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Die in diesem Kapitel behandelten Pflanzengesellschaften der Klassen Artemisietea Lohmeyer, Preising & Tüxen in Tüxen 1950 und Chenopodietea Braun-Blanquet in Braun-Blanquet & Mitarbeiter 1952 (ausgenommen: Ackerunkrautgesellschaften der Ordnung Polygono-Chenopodietalia Tüxen & Lohmeyer in Tüxen 1950, vergleiche dort) besiedeln vom Menschen geschaffene oder zumindest beeinflußte Standorte, die allerdings weder forst- noch landwirtschaftlich genutzt werden. Die Amplitude der Eigenschaften dieser Standorte ist groß: sie reicht von feucht bis trocken, von nährstoffreich bis nährstoffarm, von schattig bis sonnig; entsprechend hoch ist die Zahl der Ruderalpflanzengesellschaften. Unser Aufnahmematerial repräsentiert nur einen kleinen Ausschnitt dieser Vegetationsvielfalt: Viele Assoziationen, aber auch einige Verbände sind durch die Aufnahmen nur unzureichend oder gar nicht dokumentiert. Wir möchten daher auf folgende Arbeiten aufmerksam machen, in denen Ruderalpflanzengesellschaften
Hessens beschrieben werden: Knapp (1961, Vegetation der Eisenbahnanlagen), Knapp (1963, 1977, Ruderalvegetation ländlicher Gebiete), Knapp & Stoffers (1962, Uferstaudenvegetation), Dierschke (1973, 1974, nitrophytische Saumgesellschaften), Kienast (1978), Hülbusch (1979), Krah (1988, (Ruderalvegetation der Stadt Kassel), A. Fischer (1988, Ruderalvegetation der Stadt Gießen).
Der Verband Calthion ist durch eine Reihe von Kenn- und Trennarten gut charakterisiert, von denen in unseren Vegetationsaufnahmen allerdings nur Myosotis palustris und Lychnis flos-cuculi mit hoher Stetigkeit vorkommen. Obwohl gut entwickelte Calthion-Bestände sehr artenreich sind, verfügen nur wenige Gesellschaften des Verbandes über eigene Charakterarten, die ihnen Assoziationsrang verleihen.
Im Verband Alno-Padion sind Erlen- und Eschen-reiche Bach- und Quellwälder, die dauerfeuchte, wechselnasse oder periodisch überschwemmte Standorte besiedeln sowie Eichen-Ulmen-Wälder der Überschwemmungsbereiche großer Flußtäler zusammengefaßt. Der Verband ist aufgrund vieler gemeinsamer Kennarten mit den Buchen-Waldgesellschaften in die Ordnung Fagetalia zu stellen, obwohl die gegen Nässe empfindliche Buche (Fagus sylvatica) den Auenwäldern fehlt und sich so die Baumschicht aus ganz anderen Arten zusammensetzt.
Die Wälder des Verbandes Quercion robori-sessiliflorae sind im ozeanisch-subozeanischen Europa verbreitet; nach Osten werden sie von Nadelwäldern, namentlich von Kiefern-Wäldern des Verbandes Dicrano-Pinion Matuszkiewicz 1962 mit kontinentalborealem Areal abgelöst (Matuszkiewicz 1962, 1984). Die Quercion-Wälder besiedeln in Hessen nur kleine Flächen und sind im wesentlichen auf Sonderstandorte beschränkt.
Die Klasse Rhamno-Prunetea-spinosae umfaßt Hecken- und Gebüschgesellschaften trockener bis frischer Standorte. Dies können sowohl natürliche Gehölzbestände sein als auch Ersatzgesellschaften von Wäldern der Klasse Querco-Fagetea (einschließlich der submediterranen Flaumeichen-Wälder). Während natürliche Gebüsche sehr selten an Extremstandorten auftreten, auf denen die Entwicklung eines Waldes nicht möglich ist, oder sich ebenso selten an natürlichen Waldgrenzen - beispielsweise an Flüssen oder Felskanten - finden, sind sekundäre anthropogene Bestände in Form von Sukzessionsgebüschen, Waldmänteln und Hecken viel häufiger und in allen Landschaften Mitteleuropas anzutreffen.
Glatthafer-Wiesen besiedeln hinsichtlich der Wasserversorgung mittlere Standorte. Sie finden sich auf mäßig trockenen bis frischen oder leicht wechselfeuchten Böden. Das Nährstoffangebot kann abhängig von den natürlichen Gegebenheiten oder der Bewirtschaftung (Düngung) sehr verschieden sein, was sich in einer großen Variabilität der Bestände verschiedener Standorte ausdrückt. So gehören Wiesen stark eutropher, kräftig gedüngter Böden ebenso der Assoziation an wie magere, physiognomisch von diesen stark abweichende Bestände armer Standorte, die zu den Borstgras-Rasen (Violion caninae) vermitteln.
Die im Vergleich mit den Getreideäckern späte Bodenbearbeitung und Bestellung der Felder, auf denen Hackfrüchte und Mais kultiviert werden, führt zur Entwicklung eigenständiger Unkrautgesellschaften. Diese Bewirtschaftung begünstigt die Ausbildung von Pflanzenbeständen mit einem hohen Anteil von Wärmekeimern, die erst im fortgeschrittenen Frühjahr auflaufen. Auf den Getreideäckern werden diese Arten von der zu dieser Jahreszeit schon recht dichten Vegetation durch Beschattung und Konkurrenz zurückgehalten oder gelangen teilweise gar nicht zur Keimung. Die späte Bodenbearbeitung hat andererseits zur Folge, daß Unkräuter, die unter niedrigen Temperaturen oder sehr kurzen Tageslängen keimen und vor allem für Wintergetreideäcker bezeichnend sind, nach der Bestellung kaum mehr auflaufen und den Hackfruchtflächen weitgehend fehlen.
Das Gentiano-Koelerietum ist eine typische Pflanzengesellschaft der Rinder- und Schafhutungen auf kalkreichem oder kalkarmem, aber basenreichem Gestein. Die Standorte der Gesellschaft entsprechen zumeist den natürlichen Wuchsorten des Platterbsen- oder des Seggen-Buchen-Waldes. Extensive Beweidung, fehlende Düngung (geringes Stickstoffangebot), hoher Besonnungsgrad und eine mehr oder minder ausgeprägte Flachgründigkeit des kalk- beziehungsweise basenreichen Bodens sind die wesentlichen Standortsvoraussetzungen dieser Gesellschaft.
Die vorrangig durch kleine Farne charakterisierten Gesellschaften entwickeln sich in feinerdearmen Klüften, Spalten und Fugen natürlicher Felsen oder geeigneter Sekundärbiotope.
Die bezeichneten Arten sind Dunkelkeimer; sie benötigen nach der Keimung für das erste Streckenwachstum ein ausreichendes Nährstoffreservoir, bevor sie ihr weiteres Wachstum über die Photosynthese sichern können (Dierssen 1983: 24).
Diese Klasse umfaßt die von Seggen und Binsen beherrschte Vegetation nährstoffarmer Niedermoore, Sümpfe und Rieselfluren. Die Standorte weisen einen bis meist an die Bodenoberfläche reichenden Grundwasserstand sowie oligo- bis mesotrophe Bedingungen auf. In Hessen kommen von dieser Klasse vermutlich nur noch Gesellschaften der Verbände Caricion fuscae Koch 1926 em. Vanden Berghen in Lebrun & al. 1949 (Caricetum fuscae) und Caricion davallianae Klika 1934 (Caricetum davallianae, Carex-panicea-Gesellschaft) vor; wahrscheinlich ausgestorben sind die Gesellschaften des Caricion lasiocarpae Vanden Berghen in Lebrun & al. 1949.
Erlen-Bruchwälder und Grauweiden-Gebüsche unterscheiden sich in ihrer Artenzusammensetzung deutlich von den übrigen Wald- und Gebüsch-Gesellschaften Mitteleuropas. Sie werden deshalb in einer eigenen Klasse (Alnetea glutinosae Braun- Blanquet & Tüxen 1943) und Ordnung (Alnetalia glutinosae Tüxen 1937) zusammengefaßt, denen die beiden Verbände Salicion cinereae (Grauweiden-Gebüsche) und Alnion glutinosae (Erlen-Bruchwälder) zugehören.
Der Verband Tilio-Acerion (Klika 1955: 322) umfaßt Linden-Ahorn-Ulmen-Wälder der weitgehend konsolidierten Blockschutthalden, Steilhänge und Schluchtlagen. Derartige Sonderstandorte und mit ihnen die azonalen Edellaubholz-Bestände kommen sowohl aktuell als auch in einer potentiellen Naturlandschaft meist nur kleinflächig inmitten von Buchen-Wäldern vor. In Hessen sind sie nur in den höheren Mittelgebirgen etwas häufiger anzutreffen. Der größte Teil unserer Aufnahmen stammt denn auch von submontan-montanen Höhenlagen oberhalb 500 m.
Das ostmitteleuropäische Areal klimazonaler Eichen-Hainbuchen-Wälder reicht bekanntlich nicht bis nach Hessen. Vielmehr sind naturnahe Bestände hierzulande meist auf grund- oder stauwasserbeeinflußte Böden in Talmulden und Beckenlandschaften beschränkt. Bohn (1981: 78) gibt den Flächenanteil potentieller Eichen-Hainbuchen-Wälder in seinem Untersuchungsgebiet (östliches Mittelhessen) mit immerhin 11,5 % an. Da die klimatisch günstig gelegenen Auenlandschaften jedoch meist frühzeitig besiedelt, gerodet und die Wälder dort durch Wiesen und Weiden ersetzt wurden, haben Eichen-Hainbuchen-Wälder nur noch geringe Anteile an der aktuellen Vegetation und gehören "zu den am stärksten dezimierten Waldgesellschaften des Gebiets" (Bohn 1981: 78).
Mit Ausnahme des Seggen-Buchen-Waldes (Carici-Fagetum Moor 1952), der an trockenwarmen Standorten auf skelettreichen Rendzinen wächst und meist kleinräumige Sonderstandorte einnimmt, handelt es sich bei den übrigen Buchen-Waldgesellschaften um zonale, potentiell großflächige Vegetationseinheiten. Auch in der realen Vegetation Hessens bestimmen sie das Bild vieler Landesteile - vor allem in den Mittelgebirgen -, freilich oft durch forstliche Eingriffe strukturell verändert und durch Ausbringen standorts- und gebietsfremder Gehölzarten gestört. Die floristische Ausprägung der artenreichen Waldgersten- und Flattergras-Buchen-Wälder wird in erster Linie durch den Trophiegrad der Böden, mithin durch den geologischen Untergrund bestimmt. Geologie und soziologische Gliederung sind daher eng korreliert.
Läßt man die azidoklinen und meist gleichmäßig durchfeuchteten Binsen-Pfeifengras- Wiesen ("Junco-Molinietum" auct.) beiseite, so umfaßt der Verband Molinion caeruleae Koch 1926 nach unserer Auffassung mehr oder minder ausgeprägt wechselfeuchte Wiesen nährstoffarmer, basenarmer bis relativ basenreicher Standorte. Entgegen einer verbreiteten Ansicht (so beispielsweise Ellenberg 1978: 771) ist die Bewirtschaftungsweise "herbstliche Streumahd" hingegen kein obligatorisches Kriterium der Wiesen dieses Verbandes. Bei den hessischen Beständen handelt es sich vielmehr um je nach Standort und Wetterlage ein- bis zweimal jährlich gemähte Heuwiesen. Nicht die Artenzusammensetzung, sondern lediglich die Vitalität und Stetigkeit einzelner Arten, namentlich des Pfeifengrases (Molinia caerulea), werden durch Mahdfrequenz und -zeitpunkt erheblich beeinflußt.
In der Klasse Phragmitetea werden die Röhrichte und Großseggenriede im Verlandungsbereich von Gewässern zusammengefaßt. Physiognomisch ähnliche Brachen von Feuchtwiesen (wie etwa Carex-acuta-Stadien) werden aus floristischen Gründen ausgeklammert. Sie setzen sich im wesentlichen aus Kennarten der Klasse Molinio-Arrhenatheretea zusammen und sind als ukzessionsstadien von Wiesen zu bezeichnen.
Die Gliederung der Phragmitetea-Gesellschaften wird herkömmlich nach der Dominanz einzelner Arten und nicht nach den sonst maßgeblichen Merkmalen der Artenzusammensetzung vorgenommen, nach denen sich eine von der geläufigen stark abweichende Systematik ergeben würde. Da die Bestände sehr artenarm sind und meist von einer Art beherrscht werden, ist eine Gesellschaftsgliederung nach der Dominanz naheliegend und einfach, methodisch allerdings inkonsequent.
Die Klasse gliedert sich in Zwergstrauchheiden (Ordnung Calluno-Ulicetalia Tüxen 1937 em. Preising 1949) und Borstgras-Rasen (Ordnung Nardetalia Preising 1949). Die Zusammenfassung dieser beiden Vegetationsformationen in einer Klasse ist umstritten (Oberdorfer 1978: 208), erscheint aber aus mitteleuropäischer Sicht aufgrund floristischer Gemeinsamkeiten gerechtfertigt. Gegenüber der gebräuchlichen Bezeichnung Nardo-Callunetea Preising 1949 ist der ältere Name Calluno-Ulicetea maßgeblich.
Die Hessischen Schülerakademien fördern begabte und interessierte SchülerInnen wissenschaftlich und musisch-kulturell. Zugleich dienen sie dem Ziel einer entsprechenden Lehreraus- und Weiterbildung. 2014 findet die zehnte Akademie für die Klassen 10-13 statt und die vierte Akademie für die Klassen 7-9. Beide Akademietypen haben eine große Resonanz gefunden. ...
Heike Schlie untersucht Formen vormoderner religiöser Zeugenschaft, die sich in komplexen medialen Konstellationen ereignet. Die hagiographische Zeugenschaft, die in einer Reliquiensammlung gespeichert ist und in der rituellen Zeigung der Reliquien aktiviert wird, wird auf weitere Medien übertragen, in sie ausgelagert und in ihnen erweitert, sodass ein 'Netz aus zeugenden Gesten' und 'Zeugenschaftspraktiken' entsteht. Ergänzt bzw. eingeleitet werden diese Beobachtungen durch eine Untersuchung der historischen Zeugenschaftsbegriffe und ihrem Konnex zu religiöser Zeugenschaft. Ein besonderes Augenmerk gilt hier der Analyse einer vormodernen Konstellation, in der Reliquien als 'Akteure' betrachtet werden müssen, was im jüngsten "forensic turn" eine Art Nachfolge kennt. Zum anderen werden im Kontext der Bildmedien die Spezifitäten christlicher Zeugenschaftsformen fassbar, die im Fall der apostolischen 'Zeugenkette' und des 'Bekenntnisses' des Märtyrers oder des Eremiten eine Reihe von epistemischen und medialen Besonderheiten aufweisen und auch in Bildern wie Dürers "Marter der Zehntausend" diskursiviert bzw. reflektiert werden - ein Phänomen, das Schlie anhand der Kategorie des "métatémoignage" von Derrida analysiert. So wird das Bild selbst zum "Erkenntnismittel", das heißt ein "Medium zum 'Über-Zeugen' des Unglaubens".
Andrea Frisch untersucht eine Mischform von primär historiographischen (Er-)Zeugnissen, die im Kontext religiöser Zeugenschaft stehen. In den Augenzeugenberichten zu den französischen Religionskriegen des 16. Jahrhunderts steht "der ethische und der epistemische Imperativ in steter Spannung". Da der Augenzeuge aufgrund seines Engagements notwendigerweise parteiisch ist, ist ein objektiver Bericht nicht möglich, dennoch ist diese Zeugenschaft in beiderlei Hinsicht eine Notwendigkeit. Frisch untersucht die Techniken des Adressierens von historiographischen Texten wie zum Beispiel von Jean de Léry, die dementsprechend versuchen, die religiöse Zugehörigkeit des bezeugenden Autors herunterzuspielen, und zur Folge haben, dass die Berufung auf das "ethos" allgemein zugunsten eines epistemischen Modells des Augenzeugen infrage gestellt wird. Das lange epische Gedicht "Les Tragiques" des Protestanten Agrippa d'Aubigné reflektiert jedoch das Dilemma, nach welchem der Augenzeuge sich zugleich unparteiisch zeigen und die Ereignisse mit eigenen Augen gesehen haben muss, also gleichzeitig "Zuschauer" ("spectateur") und "Akteur" ("personnage") zu sein hat. Das Gedicht wendet sich als ethische Anklageschrift an die Täter der anderen Religionsgemeinschaft und gemeinschaftsstiftend an die eigene, beruht aber zugleich auf der epistemischen Distanz des Berichts. Das Zeugnis will durch den Pathos überzeugen und bewegen, was hier durch eine Form von dichterischer Zeugenschaft geschieht, und appelliert zugleich an die transzendentale Perspektive des Göttlichen, um die Untaten zu verurteilen. Es oszilliert somit zwischen unterschiedlichen Positionen, die mit verschiedenen Absichten zusammenhängen - ein Oszillieren, das sich schließlich auch auf den Adressaten als sekundären Zeugen überträgt.
Nach Günter Thomas, der sich mit verschiedenen Formen religiöser Zeugenschaft befasst und kritisch in Frage stellt, ob es sich ausgerechnet beim Märtyrer um den paradigmatischen religiösen Zeugen handelt, ereignet sich Zeugenschaft in Situationen und Konstellationen. Stärker als um eine Suche nach einem Grundmodell von Zeugenschaft geht es Thomas um eine Untersuchung der "spezifischen Differenzen und Differenzierungen" in verschiedenen sozialen Sphären. Eine genauere Untersuchung der religiösen Zeugenschaft erlaubt es, unterschiedliche "Modi der Gewissheit" und "Techniken der Überzeugung" zu differenzieren und die der religiösen Zeugenschaft eigenen "originären Konstellationen" herauszustellen. Dabei thematisiert er vier Typen des religiösen Zeugnisprozesses: den Auferstehungszeugen, den Märtyrer, das diakonische Zeugnis und die Zeugniskette. Das Zeugnis des Märtyrers wird als Tatzeugnis dargestellt, das von einem weiteren Zeugen (mündlich oder vor allem schriftlich) beglaubigt werden muss. Ein unsichtbares Martyrium kann nicht Zeugnis sein; "[d]ie Gewissheit der Märtyrer ist so eine diskursive Konstruktion von Beobachtern". Auch hier findet sich die doppelte Struktur des Zeugnisses. Thomas weist darauf hin, dass es gerade im Bereich der religiösen Zeugenschaft nicht nur natürlich-sprachige Zeugnisse, sondern - wie am Beispiel der Diakonie zu beobachten - Handlungen gibt, die als Tatzeugnisse Ereignisse mit performativer Dimension sind. Da diese Handlungen selbst Medien der Kommunikation sind und im sozialen Kontext Dynamiken entfalten, ist auch hier von einer hohen Komplexität der jeweiligen Konstellationen zu sprechen.
Henning Theißen entwirft das Modell einer religiösen Zeugenschaft, die eine Alternative darstellen soll zu den vorherrschenden Kategorien: der Mission als persuasivem Zeugnis und dem Martyrium als einem Zeugnis der existentiellen Involviertheit. Er diskutiert dies zunächst vor der Folie juridischer und epistemischer Zeugenschaft. So thematisiert er die Vereidigung des Zeugen vor Gericht als eine Metastruktur, als Zeugnis für die Glaubwürdigkeit des Zeugen, das die Aussage überzeugend machen soll. Theißen verwendet hier den aus dem Neuen Testament (Hebr. 12:2) stammenden Begriff der "Wolke von Zeugen", in die der beeidigende Zeuge eintritt und in der wiederum Gott zum Zeugen angerufen wird. Wir finden hier eine ähnliche Struktur wie beim Zeugenschaftshelfer und bei den Überzeugungsfiguren. Glaubwürdigkeit muss selbst in irgendeiner Weise bezeugt sein. Das bedeutet, dass Szenarien und Konstellationen von Zeugenschaft notwendigerweise immer eine komplexe Struktur haben; beim religiösen Bekenntniszeugen, der in eine "Wolke von Zeugen" eintritt, ist dies durch Zeugenketten gewährleistet. Schließlich entwickelt Theißen das Modell einer 'angenommenen' (adoptierten) Gewissheit, der er eine unmittelbar gezeugte Gewissheit gegenüberstellt: Gewissheit entsteht durch einen Vertrauensvorschuss; das Zeugnis muss sich in einem dynamischen Prozess in der Folge (zum Beispiel im Abgleich mit anderen Zeugnissen) bewähren.
Axel Gelfert setzt sich mit dem Mythos einer Vernachlässigung des Phänomens von Zeugenschaft in der Philosophiegeschichte auseinander. Er stellt am Beispiel von David Hume heraus, dass in den Ansätzen der analytischen Philosophie und der sozialen Erkenntnistheorie manchen klassischen Autoren, die er als "Vorläufer" bewertet, zu Unrecht einseitige Grundpositionen zugeschrieben werden, wie etwa Humes angeblicher "Reduktionismus", der das Zeugnis auf einen empirisch belegbaren Wissensinhalt reduziere. In der von Gelfert unternommenen Neuauslegung von Humes Überlegungen zu Zeugenschaft wird deutlich, dass auch hier der Empfänger als konstituierender Faktor des Zeugnisses im Fokus steht. So wird durch eine erneute Lektüre von Humes Thesen deutlich, wie signifikant diese für jüngste Ansätze wie etwa den der Tugenderkenntnistheorie sein können. Das Zeugnis wird anhand von wiederkehrenden sozialen "Situationen, Interaktionen und Reaktionen", aber auch aufgrund aller Charaktereigenschaften des Zeugen evaluiert, und für diese Evaluierung werden sowohl die präexistenten gemeinsamen Überzeugungen und Vertrauensbildungen einer epistemischen Gemeinschaft als auch die Erfahrungen des Empfängers über die menschliche Natur entscheidend.
Claudia Blümle behandelt bildliche Szenarien der Zeugenschaft, in denen Figuren eingesetzt werden, die das reale, abgebildete Szenarium eines Zeugenschaftsmoments nicht genau abbilden oder eine solche Abbildung stören, sondern im Sinne einer medialen Überzeugungsstrategie erweitern. Im Fall der von Blüme analysierten Bildbeispiele sind dies zusätzliche Akteure, die als "Überzeugungsfiguren" eine Scharnierstelle zwischen dem innerbildlichen Zeugen und dem Betrachter darstellen. Blümle analysiert diese Funktion in Bildern, die ganz unterschiedliche, mit verschiedenen Kategorien der Zeugenschaft verbundene Wissensgehalte oder Wahrheiten vertreten, sowohl aus dem juridischen und religiösen als auch aus den naturwissenschaftlichen Bereichen. Die Produktion von Gewissheit hängt in den von ihr gewählten Beispielen gerade von den eigentlich außerhalb der Zeugensituation situierten "Zeigefiguren" ab, die einen eigenen Raum ausbilden, in dem das Bezeugte vom Betrachter akkreditiert werden kann.
Sybille Krämer unterscheidet Formen der Zeugenschaft im Spannungsfeld prozessualer, diskursiver und existentialer Wahrheit. Zunächst ist das Bezeugen ein interpersonaler Sprechakt, dessen Wahrheit in einem argumentativen Diskursgeschehen eingelöst oder abgewiesen wird. Krämer untersucht hier die zentrale Bedeutung des 'Sprechens' oder 'Sagens', welches die gemachte Erfahrung zu einer 'Aussage' transformiert. Der Anspruch einer fast nicht möglichen Entsprechung zwischen 'Erfahrung' und 'Aussage' macht dabei das Prekäre der Zeugenschaft aus. Mit Derrida und Habermas führt Krämer mögliche Modelle an, die aus dem Anspruch dieser absoluten diskursiven Wahrheit herausführen wollen und die mit den dem Zeugnis verbundenen (hier nicht religiös verstandenen) Glaubensgewissheiten produzieren. Krämer stellt dem "diskursiven Wahrheitsanspruch" das von ihr bei Foucault, Lacan und Kierkegaard auszumachende Modell einer existentialen Wahrheit gegenüber, zum Beispiel im Fall des Glaubenszeugen, den sie mit der von Foucault beschriebenen Parrhesia, dem "Wahrsprechen", in Verbindung bringt. Im Fall der griechischen Parrhesia und des christlichen Glaubenszeugnisses stehe der Zeuge mit seiner Person und seinem Leben für die Wahrheit seiner Aussage ein; es handelt sich um eine aus einem ethischen Impuls heraus geäußerte Wahrheit, "die mit ihrem subjektiven Ursprung untrennbar verbunden ist". Am Ende entwickelt Krämer die These, dass es gerade die immer wieder andere Verbindung von existentialer und diskursiver Wahrheit in den Typen der Zeugenschaft ist, die deren Wesen bestimme.
Burkhard Liebsch geht es um eine sozialphilosophische Thematisierung von Zeugenschaft im Zusammenhang mit dem Begriff der 'politischen Welt'. Dem erkenntnistheoretischen Begriff der 'Welt' in der modernen Philosophie (als von epistemischen Subjekten geteilte und aus vorliegenden oder zu erschließenden Tatsachen konstituierte Welt) wird ein sozialphilosophischer entgegengehalten, in dem es grundsätzlich um die "Lebbarkeit des Lebens in einer mit Anderen geteilten Welt" geht. Gerade diese Lebbarkeit, die vor allem auf die menschliche Erfahrung abzielt, ist das, was bezeugt wird, sowie das Selbst derer, die diese Erfahrung zum Ausdruck bringen. Die soziale Existenz wird durch Andere bezeugt, die einen Einzelnen im Zuge der Aufnahme in die miteinander geteilte Welt zugleich in die Position möglicher Zeugenschaft versetzen. Die grundsätzliche Form des Bezeugens kann aber nur in der Erfahrung des Gehört- und Beachtetwerdens existieren und auf Vertrauen als Herstellung von Konstanz für diese Weltstruktur basieren, was auch die Wahrhaftigkeit des Zeugen miteinbezieht. Der Zeuge, die performierte Bezeugung und das Bezeugte bilden ein soziales Geschehen, das der kooperativen Evidenzgewinnung dient und zugleich immer ethische Dimensionen impliziert. Sämtliche Voraussetzungen und Dimensionen der Zeugenschaft bilden für Liebsch einen "Komplex der Zeugenschaft", der sich als hermeneutisch durchaus nützlich erweist, um den Bezug des Zeugnisses auf eine radikal fraglich gewordene Welt "im Zeichen des Desasters" (Maurice Blanchot) zu beleuchten, das heißt im Zusammenhang mit Formen von extremer politischer Gewalt, die "ihre Opfer dem Anschein nach einer radikalen Weltlosigkeit überantworten sollte" und somit "die elementarste Voraussetzung der Zeugenschaft" und die Möglichkeit des Bezeugens selbst in Frage stellen.
Benoît Garnot beschreibt die Diversität historischer Konzepte der Zeugenschaft und die Veränderung ihrer Szenarien. Während diese in der Vormoderne in ihrer Performativität durch Ritualisierung und Sakralität gekennzeichnet waren, ist für das moderne Szenarium juridischer Zeugenschaft von einer Entsakralisierung zu sprechen, in der die "staatsbürgerliche Tugend" an die Stelle der "religiösen Pflicht" zur Verfolgung der Wahrheit trete. Anstelle einer angerufenen und entscheidenden göttlichen Instanz tritt die "freie richterliche Überzeugung", durch die das Amt wiederum dem Staat verpflichtet ist. Von einem Phänomen der Resakralisierung ist im Kontext der Opferzeugen zu sprechen; die Wahrheit dient hier auch der Memoria der Gemeinschaft.
Stefan Barton behandelt die Bedeutung des Zeugenbeweises im Strafverfahren. Im Zentrum steht die für den juridischen Kontext so wichtige Regelhaftigkeit zur Autorisierung des Zeugnisses, sowohl im Sinne eines Szenariums als auch bezüglich seiner Choreographie. Es gibt nicht nur einen festen Korpus an möglichen Beweisen ("Urkunden-, Augenscheins-, Sachverständigen- oder eben Zeugenbeweis"); vielmehr unterliegt jede Beweisart einem Regelwerk, so auch das Zeugnis. Dort, wo an anderen Stellen ein Faktor wie ein 'Zeugenhelfer' hinzutreten muss, um aus dem Zeugnis Gewissheit entstehen zu lassen, kann es eine Glaubwürdigkeitsprüfung sein, beispielsweise in einer psychologischen Glaubhaftigkeitsbeurteilung: Auch vor Gericht wird das Zeugnis evaluiert. Und auch hier gilt, dass ein schwer fassbarer Überzeugungsfaktor am Ende Ausschlag gibt für die Evaluierung bzw. Relevanz des Zeugnisses: Für das Urteil entscheidend ist die Überzeugung des Richters bezüglich des verhandelten Sachverhalts.
Michael Bachmann untersucht die spezifische Situation von Theater und Performancekunst als "privilegierte Orte der (künstlerischen) Zeugenschaft". Nachdem er die grundsätzliche Ambivalenz der Beziehung zwischen dem Theatralen und der Rechtspraxis, zwischen Theater und Prozess, herausgestellt hat, analysiert Bachmann das südafrikanische Stück "Ubu and the Truth Commission" (1997), in dem eine Puppe das bezeugende Opfer verkörpert. Die Übertragung des Zeugenstatus auf eine explizit künstliche Figur erlaubt eine Reflexion, die auf "die ethische Frage der Stellvertretung zwischen verschiedenen Akteuren der Zeugenschaft und deren jeweilige Handlungsmacht sowie auf die Frage der Autorisierung" hinausläuft: "Wer gewinnt in welchem Rahmen auf welche Weise die Autorität, als Zeuge zu fungieren?" Bachmann zeigt, wie die Puppe als ästhetisches Objekt eine testimoniale Überzeugungskraft gewinnt und das Verhältnis von Handlungsmacht ('agency') und testimonialer Autorität veranschaulicht. Die ethisch-epistemische Frage der Autorität und Autorisierung des Zeugen wird letztlich auf das ästhetische Verfahren des Puppenspiels zurückgeführt, in dem die Differenz zwischen Bühnenfigur und Opferzeuge "einen Raum eröffnet, durch den das Zeugnis vermeintlich selbst zur Sprache kommt". Dieses "zur Sprache kommen" ereignet sich allerdings unterschiedlich, wenn es tatsächlich durch Sprache geschieht (wie etwa in Peter Weiss' "Ermittlung") oder eher durch einen körperlich-performativen Ausdruck (wie in William Kentridges Inszenierung von "Ubu").
Sibylle Schmidt untersucht die Sozialität einer Wissenspraxis, in der der Zeuge deshalb zur zentralen Figur wird, weil wir nicht alles selbst erfahren können. Nach Schmidt ist die interpersonale Struktur der Zeugenschaft und die intentionale Dimension des Bezeugens "das Spezifikum und zugleich die Crux des Zeugnisses", und in diesem Sinne ist von einer epistemischen Kooperation zwischen Zeuge und Zuhörer zu sprechen. Die interpersonale Struktur der Zeugenschaft unterscheidet das Zeugnis von der Spur oder dem Indiz. Nach Ricœur liegt die Valenz des Zeugnisses im Echo, das es findet - von hier ist es nicht weit zu der Überlegung, dass bei gelingender Zeugenschaft immer Aspekte der Überzeugung eine Rolle spielen müssen. Es reicht nicht, dass der Rezipient das Zeugnis hört und versteht, er muss von der Aufrichtigkeit des Zeugen und der Wahrheit der Aussage überzeugt sein: Ein Zeugnis "ist nie vollständig ohne die Akkreditierung und den Glauben der Rezipienten". Darüber hinaus wirft diese Dimension die grundlegende Frage auf, inwiefern die ethischen Gründe, die mit dem Vertrauen in den Zeugen und wiederum dessen Selbstverpflichtung seinem Adressaten gegenüber "auch als Prinzipien von Erkenntnis und Wissenschaft relevant werden können".
In Matthias Däumers Beitrag zum altjüdischen "Wächterbuch" (dem ersten Teil des äthiopischen Henoch-Pentateuchs) werden die Bedingungen untersucht, unter welchen ein Jenseitsreisender zum Zeugen werden kann. In der dargestellten Konstellation wird Henoch Zeuge einer schwer vermittelbaren Erfahrung, der des Sheol, bei der er von einem Engel als Zeugenschaftshelfer geleitet wird. Es erweist sich, dass die Konstellation 'Jenseitsreise mit begleitendem Zeugenschaftshelfer' später zum Modell für weitaus literarischere Jenseitsbegegnungen wird, wie zum Beispiel jener in Dantes "Commedia". Aus diesem Wandel vom religiösen zum literarischen Text ergibt sich aber auch rückwirkend und damit systematisch, dass die spezifische Zeugenschaftskonstellation der Jenseitsreisen generell als Reflexion (profan-)medialer Bedingungen gesehen werden kann. Der Zeugenschaftshelfer ist nicht nur eine authentifizierende, dem bereisten Ort immanente Figur, sondern Mittlerfigur des mit dem Ort verbundenen Wissens, das in der Jenseitsreise entweder nicht direkt sichtbar oder nicht direkt verstehbar ist. Damit aber wird der Engel zum Kristallisationspunkt der allgemeinen medialen Bedingungen von Zeugenschaft - und Literatur.
Die Szenographie der Zeugenschaft zwischen systematischer und kulturgeschichtlicher Perspektive
(2017)
Ausgehend von einer kritischen Bilanz der in den mittlerweile etablierten 'Testimony Studies' jüngst entstandenen Entwicklungen (insbesondere in der Literatur- und in der Kulturwissenschaft) untersucht Aurélia Kalisky den heuristischen Wert eines Grundmodells von Zeugenschaft, der in der Lage ist, kulturhistorische und systematische Perspektiven zu vereinen. Dabei wird der Begriff des 'Szenariums' durch den der "Szenographie der Zeugenschaft" untermauert. Dieses Modell der 'Szenographie' geht vom Befund einer Fragmentierung der Zeugnisformen und -konzepte aus, die aus der für jede historische Konstellation charakteristischen Spaltung von unterschiedlichen Wahrheitsformen resultiert. Das Denkbild der ‚Szenographie‘ erlaubt eine Darstellung der Akteure von Zeugenschaft innerhalb einer gegebenen Wissens- und Wahrheitsordnung und verdeutlicht darüber hinaus den Parallelismus zu ähnlichen Konstellationen. Als dynamisches Modell ermöglicht es, eine Entwicklung der Zeugnisformen darzustellen, die zugleich aus Brüchen und Kontinuitätslinien besteht, ohne dabei die kulturgeschichtlichen blinden Flecken sowie die epistemologischen Aporien, die durch die gängigen Typologien und Paradigmen von Zeugenschaft entstehen, zu reproduzieren. Der heuristische Wert der 'Szenographie' wird abschließend am Beispiel eines literarischen Textes deutlich: In "Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch" von Danilo Kiš wird der Zeuge und sein Bezeugen als prekäre Verhandlung der Wahrheit dargestellt, wobei das Bekenntnis des verfolgten Gläubigers im Mittelalter und das Bekenntnis des zu Unrecht angeklagten Opfers politischer Gewalt im 20. Jahrhundert verwirrende sowie fruchtbare Parallelismen aufweisen.
'Zeugenschaft' ist nach und nach zu einem wesentlichen kulturellen Muster geworden und der 'Zeuge' zu einer zentralen Figur, die eine gesamte Gesellschaft prägen. Die interdisziplinären und epochenübergreifenden Ansätze in Monographien oder in Sammelbänden lassen Zeugenschaft aber gleichzeitig als zutiefst kontrovers erscheinen, gerade weil sie aufgrund ihres interdisziplinären Charakters eigentlich nur umstritten sein kann. Schaut man sich die wissenschaftlichen Publikationen der letzten fünfzehn Jahre an, mag in der Tat die Variationsbreite der Begriffe 'Zeugnis' und 'Zeugenschaft' verunsichern. Einer derartigen Reichweite droht nämlich eine gewisse Unschärfe oder gar eine Art von Eklektizismus. In manchen jüngeren kulturwissenschaftlichen Studien scheint sogar lediglich eine indirekte, minimal konzipierte Zeugenschaftskonstellation in den untersuchten Objekten vorhanden zu sein, so dass die Begriffe des Zeugen und des Zeugnisses sich nahezu aufzulösen drohen. Die zentrale Rolle des Zeugen und der Status von Zeugenschaft in einem kulturellen und politischen Leben, in dem Wissen und Information stets als "ungewiss" (John Ellis) beschrieben werden, lassen die Klärung des Begriffs 'Zeugenschaft' und besonders die Frage nach ihrem 'Wert' als Instrument des Wissens und dessen Vermittlung umso dringender erscheinen.
The aim of this essay is to provide an analysis of Foucault's use of the notion of revolution in the reports he wrote for "Il Corriere della Sera" during his two trips to Iran in September and November 1978. Foucault critically frames the historical and philosophical concept of revolution, in order to oppose it to the spreading revolts against the Shah, which embody the simple and negative opening of the possibility of a transformation in history. Yet is it possible to reactivate the notion of revolution in a nonrestrictive sense in order to think about the role and the possibility of political revolts and freedom today?
Reversion: lyric time(s) II
(2019)
Is a 'history' of the lyric even conceivable? What would a 'lyric' temporality look like? With a focus on Rainer Maria Rilke's decision not to translate, but rather to rewrite Dante's "Vita nova" (1293–1295) in the first of his "Duineser Elegien" (1912), the essay deploys 'reversion' (as turning back, return, coming around again), alongside 're-citation', as a keyword that can unlock the transhistorical operations of the lyric as the re-enactment of selected gestures under different circumstances.
Restrain
(2019)
The re- of 'restrain' - not the more common iterative 're-' but a mere, if semantically obscure intensifier - marks a temporal paradox: the restraint that prevents a force from reaching its 'telos' is not only a delay, but the intervention of a separate, autonomous, and anti-teleological regime of time. The article reads the biblical figure of the 'katéchon', 'the withholder', as an expression of this paradox and as symptomatic of a political-theological ambivalence essential to the foundation of Western political thought. If the 'secular order' or 'worldly government' has the function of withholding both the ultimate salvation and the final outbreak of chaos, then it sustains itself only by postponing any determination of its value or effect.
Resolution
(2019)
Many parodies operate through temporal strategies that distort the narrative proportions of their targets. This essay discusses two texts that manipulate time for parodic purposes: the contemporary animated sitcom "Bojack Horseman" and the twelfth-century romance "Ipomedon". Their shared method involves the absurd prolongation of narrative structures of resolution and satisfaction in order to reveal these structures' arbitrary nature. But this method, in turn, shows that resolution - a retrospective determination of shape and meaning - can never be avoided entirely, even if it can be deferred.
Resistance
(2019)
The term 'resistance', as it appears in the writings of Walter Benjamin, marks the attempt to think a politics that emerges out of a certain experience of history and time. This entry shows that 'Widerstand' is conceived here principally as a resistance against the course of a catastrophic history - a desire for time to cease its flow and come to a standstill.
Resistance II
(2019)
Resistance I
(2019)
In an essay on Peter Weiss, W. G. Sebald remarked that 'the grotesque deformities of our inner lives have their background and origin in collective social history'. Weiss's works explore the relationships between writing and action, aesthetics and politics. This short essay discusses some fragments of texts by Weiss, asking how subjects formed and (grotesquely) deformed by history can continue to resist or intervene to alter its course.
Repetition
(2019)
Repetition
(2019)
This article explores the creative value of the notion of 'repetition' in Michel Foucault's texts from the 1960s and early 1970s. Re-enacting Gilles Deleuze's philosophy, Foucault implicitly refers to the Freudian repetition mechanisms in order to distort and reverse them. Foucault's repetition is de-psychologized, affectively de-individualizing, and temporally erratic, using the power of a senseless repetition to create new possibilities for the future.
Repetition
(2019)
Serial texts must repeat, so that they can be recognized, but they must also change, so that they can remain interesting. Unusual temporal manipulations can emerge in such texts in order to balance these contradictory demands. This essay studies two serial texts whose need for self-extension produces a suspension of historical time: the contemporary animated sitcom "The Simpsons", and medieval romance as theorized by the twelfth-century poet Wace. I suggest that we might name this temporal constraint fiction.
Renewal
(2019)
Interruptions and discontinuity are the very essence of Aby Warburg's conception of the temporality that affects art objects. Beneath the seemingly immobilized expressive gesture, the Hamburg scholar recognizes the vitality of the "Pathosformeln" that convey the intricacy of human multi-layered temporality, made of interruptions, resumptions, inversions, regressions, stops, accelerations, and survivals (Nachleben). In this sense, Warburg's idea of 'renewal', which he developed from his well-known investigation of the Italian Renaissance, does not quite overlap with the notion of rebirth: an expressive gesture can re-emerge and be renewed in a different time without dying and being born a second time with a different form.
Rehabilitation II
(2019)
Rehabilitation I
(2019)
By distancing it from historical revival (i.e., 'Living History'), reenactment is here understood as artistic strategy as well as curatorial practice, and therefore as critical method. As artistic strategy it implies the reactivation (over time) and remediation (on different supports) of images stemming from a vast visual repertoire that artists - especially those working with time-based media (film, video, performance) - appropriate in order to give them new meanings. As curatorial practice and critical method, reenactment regards the remaking of impermanent artworks and the restaging of temporary exhibitions to possibly offer an understanding of (art) history that gives preference to a visual and performative, sometimes immersive, approach.
Recovery
(2019)
Despite the increasing incidence of eating disorders, very few films have addressed these conditions in particular. What's more, most of the US-American mainstream fiction films that deal with eating disorders tend to be built on anachronistic clichés, hardly depicting their broad array. Furthermore, the traditional narrative structure of beginning, middle, and (happy) end misrepresents the erratic temporality of eating disorder symptoms as well as the nonlinear phases of recovery and relapse.
Recitation : lyric time(s) I
(2019)
What is the time of the lyric? For Augustine, the recitation of a hymn illustrates the workings of time in the human mind; for Giorgio Agamben, the poem itself exemplifies the structure of what he defines as 'messianic time'. By focusing on Dante's sonnet 'Tanto gentile e tanto onesta pare' and looking at the double act of the recitation of the poem and the "re-citation" of prior gestures, the temporality of both the single poem and lyric discourse will come into focus.
The text considers recirculation as a process through which both visual and cultural imagery are put in motion over and over again in the current information age, especially in the context of post-Internet art. Hito Steyerl's writings and thoughts on the 'poor image', namely the low-resolution digital image bound to a perpetual wandering or 'circulationism', here serve as major reference points for the development of the argument.
Recherche II : anamnesis
(2019)
The temporal loop of Proust's "Recherche" complicates the unidirectional understanding of anamnesis in psychoanalysis, which, in turn, allows for a renewed reading of the temporality of the "Recherche", highlighting the intrinsic link between artistic 'research' and unconscious affect - at the same time origin, motif, and destination.
Recherche I
(2019)
Recherche, (re-)search: do I research to find something not yet found or do I re-search back to find something that has been lost? These two directionalities structure Proust's "À la recherche du temps perdu" and are reflected in its reception. But what if they only seem mutually exclusive, yet really are one and the same thing?
Preface
(2019)
What's in a prefix? How to read a prefix as short as 're-'? Does 're-' really signify? Can it point into a specific direction? Can it reverse? Can it become the shibboleth of a 'postcritical' reboot? At first glance transparent and directional, 're-' complicates the linear and teleological models commonly accepted as structuring the relations between past, present, and future, opening onto errant temporalities.
Der junge Lukács und Goethe
(2017)
Ulisse Dogà wendet sich dem Stellenwert Goethes im Frühwerk von Georg Lukács zu und widerspricht der gängigen Forschungsmeinung, die ein konsequentes Interesse von Lukács an Goethe erst mit der marxistischen Phase seines Denkens einsetzen lässt. Entgegen dieser 'paulinischen' Bekehrungsfigur weist er Goethe als problematischen und ambivalenten, durchaus aber zentralen Referenzautor bereits in Lukács' Schriften zum Drama, in der Aufsatzsammlung "Die Seele und die Formen" (1909) und in der bekannten "Theorie des Romans" (1920) aus. Anhand seiner Goethe-Lektüren zeige sich auch die verborgene Kontinuität von Lukács' Denken. Eine Identität von Subjekt und Objekt, die beim marxistischen Lukács die proletarische Revolution herzustellen habe, bilde nämlich schon im Frühwerk den Hintergrund, vor dem Goethe analysiert und beurteilt werde. Seine Überlegungen zu Goethe lasse Lukács systematisch in eine geschichtsphilosophische Reflexion formästhetischer Fragen ein. Betrachte er das Goethe'sche Drama als 'unfertig', da es "das Verhältnis von Held und Schicksal ungeklärt" lasse und die Diskrepanz zwischen Individuum und Geschichte die dramatische Form in lyrische und epische Bestandteile zerlege, so habe Goethe "Wilhelm Meisters Lehrjahre" als einen Kompromiss zwischen dem Idealismus des "Don Quichotte" und der Desillusionsromantik der "Éducation sentimentale" angelegt. Mittels der Ironie komme es hier zu einer schwierigen Versöhnung von Ich und Welt, die die zerrissene Form des Dramas im Roman heile und die Lukács sogar einen zeitweiligen Ausweg aus seiner Negation der bürgerlichen Gesellschaft aufgezeigt habe. Dies verrate auch sein Interesse an Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, die er insgesamt als gelungene Lösung und als Überwindungsversuch insbesondere kantischer Dualismen betrachte. Dauerhaft befriedigen konnten Goethes vermeintliche Apotheosen von organischer Einheit und Erfüllung Lukács in Dogàs Augen gleichwohl nicht. Da diese dem Bereich der Kunst verhaftet geblieben seien, habe die Ästhetik "den Stab der Utopie" schließlich an die (marxistische) Politik übergeben müssen.
Adelina Debisow widmet sich der Inszenierung eines Tabus auf der Theaterbühne des 17. Jahrhunderts. In ihrem Aufsatz "Die 'obescénité' als inszenierter Tabubruch in der Komödie des 17. Jahrhunderts - Molières 'L'École des femmes' und 'La Critique de L'École des femmes'" beschreibt die Autorin ein Tabu, das zur Zeit Molières noch nicht als solches benannt werden kann, da der Begriff erst im 18. Jahrhundert überliefert wird. Dennoch weist seine Komödie etwas Unaussprechliches auf; das Moment sexueller Überschreitung wird im Bild der gestohlenen Schleife der Figur Agnés coram publico angezeigt und in der später erscheinenden 'Critique' mit dem Begriff der 'Obescénité' als Unsagbares gekennzeichnet.
Dem Inzesttabu gilt die Aufmerksamkeit in Verena Richters Beitrag "'C'est comme blasphémer: ça veut dire qu'on y croit encore.' Inzest und 68er-Diskussionen in Louis Malles "Le souffle au coeur" (1971)". Louis Malle inszeniert im Film einen Mutter-Sohn-Inzest vor dem Hintergrund eines französischen Nationalfeiertags. Dieses mit kultureller Bedeutung aufgeladene Setting erlaubt es der Autorin nicht nur, den Inzest vor dem Hintergrund einer kritischen Auseinandersetzung mit der Familienstruktur der bürgerlichen Kleinfamilie zu lesen, sondern als kritische Revision paternalistischer Gesellschaftsstrukturen grosso modo.
In Marie Meiningers Aufsatz "Verhandlungen von Tabus in der Populärkultur. Darstellungsweisen in der ARD-Vorabendserie 'Verbotene Liebe'" steht ein serielles TV-Format im Vordergrund der Betrachtung. Bereits im Titel ruft die einstmals erfolgreiche Vorabendserie "Verbotene Liebe" das Tabuisierte auf den Plan. Die Serie nimmt ihren Ausgang von der (De)Thematisierung eines Geschwisterinzests und fokussiert damit ein Tabu, das bereits Freud Anfang des 20. Jahrhunderts neben dem Tötungstabu als eines der bedeutsamsten gesellschaftlichen Regulative beschreibt. Marie Meininger untersucht, wie die Serie jenes Tabu mit aufklärerischem Anspruch inszeniert, dabei eine (moralische) Hierarchisierung verschiedener Inzesthandlungen und -konstellationen vollzieht, die sich außerdem verbinden mit kultur- und geschlechterstereotypen Darstellungsmustern.
Vera Nordhoffs Beitrag "Alles ist erlaubt - oder doch nicht? Subjektive Tabus und ihre Grenzen in der Serie 'Sex and the City'" hat eine populäre US-amerikanische Serie zum Gegenstand, die ob ihrer sexuellen Freizügigkeit scheinbar keine Tabugrenzen zu kennen scheint. Die Autorin führt jedoch den Nachweis, dass es dennoch ein Unantastbares gebe, das in der Serie als unhinterfragtes Heiligtum firmiert: das romantische Ideal monogamer Liebe, das jedoch durch die genrespezifischen Bedingungen des seriellen Formats immer wieder als serielle Monogamie dargestellt und dabei unterlaufen wird.
Mit einem gegenwärtig besonders populären medialen Format setzt sich Tanja Lange in ihrem Aufsatz "Dahin zeigen, wo es weh tut: Perspektiven auf Verletzbarkeit und Selfiekultur" auseinander. Gemeinhin gilt das Phänomen des Selfies als Ausdruck des Egozentrismus einer Generation. Die Autorin nimmt dagegen jedoch Selbstdarstellungen in den Blick, die Verletzbarkeit demonstrativ ausstellen und stellt diese in den Kontext philosophischer Anerkennungstheorien. Mit der Zurschaustellung von Verletzung und Versehrtheit scheint in einer erfolgsorientierten Gesellschaft ein Tabu berührt zu sein.
Mara Kollien beschäftigt sich im Beitrag "Tod und Sterben in der zeitgenössischen Filmkomödie" buchstäblich mit dem Unerfahrbarem, dem Tod als Gegenstand der zeitgenössischen Filmkomödie. Vor dem Hintergrund kultureller Zugangs- und Umgangsweisen mit dem Tod identifiziert die Autorin den humoresken Umgang mit dem Verdrängten als Möglichkeit einer distanzierten Annäherung.
Mit dem Beitrag "Seinfeld und das Tabu der Masturbation" betrachtet Elisabeth Werner Inszenierungen von Tabus und Tabubrüchen in audiovisuellen Formaten. Die Autorin fokussiert die (De)Thematisierung von Sexualität und Autoerotik vor dem Hintergrund der medialen Bedingungen des Formats Sitcom und des spezifischen kulturellen Zuschnitts der Sitcom "Seinfeld", die zuweilen mit ihrer Figurenkonstellation an überlieferte Narrative der jüdischen Kultur anschließt.
In Stephanie Willekes Beitrag ""Nichts mehr stimmt, und alles ist wahr." Tabubrüche in Herta Müllers "Atemschaukel"" steht die literarische Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen im Vordergrund der Betrachtung. Herta Müllers "Atemschaukel" fokussiert das Schicksal in Rumänien lebender Deutscher, die zum Kriegsende in Arbeitslagern interniert werden. Damit wird in gewisser Weise ein Tabu im Sinne des Unausgesprochenen berührt, da das Schicksal der internierten Rumäniendeutschen im Kollektivgedächtnis weitestgehend ausgespart bleibt.
Benjamin Hein beschäftigt sich im Beitrag "Über die Dethematisierung der Judenverfolgung und des Holocaust in der Populärliteratur der Nachwendezeit" mit den gegenwärtigen literarischen Aufarbeitungstendenzen der NS-Vergangenheit. Er untersucht, wie das Fortwirken eines Authentizitätsanspruchs und eines damit verbundenen 'Bildverbots' in der Schrifsteller-Generation der Nachgeborenen sowie der dritten Generation eine Aussparung der Opferperspektive zeitigt, die eine brisante Leerstelle produziere.
Alin Bashja Lea Zinner fokussiert in ihrem Aufsatz ein Tabu innerhalb der literarischen Aufarbeitungsgeschichte der NS-Verbrechen. In "Das Tabu der sexuellen Gewalt in der Holocaust-Literatur" stehen die literarischen Werke des Holocaust-Überlebenden Yehiel DiNur im Zentrum der Aufmerksamkeit, die mit einem Vexierspiel aus Faktualität und Fiktionalität die sexuelle Ausbeutung von Häftlingen entlarven und sich aufgrund dessen in ihrer Rezeptionsgeschichte Anfeindungen und Vorwürfen der pornographischen Ausschlachtung und Proftigier ausgesetzt sahen.
Dennis Bock stellt in seinem Beitrag "'Denn es geht hier nicht um Mögen oder Nichtmögen. Die Muselmänner stören ihn, das ist es' - Erzählungen über Muselmänner in der Literatur über die Shoah heraus", wie durch die narrative Variation der im Rahmen der Shoah-Literatur inventarisierten Figur des Muselmanns und dem mit ihr verbundenen konventionalisierten Narrativ ein Störpotential erzeugt wird, das den Fokus auf die Berührbarkeit eines Tabus legt. Es ist die Berührbarkeit des Todes, die durch die erzählerische Identifikation mit einer zwischen Leben und Tod begriffenen Figur evoziert wird, und dergestalt einen Reflexionsprozess in Gang setzt.
"Der Mensch, der sich auslöschte" : philosophische und literarische Perspektiven auf den Suizid
(2017)
Sarah-Christina Henze und Kevin M. Dear beschäftigen sich mit der literarischen Bearbeitung des Themas Suizid anhand von Terézia Moras Roman "Das Ungeheuer". In ihrem Aufsatz "Der Mensch, der sich auslöschte" - Philosophische und literarische Perspektiven auf den Suizid zeigen die Autoren anhand terminologischer Abgrenzungen die ethische Problematik auf, die sich mit der Selbsttötung verbindet. In diesem Kontext könnten Suizide als nachvollziehbar gelten, die das Ende eines physischen oder psychischen Leidens verheißen. Im Falle von Moras Protagonistin, die sich in Folge einer anhaltenden Depression das Leben nimmt, laufe eine solche Legitimation jedoch insoweit fehl, als die Depression an sich ein Nicht-Artikulierbares, ein Unberührbares im Sinne des Tabu-Begriffs darstelle, das im Roman umkreist wird.
Mit dem Beitrag von Lis Hansen zu den "Verdammte[n] Dinge[n] - Tabu und Müll in der Literatur" wenden wir uns im Anschluss der Betrachtung von Tabus und ihrer Überschreitungen in der Literatur zu. Hansen begreift Müll dabei im Sinne von Mary Douglas als Medium der Ordnungsstiftung und weist dem ordnungstiftenden Akt des Entsorgens mit Kristevas Abjekt-Begriff identitätsstiftende Funktion zu. Damit sind Müllprodukte jedoch auch fortwährend eingebunden in einen Kreislauf von Bedeutungsverlust und Sinnstiftung. Anhand verschiedener Beispiele der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zeigt sie, wie die ausrangierten, erneut aufgefundenen Dinge für ihre Finder das Potential bereithalten, Lebensgeschichten zu erzählen und Sinnverlust in Sinnproduktion verwandeln können. Dabei setzt die Möglichkeit eines neuen Sinnarrangements aus dem Verworfenen poetisches Potential im Sinne eines semantischen Spiels frei, so dass dem Begriff Recycling hier eine neue, gleichsam poetisch gewendete Funktion zukommen kann.
Tabu als "travelling concept" : ein Versatzstück zu einer kulturwissenschaftlichen Tabu-Theorie
(2017)
In ihrem Beitrag "Tabu als travelling concept: Ein Versatzstück zu einer kulturwissenschaftlichen Tabu-Theorie" überprüft Ute Frietsch kritisch die Fruchtbarkeit des Tabu-Begriffs, dessen weit verzweigte begriffsgeschichtliche Entwicklung vom Sakralen zum Profanen führt, für die kulturwissenschaftliche Analyse. Sie schlägt vor, den Begriff mit Edward Saids Begriff der "traveling theory" bzw. mit Mieke Bals Begriff des "travelling concepts" als einen reisenden zu verstehen, um den Mehrdeutigkeiten, die sich begriffsgeschichtlich abbilden, Rechnung zu tragen. Frietsch vollzieht in diesem Sinne die 'Reise' des Begriffs von seinen polynesischen Ursprüngen bis zu seiner alltagssprachlichen Verwendung in Europa nach und legt dabei den Fokus auf die vielgestaltigen Wandlungsprozesse, denen das Tabu unterworfen ist.
"Tabu", "Verbot", "Grenze" - exakte definitorische Abgrenzungen der Begriffe erscheinen diffizil, ihre Übergänge dagegen mitunter fließend. Diese erste Bestandsaufnahme bedeutungsverwandter Wörter trifft die Frage nach der Konzeption des Tabus und seinem Gegenstandsbereich im Kern: Es geht um Grenzziehungen und um deren zeitgleiche Übertretungen, die in der Konzeption des Tabus - wie es im Folgenden konturiert werden soll - simultan angelegt sind. Leonie Süwolto gibt zur Definition des Begriffs zunächst über die Begriffsherkunft und -überlieferung Auskunft, bevor ein Überblick theoretischer Reflexionen des Tabus Aufschluss über seine Konzeption gibt. Ausgehend von der These, die im Verlauf des Textes entwickelt wird, dass Tabus als historisch und kulturell variable Grenzmarker Auskunft über gesellschaftliche Wertesysteme und ihren Wandel geben können und somit immenses kulturdiagnostisches Potential bergen, denkt Süwolto außerdem über ihre Bedeutung in der Gegenwartsgesellschaft und nicht zuletzt über das Verhältnis von Literatur, Kunst, Medien und dem Phänomen Tabu bzw. Tabubruch nach.
Der Beitrag Alexander Honolds beschäftigt sich mit der Funktionalisierung Goethes im Rahmen der literarischen Produktion um 1900. Am Beispiel Thomas Manns und partiell auch Hugo von Hofmannsthals führt er vor, inwiefern eine "Goethe-Imago" in ihren nach der Jahrhundertwende entstandenen Werken eine permanente poetologische Reflexion und eine narrative Entfaltung der "Instanz des Autors als solcher" in Gang gesetzt habe. Dabei sei es die seit dem späten 19. Jahrhundert kurrente Diskursfigur des 'Nationaldichters' und die Behauptung einer von Goethe einmalig vollzogenen Einheit von Leben und Werk, die seine Attraktivität auch für Thomas Mann fundierten. Dieser unternehme aber keineswegs den Versuch, solche Vorstellungen zu aktualisieren. Im Gegenteil müsse seine Orientierung an Goethe im Kontext "krisenhafter Begründungsversuche einer kanonfähigen, legitimierten Autorschaft" gesehen werden, die Goethe auf eine "Habitus-stiftende Funktion" festlegten. Nicht nur die seine frühen Novellen durchziehende Polarität von Leben und Kunst, auch und v. a. die Polarität von Dichtung und Literatur habe Mann wesentlich über die Rückbesinnung auf Goethe entworfen und sie konsequent in die Absicht einer "Modernisierung des Dichterbildes zur Schriftstellerinstanz" integriert. Honold weist dies vornehmlich am "Tod in Venedig" (1911) nach. Mit und neben motivischen Anspielungen wie der 'italienischen' Reise und der späten Liebe Goethes zu Ulrike von Levetzow seien es v. a. Figurationen der Autorschaft, welche die Novelle in Anlehnung an Goethe konsequent ausspiele. Sei Goethe in Italien etwa immer wieder auf die Diskrepanz zwischen antiker und moderner Kunst aufmerksam geworden, so setze die Mann'sche Erzählinstanz ihren Autor-Protagonisten wie sich selbst zeitweilig einer "antikisierenden Infektion" aus. Diesen "gespielten Verlust der erzählerischen Contenance" betrachtet Honold als Ausdruck einer Goethe-Imago, mit der sich "die moderne Autorschaft ihrem Souveränitätsproblem stellt".
Nicolas Berg wirft einen Blick auf die intensive und facettenreiche Goethe-Verehrung deutsch-jüdischer Milieus um 1900. Mit Goethe habe sich im deutschen Judentum grundsätzlich die Hoffnung auf eine Anverwandlung "universeller Werte der Kultur" verbunden, und die Beschäftigung mit Goethes Leben und Werk sei aus diesem Grund weder mit bloßer "Klassikerbeflissenheit" noch mit gängigem "Kulturnationalismus" zu verwechseln. Dies erkenne man nicht zuletzt daran, dass jüdische Spielarten der Goethe-Aneignung eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Goethe keineswegs ausgeschlossen hätten. Berg erinnert an die Fülle philologischer, philosophischer wie populärwissenschaftlicher Goethe-Arbeiten von jüdischen Autoren. Von besonderer Attraktivität sei dabei oft der Goethe'sche Bildungsgedanke gewesen, da dieser die Überwindung "beruflicher Barrieren" wenigstens im Imaginären zugelassen habe. Das Bedürfnis nach einem Ausweis deutsch-jüdischer Affinitäten zeige sich darüber hinaus an der Behauptung einer inneren Verwandtschaft v. a. zwischen Spinoza und Goethe, die spätestens um 1900 zum Topos aufsteige. Der Blick auf die gesellschaftspolitischen Realitäten der Zeit drohe freilich, die gesamte Konstellation als traurige "Phantasmagorie" offenzulegen.
Claude Haas untersucht anhand der einflussreichen Goethe-Monographie Friedrich Gundolfs (1916) die wichtigsten Eigenarten und Funktionen eines dezidiert heroischen Goethe-Kults seit 1900, die in verdeckter Form jahrzehntelang fortwirkten. Haas' Ausgangspunkt bildet eine seinerzeit ungemein kontrovers diskutierte Rede, die Karl Jaspers 1947 im Rahmen der Verleihung des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt hielt. Diese entwarf das Idealbild einer Goethe-Aneignung, die den Klassiker ganz auf den privaten Bereich und auf die betont bescheidenen Zwecke der "Erholung" und der "Ermunterung" festzulegen versuchte. Während Jaspers seine Überlegungen als endgültigen Bruch mit einem vermeintlich gemeinschaftlich orientierten "Goethe-Kultus" ausweist, macht Haas geltend, dass ein heroischer Goethe-Kult Gundolf'scher Prägung auf der Ebene seiner Adressierung immer schon zutiefst privatistisch orientiert gewesen sei. Dies lasse sich an der Grundtendenz von Gundolfs Studie ablesen, die über die Darstellung von Goethes Leben und Werk immanent stets auch Regeln und Ziele des eigenen Goethe-Kults abhandle. Dabei richte sich Gundolf jedoch nicht nur an den Einzelnen, sondern an den mithilfe Goethes überhaupt erst "Zu-Vereinzelnden". Indem Gundolf das 'Erlebnis' Goethes einerseits gegen die bürgerliche Moderne in Stellung bringe, indem sein Goethe-Kult andererseits aber sozial wie politisch folgenlos bleiben müsse, stellten Freizeit, Unterhaltung und 'Erholung' seinen heimlichen Fluchtpunkt dar. Unter der Hand führe bereits Gundolf den idealen Goethe-Anhänger in ein Refugium, in dem er sich mit Goethe zerstreue. Haas weist dies abschließend an dem von Gundolf konstatierten Verfall von Goethes Spätwerk nach. Gundolfs Verriss von Faust II als Unterhaltungsliteratur führt er darauf zurück, dass der Autor sich hier mit den uneingestandenen Aporien und Paradoxien seines eigenen Goethe-Kults konfrontiert gesehen habe.
Stefan Willer analysiert die zahlreichen um 1900 kursierenden Pathologien und Pathographien 'großer Männer', die Goethe oft als privilegiertes Fallbeispiel bemühen. Die diese Schriften kennzeichnende Mixtur aus "biographischem Interesse", "vitalistischer Weltanschauung" und "metaphysischer Überhöhung" betrachtet Willer als typisch für eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts prosperierende 'lebenswissenschaftliche' Goethe-Rezeption, die Goethe allerdings nicht degradiere, sondern die in der Regel sogar zu einer "umso emphatischeren Aufwertung" seiner "künstlerischen Lebensleistung" führe und Goethe auf ihre Art anschlussfähig für das neue Jahrhundert mache. Während insbesondere Schiller vom pathologischen Diskurs als ein "heroischer" (und rein biologisch Kranker) kanonisiert worden sei, schlage dieser Goethe auf die 'nervöse', 'innerliche' und partiell auch 'dekadente' Seite der Modernität. Im Zentrum von Willers Untersuchung steht die Studie "Ueber das Pathologische bei Goethe", die der Psychiater Paul J. Möbius 1898 vorgelegt hat. Neben dem "diagnostisch-lesenden Blick" und der "symptomalen Lektüre", die sowohl Goethe'sche Figuren wie Werther oder Gretchen als auch bedeutende Lebensstationen des Autors pathologisch einordnen, gilt Willers besonderes Interesse der Partizipation dieser Studie an den wichtigsten medizinischen Diskursen ihrer Zeit. Die Untersuchung verrate den Einfluss einer bereits von Cesare Lombroso wissenschaftlich behaupteten Affinität von Genie und Wahnsinn ebenso wie den der Entartungs-Theorie Max Nordaus. Die seit dem späten 19. Jahrhundert gängige Verbindung zwischen Pathologie und Degenerationsdiskurs appliziere Möbius jedoch allenfalls zaghaft auf Goethe. Stattdessen unterlege er die Goethe'sche Pathologie einer Entwicklung, die sich in Sieben-Jahres-Zyklen manifestiert habe. Willer flankiert seine Möbius-Lektüre systematisch mit anderen Goethe-Pathographien jenseits der Psychiatrie bis in den Nationalsozialismus hinein und er konfrontiert Möbius abschließend mit prominenten psychoanalytischen Goethe-Lektüren. All diesen Bemühungen sei gemeinsam, dass sie Goethe als Patienten betrachteten. Gemeinsam sei ihnen aber auch, dass die Ärzte als von Goethe permanent 'Affizierte' ihrerseits "in die Nähe des Patienten-Status" zu geraten drohten.
Alexander Schwieren untersucht die Bedeutung Goethes für die im frühen 20. Jahrhundert sich formierende Gerontologie. Zwar habe deren eigentlicher Gründungsvater Hans Thomae seine Disziplin ab den 1960er Jahren auf eine Wissenschaftsanmutung verpflichtet, die auf literarische und künstlerische Bezugnahmen zusehends verzichten musste, doch wirke die zentrale Rolle, die v. a. Goethes Alterswerk in der Vorgeschichte der Gerontologie gespielt habe, bis heute nach. So lasse sich in den Schriften Eduard Sprangers - vermittelt wesentlich über Dilthey - der Versuch beobachten, den späten Goethe unter entwicklungspsychologischem (und nicht etwa unter biologischem) Gesichtspunkt als einen Autor auszuweisen, der an seiner eigenen Vollendung im Alter gescheitert sei. Spranger weist dies an den Perspektiv- und Standortwechseln insbesondere von Wilhelm Meisters Wanderjahre nach, die in den Augen Schwierens wichtige Erkenntnisse der Narratologie vorwegnehmen, die Spranger selbst jedoch konsequent als entwicklungsbedingte Kompositionsschwäche begreift. Georg Simmels bekannte Gegenposition, die kategorische ästhetische Aufwertung des Goethe'schen Alterswerks, festige ebenfalls einen Diskurs, der das Alter als Entwicklungsstadium eigenen Rechts betrachte. Die Divergenz zwischen biologischer und psychologischer 'Lebenskurve', wie sie etwa in Charlotte Bühlers Unterscheidung zwischen 'Verenden' und 'Vollenden' manifest werde und wie sie auch Erich Rothackers Überlegungen zum Alter grundiere, habe die Gerontologie anfangs bewusst, später oft unbewusst oder gar uneingestanden unter dem Rückgriff auf ihre Lektüre des späten Goethe formuliert. V. a. die Vorstellung, dass das Alter ›scheitern‹ könne und dass es eine genuine 'Aufgabe' darstelle, wäre Schwieren zufolge ohne die gerontologische Beschäftigung mit Goethes Spätwerk in den 1920er und 30er Jahren kaum denkbar gewesen.
Jürgen Oelkers wirft einen dezidiert kritischen Blick auf den Stellenwert Goethes innerhalb der Pädagogik der Lebensreformbewegung. Am Beispiel insbesondere Paul Geheebs, dem Gründer der Odenwaldschule, und am Beispiel auch seines späteren Nachfolgers Gerold Becker führt Oelkers vor, dass die emphatische Berufung auf Goethe kaum mehr als eine "bildungsbürgerliche Leerformel" und eine Marketingstrategie des betreffenden Privatschul- und Internatswesens dargestellt habe. Die an Goethe vermeintlich anschließende Beschwörung einer "pädagogischen Provinz" habe sich als bloße Metapher schnell "verselbständigt". Auch seien die Abschottung gegen die Zivilisation und die gesellschaftsemanzipatorischen Versprechen der Pädagogik eines Geheeb oder Wyneken eher Rousseau, Pestalozzi und Fichte als dem notorisch ich-zentrierten Goethe verpflichtet, der seinerseits vor den "großspurigen Verheißungen" der berüchtigten Pestalozzi'schen Methode bereits gewarnt hatte. Aber auch diese Filiationen lässt Oelkers eher für das Selbstverständnis als für die erzieherische Praxis von Jugend- und Lebensreformbewegung gelten, die er aufgrund ihrer pädagogischen Misserfolge und aufgrund unzähliger Fälle sexuellen Missbrauchs vollständig diskreditiert sieht. Anhand der Todesanzeige Gerold Beckers legt er abschließend offen, dass ein Gedicht-Zitat aus den "Zahmen Xenien" hier die Funktion erfülle, Beckers - wie im Übrigen auch Hartmut von Hentigs - Verleugnung eigenen schuldvollen Verhaltens wiederum mithilfe Goethes zu legitimieren.
Daniel Weidner kann am Beispiel der Goethe-Studie Georg Simmels (1913) nachweisen, dass der epistemologische Rückgriff auf Goethe die Geistes- und Kulturwissenschaften auch produktiv herauszufordern vermag. Anders als Dilthey und anders v. a. als Gundolf oder Spengler versuche Simmel theoretische Probleme oder Begründungsnöte des eigenen Diskurses anhand Goethes nämlich nicht zu verschleiern oder stillzustellen, vielmehr werfe er solche Probleme in seiner lebensphilosophisch wie kulturtheoretisch interessierten Monographie überhaupt erst systematisch auf. Zwar entstehe die große Faszination Goethes auch für Simmel zunächst durchaus aus einem klassischen Einheitsbegehren. Das Versprechen einer Vereinigung 'absolut' scheinender Gegensätze in der Figur Goethes führe Simmel aber nicht in die Sackgasse einer Monumentalisierung, sondern in eine "Art heiße Zone", in der "verschiedene Oppositionen und Begrifflichkeiten" verdichtet, reflektiert und permanent neu justiert werden müssten. Weidner zeigt dies v. a. anhand der drei für die zeitgenössische Kulturwissenschaft zentralen Konzepte von 'Individuum', 'Wert' und 'Leben'. Am Beispiel der Wert-Kategorie etwa stoße Simmel immer wieder auf das Problem, dass Werte zwar relativ seien, dass sie aber immer auch dazu neigten, sich in neue Endzwecke zu verwandeln. Und die Relation von Leben und Kunst gebe in Simmels Umkehrungen und in einer an Goethe selbst zurückgespielten Dialektik den Blick auf Prozesse der Konstruktion von Relationen als solcher frei. Es sei in letzter Instanz die Einsicht in die "Übergängigkeit zwischen verschiedenen Werten oder Wertgebieten", die Simmel als Goethes größte Leistung herausstelle. Zu fragen wäre, ob die von Simmel am Beispiel Goethes kategorisch aufgeworfenen Probleme der Letztbegründung, der Relationalität sowie der konsequenten Reflexion des Verhältnisses von Phänomen und Theorie sich nicht auch für die heutige Kulturwissenschaft nach wie vor stellen.
Inwiefern Goethe prominenten geisteswissenschaftlichen Strömungen und Schulen des frühen 20. Jahrhunderts über massive methodische Bedrängnisse hinweghelfen konnte oder wenigstens sollte, zeigt der Beitrag von Harun Maye, der die Figur des 'Dämonischen' bei Friedrich Gundolf und Oswald Spengler unter die Lupe nimmt. Zwar erfülle das Dämonische als "Mittlerfigur zwischen Immanenz und Transzendenz" bereits bei Goethe selbst die Funktion, historische und biographische Entwicklungsprozesse zu "plausibilisieren". Von Geistesgeschichte und Kulturmorphologie werde das Dämonische als rhetorischer wie epistemologischer "Joker" allerdings dann zum Einsatz gebracht, "wenn ein geschichtlicher oder begrifflicher Übergang, der kausal kaum zu bewältigen ist, dennoch hergestellt werden muss." In Gundolfs Goethe-Monographie (1916) weist Maye dies im Umfeld der zentralen Konzeption der 'Gestalt' an den Brüchen zwischen organologischer und geometrischer Metaphorik nach, die das Dämonische gleichsam kitte, indem es äußere Zufälle in der Darstellung geschichtlicher Zusammenhänge als 'Schicksal' erscheinen lasse. Auf diese Art werde das Dämonische indes weniger als ein Prinzip der dargestellten Geschichte denn als ein Prinzip der geistesgeschichtlichen Darstellung selbst erkennbar. Auch Spengler setze das Dämonische in "Der Untergang des Abendlandes" (1918−1922) genau dort ein, wo kausallogische Probleme seiner Geschichtsmorphologie aufbrechen. Dies zeige bereits die Uneinheitlichkeit seines Kulturbegriffs, die darin zum Ausdruck komme, dass Spengler 'Kultur' einerseits als organischen Prozess, er sie andererseits - v. a. im Kontext des entscheidenden Übergangs von 'Kultur' in 'Zivilisation' - aber auch als eine Phase innerhalb dieses Prozesses ausweise. So sehr folglich auch Spengler auf das Dämonische angewiesen bleibe, um eigene "Theorieprobleme" lösen zu können, so wenig lasse sich doch übersehen, dass das Dämonische exakt jene Paradoxien und Zirkelschlüsse offenlege, über die es ursprünglich hinwegtäuschen sollte. Es sei nicht zuletzt die Unterscheidung zwischen dem 'Geist' und den 'Geistern' kausallogischer Brüche, die das Dämonische im geisteswissenschaftlichen Diskurs um 1900 sowohl zementiere als auch zum Einsturz bringe.
Dorothee Gelhard untersucht primär die methodische Bedeutung, die Goethe im Œuvre Ernst Cassirers zukommt. Genau wie Dilthey ist Cassirer das Beispiel eines Autors, der zeit seines Lebens sowohl über Goethe - nicht weniger als 23 seiner Arbeiten führen dessen Namen im Titel - als auch mit Goethe philosophiert hat. Goethe unterhalte für Cassirer den Status eines "Befreiers" aus jeder nationalistischen Enge und er verkörpere das Prinzip einer Einheit von Theorie und Praxis sowie von Leben und Werk. In erster Linie sei jedoch Cassirers Formbegriff, wie er in seinem von 1923 bis 1929 erschienenen Hauptwerk "Philosophie der symbolischen Formen" entwickelt wurde, unter dem direkten Rückgriff auf Goethe erfolgt. Genau wie dieser begreife Cassirer die Form nämlich nicht als ein feststehendes statisches, sondern als ein dynamisches historisches Phänomen. Auch übertrage er hier zentrale Parameter aus Goethes naturwissenschaftlichen Schriften auf die Bereiche des Mythos, der Sprache, der Kunst, der Religion und der Wissenschaft. Dies habe v. a. Konsequenzen für den Entwurf der spezifischen Prozesshaftigkeit dieser Größen, den Cassirer wiederum maßgeblich Goethe verdanke. Mit Goethe teile er die Überzeugung, dass erst ihre zeitliche und geschichtliche Veränderbarkeit eine Identität der Form zu gewährleisten vermag.
Vorbild, Beispiel und Ideal : zur Bedeutung Goethes für Wilhelm Diltheys Philosophie des Lebens
(2017)
Johannes Steizinger untersucht unter drei Leitaspekten die Bedeutung Goethes für die Lebensphilosophie Wilhelm Diltheys. Goethe stelle das Vorbild für Diltheys Weltanschauung dar; er diene ihm als Beispiel für die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten der Einbildungskraft; und schließlich steige die vielfach beschworene Synthese von Goethes Leben und Werk für Dilthey zum Ideal von Dichtung als einer "Steigerungsform des Lebens" selbst auf. Goethe bilde folglich nicht nur einen zentralen Gegenstand in der Entwicklung von Diltheys Ästhetik und Poetik, wie sie etwa in den unterschiedlichen Fassungen von "Ueber die Einbildungskraft der Dichter" (ab 1877) greifbar wird. Darüber hinaus beanspruche er Goethe konsequent als Lehrmeister in wesentlichen methodologischen Fragen, ja er verpflichte ihn geradezu auf eine Beglaubigungsinstanz der eigenen Philosophie, wenn er in seiner Baseler Antrittsvorlesung programmatisch festhält: "So ruht Goethes forschendes Auge noch auf dem, was wir heute tun." Die methodische Bedeutung Goethes für Dilthey zeige sich in erster Linie an Phänomenen wie der Selbsterforschung und dem Selbstzeugnis. Es sei in letzter Instanz der eigene Lebensbegriff, den Dilthey bereits bei Goethe systematisch vorgeprägt sieht. So lasse sich "die Relativität alles Geschichtlichen" mit Goethe als Grundtendenz an das 'Leben' selbst zurückspielen und depotenzieren; so lasse sich mit Goethe das Denken als "Ausdruck des Lebens" und nicht als dessen Widerpart begreifen; und so sei das genetische Naturverständnis Goethes wegweisend für Diltheys typologische Weltanschauungslehre. Der zentrale Stellenwert der Einbildungskraft und die 'schöpferische' Opposition, die sie zu den "pragmatischen Erfordernissen der Erfahrungswelt" unterhalte, erlaube es Dilthey sogar, die Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften im Rekurs auf Goethe vorzunehmen. Die Hoffnung auf eine für Goethe symptomatische Unmittelbarkeit der Beziehung zwischen 'Erlebnis' und 'Ausdruck' - wie sie im Kompositum des 'Erlebnisausdrucks' manifest werde - untersucht Steizinger im Sinne Diltheys abschließend als "Ausgangspunkt jeder erkenntnistheoretischen Reflexion".
Einleitung
(2017)
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts avanciert Goethe zum wichtigsten Autor der deutschen Literatur. Er wird zum Gegenstand kultureller Identifikation und zur Gründungsfigur oder Beglaubigungsinstanz der sich formierenden Geisteswissenschaften. An Goethe lassen sich morphologische Methoden anknüpfen; auf Goethe werden die zentralen Konzepte des 'Lebens', der 'Form' und des 'Organischen' zurückgeführt; die Leben und Werk vereinende 'Gestalt' Goethes wird zu einem zentralen Topos der Geistesgeschichte.
Ambrosia artemisiifolia causes agricultural losses and severe health problems. Whether the species also has a negative influence on plant species richness and the composition of the vegetation is a matter of ongoing debate. The question whether common ragweed impacts biodiversity or not is of great importance as this impact may be an additional motive for the prevention of import and control. It would also have an influence as to which administrative sector is competent and responsible for these measures. In Germany, for example, where the species is not yet wide spread, the Federal Nature Protection Act provides a legal framework the management of invasive alien species. Only if ragweed would have proven negative effects on other species, communities, or habitats, could this be applied in the fight against the species.
Mit der Goethe-Rezeption Max Kommerells beschäftigt sich der Beitrag von Eva Geulen. Ausgehend von Walter Benjamins bekannter Kritik an "Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik" (1928) fragt sie nach einem "Doppelzug des Theorie- und Gegenwartsverzichts" von Kommerells literaturwissenschaftlicher Arbeit, wie er sich in herausragender Weise in seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit Goethe kondensiert. Dabei rückt Geulen weniger den zentralen Stellenwert Goethes im Führer-Buch oder die bis heute viel zitierten Studien über Goethes Lyrik, Faust II oder Wilhelm Meisters Lehrjahre in den Blick, sondern widmet sich stattdessen zwei Reden Kommerells, die die Bedeutung Goethes für die Jugend seiner Zeit eruieren: "Jugend ohne Goethe" (1931) und "Goethe und die europäische Jugend" (1943). Zwar zeichneten sich diese Arbeiten durch für Kommerell eigentlich untypische zeitkritische Bezüge aus. So rechne die erste Rede mit Jugendbewegung und Präfaschismus ab; und so lese sich die zweite streckenweise bereits wie ein Vorschlag zur 'Völkerverständigung' der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die besondere Pointe von Kommerells Goethe-Aneignung erblickt Geulen allerdings darin, dass die Reden das Motiv des einsamen Goethe mobilisieren und dass sie eine "absolute Aktualität und Gegenwärtigkeit" Goethes "mit seiner absoluten Entrückung im Knotenpunkt der Einsamkeit" verschränken. Aktuell und gegenwärtig sei Goethe für Kommerell just aus dem Grund, dass er sich bereits von seiner eigenen Gegenwart nicht habe vereinnahmen lassen. Dieses "Widerspiel von Entrückung und Vergegenwärtigung" lasse Goethes Aktualität mit seiner Unzeitgemäßheit durchgängig koinzidieren. Und nicht zuletzt dies bewahre sowohl Kommerell als auch Goethe vor dem Altmodisch-Werden: "Kann er nicht gegenwärtig sein, so wird er auch nie vergangen sein." Im Hinblick auf Kommerells "beharrliche Entrückungsstrategie" Goethes wirft Geulen auch die Frage nach Chancen und Grenzen des gegenwärtigen Interesses an Kommerell auf.
Pasolini was simultaneously a revolutionary Marxist and a man forever influenced by his religious childhood. So his question was: do the revolutionary becoming of history and political negativity represent a destruction of the tragic beauty of the Greek myths and of the peaceful promise of Christianity? Or do we have to speak of a subtraction where an affirmative reconciliation of beauty and peace becomes possible in a new egalitarian world?
Bandung is the Indonesian city where on 18-24 April 1955 a meeting of twenty-nine Asian-African states took place with the view of opposing colonialism or neo-colonialism, dissociating from the Cold War, and promoting Afro-Asian economic and cultural cooperation, as well as Neutralism and the Non-Aligned Movement. The two boys quoted in the poem - the Indian Revi and the Kenyan Davidson - appear as characters, respectively, in the travel notebook "L'odore dell'India" (1961) and in the screenplay "Il padre selvaggio" (on which Pasolini began to work in 1962). 'L'uomo di Bandung' was published first in the journal "Julia Gens" in 1964. This is the first time the poem appears in English and the translation is by Robert S.C. Gordon.
Giovanna Trento's article 'Pier Paolo Pasolini and Panmeridional Italianness' engages Pasolini's aesthetic, poetic, and political approach in terms of the complementary dichotomy of national and 'local' issues, on the one hand, and transnational and panmeridional topoi, on the other. Trento argues that despite his 'Third World' and Marxist sympathies, Pasolini showed strong poetic and political attention to national narratives and the building of Italianness. But Pasolini's 'desperate love' for Italy and Italianness, Trento argues, can be fully grasped only if we read it in the light of his fluid, transnational and panmeridional approach marked by different - and at times antithetical - factors, such as the pan-Africanist perspective and the colonial memory. Pasolini was indeed able to build a deterritorialized and idealized never-ending South: the Pan-South (Panmeridione) - that is, a fluid, non-geographical topos where 'traditional' values are used in non-traditional and subversive ways with the goal of resisting industrialization, mass media, and late-capitalist alienation.
In its elusive form between drama, novel and film, "Teorema" marks a 'new turning point in Pasolini's oeuvre'. Both the narrative and the style are remarkable, juxtaposing elements of different genres, nourishing the unresolved tensions within the film: the family members are shown in various scenes that follow one another in seemingly random order. Instead of a cohesive narrative unfolding in time, there reigns a sense of timelessness that gives rise to an oppressive feeling of drifting. Claudia Peppel's essay 'The Guest: Transfiguring Indifference in "Teorema"' explores the figure of the guest, which has always been closely connected with myth and whose appearance often triggers the dramatic conflict. Peppel focuses on "Teorema", in which a sensual stranger causes a bourgeois family to acknowledge its delusions. When he departs, the members of the family are left in a state of unfulfilled yearning, searching for new meaning. While critical literature on Pasolini regularly points to the importance of the figure of the guest but rarely analyzes it, Peppel discusses theories of the guest and hospitality to illuminate the role of the stranger in Pasolini's film. The guest's exceptional state, which is removed from everyday life and removes others from their everyday lives, is meticulously staged and resembles the evenly-suspended attention of the psychoanalyst. He triggers projections, desires, and, ultimately, existential crises.
Pasolini's first visit to a Third World country dates to 1960-61. His impressions and experiences during this journey are told in the collection of articles "L'odore dell'India", which, in Silvia Mazzini's opinion, also reveals his (perhaps characteristic) tension between being up-to-date and being out of time. This essay can thus be understood as a small journey through the author's travels in and relations with India. It argues that while in the 1960s the myth of India became a veritable spiritual fashion, for Pasolini this fashion trivialized the sharp contradictions of a country at once poor and splendid, full of traditions and subversive, rich with mysticism and pragmatic vitality. The collection of journalistic articles "L'odore dell' India" (1961) and the documentary "Appunti per un film sull'India" (1968), which originate from Pasolini's first journeys to the so-called 'Third World', intertwine sharp sociological analyses with instinctual observations and remarks. Mazzini shows that between the effluvia of incense and the adventures of a tiger, one can catch a glimpse of the Pasolinian vision of a humanity which is at once disruptive, archaic, and subversive, and which represents an alternative to the standardization of the consumerist society and its tendency to suppress and absorb any cultural difference.
Figura lacrima
(2012)
Hervé Joubert-Laurencin’s article 'Figura Lacrima', which explores Pasolini's figure of Christ, consists of two interconnected parts. The part called 'Lacrima' argues that Pasolini's Christ sheds a small tear which is analogous to the salvific tear of Dante's Bonconte da Montefeltro. This heretical tear is not explicitly referred to or shown but can only be perceived through the coherent text represented by the ensemble of Pasolini's films. The part called 'Figura' argues that Pasolini invents the new concept of 'figural integration', which extends beyond Erich Auerbach's analysis of medieval figural and typological interpretation and allows him to conceptualize a kind of non-dichotomous tension between the poles structuring his thought and art. Joubert-Laurencin argues thereby that Pasolini's scandal of Christ's small tear is not the simple provocation of a sinful Christ, but the utopian image of a West that frees itself from its own closure through the promise of another world, coming not from somewhere else but from the powers of an outside that it possesses within itself.
Before completing his uncharacteristically hopeful filmic vision of an African Oresteia, Pier Paolo Pasolini invented a theatrical continuation of Aeschylus's trilogy. "Pilade" (1966/70) imagines what happens after Orestes, having being absolved by the Aeropagos in Athens, goes back to Argos. With its clear allusions to political developments in the last century - fascism, the Resistance, and Communist revolutions - the play reads as a mythical allegory for the situation of engaged intellectuals in thetwentieth century. As Christoph F. E. Holzhey's contribution '"La vera Diversità": Multistability, Circularity, and Abjection in Pasolini's "Pilade"' shows, Pasolini's imagined continuation of the Oresteia challenges an ideology of rational foundation and progress by moving through a series of aspect changes prompted by sudden events that allow for some integration while also creating new divisions. After all possible alliances among the principal characters - Orestes, Electra, and Pylades - have been played through, Pylades curses reason for its deceptive, consoling, and violent function and embraces his abjected position of true diversity beyond intelligibility. However, Holzhey argues, rather than functioning as the play's telos, this ending is an open one and participates in the paradoxical performance of a self-contradictory subjectivity and a circular temporality without entirely giving up hope for a truly different alternative.
Pasolini's literature, film, theatre, and essays engaged with Classical tragedy from the mid-1960s onwards. As Bernhard Groß shows in his paper 'Reconciliation and Stark Incompatibility: Pasolini's "Africa" and Greek Tragedy', this engagement forms a modality in Pasolini's politics of aesthetics that seeks to grasp the fundamental transformation from a rural-proletarian to a petit-bourgeois Italy. Since the mid-'60s, Pasolini was concerned with the bourgeoisie and its utopian potentials, which he sought to make productive by reading Classical tragedy as a possibility to make contradictions visible. Pasolini realized his reading of the Classical tragedy by having 'Africa' and 'Europe' - as he understood them - confront one another without mediation. By means of film analyses and film theory, Groß argues that this confrontation, especially in the films on the ancient world, generates an aesthetic place where the incompatible can unfold in the spectators' experience.
The body of the actor : notes on the relationship between the body and acting in Pasolini's cinema
(2012)
Agnese Grieco's paper 'The Body of the Actor: Notes on the Relationship Between the Body and Acting in Pasolini's Cinema' deals with the specific physiognomy of the actor within Pasolini's 'cinema of poetry'. It argues that Pasolini's films allow the spectator to experience directly a complex and polyvalent reality beyond the traditional idea of 'representation'. As a fragment of that reality, actors quote and present themselves beyond and through their interpretations of a role. Instead of conceiving of the actor as a 'professional of fiction', Pasolini employs a variety of actors who are able fully to convey their own anthropological history. It is particularly the body of the actor, Grieco concludes, that becomes a door opening towards a deeper reality. For instance, the figure of Ninetto Davoli can push us back towards Greek antiquity, and the codified art of the comedian Totò or the iconic fixity of Maria Callas can interact with the African faces of the possible interpreters of an African Oresteia.
Manuele Gragnolati's paper 'Analogy and Difference: Multistable Figures in Pasolini's "Appunti per un'Orestiade africana"' discusses Pasolini's preference for the figure of contradiction and his opposition to Hegelian dialectics by exploring his attempt to look at Africa's process of modernization and democratization in the 1960s as analogous to the synthetic transformation of the Furies into Eumenides at the end of Aeschylus's trilogy. Gragnolati shows that Pasolini is aware of the dangers of analogy, which risks imposing the author's or filmmaker's symbolic order onto that of the 'other' represented in the text or film, and he argues that Pasolini seeks to deal with this danger by constantly shifting back and forth between differing positions. "Appunti per un'Orestiade africana" can thereby be thought as a multistable figure that is left suspended and not only resists synthesis, but also problematizes its own feasibility and challenges its own legitimacy.
Robert S. C. Gordon's article 'Pasolini as Jew, Between Israel and Europe' examines a remarkable trope in Pasolini's encounter with the cultures and geographies of Europe and its beyond: his imaginary identification with the figure of the Jew. Gordon examines in turn the site of Israel and its Jewish citizens; the 'Lager' and the Jews as victims of genocide; and finally the figure of Saint Paul and his earlier Jewish identity as Saul, both sacred and a figure of the Law, as a model for the twentieth-century Church and its ambiguous response to Nazism. In all three of these threads, Pasolini's Jew is a 'queer' and destabilizing trope for exploring the border of the European and the non-European, the self and the other.
Astrid Deuber-Mankowsky's paper 'Cinematographic Aesthetics as Subversion of Moral Reason in Pasolini's Medea' explores the 1969 film "Medea". Pasolini's Medea, masterfully played by Maria Callas, betrays her homeland and her origin, stabs both her children, sets her house on fire, and dispossesses Jason of his sons' corpses. But Deuber-Mankowsky argues that it is ultimately not these acts that render the film particularly disturbing and disconcerting, but, rather, the fact that the spectator is left behind in suspension precisely because Medea cannot be easily condemned for her acts. Pasolini's film and its cinematographic aesthetics thereby not only subvert the projection of Medea into the prehistorical world of madness and perversion, but also undermine belief in the validity of the kind of moral rationality developed and constituted in an exemplary way by Immanuel Kant in his "Critique of Practical Reason". In particular, Pasolini seems to relate conceptually to Nietzsche's artistic-philosophical transfiguration of Dionysus and to accuse belief in a world of reasons of failing to grasp the groundlessness, irrationality, or even a-rationality of reason itself.
Francesca Cadel's paper 'Outside Italy: Pasolini's Transnational Visions of the Sacred and Tradition' points out that in the 1940s and 1950s Pasolini's themes were all related to the specificity of Italian society, history, and traditions, while, beginning with the 1960s, Pasolini started travelling around the world, widening his perspectives on a rapidly changing world. Hence he developed new critical patterns, combining an increasing interest in sprawling transnational post-colonial economies with his strenuous defence of tradition and the sacred within human societies. Cadel uses different examples - including Pasolini's Indian travelogues - to show how his initial devotion to Italian millenary traditions and peasant cultures finally led to an open vision and understanding of human behaviours and mores, beyond any national boundary.
By focusing on Pasolini's uncompleted film project "San Paolo", Luca Di Blasi's article 'One Divided by Another: Split and Conversion in Pasolini's "San Paolo"' analyzes the notion of split (the split in the structure of time and, above all, the split of the figure of Paul) and concentrates especially on the very moment of Paul's Damascene conversion. Di Blasi refers to the "Kippbild" as a model that can be used to understand better certain ambivalences in Pasolini's Paul. Locating Pasolini's reading of the founder of the Church in a triangulation with two major contemporary philosophers, Alain Badiou and Giorgio Agamben, Di Blasi shows that two opposing possibilities of interpreting Paul - as militant subject of a universal event and its necessary consequences (Badiou) and as representative of softness, weakness, poverty, "homo sacer" (Agamben) - fit perfectly with the two aspects of Pasolini's Paul. Pasolini's profoundly split Paul thus represents a dichotomy which disunites two major figures of contemporary leftist thought.
Bruno Besana's article 'Badiou's Pasolini: The Problem of Subtractive Universalism' also deals with Pasolini's script about Saint Paul, but from the perspective of Alain Badiou's theoretical essay "Saint Paul and the Foundation of Universalism" and of Badiou's different thoughts on Pasolini, on the logic of emergence of novelty, and on its thwarted relation with universalism. Two main points appear in Besana's comparative reading. First, the idea that radical novelty or change can only be built in a 'subtractive manner', i.e. via the appearance of something that, by its sole presence, erodes the consistency upon which the present is structured. This is developed through Pasolini's ideas of 'inactuality' and 'forza del passato' and by Badiou's concept of 'event'. Second, a fundamental paradox inherent to the logic of change: change is only possible if it is organized in a set of coherent consequences, but the organized mode (for instance, the party) of such consequences inevitably reduces change to a constant compromise with the present.
Am Beispiel des Stalkerfilms diskutiert Michaela Wünsch filmästhetische Verfahren der Evokation des Unheimlichen und der Angst. Eine Technik, das Unheimliche aufzurufen, besteht darin, die Filmkadrierung durch Rahmungen im Filmbild selbst zu verdoppeln. Wünsch macht deutlich, dass konkrete Techniken in den größeren Zusammenhang einer allgemeinen Unheimlichkeit des Medialen gestellt werden können. Anhand exemplarischer Filmszenen aus "Halloween" analysiert sie die Rahmungen genauer und entwickelt unter Bezugnahme auf Lacans "Seminar X" eine medientheoretische Unterscheidung zwischen dem Gefühl des Unheimlichen und der Angst.
Ausgehend vom Freud'schen Verständnis des Unheimlichen beleuchtet Roman Widholm aus psychoanalytischer Perspektive, wie sich Autismus nicht nur für den Behandelten, sondern auch für den Behandelnden zeigt und welche Phänomene der Übertragung und Gegenübertragung dabei beobachtet werden können. Gleichzeitig wird der Fokus auf die praktischen Folgen der fast vollständigen Beseitigung der Psychoanalyse aus dem Feld der Therapie und Betreuung von Menschen mit Autismus gerichtet. Das seit Mitte der 1990er Jahre erforschte 'Affective Computing', die technische Emulation menschlicher Gefühlsbewegungen in Computermodellen, wird schließlich zum Anlass genommen, um behavioristische neurowissenschaftliche Ansätze als Techniken zu kritisieren, die vor allem dazu geeignet sind, sich Gefühlen der Angst und des Unheimlichen in der Auseinandersetzung mit Autismus zu entziehen.