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Als ich meinen achtjährigen Sohn wieder einmal in televisionärer Trance versunken fand und mir aus seinem verglasten Blick das ganze Elend unserer Infotainment-Kultur zu starren schien, verfiel ich auf eine fragwürdige pädagogische Maßnahme. Ich streute in den nächsten Werbeblock die Information, zu meinem bevorstehenden Geburtstag könne ich mir nichts Schöneres vorstellen, als daß er mir ein Gedicht aufsage. Freilich sind Gedächtnisaufgaben Routinesache für ihn. Tapfer schluckt er seine Schulspeisung an dem, was man für kindgerechte Lyrik hält und als Stärkungsmittel gegen den heutigen Bildungsverfall durch Bildkonsum verabreicht. Und auch mich hat er schon durch eine Rezitation von Goethes Gefunden beglückt, da sie die Anschaffung eines größeren Gameboy begünstigte. Mit meinem Geburtstagwunsch aber hatte ich den Ehrenpunkt berührt. Nun mußte er zeigen, was er aus intrinsischen Motiven zu memorieren bereit war. ...
Auch wenn es in der Regel eilt: bevor man ein Kunstwerk erhalten kann, muss man es angemessen zu beschreiben wissen, sonst läuft man Gefahr, grobe Fehler zu begehen. Dies gilt für ein Werk auf Basis "alter" Materialien wie Stein, Holz, Leinwand, Fasern, Bindemittel und Pigmente, dies gilt in nicht geringerem Masse für ein Werk, das moderne Materialien enthält: Kunststoffe, synthetische Farben, Halbleiter und elektromagnetische Felder. Die Definition dessen, was eigentlich das elektronische Kunstwerk ausmacht, führt mitten in die Thematik, was zu berücksichtigen und was zu unternehmen ist, wenn das Werk vom Neuzustand in die Alterungsphase eintritt. ...
Verzeitlichung, das Leitmotiv dieses Buches, ist ein Schlüsselbegriff für das Verständnis unserer kulturhistorischen Situation. Ohne die Ablösung der Zeit vom Raum, ohne die Emanzipation temporaler Prozesse von topischen Bindungen wäre die Fortschrittsdynamik der Moderne nicht durchsetzbar gewesen. Deren Errungenschaften, das Aufbrechen starrer Ordnungsstrukturen, wie auch ihre Kehrseite, das Herausfallen aus lebensweltlichen Orientierungsrahmen, sind Resultate desselben Vorgangs. ...
When the concept of the auteur was coined in the 1950s and 1960s, it was an initiative to clarify the obscure matters of authorship in cinema. Because a film must necessarily be a collective work, understood as the result of a large number of creative contributions, it was often unclear who the decisive power behind a certain film was, who contributed the "distinctive quality". The control will usually belong to the director, the producer or the star (or all three in combination), but what singles out a given film could also come from the cinematographer, the scriptwriter, from the author of an adapted literary work, or from traditions in the studio or in the genre. Nothing can be taken for granted about a film's authorship, it can only be decided through a thorough analysis of each film's production process, an analysis that, in most cases, will be impossible to make. ...
Es gibt viele Möglichkeiten der Beschreibung und Analyse von Literaturverfilmungen. Die meisten jedoch, so Hickethier, werden als Verlusterfahrung des Literarischen gewertet, da im Allgemeinen die Literatur als die eigentliche künstlerische Disziplin, der Film hingegen lediglich als moderne, technisch vermittelte Kunstform angesehen wird. Hickethier stellt in seinem Aufsatz zunächst diverse Konzepte möglicher Filmanalysen vor (der Film als Literaturverwertung, Rezeptionsergebnis, semiotischer Prozeß u.a.), wobei für ihn die Betrachtung des Mediums Film vor allem als ebenbürtige Erzähl- und Darstellungsform im Vordergrund steht. Anhand von Axel Cortis´ Film "Eine blaßblaue Frauenschrift" setzt sich Hickethier exemplarisch mit Filmgeschichte, Verschiebungen, Akzentuierungen, Rhythmisierungen des Erzählens und anderen Kriterien auseinander, wobei zahlreiche Detailanalysen den Text sehr anschaulich werden lassen. Hickethiers Analyse eignet sich besonders für den Deutschunterricht, der nicht nur durch literarische Werke, sondern auch durch deren Verfilmungen lebendig gestalten möchte.
Der französische Physiologe Etienne-Jules Marey (1830–1904) gehörte vor 120 Jahren zu den Protagonisten eines Paradigmenwechsels. Als Pionier der Bewegungsanalyse mit mechanisch-pneumatischen Aufzeichnungssystemen wandte er sich in dem Moment der Fotografie zu, als diese Kurzzeitbelichtungen zu erlauben begann. Das war die notwendige Bedingung dafür, Serienaufnahmen in genügend kurzer Abfolge machen zu können; die hinreichenden Apparaturen hatte er sich selber zu bauen. Chronofotografie hiess das Projekt, das am Anfang des wissenschaftlichen Films schlechthin stand und das so wenig mit dem grossen K von Kino zu tun hatte, dass Marey in filmgeschichtlicher Hinsicht stets im selbst gewählten Schatten der Brüder Lumière und Thomas Edisons stand. ...
As editor of the next iteration of the Köchel Catalogue, I have to deal with the current (sixth) edition’s Appendix C, devoted to "Doubtful and Misattributed Works." My goal is to reduce the potentially vast dimensions of that appendix to only those works for which some connection to Mozart cannot be ruled out. In the decades since 1964, when the current edition of Köchel was published, many of the works listed in Appendix C have been convincingly attributed to other composers. Other works therein can confidently be dismissed as never having had any meaningful connection to Mozart. Yet even after removing the reattributed and trivially misattributed works from the appendix, we are left with a handful of works that may possibly have had something to do with Mozart, even if clear evidence one way or the other remains elusive. One must, of course, be cautious in removing questionable and doubtful works from the catalogue, as the present case-study will illustrate. The work under consideration, catalogued as K6 Anh. C 9.07, is an unaccompanied piece for three or four voices with the text "Venerabilis barba capucinorum." ...
"Die Kritik der Politik", schreibt Johannes Agnoli, "stellt [...] die Frage nach dem herrschaftssichernden Charakter aller Reformen und vergißt also die Frage nach dem cui bono nicht und nach der Zweckrationalität irrationalen Verhaltens der politischen Macht. Im Mittelpunkt steht nicht die Klage und das Klagen über die Unrichtigkeit der Protagonisten und die Lügenhaftigkeit des legitimatorischen Verfahrens [...]; sondern die Anklage gegen das Prinzip, daß Herrschaft naturnotwendig und höchstens zu bändigen sei; und als Schlußerkenntnis [...], daß Herrschen, daß das autokratische oder oligarchische oder parlamentarische Bestimmen über Gesellschaft allemal zu negieren sei - möge "die Form des Staates sein wie sie wolle" (Hölderlin)." Doch dies, so fügt Agnoli hinzu, "wäre immer noch Gesinnung, kein Bewußtsein." Es genüge nicht festzustellen, "daß sich die Form Staat inzwischen als falsches Projekt erwiesen, als gescheiterter Versuch in die Geschichte eingegangen ist [...] Alle Kritik - will sie mehr sein als Gesinnung - hat ein Kriterium auszuweisen, an dessen Kategorie die Übersetzung des richtigen Denkens in die Anleitung zum Handeln möglich wird." Es gehe "weder um die Wiederherstellung der Identität von Norm und Wirklichkeit noch um die Lobpreisung des Gemeinwohls als Ziels allen politischen Handelns. Will man [...] andere Verhältnisse schaffen und nicht bloß verbesserte Herrschaft, so wird die Kategorie von vornherein selbst keine formale (bonum commune) noch eine normativ-moralische (gute Verfassung gegen schlechte Politik) sein können, sondern eine materielle." Aus der Frühzeit der Form Staat stammen die ersten großen Klagen über die Unrichtigkeit der Protagonisten der Politik und die Lügenhaftigkeit des legitimatorischen Verfahrens der Demokratie. Im Unterschied jedoch zum späteren demokratischen Gejammer verschleiern sie die Frage nach dem cui bono und nach der Zweckrationalität des Verhaltens der politischen Macht noch kaum. So wenig sie auch das Prinzip, daß Herrschaft naturnotwendig und höchstens zu bändigen sei, in Frage stellen und sosehr sie im Grunde nur die Wiederherstellung der Identität von Norm und Wirklichkeit einklagen, sie beschränken sich keineswegs auf formale oder normativ-moralische Kategorien - und was damit unmittelbar zusammenhängt: sie gewähren ästhetischen Genuß. In der Frühzeit des Staats konnte dessen Kritik eben noch tragische oder komische Form annehmen.
Im Frühjahr 1998 lief in New York eine Retrospektive des 47jährigen, amerikanischen Videokünstlers Bill Viola. Die Ausstellung wurde zuvor in Los Angeles gezeigt. 1999 ist sei in Europa zu sehen (Amsterdam, Frankfurt/M.), sodann in San Francisco und Chicago: ein Programm bis zum Jahr 2000. Bill Viola soll zum Klassiker werden. In New York hatte das Whitney Museum of American Art seine beiden oberen Stockwerke freigeräumt, um siebzehn Videoinstallationen Raum zu schaffen. Man betrat vollständig abgedunkelte Stockwerke, in welche die Installationsräume labyrinthisch eingebaut waren. Es gab kein anderes Licht als dasjenige, das von den Installationen selbst ausging. Man konnte sich auch von den Tönen der Installationen leiten lassen. Das Aufsichtspersonal war von Viola geschult worden, mit etwaigen Verirrten und Verwirrten im Dunkel helfend umzugehen. Die Irritationen des Orientierungssinnes waren beabsichtigt. Man sollte in eine andere Welt eintreten. Der Gang durch die siebzehn Zellen sollte zu einer Initiation in die Welt Violas, einer Reise in die kunstvollen Phantasmen eines Gehirns. Durchaus drängte sich der Eindruck auf, daß der Gang durch die labyrinthischen Installationsräumen als eine Reise durch die inneren Kammern der Imagination Violas selbst inszeniert war. Zwar richten alle Kameras ihr Objektiv immer auf irgendein Ensemble der Außenwelt und insofern ist ihnen Referenzialität technisch eingebaut. Die Ausstellungsfolge der 'Bildkammern' Violas jedoch schien so arrangiert, daß man diese Referenz zunehmend verlor. Man tauchte in eine Bilderwelt, welche nicht die Außenwelt wiedergab, sondern direkt aus dem Bildgedächtnis und der Einbildungskraft des Gehirns zu erwachsen schien. Das machte den Besuch der Ausstellung zu einem Abenteuer, aber auch zu einer Art Intimität: es war eine Art visueller Beiwohnung der Innenwelt eines anderen Menschen, ebenso aufregend wie gelegentlich auch Scham oder das Gefühl wachrufend, man sei jemandem zu nahe getreten. Beides, Abenteuer wie Intimität, hat mit Grenzen und ihrer Überschreitung zu tun. Tatsächlich sollten die Besucher diesen Eindruck gewinnen: daß sie Grenzen überschritten, die gewöhnlich von Tabus und Verboten, von Scham oder Angst besetzt sind. Das einer Initiation ähnliche Arrangement diente einer solchen Grenzüberschreitung und Passage. ...
In der Schrift Der Verfasser teilt die Geschichte seiner botanischen Studien mit (1817) erinnert Goethe, wie er 1786 in Padua angesichts einer Fächerpalme die Idee zur "Metamorphose der Pflanze" faßte. Er ließ deswegen einen Gärtner die "Stufenfolge dieser Veränderungen" abschneiden und führte diese botanischen Dokumente zwischen großen Pappen mit sich. 1817 weiß er, wie dieses Verhalten zu bezeichnen ist: "Sie liegen wie ich sie damals mitgenommen, noch wohlbehalten vor mir und ich verehre sie als Fetische, die meine Aufmerksamkeit zu erregen und zu fesseln völlig geeignet, mir eine gedeihliche Folge meiner Bemühungen zuzusagen scheinen." (WA II, 6, 119-121) ...