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Ein juristisches Zeitalter wird besichtigt. Ein Franzose beschreibt und analysiert die Geschichte des bedeutsamen deutschen juristischen 19. Jahrhunderts, das im Allgemeinen vorrangig als ein Jahrhundert der Rechtswissenschaft wahrgenommen wird. Jouanjans Beschreibung ist umfassender angelegt, geschieht mit großer Sorgfalt, kenntnisreich und mit kritischer Sympathie, "comme on lit des romans policiers". Das ist aus der Sicht deutscher puristischer Wissenschaftsbetrachtung ein ungewöhnliches Vorgehen und macht auf eine Untersuchung der Geschichte der deutschen juristischen Denk- und Gedankenwelt des vorletzten Jahrhunderts neugierig. In Analogie zum "roman policier" betrachtet Jouanjan die Geschichte des Denkens im Verhältnis von Opfern und Tätern, in Lebensläufen und Schicksalen, Fallen und Befreiungen, guten und schlechten Detektiven, im Streit der Theorien, Rechtfertigungen und Metatheorien, im Waffenarsenal der Ideen und Begrifflichkeiten. Mit diesem detektivischen Interesse beobachtet er die juristische Gedanken- und Vorstellungswelt, d. h. Normpyramiden, Person, Gesetz, Rechtsorganismus, – in fast poetischer Metapher gesagt – den "ciel étoilé des concepts" im Spiegel von Geschichte und Philosophie, kurz: "l’institution imaginaire du droit" mitsamt der Mythologisierung des "juristischen Logos". So ist dieses Buch auch gegen den Hochmut der Positivisten und einer reinen Praxis gerichtet, die sich glaubt selbst genügen zu können. Diesen "Geschichten" im deutschen juristischen Denken des 19. Jh. gilt das Interesse des Verfassers. Folgerichtig werden Privatrecht und öffentliches Recht gleichermaßen behandelt, indem die Wegstrecke von der Historischen Rechtsschule Savignys bis zu Georg Jellinek – beide könnten auch den Untertitel abgeben – abgeschritten wird. Jouanjans besonderes Interesse gehört – noch vor Savigny – jedoch Georg Jellinek. Über ihn hat er erst kürzlich eine umfassende Studie veröffentlicht. ...
Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte bezog und bezieht ihren Erkenntniswert einerseits aus der Überwindung der Enge einer nationalstaatlichen Betrachtung. Daraus ist andererseits oft eine neue Beschränkung erwachsen, die aus der Globalisierung unserer Welt herrührt und von kosmopolitischem Geist – jenseits aller arbeitsökonomischen Bedingungen – als Europazentrismus kritisiert wird. So kann das ehemals Progressive wieder zu einer neuen Form von Rückständigkeit mutieren. Heute müssen wir sagen: "Europa lässt sich ohne Außereuropa gar nicht denken." ...
Das materialreiche Buch ist im Verlag "Europa Law Publishing" erschienen, der sich auf Publikationen zum "European Union Law" spezialisiert hat. Damit ist schon eine Programmatik angezeigt, die die Dissertation aus der Schule von W. J. Zwalve aus Leiden verfolgt. Van den Berg (vdB) hat sich zum Ziel gesetzt, die europäische Kodifikationsgeschichte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts in den Dienst aktueller Europa-Politik zu stellen. Rechtsgeschichte soll für die Gestaltung des europäischen Gemeinschaftsrechts nutzbar gemacht werden, ihre Dialogfähigkeit beweisen und Legitimationskraft für Europa und seine Einigung entfalten. Das ist ein ehrgeiziges und sympathisches Unterfangen, das Macht und Ohnmacht von Rechtsgeschichte am Beispiel europäischer Gesetzgebungsgeschichte zu beleuchten vermag. ...
Die geläufige Unterscheidung in privates und öffentliches Recht gehört zu den ältesten kategorialen Einteilungen des Rechts und der Rechtswissenschaft schlechthin. Das geht auf die bekannte UlpianFormel über die "duae positiones" des Rechts und Rechtsstudiums zurück, dass nämlich das "ius publicum … ad statum rei Romanae spectat, privatum … ad singulorum utilitatem" (D 1.1.2.2). Diese Bezeichnung der beiden für den Unterricht bestimmten Rechtsmaterien suggerierte eine eigenständige "positio" des Privatrechts gegenüber dem öffentlichen Recht, die die gesamte bisherige Literatur mit unterschiedlichen Akzenten durchzieht. Radbruch begreift z. B. die Begriffe "privates" und "öffentliches Recht" als "apriorisch", die so bereits im Rechtsbegriff selbst verankert und in der Rechtsidee angelegt seien.1 Allerdings macht Radbruch die wichtige Einschränkung, dass das Wert- und das Rangverhältnis der beiden Rechtskategorien nicht absolut zu setzen sind.2 Das Verhältnis zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht unterliegt historischen Entwicklungen, rechtskulturellen Situationen, sozialen Anforderungen und damit politisch-weltanschaulichen Bewertungen. Das relativiert die Möglichkeit eindeutiger und dauerhafter dogmatischer Festlegung, deren bisherige Versuche Sten Gagnér teils als "uferlos", teils als "Groteske" ironisiert hat. ...
Die Dissertation (Universität Eichstätt-Ingolstadt) beginnt mit dem Satz "Am Ende stritt man um Akten" und endet auf Seite 483 mit eben dem gleichen Satz. Zwischen Anfang und Ende dieser akribisch gearbeiteten Publikation, die Denzler bescheiden eine "Studie" nennt, werden die massenweise in den Archiven vorhandenen Akten, die während der letzten Visitation des Reichskammergerichts von 1767–1776 produziert wurden, nach ihrer Entstehung und Funktion untersucht. Als Leitbild der Untersuchung dient der "Reformhorizont" der Aufklärung, vor dessen Hintergrund das Visitationsgeschehen in Gestalt seiner Hand- und Druckschriften analysiert wird. "Reform"-zeiten, -räume, -akteure, -verfahren sowie -inhalte geben dem engagiert geschriebenen Buch eine klare Gliederung für die Untersuchung aller Schriftgattungen von den Protokollen, Schreiben, Diktaten, Abschriften, Diarien, Korrespondenzen, Instruktionen, Berichten bis zu Gutachten und Notizen, die alle das Visitationsgeschehen in und als "Akten" repräsentieren: 562 Aktenbündel; von 1056 Sitzungen sind 13 Bände Beratungsprotokolle überliefert, die 15732 Folioseiten umfassen; 50 Visitationsbeschlüsse liegen vor; die schriftlichen Befragungen von 92 Gerichtsmitgliedern ergaben 25000 Antworten (355, 478); hinzu kommen noch die Produktion aus der visitationseigenen Druckerei sowie 200 Einzelpublikationen zur Visitation und eine visitationseigene Zeitschrift als schriftliches Untersuchungsmaterial. Daraus entsteht ein höchst umfassendes und anschauliches Bild über Medientechnik, Schriftkultur, Justizkontrolle und Dienstaufsicht im Rahmen der Visitation. Aus dem quantitativen Befund in diesem "tintenklecksenden Saeculum", wie es Schiller genannt hat, leitet Denzler die These ab, dass die Visitation von 1767 eine enorme Vermehrung und Aufwertung von Schriftlichkeit schlechthin dokumentiert (16). Vor diesem Hintergrund soll die alltägliche Bedeutung der Schriftlichkeit für die Visitation analysiert und der "Entstehungs- und Überlieferungskontext" möglichst genau im "Schriftalltag" rekonstruiert werden. Dieser "Schriftalltag" reflektiert auch den Justizalltag in seiner rechtshistorischen Bedeutung. Diesen zu beschreiben ist zwar nicht Denzlers vorrangiges Ziel, aber die Kulturgeschichte des Geschriebenen beleuchtet und ergänzt die Geschichte der Rechtspraxis am Beispiel der Visitation von 1767 in vielfältiger Weise. Das belegen auch das reiche Quellen- und Literaturverzeichnis (489–562) und die Statistiken über Personalia, Visitationskosten, Examina, Gesandtschaftsquartiere, Verfahren usw. (565–604). ...
Den Visitationen am Reichskammergericht (RKG) wurden in letzter Zeit zwei unterschiedliche wissenschaftliche Untersuchungen gewidmet. Während Alexander Denzler den Aussagewert medialer Schriftkultur im "Schriftalltag" am Beispiel der letzten Visitation des RKGs (1767–1776) untersucht hat,1 widmet sich Anette Baumann als quellenversierte langjährige Leiterin der "Forschungsstelle der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung" in Wetzlar den Visitationen von 1529–1588.2 Sie werden von ihr als "Expertentreffen" von Juristen interpretiert, die auch für das Verfassungsverständnis im Alten Reich bedeutsam sind. Das tragende Quellenmaterial bildet – neben einschlägiger Sekundärliteratur – vor allem der reiche Korrespondenz- und Aktenbestand im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Gestalt von Visitationsabschieden, Protokollen, Korrespondenzen, Vollmachten, Gutachten, Voten, Ladungen, Instruktionen, Gravamina, Fragebögen, persönlichen Notizen, Schreiben, Berichten und Augenscheinkarten,3 die das analysierte Schriftgut der Visitationen repräsentieren. Mit Hilfe einer erstellten Datenbank, die übrigens verschiedenen Forschungsinstitutionen – darunter auch dem MPI für europäische Rechtsgeschichte – zur Verfügung steht, ist es Baumann möglich, in den Beständen gezielt "nach Visitationsbelangen zu suchen" (17). Ziel ihrer gründlichen Untersuchung ist es, die Arbeit der Visitationskommission (VK) in dem "komplexen Kommunikationsprozess" (5) aufzuhellen, in dessen Mittelpunkt die VK stand – eingebettet in das Beziehungsgeflecht zwischen Kaiser, Reichsständen, Reichstag und Reichskammergericht (RKG). Durch die Reichskammergerichtsordnung von 1521 war die Kommission erstmals als "Visitation" reichsgesetzlich eingesetzt worden, um als Kontrollorgan einerseits das RKG finanziell zu sichern und andererseits die Abstellung von "Gebrechen" zu garantieren, d.h. das Gericht arbeitsfähig zu machen und zu erhalten. Die VK war somit eine Institution des Alten Reiches, die ursprünglich zur jährlichen Kontrolle bestimmt war. Eingesetzt von Kaiser und Reichsständen stand sie im Spannungsverhältnis politischer und konfessioneller Konstellationen auf dem Reichstag. Folgerichtig legt Baumann ihre Untersuchung auch weniger als Institutionengeschichte an, sondern als eine Darstellung von Reichsverfassungspraxis am Beispiel der VK. Aus dem reichen Archivmaterial werden die "Kommunikationsprozesse" herausdestilliert, um auf verfassungsmäßige Regelhaftigkeiten als Ordnungskategorien der Visitationsverfahren schließen zu können. Dabei stellt sich immer die Frage, ob die beobachteten Verfahren zu rechtlicher "Verfassung" geronnen sind oder sich noch im vorrechtlichen Raum ritualisierter Verfasstheit bewegen. So gesehen bietet das geschilderte Geschehen um die und in der VK einen Blick in das Laboratorium über die Entwicklung rechtlicher und politischer Regelungs- und Verfassungsprozesse. ...
Welch ein Auftakt! Mit drei Büchern auf einmal präsentiert der Augsburger Rechtshistoriker Phillip Hellwege sein großes Forschungsfeld, die Geschichte des Versicherungsrechts, der Öffentlichkeit. Zwei Sammelbände und eine Monografie, im Sommer 2018 fast gleichzeitig erschienen, werden dem Projekt die gebührende Aufmerksamkeit sichern. Die Forschungsmittel entstammen dem "Horizon 2020"-Programm des European Research Council (ERC), von dem Hellwege einen "Consolidator Grant" erhalten hat. Mit diesen Mitteln finanziert er sein Vorhaben "Comparative History of Insurance Law in Europe" – kurz: CHILE. ...
Seit vielen Jahren beschäftigt sich Sheilagh Ogilvie, kanadische Wirtschaftshistorikerin an der Universität Cambridge und Mitglied der British Academy, mit Gilden und Zünften und ihrer wirtschaftlichen Bedeutung. Sie begann einst mit den württembergischen "Engelsaitwebern" (wohl von "English satin" – Hersteller wertvoller Tuche) in Calw und Wildberg im Nordschwarzwald im 17. Jahrhundert und hat seitdem den Fokus zeitlich wie räumlich immer weiter geöffnet. 2011 erschien ihr Buch über die Kaufmannsgilden ("Institutions and European Trade. Merchant Guilds 1000–1800"), und nun folgt unter der gleichen Leitfrage das Pendant auf der Ebene der Handwerkerzünfte: Haben Gilden und Zünfte zum Wirtschaftswachstum beigetragen? Ihre Antwort ist negativ. Von einem wirtschaftsliberalen Standpunkt aus charakterisiert Ogilvie die Zusammenschlüsse der Kaufleute und Handwerker als am Gemeinwohl kaum interessierte Vereinigungen, denen es vor allem um die Sicherung der Vorteile ihrer Mitglieder zum Nachteil der Konkurrenz, der Kunden und des technischen Fortschritts ging und die dazu hohe Eingangsbarrieren errichteten, nach besten Kräften mit den Regierungen der Länder und Städte kollaborierten und die Märkte manipulierten, indem sie die Lieferketten kontrollierten und die Preise hochhielten. ...
Martin Pilchs rechtstheoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Rechtsgewohnheit bzw. Rechtsgewohnheiten sowie dem Rechtsbegriff als solchem, wie sie seit geraumer Zeit innerhalb der Rechtsgeschichte des Mittelalters diskutiert werden, bietet Gelegenheit zu einer Stellungnahme aus der Perspektive der altorientalischen Rechtsgeschichte. Während in anderen Bereichen der antiken Rechtsgeschichte Rechtsgewohnheiten als Begriff und als Phänomen jedenfalls in jüngerer Zeit durchaus thematisiert werden, spielt dies im Zusammenhang mit Untersuchungen zu den Keilschriftrechten bislang eine allenfalls untergeordnete Rolle. ...
Die communis opinio in der Rechtsgeschichte negiert die Existenz einer Rechtswissenschaft in den (Rechts-)Kulturen des Alten Orients, deren Schriftzeugnisse sich über den Zeitraum vom ausgehenden dritten Jahrtausend v. Chr. bis zum ersten nachchristlichen Jahrhundert und räumlich vom Persischen Golf über Mesopotamien und Südanatolien bis zur Levante erstrecken. Wenn überhaupt Ansätze einer theoretischen Reflexion über das Recht in Betracht gezogen werden, so verortet man sie auf einem (rein) praxisbezogenen, technischen Niveau im Kontext der Schreiberausbildung im "Haus, (in) dem Tafeln zugeteilt werden" (sum. é dub-ba-a). Die Befähigung, Rechtsurkunden ausfertigen oder auch Funktionen in der Verwaltung oder als Richter übernehmen zu können, setzte die Vermittlung auch inhaltlicher Kenntnisse voraus; Instrumente dieser Wissensvermittlung waren in erster Linie Zusammenstellungen wichtiger Vertragsklauseln und Musterverträge sowie Aufzeichnungen fiktiver Rechtsfälle. ...
Die Arbeit untersucht die Ad-hoc-Publizität unter der Geltung der MAR. In der Arbeit werden zuerst das Informationsmodell auf dem Kapitalmarkt und die Erforderlichkeit und Notwendigkeit der Regulierung des Kapitalmarkts durch gesetzliche Informationspflichten analysiert. Mithilfe eines Rückblicks auf die Entwicklung der Ad-hoc-Publizität in den Rechtsnormen wird ihr Sinn und Zweck untersucht. Die rechtlichen Anforderungen an Ad-hoc-Publizität unter der Geltung der MAR werden in einem weiteren Schritt untersucht. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Tatbestandsmerkmalen der Ad-hoc-Publizitätspflicht und dem Aufschub der Veröffentlichung. Darüber hinaus werden die Rechtsfolgen im Falle von Pflichtverstößen, insbesondere Anspruchsgrundlagen nach §§ 97, 98 WpHG analysiert. Im Hinblick auf die Ad-hoc-Publizität nach dem chinesischen Recht werden ihre historische Entwicklung in Rechtsnormen und ihr Sinn und Zweck untersucht. Eine dogmatische Analyse der Ad-hoc-Publizitätspflicht und der Rechtsfolgen beim Pflichtverstoß nach dem geltenden chinesischen Recht wird dann durchgeführt. Schließlich wird die Ad-hoc-Publizität nach der MAR und dem chinesischen Recht verglichen.
Im rechtsvergleichenden Teil der Untersuchung identifiziert der Verfasser bestimmte Besonderheiten und Defizite im chinesischen Recht. Den Regelungsansätzen der beiden Rechtssysteme liegen unterschiedliche rechtpolitische Zielsetzungen zugrunde. In der EU und in Deutschland steht der Konnex zum Insiderhandel im Vordergrund, denn diesem wird durch die Ad-Hoc Meldung der Boden entzogen. In China handelt es sich bei der Ad-hoc-Publizität konzeptionell eher um einen Annex zur Regelpublizität. Damit geht Hand in Hand, dass die Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche aufgrund falscher Ad-hoc-Meldungen in China der behördlichen Genehmigung bedarf. Der Verfasser macht auf dieser Grundlage Vorschläge zur (behutsamen) Rechtsfortbildung in China nach europäischem Vorbild.
Zum Gegenstand der Polizeiwissenschaft gehörte – jedenfalls unter der Herrschaft eines weiten Polizeibegriffs – auch die staatliche Sorge für die Wirtschaft. Die Herausbildung der Wirtschaft als eines eigenständigen gesellschaftlichen Teilsystems, also eines sozialen Bereichs, für den die Geltung von Leitprinzipien eigener Art beansprucht wird, fällt auf das Ende des 18. Jahrhunderts. Am Beginn der nachhaltigen Durchsetzung eines staatsunabhängigen wirtschaftlichen Denkens steht das Werk von Adam Smith, der die klassische Nationalökonomie begründete. Die Polizeiwissenschaft traf nun auf einen Gegenstand, für den eine überaus mächtige Theorie die Erklärungshoheit beanspruchte. Welche Konsequenzen ergaben sich daraus? Dieser Frage soll am Beispiel der staatlichen Kapitalhilfen für Unternehmen nachgegangen werden. ...
Freiheit und Interventionsstaat stellt man sich gewöhnlich als Gegensatz vor. Eine liberale Ordnung ist eine, die staatliche Eingriffe auf ein Minimum beschränkt. Der Interventionsstaat des Kaiserreichs integrierte wirtschaftliches Handeln in öffentlichrechtliche Formen, deren Einstufung als Selbstverwaltungsinstitutionen sich bald durchsetzte. Das Wort "Selbstverwaltung" versprach Freiheit. Kann aber Freiheit durch Maßnahmen hergestellt werden, die die gesellschaftlichen, vor allem die wirtschaftlichen Akteure zwingen, ihr Handeln in bestimmter Weise zu koordinieren und gar dem Staate zu Diensten zu sein? ...
Regulierte Selbstregulierung ist ein Modus der Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Sie findet statt, wenn gesellschaftliche Selbstorganisation einen Verbund mit staatlicher Steuerung eingeht. Nichtstaatliche Formen der Normsetzung, der Normdurchsetzung, der Kontrolle und der Konfliktentscheidung treten in mannigfachen Kombinationen mit staatlicher Rahmen- und Detailgesetzgebung, staatlicher Aufsicht, staatlicher Finanzierung und administrativer Mitbestimmung auf. Gesellschaftliche Partikularinteressen und staatliche Steuerungsambitionen amalgieren in Kooperation und Konflikt zu vielfältigen Ausdrucksformen von »Gemeinwohl«. Der Staat instrumentalisiert gesellschaftliche Expertise, gesellschaftliche Initiative und gesellschaftliche Mobilisierungsfähigkeit für seine Zwecke, nichtstaatliche Akteure wiederum nutzen das staatliche Handlungspotential und staatliche Finanzmittel, um eigene Koordinationsprobleme oder Ressourcenengpässe zu bewältigen. – Dieser bunte Karneval der Regelungskulturen ist Teil unserer Rechtsordnung. Seine Geschichte kann aber weder von den historischen Erzählplots der sich über das Privatecht selbst regulierenden bürgerlichen Gesellschaft angemessen erfasst wird noch von jenen, die die Herausbildung eines alle Machtmittel monopolisierenden Staatswesens in den Mittelpunkt stellen. Dieser Komplex bedarf vielmehr einer historischen Bearbeitung, die die Verflechtungen, Übergänge, Hybridisierungen und Ambivalenzen in den Mittelpunkt rückt. ...
Eigentlich war das Reichsgesundheitsamt für diese Angelegenheit nicht zuständig. Die Abgabe an die zuständige Landesbehörde hätte ausgereicht. Eine derart "rücksichtslose Ausnutzung (der) Befugnisse" eines Kassenarztes, wie sie hier – im Jahr 1886 – zu Tage trat, veranlasste Gesundheitsamtsdirektor Köhler aber dann doch, den Fall Innenstaatssekretär Boetticher vorzulegen: Der Arzt hatte einer an Herzschwäche und Lungenentzündung leidenden Patientin unter anderem 33 ½ Flaschen Champagner und 48 Flaschen Wein verschrieben. Lieferung erfolgte obendrein durch den Bruder des Arztes, einen Gastwirt. Die Krankenkasse verweigerte die Zahlung. Der Gastwirt verklagte daraufhin die Kasse. Das Landgericht Freiburg i. Br. entschied gegen die Kasse. Die Forderung des Wirts sei durch das Rezept des Arztes gedeckt. Letzterer stehe als Kassenarzt zur Kasse im Verhältnis "eines von der Kasse Beauftragten"; mit der Verschreibung der Alkoholika, die auch von einem Gutachter als taugliche Arznei bewertet wurde, habe er sich in den Grenzen seiner Vollmacht bewegt und konnte die Kasse gegenüber dem Wirt auch wirksam verpflichten. Zur Untermauerung seiner Rechtsansicht verwies das Gericht u. a. auf die achte Auflage von Puchtas Pandekten, § 324. ...
"Selbstverwaltung" war das Thema der Hofgeismarer Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte 2008. So interessant die einzelnen Referate auch waren, ihre unterschiedlichen Zugriffe und inhaltlichen Ausrichtungen gebieten es doch, nicht die einzelnen Aufsätze des Tagungsbandes zu referieren, sondern den Versuch zu unternehmen, aus der Vielfalt der Beiträge strukturierende Überlegungen herauszuarbeiten. Daher sei nur kurz auf die Themen der einzelnen Referate verwiesen. Gerhard Dilcher sprach über die mittelalterliche Stadt, Ludwig Elle über die Selbstverwaltung(sbestrebungen) der Sorben; Matthias Asche trug zur Autonomie der Hugenotten und Waldenser vor und J. Friedrich Battenberg zu der der jüdischen Gemeinden und Landjudenschaften im Heiligen Römischen Reich. Christoph Schönberger befasste sich mit französischen Parlamenten (vor der Revolution), Jörg-Detlef Kühne mit den Selbstverwaltungsvorstellung von Steins. Hans-Christof Kraus referierte zur englischen Selbstverwaltung und deren deutscher Rezeption, Thomas Simon behandelte die Föderalisierung Österreichs. Und schließlich trug Dieter Kugelmann zum Stellenwert des Selbstverwaltungsgedankens in der europäischen Kooperation und Integration vor. – Die folgenden Ausführungen beschränken sich darauf, diejenigen Aussagen herauszustellen, die sich in grundsätzlicher Weise zu Selbstverwaltungsverständnissen (1), zu den Realisierungsformen von Selbstverwaltung (2), zu den Ursachen von Selbstverwaltung (3) und zu Konzeptualisierungen von Selbstverwaltung (4) äußern. ...
Spätestens seit den 1980er Jahren ist Partizipation ein mächtiges Schlagwort. In neuerer Zeit kann man damit sogar Wahlen gewinnen. Wo herkömmliche Legitimationsmodi der repräsentativen Demokratie an Kraft verlieren oder zu verlieren scheinen, sucht man nach Ersatz. Das Prinzip der Legitimation durch allgemeine Wahl der Vertretungskörperschaften funktioniert da nicht, wo es solche Vertretungskörperschaften nicht gibt – bzw. diese, wie in der EU, auf weiten Gebieten nicht über die Entscheidungsprärogative verfügen – oder sie als verkrustet angesehen werden und/oder dort, wo die Mobilisierung des Bürgers zwischen den Wahlterminen nötig erscheint. Bürgerschaftliche Partizipation hat einen ambivalenten Charakter. Sie kann Belebung oder Gefährdung von Demokratie sein, wobei dies auch vom jeweils zugrundegelegten Demokratieverständnis abhängt. ...
Justiz ist nicht allein Sache der staatlichen Gerichtsbarkeit. Gegenwärtig rückt dies immer stärker ins Bewusstsein. Über internationale Wirtschaftsschiedsgerichte, islamische »Friedensrichter«, Sportschiedsgerichte oder justizähnliche Gremien an amerikanischen Universitäten, die über Fälle sexueller Gewalt entscheiden, kann man mittlerweile in den Tageszeitungen lesen. Justizmäßige Entscheidungsinstitutionen, in denen nichtstaatliche Akteure eine – im wahrsten Sinne des Wortes – entscheidende Rolle spielten, sind inzwischen auch in der Rechtsgeschichte ein beliebtes Thema. In der deutschen rechtshistorischen Forschung sind dies vor allem die Schwurgerichte, die Gewerbegerichte (bzw. ihre Vorläufer) und die Schiedsgerichte, bei anderen Spielarten, z.B. den vielfältigen Ausprägungen der Handelsgerichtsbarkeit, fehlt es noch an eingehenderen Untersuchungen – ganz zu schweigen von jenen spezialisierten und teilweise kurzlebigen paritätischen Gremien, in denen die sozialen und ökonomischen Konflikte des Interventions- und Sozialstaats austariert wurden. ...
Multinormativität ist kein etablierter Begriff. Der Terminus bezeichnet zunächst einmal nur einen Forschungsschwerpunkt des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte. Die diesen Forschungsschwerpunkt konstituierende und die Einzelprojekte verbindende Leitfrage ist die nach dem Verhältnis von Recht zu anderen Regeln. Weiter ausgeführt ist dies in einem Aufsatz von Thomas Duve, der Überlegungen dazu enthält, wie Multinormativität erfasst werden kann. Erstens wird hingewiesen auf das analytische Potential der Theorieangebote der Rechtspluralismusforschung bzw. derjenigen Ansätze, die sich hieraus entwickelt haben (normative pluralism, jurisdictional pluralism, interlegality, pluralistic social-legal arenas), aber auch auf deren partielles Ungenügen bei der Erfassung der Fluidität der Interaktion verschiedener normativer Sphären. Zweitens wird auf den Stellenwert von Konventionen, verstanden als zu Routinen geronnene Anschauungen mit normativem Potential, aufmerksam gemacht. Und drittens wird unter dem Stichwort "Dynamik" darauf verwiesen, dass Normativität und das Verhältnis zwischen Normen nicht als statischer Zustand erfasst werden können, dass diese vielmehr in sozialen Praktiken hervorgebracht werden und sich mit ihnen wandeln. ...
Das hier zu rezensierende Buch, eine öffentlich-rechtliche Habilitationsschrift, liefert einen "Versuch zur Kartierung der Beschreibungsangebote für rechtliche Verfahrensordnungen" – so sein Untertitel. Beabsichtigt ist nicht eine auf das Verwaltungsverfahren, den Zivilprozess, das Gesetzgebungsverfahren oder einen anderen Verfahrenstyp bezogene Darstellung, sondern ein die Grenzen der juristischen Subdisziplinen überschreitender Zugriff. Dies macht es auch für die Rechtsgeschichte interessant. Denn diese befindet sich angesichts immer dringlicher werdender Forderungen nach stärkerer theoretischer Einbettung, welche nicht zuletzt zur Erfassung von Transnationalität, zum Vergleich und zur Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft befähigen soll, auf der Suche nach übergreifenden Ordnungsmustern und Analysekategorien. Der mögliche Mehrwert dieses Buches für die Rechtsgeschichte soll auch im Folgenden ausgelotet werden. Es handelt sich also nicht um eine Rezension im eigentlichen Sinne, denn rechtshistorische Absichten hat der Autor nicht verfolgt, es würde also fehlgehen, ihn daran zu messen. ...