein und versuchen ihr Objekt zu definieren, dem etwaigen Publikum plausibel zu machen und die Beschäftigung mit ihm zu rechtfertigen. Abhängig vom Thema einzelner Studien werden verschiedene Akzente gesetzt, doch manche Punkte wiederholen sich leitmotivisch. Diese neuralgischen Stellen müssen erst bedacht und beschrieben werden, bevor ein definitionstüchtiges Fazit formuliert werden kann.
An talentierten Literaten hat es im klassischen Weimar sicherlich nicht gemangelt - aber auch an streitbaren Männern (und Frauen) nicht. Mag der Literatur- und Bildungskanon des 19. Jahrhunderts hierüber einige zeit hinweggetäuscht haben, es wurden - spätestens mit Anbruch der Sozialgeschichte - auch andere Karten aufgedeckt, womit nicht lediglich die auf beiden Seiten der deutsch-deutschen Grenze verlaufende literaturhistorische Entdeckung des Klassenkamfes gemeint ist, vielmehr dessen spätere, macht- und institutionspolitische Aspekte berücksichtigende Version der beachtung 'feiner Unterschiede'. [...] Es ist klar geworden, dass es sich im wirkmächtigsten Dichterbund der deutschsprachigen Literaturgeschichte um ein Tun "nicht füreinander, sondern sehr viel mehr gegen die anderen" handelte; dass sich hinter der Nachbarschaft „die Front Schillers und Goethes gegen den Rest der dichtenden Welt, besonders gegen Weimaraner und jene in Jena“ - Berlin, Halle etc. - verbarg. [...] Die nachfolgenden Überlegungen sind einer der literarischen Episoden dieses Konflikts gewidmet.
Das Spannungsverhältnis zwischen poetischer Einbildungskraft und positivistischer Wissenschaft, zwischen Imagination und Evidenz, wird wohl an keinem anderen literarischen Genre des 19. Jahrhunderts so augenfällig wie am historischen Roman. Schon in der Gattungsbezeichnung verbinden sich die Lizenzen der Fiktionalität, die der Roman gewährt, mit einem wie auch immer gearteten Anspruch auf historische Faktizität. Die unüberschaubare Menge der historischen Romane, die im 19. Jahrhundert entstand, spiegelt in den vielfältigen Sujets und Figuren nicht nur die Interessen- und Problemlagen ihrer Entstehungszeit wider, sondern liefert im Zeitalter des ästhetischen Historismus ganz unterschiedliche Beispiele von textuellen Verfahren, die das Verhältnis von Imagination und Evidenz sichtbar machen.
Der Beitrag streift einige in der Forschung um die Prager deutsche Literatur feststehende Erklärungsmuster und Klischees (die Prager deutsche Literatur sei im Ganzen eine „jüdische Literatur“ gewesen, die radikal akkulturierende Haltung der älteren Prager Generation, der scharfe Umbruch um 1910, die „Rückkehr zu jüdischen Wurzeln“, die Prager deutsche Literatur als Erbin der „menschenschöpferischen“ und kabbalistischen Mystik der Renaissance, Max Brod und den Prager Zionismus, die typisch jüdischen Komponenten im Werk Prager deutscher Autoren) und erwägt bei jeder der genannten rezeptiven Behauptungen deren empirisch-faktografische Messbarkeit bzw. deren – auf den Texten der Prager deutschen Literatur selbst fußende – „Mythen-Trächtigkeit“.
Wer wüsste nicht, was ein Märchen ist, eine irgendwie sehr alte, mündlich überlieferte und formelhaft erzählte Geschichte von kleinen Helden, die inmitten von selbstverständlichen Wundern und bösen Widersachern groß herauskommen und am Ende belohnt werden. Märchen, das sind für uns vor allem Zaubermärchen, die dem Wunderbarem ganz beiläufig Raum lassen und dem Prinzip der poetischen Gerechtigkeit folgen, wo der Beste die Schönste bekommt und alles gut ausgeht. Sie haben etwas, das sie mit Mythen und Träumen verbindet, schon weil ihre Figuren aus alter Zeit zu stammen scheinen, stark typisiert sind und entweder arme Leute oder gleich König und Königin darstellen. Mit den immer selben Figuren und Handlungsmotiven erzählen Märchen einfach und meist knapp entlang des Geschehensverlaufs. Ereignis reiht sich an Ereignis;psychologische Begründungen fallen hier aus. Alles passiert auf der Oberfläche der Handlung geradezu unmittelbar. Und die, die in solchen einfachen Formen erzählen, das sind Leute aus dem Volk, besonders die Frauen, genauer noch eher die alten und die vom Lande. Schließlich sind Märchen für Kinder da. "Kinder brauchen Märchen" wurde die deutsche Ausgabe des Erfolgsbuchs des deutsch-amerikanischen Psychoanalytikers Bruno Bettelheim überschrieben, und das haben dann viele bis heute übernommen. Weil Märchen gut ausgehen und das Wunder wie eine Selbstverständlichkeit behandeln, fördern Märchen die kindliche Kreativität und Moralität wie keine andere Gattung. Märchen sind also gut und machen ihre kleinen wie großen Leser glücklich. Von alledem sind wir überzeugt.
Freud soll als Theoretiker des Gedächtnisses produktiv gemacht werden. Was sich seinem Bild Roms methodisch abgewinnen lässt, ist als Aufhebung zeitlicher Struktur auch deren Überführung in räumliche Schichten. Wenn alles simultan ist, so gibt es keine Abfolge, und die Analyse kann darum nicht von Entwicklungen, sondern von Schauplätzen sprechen. Diesen kommt in der kulturwissenschaftlichen Arbeit eine herausragende Bedeutung zu, auch die folgende Untersuchung zu Geschichten und Gestalten einer Märtyrerin: der Heiligen Cäcilie, zu ihren narrativen und pikturalen bzw. plastischen Figurationen wird Freuds Modell folgen. Auch bedingt dies eine Darstellungsweise, die - wie schon diese methodischen Überlegungen - über Umwege führt. Nicht zuletzt lässt Freuds implizite Idee einer häretischen Form der Auferstehung der Toten, die ins Bild der 'Ewigen Stadt' eingetragen ist, auch die väterlichen Heilsversprechen als labil erscheinen, sodass es nicht ausgemacht ist, was passiert, wenn die Toten ihre Gräber verlassen.
Jesus als Märtyrer
(2011)
Zu definieren, was einen Märtyrer ausmacht, ist für das Altertum ebenso wichtig wie für die Moderne. Was meinen wir mit dem Begriff 'Märtyrer', wenn wir Jesus von Nazareth so nennen? Liegt dabei der Schwerpunkt auf dem historischen Jesus und den Motiven für seinen gewaltsamen Tod, den er erwartet haben mag? Oder sollten nicht eher die frühen Textteile des Neuen Testaments, die die Reaktionen der Anhänger Jesu auf dessen gewaltsamen Tod und seine Rechtfertigung schildern, den Ausgangspunkt für unsere Analyse bilden? Natürlich verfügen wir im Falle Jesu über keine Internetquellen, kein Videomaterial, keine Interviews mit dem Märtyrer vor seiner Tat. Wir haben nur kanonische und apokryphe Texte. Deshalb beginne ich bei meiner Diskussion über Jesus als Märtyrer mit einer Definition des Martyriums, die sich auf die zweite oben angeführte Möglichkeit stützt. Sie fußt auf antiken jüdischen und christlichen Texten, von denen allgemein angenommen wird, dass ihre Rezipienten sie als Beschreibungen des Lebens und Leidens von Märtyrern verstanden; die Berichte, die solches erinnern sind schriftlich festgehalten (Abschnitt 1). Danach kehre ich zur ersten Definitionsmöglichkeit zurück und konzentriere mich kurz auf die Person des historischen Jesus, um mit Hilfe der antiken jüdischen und christlichen Märtyrerberichte herauszufinden, was wir möglicherweise über Jesu eigene Sicht auf seinen nahen Tod als den eines Märtyrers wissen können (Abschnitt 2). Im letzten Abschnitt widme ich mich den Passionsberichten des Neuen Testaments. In der Forschung wurden diese Narrative häufig mit den Erzählungen der antiken Märtyrer verglichen, diese wurden sogar als Modell herangezogen, um den Ursprung des Passionsberichts zu rekonstruieren. Sei dieser Ansatz plausibel oder nicht, auf jeden Fall spiegeln die Passionsberichte auf faszinierende Art und Weise die dialogische Gegenüberstellung von Märtyrer und Gegner wider, die so oft das Herzstück der Prozess- und Folterszenen antiker jüdischer und christlicher Märtyrererzählungen darstellt. So gibt es offensichtlich gute Gründe, diese beiden Textgruppen zu vergleichen (Abschnitt 3).
Zum Repertoire sozialistischer Helden und Märtyrer gehört die Figur des Kindermärtyrers, die auch in der sowjetischen Kultur seit den 1920er und 1930er Jahren Hochkonjunktur hatte. In der Presse, der Literatur wie im Film wurden zahlreiche Geschichten über Kinder und Jugendliche erzählt, die an die 'lichte Zukunft des Kommunismus ' glaubten und bereit waren, selbstlos ihr Leben für diese zu opfern. Solche Geschichten über jugendliche Opfer zählten - wie traditionell in vielen Kulturen und Gesellschaften - zu den zentralen Gründungs- und Opfermythen des Sowjetsystems. Das Selbstverständnis der Sowjetmacht als Schöpferin einer neuen Weltordnung, das radikale Zerstörungspraktiken zu legitimieren schien, war mit einer Neuordnung des gesamten symbolischen Kapitals russischer Geschichte verbunden. Einerseits wurden tradierte Symbole den veränderten Bedingungen angepasst und semantisch umcodiert, andererseits wurden den Anforderungen der Ideologie entsprechende neue Zeichen und Symbole in Umlauf gebracht. Mit den realen wie fiktiven Märtyrerfiguren wurden insbesondere in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Oktoberrevolution von 1917 wirkmächtige Symbole zur Regulierung der für die Menschen nahezu täglich spürbaren Gewalt bereitgestellt. Die Märtyrerfigur als kulturelles Deutungsmuster funktionierte offenbar weiterhin - ungeachtet der radikalen Absage der Sowjetmacht an die Religion - als propagandistisches Instrument und ermöglichte Verknüpfungen (wie z. B. von Gewalt und Kult, Tod und Verehrung, Opfer und Quasi-Sakralem).
Den Kaukasus als einen Grenzraum anzusehen ist in der Forschung über die russische Kaukasusliteratur längst Konsens. Trotzdem wurde er auf die raumsemantische Spezifik der Grenze hin kaum untersucht. Während die sowjetische Literaturwissenschaft den Kaukasus als Thema bzw. Topos der russischen Literaturgeschichte betrachtete, hat die primär westliche Forschung der letzten Jahre die russische Kaukasusliteratur im Orientalismusdiskurs verortet. Harsha Ram erweitert den Kontext, indem er diese Literatur im Rahmen einer Poetik des Imperiums untersucht. Ohne den Anspruch zu erheben, die Poetik der Grenze erschöpfend zu behandeln, möchte ich im folgenden das kaukasische Kapitel der Poetik der Grenze in der russischen Literatur thematisieren. Dabei werde ich exemplarisch die Semantik des Grenzraums im 'Kaukasussujet' bei Aleksandr Puškin (1799-1837), Aleksandr Bestužev-Marlinskij (1797-1837) und Michail Lermontov (1814-1841) untersuchen.
Als Adalbert Stifters Roman „Der Nachsommer“ 1857 erscheint, hat das Bild der klassischen Antike, wie es durch Winckelmann und Goethe einen hohen Grad der Verbindlichkeit erhalten hatte, längst an Faszination und normativer Kraft eingebüßt. Im Gefolge des Historismus, der jeder Epoche ihr Eigenrecht zuerkannte, waren historische Vorstellungen an die Stelle normativer getreten. In Stifters „Nachsommer“ ist davon freilich nur wenig zu spüren. Der Roman wendet sich ostentativ gegen aktuelle Zeittendenzen und scheint für ein Festhalten an einer zeitlos-idealen Antike einzutreten. Die ausführlichen Gespräche, die der Ich-Erzähler Heinrich Drendorf mit seinem Gastgeber Risach über antike Kunst führt, wiederholen und zementieren überkommene Auffassungen. In Superlativen beschwört Risach Größe und Einfachheit der antiken Kunst; er nennt die griechische Dichtung „das Höchste“ und „was die Griechen in der Bildnerei geschaffen haben, [...] das Schönste, welches auf der Welt“ überhaupt bestehe. Stifters Antike orientiert sich, wie in der Forschung einhellig anerkannt, an Leitvorstellungen Winckelmanns, und die im „Nachsommer“ geführten Kunstgespräche treten in die Spuren der ästhetischen Debatten des ausgehenden 18. Jahrhunderts.
Allein in einer entlegenen Klassikerausgabe des Jahres 1921 findet man, was man in der Forschungsliteratur vergeblich sucht: den Versuch, Friedrich Hölderlins „Hyperion“ und Carl Rottmanns griechische Landschaftsbilder einander anzunähern oder zumindest zu vergleichen. Rottmanns Gemälde und Hölderlins Roman werden zu Recht zu den eigenwilligsten und produktivsten Schöpfungen des deutschen Philhellenismus gezählt, und doch ist – soweit ich sehe – in der literaturwissenschaftlichen und kunsthistorischen Forschung noch nie nach einem engeren Zusammenhang zwischen beiden Werken gefragt worden. Trennt Hölderlins Roman, der in zwei Teilen 1797 und 1799 erschien, und Rottmanns Gemäldezyklus, der in den Jahren 1838 bis 1850 entstand, tatsächlich ein allzu großer zeitlicher Abstand? Zeichnen beide Werke gänzlich verschiedene Bilder Griechenlands, sodass sich jeder Vergleich verbietet?
"Alle Museen, nur nicht die Kunstmuseen, sind Friedhöfe der Dinge", schreibt Boris Groys in seinem Buch 'Logik der Sammlung', denn was in Museen gesammelt wird, "ist seiner Lebensfunktion beraubt, also tot. Das Leben des Kunstwerks beginnt dagegen erst im Museum". Doch gilt dies auch für das literarische Kunstwerk? Offensichtlich nicht. Literarische Kunstwerke muss man lesend erfassen: unter einem Baum sitzend, auf einem Sofa liegend, im Stehen, während man auf den Bus wartet. Literatur kann man nicht betrachten wie ein Bild, wie eine Skulptur – sie besitzt als ein Objekt, das sich erst im Vollzug von Leseakten konstituiert, zunächst einmal überhaupt keinen Bildcharakter und mithin überhaupt keinen Ausstellungswert: Ein Buch, das man nur anschaut, bleibt tot. Erst wenn man es aufschlägt, darin blättert, darin liest, wird es lebendig. Mit einem Wort: Bei einem Text gibt es nichts zu sehen! Ein Umstand, der auch von einigen Ausstellungsmacherinnen schmerzlich bemerkt wird. [...] Umso dringlicher stellt sich die Frage, wie sich Literatur – sei es in Form von Büchern, sei es in Form von Texten, die vor, nach oder neben der Buchwerdung von Literatur existieren - im musealen Bühnenrahmen in Szene setzen lässt: Wie kann das Museum zu einem "Schauplatz" von Literatur werden?
Was zeigt man, wenn man 'Literatur' zeigt – und was zeigt sich im Rahmen dieser "Schau"?