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Nachdem die 20-bändige Gustav Radbruch- Gesamtausgabe bis auf den Register-Band erschienen ist, sind Gesamtblicke auf das Werk des Heidelberger Rechtslehrers und SPD-Politikers erleichtert worden. Einen solch anspruchsvollen Gesamtblick unternimmt Hanno Durth in seiner Frankfurter Dissertation. Durth geht es um die (Re-)Konstruktion eines komplexen Sinnzusammenhangs, den er – in Anknüpfung an den bei Radbruch eher beiläufigen Begriff des Kulturrechts sowie an Wiethölters Begriff der Rechtskulturverfassung – Radbruchs "Theorie eines Kulturverfassungsrechts" nennt. Ausgangspunkt ist die Behauptung, dass die übliche Einordnung Radbruchs in den südwestdeutschen Neukantianismus mehr verwirre und versperre als weiterhelfe (3). Um "Neues an Radbruch" zu entdecken, wendet Durth Theorieströmungen auf Radbruchs Rechtslehre an, "die hierauf bisher keine Anwendung fanden" (5) … und die "Radbruchs ganzheitlichen Ansatz widerspiegeln" sollen: "sie müssen eine Rechtstheorie beschreiben können, die eine Gesellschafts- und eine Geschichtstheorie beinhaltet" (6). Im Einzelnen rekurriert Durth vor allem auf die Systemtheorie Luhmanns, daneben aber je nach Gegenstand auf die Theorien von Habermas, Derrida, Assmann, Baumann, Beck, Cornell, Marcuse "und andere(n)" (6). ...
Die Rechtsgeschichte ist kein Insichgeschäft, schon gar nicht, wenn sie sich einem so dauerhaften Thema wie der Privatautonomie und deren Grenzen zuwendet. Welches ist der rechte Umgang des Rechtshistorikers mit diesem Thema, welchen Gebrauch darf der Nichthistoriker von der Rechtsgeschichte machen, und was soll er von ihr lernen? Sibylle Hofers Untersuchungen betreffen beide Fragenkomplexe: Jedenfalls war es problematisch, so lautet ihre erste Botschaft, dass Franz Wieacker insbesondere in seinem berühmten Vortrag über "Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzgeber und die Entwicklung der modernen Gesellschaft" vom Dezember 1952 – und nach ihm so viele – dem Privatrechtsdenken des 19. Jahrhunderts ein privatrechtliches "Einheitsmodell mit unbeschränkter Freiheit als Grundsatz" unterstellte und diesem Modell Affinitäten zu einem liberalistischen, wenn nicht gar besitzindividualistischen Sozialmodell attestierte. Wenn man nun erfahren muss, dass in der Zivilrechtsliteratur jenes Jahrhunderts von "Privatautonomie" oder "Vertragsfreiheit" kaum die Rede war und auch nicht etwa von irgendwelchen Äquivalenten dieses Begriffspaars, dann muss dies Betroffenheiten bei all jenen auslösen, die sich vom 19. Jahrhundert wegen seiner angeblich liberalistischen Positionen absetzten, um mit Wieacker "eine materiale Ethik sozialer Verantwortung" zu suchen, oder nach alternativen Sozialmodellen Ausschau hielten, in denen die Vertragsfreiheit in sozialere, gerechtere Bahnen gelenkt werden sollte. ...
Ist Quantität in der Historiographie ein Argument? Oder ist die Menge von Nachweisen, zumal in Zeitaltern, für diemit zahlreichen Überlieferungszufällen zu rechnen ist, gerade ein oberflächlich verführerisches und trügerisches Argument? Beide Fragen brennen Mediävisten schon seit langem unter den Nägeln, wenngleich sie sich nicht nur bei Epochen mit raren materiellen Überresten stellen sollten. Wie viele Belege brauchen wir für die Richtigkeit einer historischen These? Wie sollen wir wissen, welches Gewicht eine singuläre Quelle hat? Wenn diese Fragen zugleich implizieren, dass man sich über Statistiken hinwegsetzen könnte, dann werden sie zu gefährlichen Fragen. Deren Virulenz wird in der Mediävistik und anderswo für gewöhnlich durch das Anlegen fachspezifischer Korsette und das Eintrainieren professioneller Betäubungstechniken bereits in der Sozialisationsphase effizient eingedämmt: Beliebt dafür sind das Erlernen eines strengen Puzzlespiels in der Quellenexegese, ritualisierte Logik, rhetorische Nonchalance und – besonders verhängnisvoll in Bereichen der Wirtschaftsgeschichte – der Hinweis auf die Existenz ökonomisch-theoretisch unbezweifelbarer Zusammenhänge, die auf die Aufdeckung durch besonders talentierte Spürnasen nur zu warten scheinen. ...
Es lag, jedenfalls seit dem 43. Historikertag im Jahr 2000, in der Luft: Geschichte hat etwas mit Gehirn zu tun. Für das Gehirn zuständig ist Wolf Singer, für die Geschichte Johannes Fried. Das Rendezvous der beiden Wissenschaften und Wissenschaftler hat für beträchtlichen Wirbel in der Tages- und Fachpresse gesorgt, hat in der Historikerzunft Beckmesser ebenso auf den Plan gerufen wie Trittbrettfahrer und Beifallklatscher. Im Jahr 2002 haben Singer und Fried – sorgsam getrennt – die Quintessenz ihrer Erkenntnisse publiziert. Der von beiden konsentierte Befund ist so schlicht wie richtig: Alle Wahrnehmung beruht auf hochselektiven neuronalen Schaltungen im Gehirn; alles Erinnern ist das ebenfalls hochselektive Ergebnis von Vergessen. Das gilt für historische Akteure ebenso wie für spätere und gegenwärtige Beobachter, so dass "es keine sinnvolle Trennung zwischen Akteuren und Beobachtern gibt, weil die Beobachtung den Prozess beeinflusst, selbst Teil des Prozesses wird". Eine infinite, hin und wieder durch willkürliche Zeitsetzung scheinbar unterbrochene Kette von Beobachtungen und Beobachtungen von Beobachtungen – das nennt man "Geschichte". ...
Wann und wo mich der fast bedrohlich ernste Blick des Mannes mit langem weißem Haar erstmals anschaute, ist nicht mehr auszumachen. Nicht einmal, wann und wo eine erste Lektüre einer seiner Schriften stattfand. Es gibt solche nicht zu datierende und nicht zu lokalisierende Urerlebnisse, die eine lange Faszination auslösen. Eine Faszination, die sich durch nähere Bekanntschaft, ausgiebige Lektüre, neue Bilder des spontan Verehrten nur steigert. Die Lust auf Lektüre seiner abgründig gelehrten Forschungen, seiner kühnen Thesen, seiner bissig spöttischen Kritiken, seiner Weltdeutungen wächst mit zunehmender Vertrautheit. ...
"Nicht die Veränderungen sind erklärungsbedürftig; weit schwieriger ist es, Stabilität zu erklären." Wohl wahr. Wunderlich ist es in der Tat, wie ein Staatswesen, die römische Republik, über Jahrhunderte ohne Verfassung, ohne differenzierte Institutionen und Kompetenzen, ohne den Aufbau einer nachhaltigen Bürokratie, ohne Polizei und Vollstreckungsbeamte, ohne dauerhafte Gerichtshöfe auskommen und Bestand haben konnte. Es hat trotzdem funktioniert. Rom wurde groß und größer, kollabierte weder innennoch außenpolitisch, wurde ganz im Gegenteil zum Weltreich. ...
Ein großes Werk wird vollendet und steht sofort unter dem Verdacht, ein "Klassiker" zu werden. Aber das Werk ist sehr groß, erfordert Monate, wenn nicht Jahre an Lesezeit und ist außerdem nicht einfach zu verstehen. Und so erscheinen handliche Kochbücher, die verraten, welche Ingredienzen man benötigt, wie man sie mischt und verrührt, damit daraus eine schmackhafte Suppe wird. ...
Die Welt im Sandkorn zu entdecken gehört seit jeher zu den Sehnsüchten der Historiker. Mit Blick auf das Ganze, das Allgemeine, wird oft das Typische, das Exemplarische bemüht, das man in Einzel- oder Fallstudien einzufangen glaubt. Hinge die Relevanz lokaler Studien von der Prämisse ab, die große Welt im Kleinen finden zu müssen, hätten sie schlechterdings keinerlei Relevanz. So zumindest urteilt Clifford Geertz über entsprechende Studien in der Ethnologie nach dem Modell "Jonesville-ist-die-USA". Der Versuchung eines solchen Modells ist Francisca Loetz in ihrer Heidelberger Habilitationsschrift über frühneuzeitliche Blasphemie am Beispiel Zürcher Gotteslästerer erlegen. In einer Langzeitstudie vom späten 15. bis zum frühen 18. Jahrhundert untersucht Loetz rund 900 dokumentierte Fälle der Wortsünde des Fluchens, Schwörens und Schmähens bei "Gotz schedel", "Gotz bart" oder "Gotz nasa". Delikte, bezüglich derer man im 16. Jahrhundert empfahl, den Angeklagten ein Schloss für ihre Zungen zu schlagen. Die Ergebnisse dieser Studie erfüllen jedoch nicht den erhobenen Anspruch der Repräsentativität für das Westeuropa der frühen Neuzeit. Und sie müssen es auch nicht, denn die Arbeit hat auch ohne diesen Anspruch genug zu bieten. ...
Der Kreis des Wissens kann schon lange nicht mehr geschlossen werden. Zur Zeit der Aufklärung und im wissenschaftsverrückten 19. Jahrhundert schien das noch möglich zu sein, jedenfalls glaubte man fest daran, und die Enzyklopädien und Dictionnaires encyclopédiques kamen massenhaft von der Druckerpresse auf die Welt. Im 20. Jahrhundert ging die diktionnarische Produktion zwar unvermindert weiter, doch war das Ganze der Welt, auch partikularer Welten, unfassbar geworden. Die vielen Weltteile zersetzten die Einheit des Wissens. Das Alphabet der Enzyklopädie, die Fragmente der Information, die Teilchen des Ganzen, zerstörten den Kreis des Wissens, also die Möglichkeit der Enzyklopädie. ...
Für die Erforschung der spätantiken Herrscherideologie hat Andreas Alföldi (1895-1981) Grundlegendes geleistet. Ihm gelang es, bildliche Darstellungen zum Sprechen zu bringen und ihre Bedeutung für die Repräsentation der Kaiser zu verdeutlichen. In dieser Tradition bewegt sich der Tübinger Althistoriker (und zeitweilige Assistent Alföldis) Frank Kolb mit seinem hier anzuzeigenden Buch. Darin führt er die verstreuten, von verschiedenen altertumswissenschaftlichen Disziplinen vorangetriebenen Forschungen zur spätantiken Herrscherideologie zusammen, die er durch eigene Beiträge wesentlich beeinflußt hat. ...