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Der Titel dieses Buches könnte täuschen. Er lenkt unser Augenmerk mit dem in über 50 Jahren in der Bundesrepublik zum geflügelten Wort etablierten »Gang nach Karlsruhe« zunächst zwar unweigerlich auf das Bundesverfassungsgericht. So trocken daherkommend scheint er aber eher auf eine der üblichen juristischen Handreichungen hinzuweisen, die erläutern, was es alles rechtlich zu berücksichtigen gilt, wenn man sich mit einem Begehren an dieses Gericht wenden will – wären da nicht der Autor des Buches und der Untertitel, die beide Geschichtliches zum Bundesverfassungsgericht ankündigen und damit neugierig machen ...
Rechtswörterbücher beschränken sich für gewöhnlich auf die Erläuterung einer Vielzahl von Begriffen und Instituten des geltenden Rechts. Das gilt jedenfalls für die in Deutschland gängigen Werke. Sie reihen die Erklärung einzelner Rechtsbegriffe nach den herkömmlichen Definitionen aneinander, ohne die Grundlagen unseres Rechtsdenkens zutage treten zu lassen. Nicht so verfährt das hier anzuzeigende, von Denis Alland und Stéphane Rials herausgegebene und im Jahre 2003 in Paris erschienene Dictionnaire de la culture juridique. Es tritt mit dem Anspruch an, das Recht nicht nur als große Ansammlung von rechtsdogmatischen Begriffen zu präsentieren, sondern seine geschichtlichen und vor allem philosophischen Bezüge zu verdeutlichen. Damit sollen Zusammenhänge wiederhergestellt werden, die durch die Reduktion der Jurisprudenz auf eine reine Technik in den letzten Jahren zunehmend verloren gegangen sind. Die innerhalb des Dictionnaire zusammengetragene Stofffülle ist äußerst beeindruckend: Auf mehr als 1600 Seiten vereinigt das Werk insgesamt 409 Artikel aus der Feder von nicht weniger als 213 durchweg angesehenen juristischen Autoren, die ganz überwiegend aus Frankreich stammen. ...
Im Märchen schläft Dornröschen so lange, bis ein Prinz sie wach küsst. In der Rechtsgeschichte warten viele ehemals prominente Juristen darauf, dornröschengleich von einem Doktoranden erweckt zu werden. Christoph Mauntel will den Schwaben Carl Georg v. Wächter wieder ins rechte Licht rücken. Programmatisch darf sich Mauntel nicht nur über seinen Doktorvater Hans-Peter Benöhr dem Netzwerk der Frankfurter (Historischen) Schule zurechnen. ...
Als vor mehr als zwanzig Jahren der erste Band von Harold J. Bermans Law and Revolution erschien, kam dies selbst einer Revolution gleich. Nicht mit der Renaissance nämlich, nicht mit dem Absolutismus und nicht mit 1789 setzte der Rechtshistoriker ausHarvard The Formation of theWestern Legal Tradition (1983; dt. 1995), also die Entstehung des modernen Staates, an, sondern mit dem Sieg der Papstkirche im Investiturstreit zwischen 1075 und 1122. Die entscheidenden Ergebnisse dieser Papal Revolution seien das kanonische Recht gewesen, das elaborierteste, umfassendste seiner Zeit, und eine professionelle Methode seiner Handhabung, die Scholastik. Mit ihrer Hilfe habe die römische Kirche die Bevormundung durch weltliche Mächte abgestreift, ihren Supremat über die Laien fest etabliert, eine hoch effiziente Hierarchie geistlicher Juristen und Gerichte aufgebaut und die bis heute gültigen Prinzipien westlichen Rechts geprägt ...
"Folter" ist ein höchst aktuelles Thema. Die Vernehmungspraxis vieler sowohl demokratischer als nicht demokratischer Staatsapparate in der Welt ist in jüngerer Zeit zunehmend zum Thema in Medien und Gegenstand entsprechender Kritik geworden. Dies hat auch Wirkung im wissenschaftlichen Feld gezeigt. Mehrere Neuerscheinungen auf dem deutschen Büchermarkt sind ein Indikator dafür. Sie machen darüber hinaus deutlich, dass Folter auf ganz unterschiedliche Art und Weise thematisiert werden kann.
Es ist eine besondere Pointe der Theorieschöpfung Thomas S. Kuhns, dass man im Wissenschaftsdiskurs nach schnellem Abschied vom "Fortschrittsdenken" nunmehr in den "Paradigmenwechsel" geradezu vernarrt zu sein scheint – fast täglich kippen die Paradigmen wie die Pappkameraden, Paradigmenwechsel ist immer und überall. ...
Ist die Welt sichtbarer geworden? Der Blick in die Bücher am Rande der Gutenberggalaxis bestätigt die Zunahme des Visuellen. Da ist vom photographischen und televisionären Vordringen der Bilder in unserer Alltagswelt die Rede, von der Wiederkehr der Bilder – auch im Recht. Das Recht und das Bild scheinen nach einer Zeit des bildscheuen Logozentrismus zunehmend Allianzen einzugehen. Die Indizien reichen von dem Skandal um Abu Ghraib bis hin zu den Schwierigkeiten, die wir mit Begriffen wie Person, Staat und Verfassung haben und die mit zunehmender Unschärfe vermehrt als Bild für etwas anderes rezipiert werden. Sollen wir also an die These von der Bilderflut glauben? ...
"Gerichtsrede"? Wer denkt da nicht an das große Plädoyer engagierter Anwälte, denen es wortgewaltig gelingt, einem verblüfften Publikum ihre Sicht der Dinge aufzuzwingen? Nur wenige werden in diesem Augenblick allerdings einen deutschen Gerichtsredner, sei es einen Staatsanwalt, sei es einen Advokaten vor sich sehen. Zwar gibt es zweifellos auch hierzulande saftige Zeugnisse forensischer Rhetorik. Aber im allgemeinen erreichen die meist glanzlosen Darbietungen germanischer Justizredner das durch die filmischen Auftritte redegewandter Lichtgestalten im amerikanischen courtroomdrama verwöhnte Publikum nicht. Nur dort finden jene gigantischen Redeschlachten statt, in denen der rednerisch gewitzte und schon fast siegreiche Staatsanwalt am Ende doch der überlegenen Redekraft seines Gegenspielers unterliegt. ...
Das Knäuel; auch: "der Knäuel". Ein schönes, sehr altes, deutsches Wort. Bezeichnet einen wenig konturierten und unstrukturierten Haufen, meistens einen in kugeliger Form aufgedrehten Faden. Vor dem inneren Auge aller Katzenfreunde erscheint das herumgeschubste Wollknäuel. Plural? "Die Knäuel" (neutrum und maskulin). So habe ich das gelernt.
In einem Aufsatz lese ich: "Stützungsknäule". "Knäule"? Ein Druckfehler? An herausgehobener Stelle eher unwahrscheinlich. Habe ich es mit einem willfährigen Gefolgsmann der dümmlich erneuerten deutschen Rechtschreibung zu tun? Der Text spricht nicht für diesen Verdacht. Vielleicht irre ich? Also: Wörterbücher! Der Wahrig (von 1986) schweigt. Der Duden referiert lakonisch: Plural: "Knäule". Kaum zu glauben. Allerdings ist dieser Duden reichlich veraltet. 13. Auflage 1948. Etwa zu der Zeit dürfte ich das Wort bewusst gelernt haben – jedoch, wie es scheint, falsch. Ein neuerer Duden ist nicht zur Hand. Aber man setzt seine Hoffnungen ohnehin besser gleich auf die Meister. Was sagt der Grimm? "der plural ist knäuel" Na bitte! Es folgt leider: "landschaftlich auch knäule". Also meinetwegen – "Knäule", falls es denn die Landschaft des Autors so will. Das Wort dürfte ohnehin dem Untergang geweiht sein. Richtige Deutsche sagen vermutlich dort, wo sie Knäuel sagen müssten, schon längst "cluster". ...
Sechs Lektionen in europäischer Rechtsgeschichte hat van Caenegem locker aneinander gereiht. Eine jede Lektion dürfte mindestens eine Doppelstunde beansprucht haben im »Magister Iuris Communis Programme« der Universität Maastricht. Glücklich, wer dabei gewesen. Denn nicht die gewohnte, doch im Unterricht keineswegs bewährte Gliederung nach Epochen, Chronologie oder Regionen bestimmt das Konzept. Vielmehr hat jede Lektion, in Buchform nun jedes Kapitel, ein Thema, ein Problem, einen Fokus. ...
Es sei "paradox", meinen die Herausgeber der "Studienbücher Geschichte und Kultur der Alten Welt", dass trotz des politischen Willens, ein geeintes Europa zu schaffen, den "Wurzeln dieses Europa" im Bildungssystem immer weniger Aufmerksamkeit geschenkt werde, ja, dass geradezu ein "zielstrebiger Abbau des tragenden Geschichtsbildes" stattfinde. Die Studienbücher sollen dem entgegenwirken. Frank Kolb, der jüngst durch seine Verbalattacke auf den Troja-Forscher Manfred Korfmann eine für Althistoriker seltene Medienprominenz erlangte, hat nun in der Reihe der Studienbücher den Band "Herrscherideologie in der Spätantike" veröffentlicht. ...
Als 1968 "Die unbegrenzte Auslegung" erschien, da war’s wie Donnerhall. Hatten doch die damals Studierenden gerade begonnen, die alten Biedermänner, die man ihnen als Rechtslehrer vorgesetzt hatte, als ehemalige Brandstifter zu entlarven. Bernd Rüthers goss Öl in den schwelenden Zorn, indem er die Legenden vom unpolitischen Zivilrecht zerstörte und die personellen und weltanschaulichen Kontinuitäten zwischen NS-Zeit und Bundesrepublik aufdeckte. "Die unbegrenzte Auslegung" gehörte zu den Aha-Erlebnissen einer gerade erst unruhig gewordenen Generation von jungen Juristinnen und Juristen, sogar derjenigen, die politisch immun und unverdrossen durchs Studium trotteten. Stand der Jungakademiker Rüthers doch fern allem gefährlichen Aktivismus, Radikalismus, Marxismus jener Jahre und wurde gleichwohl zum anklagenden Aufklärer. ...
"Die Friedens- und Konfliktforschung aus der Perspektive der jüngeren Generationen" zu betrachten, ist Anliegen des zweiten Bandes zur "Zukunft des Friedens". Bereits der erste Band ging aus einer Tagung hervor, auf der "Erkenntnisse und Perspektiven der Friedens- und Konfliktforschung" reflektiert wurden. ...
Es lag, jedenfalls seit dem 43. Historikertag im Jahr 2000, in der Luft: Geschichte hat etwas mit Gehirn zu tun. Für das Gehirn zuständig ist Wolf Singer, für die Geschichte Johannes Fried. Das Rendezvous der beiden Wissenschaften und Wissenschaftler hat für beträchtlichen Wirbel in der Tages- und Fachpresse gesorgt, hat in der Historikerzunft Beckmesser ebenso auf den Plan gerufen wie Trittbrettfahrer und Beifallklatscher. Im Jahr 2002 haben Singer und Fried – sorgsam getrennt – die Quintessenz ihrer Erkenntnisse publiziert. Der von beiden konsentierte Befund ist so schlicht wie richtig: Alle Wahrnehmung beruht auf hochselektiven neuronalen Schaltungen im Gehirn; alles Erinnern ist das ebenfalls hochselektive Ergebnis von Vergessen. Das gilt für historische Akteure ebenso wie für spätere und gegenwärtige Beobachter, so dass "es keine sinnvolle Trennung zwischen Akteuren und Beobachtern gibt, weil die Beobachtung den Prozess beeinflusst, selbst Teil des Prozesses wird". Eine infinite, hin und wieder durch willkürliche Zeitsetzung scheinbar unterbrochene Kette von Beobachtungen und Beobachtungen von Beobachtungen – das nennt man "Geschichte". ...
"Auch der Verein für Hamburgische Geschichte (VHG) hat lange Zeit vermieden, sein größtes Versagen zu thematisieren", konstatiert der aktuelle Vereinsvorsitzende im Vorwort des Buches. Damit rückt er die Studie explizit in den Kontext der Bewältigungs- und Aufarbeitungsforschung zum Umgang von Ministerien und Parlamenten mit der NS-Vergangenheit, deren Konjunktur noch nicht vorüber ist. Auch von Verlagsseite wird das umfängliche Werk als "erste kritische Detailstudie zur NS-Geschichte eines deutschen Geschichtsvereins" beworben. ...
Dieser Band versammelt die Vorträge einer Tagung der Johannes- Althusius-Gesellschaft e. V., die vom 26.–29.5.2016 in Wittenberg stattfand.
Die umfassende Thematik wurde auf vier Aspekte konzentriert: 1) Religion und Konstitutionalisierung 2) die Bedeutung der Reformation für Rechts- und Staatslehren der frühen Neuzeit, 3) Völkerrecht, 4) Recht, Gehorsam und Religion. Dem folgt auch die Gliederung des Buches. Leider ist die Einleitung des Herausgebers sehr formal. Angesichts einiger sehr anregender neuer Forschungsthesen bzw. -ergebnisse wäre der inhaltliche Schwung der Tagung gleich als Eröffnung gut vermittelbar gewesen. ...
Es ist schon merkwürdig: Für keines der großen Konzilien des Spätmittelalters schien in den letzten Jahren eine Gesamtdarstellung so nah wie im Fall des Pisanum. Dieter Girgensohn und Hélenè Millet legten eine Fülle von Einzelstudien vor, doch keiner der beiden goss sie in die Form eines opus magnum, sieht man von einem Aufsatzband der französischen Kollegin ab. Durch Mona Kirsch erfuhr die Synode 2016 eine zwar viele Facetten erfassende Würdigung im Rahmen einer ritualgeschichtlich grundierten Geschichte des allgemeinen Konzils im Spätmittelalter, zu der für sie aber die auf Pisa folgenden und damit eng verbundenen Versammlungen von Konstanz und Basel nicht gehörten. Und nun erklärt Florian Eßer gleich mehrfach, bei seinem hier anzuzeigenden, immerhin 874-seitigen Werk handele es sich keinesfalls um eine Gesamtdarstellung. Was die Frage aufwirft, wer angesichts einer solch zerklüfteten Landschaft partieller Monumente das finale Wagnis überhaupt noch angehen mag.
Am ehesten wohl Florian Eßer selbst, der eine auf umfassender Kenntnis der ungedruckten wie gedruckten Quellen beruhende und die gesamte Forschung zum Thema rezipierende Studie vorgelegt hat, die weniger als Dissertation – die sie ist – denn fast schon als Habilitationsschrift gelten darf. Nur wünscht man sich und ihm, dass er sich künftig in der Kunst des Kürzens und Streichens übt. Denn hier wird viel in der Sache wohlgemerkt Treffendes derart breit bis in die feinsten Einzelheiten und Verästelungen ausgeführt, ja ausgewalzt, dass dem Autor am Ende dabei offensichtlich selbst nicht mehr so recht wohl war, widmet er sein Opus doch Freundin, Eltern und Freunden, "auch wenn (beziehungsweise weil) sie es vermutlich nie lesen werden" (S. 14). ...
Wann und wo mich der fast bedrohlich ernste Blick des Mannes mit langem weißem Haar erstmals anschaute, ist nicht mehr auszumachen. Nicht einmal, wann und wo eine erste Lektüre einer seiner Schriften stattfand. Es gibt solche nicht zu datierende und nicht zu lokalisierende Urerlebnisse, die eine lange Faszination auslösen. Eine Faszination, die sich durch nähere Bekanntschaft, ausgiebige Lektüre, neue Bilder des spontan Verehrten nur steigert. Die Lust auf Lektüre seiner abgründig gelehrten Forschungen, seiner kühnen Thesen, seiner bissig spöttischen Kritiken, seiner Weltdeutungen wächst mit zunehmender Vertrautheit. ...
"Nicht die Veränderungen sind erklärungsbedürftig; weit schwieriger ist es, Stabilität zu erklären." Wohl wahr. Wunderlich ist es in der Tat, wie ein Staatswesen, die römische Republik, über Jahrhunderte ohne Verfassung, ohne differenzierte Institutionen und Kompetenzen, ohne den Aufbau einer nachhaltigen Bürokratie, ohne Polizei und Vollstreckungsbeamte, ohne dauerhafte Gerichtshöfe auskommen und Bestand haben konnte. Es hat trotzdem funktioniert. Rom wurde groß und größer, kollabierte weder innennoch außenpolitisch, wurde ganz im Gegenteil zum Weltreich. ...
Ein großes Werk wird vollendet und steht sofort unter dem Verdacht, ein "Klassiker" zu werden. Aber das Werk ist sehr groß, erfordert Monate, wenn nicht Jahre an Lesezeit und ist außerdem nicht einfach zu verstehen. Und so erscheinen handliche Kochbücher, die verraten, welche Ingredienzen man benötigt, wie man sie mischt und verrührt, damit daraus eine schmackhafte Suppe wird. ...
"Fortgeltung des Zwölftafelrechts" – unter diesem lieblos dahingeworfenen Titel ist jüngst eine Dissertation erschienen. "Geltung" ist das Symbol der Einheit des Rechtssystems: Recht "gilt", und wenn es nicht (mehr) gilt, ist es kein Recht, sondern Geschichte oder Literatur oder ein Märchen aus alten Zeiten. "Fortgeltung" besagt demnach, dass älteren Rechtssätzen in neueren Rechtssätzen weiterhin Geltung zugesprochen wird.
Wenn man im Fall der Rechtssätze der Zwölf Tafeln wissen will, ob sie "fortgalten", was sollte man dann tun? Es empfiehlt sich, eine CD-ROM des römischen Rechts zu starten, "duodecim" einzugeben und die knapp 200 Stellen zu betrachten, in denen die Zwölf Tafeln genannt sind. So kann man Stück für Stück prüfen, welche Sätze der Zwölf Tafeln in den Juristenschriften und den Kaiserkonstitutionen zitiert werden, welche dieser Sätze als "geltend" bestätigt und welche verworfen werden. Das ist eine etwas langwierige, aber für einen romanistisch ausgebildeten Doktoranden eine nicht allzu schwierige Aufgabe. Immerhin wüsste man am Ende, welche Sätze der Zwölf Tafeln sich in den juristischen Kommunikationen über etwa 500 Jahre als "geltend" gehalten haben. Und mit diesem Wissen wäre eine Leserin der "Fortgeltung des Zwölftafelrechts" schon deshalb sehr zufrieden, weil man bisher kaum weiß, welche Sätze der Zwölf Tafeln die römischen Juristen überhaupt kannten, und deshalb schon gar nicht, welche sie als geltend betrachteten.
Man weiß es auch nach Lektüre der "Fortgeltung des Zwölftafelrechts" nicht. Denn der Autor hat mitnichten getan, was nahe liegt ...
Anfang und Ende eines Telefonbuchs: Aalam, Simone – Zywica, Klaudia. Die beiden verbindet (vermutlich) nichts anderes als die Kadenz des Alphabets. Zwischen A und Z gibt es kein Ereignis, keine Begegnung, keine Geschichte. Die meisten Leute haben deshalb keine Freude an der Lektüre von Telefonbüchern. ...
Es muss die Steuererklärung von 1982 oder 1983 gewesen sein. Unter den steuermindernden "Werbungskosten" befand sich eine Liste mit wissenschaftlichen Büchern, darunter Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Das Finanzamt teilte mir mit, dieser Titel könne die Steuerschuld nicht reduzieren, da es sich "offenkundig um einen Roman" handele. So aussichtslos es war, das Finanzamt zu überzeugen, dass das Buch etwas mit Systemtheorie und Systemtheorie etwas mit Wissenschaft zu tun habe, so hoffnungslos erschien es lange, mit Historikern über Systemtheorie ins Gespräch zu kommen. ...
"… non do una traduzione" (Dieter Nörr). Das ist gut so. Denn das unverständliche punische Geplapper des Hanno: "ythemanethihychirsaelychotsithinaso" im "Poenulus" des Komödiendichters Plautus ist Teil der Komödie. Das zweite Buchstabenungetüm "uocationitantestaminigitur" können Kenner (so auch Gianfranco Lotito) hingegen schnell sezieren und ergänzen: (si in ius) vocat, ito. ni it, antestamino. igitur (em capito): "Wenn er vor Gericht lädt, soll er gehen.Wenn er nicht geht: vorher Zeugen rufen. Sodann ergreifen" – oder so ähnlich. Jedenfalls Tafel I 1 des Zwölftafelgesetzes aus dem 5. Jh. v. Chr., restituiert aus Porphyrios (3. Jh. n.Chr.). ...
Protestanten haben keine Beichtstühle. Allfällige Bekenntnisbedürfnisse müssen sie deshalb öffentlich befriedigen. "Credo: Ich lehre Systematische Theologie und Ethik in einer Evangelisch- Theologischen Fakultät, verachte klerikale Moralrechthaberei (die es in allen Glaubensgemeinschaften gibt), schätze Geistesstreit als Klärungschance und sehe in individueller Freiheit das höchste innerweltliche Gut. Die Koordinaten meines Sehepunktes werden markiert durch liberalen Kulturprotestantismus, Kantischen Republikanismus und fanatismusresistenten Denkglauben …" Ein umfassendes Geständnis. Was Friedrich Wilhelm Graf sonst noch schätzt oder verachtet, erfährt man aus seinem zierlichen, mit schönen Bildern verzierten und mit heißer Feder geschriebenen Buch "Moses Vermächtnis". ...
Einst, so sagen manche, gab es nur ein Gesetz, Gottes Gesetz, das gleichzeitig und ununterschieden in der Natur, unter den Menschen, auf der Erde und im Himmel galt. Dann aber teilte sich das Gesetz vielfach: in die Gesetze der Natur, des Gottes, des Rechts, der Wissenschaft, der Geschichte … Die Geschichte ist nicht zu Ende. Und so vermag die Frage nach der Pluralität von Gesetzen und Gesetzlichkeiten immer noch zu interessieren, besonders für den Fall, dass die Gesetze miteinander ins Gehege kommen, einander widerstreiten und ihren je eigenen Anspruch auf universale Geltung behaupten. ...
Die Welt im Sandkorn zu entdecken gehört seit jeher zu den Sehnsüchten der Historiker. Mit Blick auf das Ganze, das Allgemeine, wird oft das Typische, das Exemplarische bemüht, das man in Einzel- oder Fallstudien einzufangen glaubt. Hinge die Relevanz lokaler Studien von der Prämisse ab, die große Welt im Kleinen finden zu müssen, hätten sie schlechterdings keinerlei Relevanz. So zumindest urteilt Clifford Geertz über entsprechende Studien in der Ethnologie nach dem Modell "Jonesville-ist-die-USA". Der Versuchung eines solchen Modells ist Francisca Loetz in ihrer Heidelberger Habilitationsschrift über frühneuzeitliche Blasphemie am Beispiel Zürcher Gotteslästerer erlegen. In einer Langzeitstudie vom späten 15. bis zum frühen 18. Jahrhundert untersucht Loetz rund 900 dokumentierte Fälle der Wortsünde des Fluchens, Schwörens und Schmähens bei "Gotz schedel", "Gotz bart" oder "Gotz nasa". Delikte, bezüglich derer man im 16. Jahrhundert empfahl, den Angeklagten ein Schloss für ihre Zungen zu schlagen. Die Ergebnisse dieser Studie erfüllen jedoch nicht den erhobenen Anspruch der Repräsentativität für das Westeuropa der frühen Neuzeit. Und sie müssen es auch nicht, denn die Arbeit hat auch ohne diesen Anspruch genug zu bieten. ...
Wir wissen nicht, was König Adolf von Schweden in seiner Satteltasche trug, als er im 30jährigen Krieg hoch zu Ross in die Schlacht zog. Angeblich soll es ein Exemplar des Buches "De iure belli ac pacis" gewesen sein, des völkerrechtlichen Hauptwerks von Hugo Grotius. Spätestens seit Louis Aubéry du Mauriers "Memoires pour servir a l’histoire de Hollande et des autres Provinces-unies" (1688) gehört diese Anekdote zum festen Bestandteil des Grotius- Mythos. Erzählt wird sie meist dann, wenn es um die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis im Völkerrecht und ihrer Geschichte geht. Umdiese Frage dreht es sich auch in dermit Spannung erwarteten Arbeit von Martine Julia van Ittersum über die Verstrickungen des jungen Grotius in die Überseepolitik des ebenfalls noch jungen niederländischen Staates. ...
Drei wissenschaftshistorische Analysen haben sich in je unterschiedlicher Methodik den Feldern der Kriminologie und der Kriminalistik genähert. Silviana Galassi, Richard F. Wetzell und Peter Becker bieten den überzeugenden Beleg dafür, dass die Analyse der Kriminalität und ihrer gesellschaftlichen Verarbeitung weder den Kriminologen noch den Strafrechtlern allein überlassen werden darf. Die historischen Forschungsarbeiten zwingen die traditionelle Kriminologie und die normative Strafrechtswissenschaft zur Kenntnisnahme, dass die Wissenschaftsrichtung "Kriminologie" (Entstehungsbedingungen und Verarbeitung von Kriminalität) und schon gar die "Kriminalistik" (polizeiliche Tatnachweistechnologien) seit jeher im Ordnungsdienst des Staates stehen und – jedenfalls in den zugrunde gelegten Untersuchungszeiträumen – nicht den Anspruch selbst bestimmter Wissenschaft erfüllen. ...
Jon Elster hat sich in der rational choice-Theorie durch Studien zu Selbstbindungstechniken als Absicherung gegen Irrationalitäten im Entscheidungsprozess einen Namen gemacht. Passend zu diesem Theoriehintergrund untersucht Elster in seinem Buch "Die Akten schließen" Entscheidungsmöglichkeiten nationaler Gesellschaften, mit dem Irrationalen umzugehen und gesellschaftliche Umbrüche zu bearbeiten. Elster geht es darum zu zeigen, dass die Art und Weise, wie Gesellschaften ihre offenen Rechnungen nach Regimewechseln begleichen, höchst unterschiedlich ist. Darum trägt er unterschiedliche Formen der "Vergangenheitsbewältigung" zusammen und setzt sie miteinander in Bezug. ...
Im ersten Teil (Die Strafverfolgung von NSVerbrechen in der SBZ/DDR 1945–1966) gibt Christian Dirks auf der Grundlage der neuesten Forschungen (z. B. von K.W. Fricke, A. Weinke, H.Wentker, F. Werkentin u. a.) einen zusammenfassenden Überblick über die sowjetischen Militärtribunale, deren flächendeckende Urteils- und Strafpraxis vor allem ab 1947 NS-Verbrecher in gleicher Weise wie Gegner und Oppositionelle des Regimes in der SBZ/DDR erfasste. Mit dem Befehl Nr. 201 der sowjetischen Militäradministration (August 1947) gingen die meisten Strafverfahren dann an ostdeutsche Gerichte über. Diese Verfahren widersprachen in der Regel eklatant rechtsstaatlichen Grundsätzen, zumal da nun die vielfach absolut grundlose Unterstellung "NS- und Kriegsverbrecher" mit der Enteignung von Oppositionellen oder auch, wie gerade an einem Fallbeispiel gezeigt wurde, von einem bereits in der Nazizeit "arisierten" deutsch-jüdischen Industriellen amalgamiert wurde. ...
Was kann einem die Sicherheit verschaffen, vom Besonderen und nicht vom Sonderlichen auf das Allgemeine zu schließen? Da tat sich nach 1990 ein Aktenfund im Holzkeller eines vormaligen DDR-Gerichts auf; aber kann man mit Verfahrensakten eines Kreisgerichts (KG) eine Justizgeschichte für das ganze Land schreiben? Es blieb allerdings nicht bei den Verfahrensakten und auch Generalakten des KG "Lüritz". ...
Thomas Horstmann und Heike Litzinger haben ein bemerkenswertes Buch mit dem – zunächst irritierend – weit gefassten Titel "An den Grenzen des Rechts" herausgegeben. Erst der Untertitel "Gespräche mit Juristen über die Verfolgung von NS-Verbrechen" konkretisiert das Thema. Es geht um die Frage der strafrechtlichen Behandlung von Systemunrecht: ob und inwieweit NS-Verbrechen mit rechtsstaatlichen Instrumentarien abgeurteilt werden können. ...
Der Titel der von Wolfgang Form und Theo Schiller herausgegebenen zwei Bände "Politische NS-Justiz in Hessen" scheint auf eine Darstellung des justiziellen Systems im nationalsozialistischen Staat im formellen und materiellen Sinn zu verweisen. In einem totalitären Staat kann jedem Sachgebiet politischer Charakter zukommen; politisch ist – wie Ernst Fraenkel formuliert –, "was die politischen Instanzen für politisch erklären". Aufschluss über den Inhalt beider Bände gibt der Untertitel "Die Verfahren des Volksgerichtshofs, der politischen Senate der Oberlandesgerichte Darmstadt und Kassel 1933–1945 sowie der Sondergerichtsprozesse in Darmstadt und Frankfurt/M. (1933/34)". Deutlich wird, dass Thema der außerordentlich umfangreichen Studie von 1230 Seiten die strafverfahrensrechtliche Organisation in Hessen während des Nationalsozialismus ist...
Wer kennt es nicht, das gute alte Vexierbild? Das Auge erlebt einen Spagat zwischen zwei Darstellungen im selben Bild, von denen, je nach Betrachtungsweise, mal die eine, mal die andere im Vordergrund steht. Ein ähnliches Gefühl stellt sich ein, wenn man den Titel des vorliegenden Sammelbandes betrachtet, der 15 Blicke deutscher und französischer Historiker, Soziologen, Kulturwissenschaftler und Juristen bietet – auf den eigenen Staat, den des Nachbarn oder beide gleichzeitig. Der deutsche Titel kündet von den "Figurationen des Staates in Deutschland und Frankreich", Bezugszeitraum 1870 bis 1945. So weit, so gut. Der französische, nur eine Zeile weiter unten, spricht hingegen von "Les figures de l’État en Allemagne et en France". Ein Übersetzungsfehler? Mitnichten. Ein Programm. So wie sich die Beiträge des Bandes in der Sprachkombination aus Deutsch und Französisch erschließen, erschließt sich sein Titel aus der Zusammenschau: Figuren und Figurationen. ...
Der Kreis des Wissens kann schon lange nicht mehr geschlossen werden. Zur Zeit der Aufklärung und im wissenschaftsverrückten 19. Jahrhundert schien das noch möglich zu sein, jedenfalls glaubte man fest daran, und die Enzyklopädien und Dictionnaires encyclopédiques kamen massenhaft von der Druckerpresse auf die Welt. Im 20. Jahrhundert ging die diktionnarische Produktion zwar unvermindert weiter, doch war das Ganze der Welt, auch partikularer Welten, unfassbar geworden. Die vielen Weltteile zersetzten die Einheit des Wissens. Das Alphabet der Enzyklopädie, die Fragmente der Information, die Teilchen des Ganzen, zerstörten den Kreis des Wissens, also die Möglichkeit der Enzyklopädie. ...
Was hält die Gesellschaft zusammen? Wie schafft man es, dass sich die Menschen nicht gegenseitig massakrieren? Wo ist der Frieden? Alte Fragen, fürwahr. Die Antworten liegen seit jeher geborgen irgendwo zwischen Selbstorganisation und Fremdorganisation, zwischen Selbstherrschaft und Fremdherrschaft, zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz. Konkret: Brauchen die Menschen, um friedlich miteinander auszukommen, eine Instanz, die ihnen zeigt, wo es lang geht? Oder finden und haben die Menschen einen Grund in sich selbst, um nicht zu Mördern zu werden?
Der französische Arbeitsrechtler Alain Supiot hat nun eine Antwort auf diese Fragen gegeben, eine Antwort in einer Zeit, in der – trotz George W. Bush, Interventionsvölkerrecht und europäischem Direktivenwahn – die Teile über das Ganze, das Periphere über das Zentrale, das Internet über das Diktaphon zu triumphieren scheinen. ...
Raymond Queneau, nach wie vor allseits bekannt durch Zazie dans le métro, legte vor 46 Jahren ein schmales zehnseitiges Werk vor. Bis heute hat kein Mensch auf der Welt es ganz lesen können. Selbst bei unablässiger Lektüre bei ganz durchschnittlicher Lesegeschwindigkeit brauchte ein Einzelner weitere hundertneunzigmillionenzweihundertachtundfünfzigtausendsiebenhundertfünf Jahre dazu. Das Werkchen heißt Cent mille milliards de poèmes. Es handelt sich um zehn Sonette, deren je 14 Zeilen längs in Streifen geschnitten sind, so dass sie einzeln durchgeblättert werden können, womit der Leser 10 hoch 14 Sonette aufschlagen und kombinieren kann. Am Anfang steht der König: Le roi de la pampa retourne sa chemise. ...
Der soziale Status der frühen Christen ist nach wie vor umstritten; die Antwort hängt immer auch davon ab, wie man das Christentum in der Gesellschaft des römischen Reiches verortet. Die ältere Idee, es habe sich um eine reine Unterschichtenreligion gehandelt, wird heute kaum noch vertreten; aus den paulinischen Briefen wird jedoch mit Recht auf eine prekäre ökonomische Situation jedenfalls einiger frühchristlicher Gemeinden geschlossen. Unbestreitbar ist die Zugehörigkeit einiger Mitglieder aus den höchsten gesellschaftlichen Schichten zum Christentum ab dem späteren 2. Jh. n. Chr., während sie für das 1. Jh. n. Chr. in der Regel als unwahrscheinlich oder gar unmöglich gilt. Es ist diese letztere Annahme, die Alexander Weiß in seiner Habilitationsschrift auf den Prüfstand stellt und – dies sei vorweg genommen – überzeugend widerlegt. ...
Der Sammelband enthält die Vorträge einer altertumswissenschaftlichen Tagung, die unter gleichem Titel am Freiburger Antike-Zentrum (dort auch "Antikenzentrum" genannt) stattfand und an der Historiker, Kirchenhistoriker, Philologen und Philosophen teilgenommen haben. ...
Hartmut Leppin dokumentiert exemplarisch das Eindringen christlichen Geistes in das traditionelle Kaiserbild. ...
Für die Erforschung der spätantiken Herrscherideologie hat Andreas Alföldi (1895-1981) Grundlegendes geleistet. Ihm gelang es, bildliche Darstellungen zum Sprechen zu bringen und ihre Bedeutung für die Repräsentation der Kaiser zu verdeutlichen. In dieser Tradition bewegt sich der Tübinger Althistoriker (und zeitweilige Assistent Alföldis) Frank Kolb mit seinem hier anzuzeigenden Buch. Darin führt er die verstreuten, von verschiedenen altertumswissenschaftlichen Disziplinen vorangetriebenen Forschungen zur spätantiken Herrscherideologie zusammen, die er durch eigene Beiträge wesentlich beeinflußt hat. ...
Die hier zu besprechende Publikation umfasst die Akten einer internationalen Tagung zum Gymnasion in der Kaiserzeit, die vom 23. bis 24. November 2007 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt veranstaltet wurde. Sie ergänzt somit zeitlich und thematisch den bereits 2004 publizierte Band zum hellenistischen Gymnasion, der aus den Beiträgen einer gleichnamigen Tagung im Jahre 2001 hervorging und von Daniel Kah und Peter Scholz herausgegeben wurde. Ziel des Frankfurter Forschungsprogramms war die Untersuchung der antiken Wissenskultur, ihrer Rolle bei der Gestaltung der hellenistischen Kultur und deren Wirkung auf die römische Welt. Die Institution des Gymnasions war als repräsentative Fallstudie für beide Tagungen ausgewählt worden. Der vorliegende Band, der 2015 von Peter Scholz und Dirk Wiegandt herausgegeben wurde, umfasst eine Einleitung und elf Einzelstudien, neun davon von Verfassern mit einem althistorischen und/oder epigraphischen Hintergrund, und zwei von Archäologen. Folglich betrifft der größte Teil des Bandes Fragestellungen, die sich aus den Zeugnissen der schriftlichen Überlieferung ergeben. ...
In der neuen Reihe "Geschichte der Antike" des C.H. Beck Verlags, die einem breiteren Publikum eine Einführung in die Großepochen der Alten Geschichte geben will, widmet sich Wolfgang Blösel der römischen Republik, zu der Beck bereits einen kürzeren Überblick von Martin Jehne und einen ausführlicheren von Klaus Bringmann publiziert hat. Martin Jehne, Die römische Republik. Von der Gründung bis Caesar, 3. durchgesehene Aufl., München 2013 (1. Aufl. 2006) und Klaus Bringmann, Geschichte der römischen Republik. Von den Anfängen bis Augustus, 2. durchgesehene Aufl., München 2010 (1. Aufl. 2002). Blösel gelingt es aber, innerhalb einer weithin traditionellen, sehr ereignisgeschichtlich orientierten Erzählung neue Deutungen für den Aufstieg und Fall der Republik zu präsentieren, die auf seinen Spezialstudien beruhen und neueste Literatur mit einbeziehen. ...
Sowohl in den 1920er als auch in den 1960er und 70er Jahren waren materialistische bzw. marxistische Ansätze Bestandteil des Rechtsdiskurses. Diese Orientierung ist seitdem etwas aus dem Blick geraten. Man kann vielleicht sogar sagen, dass die materialistischen Ansätze auf dem Terrain der Rechtstheorie eher marginalisiert sind. Im Laufe der letzten Jahre hat Sonja Buckel in einer Reihe von Artikeln1 und in ihrem vor kurzem erschienenen Buch Subjektivierung und Kohäsion. Zur Rekonstruktion einer materialistischen Theorie des Rechts diese Fehlentwicklung in der Rechtstheorie zu korrigieren versucht. Die theoretische Originalität und soziologische Umsicht, mit der Sonja Buckel auf diesem Weg die weitreichenden Ansprüche einer materialistischen Rechtstheorie zu erneuern versucht, wären sicherlich schon Grund genug, sich mit ihrer materialistischen Theorie des Rechts gründlich auseinander zu setzen. Immerhin gelingt es ihr, im Gang ihrer Argumentation auch den Stellenwert einer Reihe von zeitgenössischen Ansätzen der politischen und rechtlichen Theorie im Rahmen der sozialen Auseinandersetzungen zu klären, von denen zumindest die europäischen Länder heute geprägt sind. Aber ein weiterer und für mich wesentlicher Grund, ihre Überlegungen mit großer Sorgfalt zu prüfen, ergibt sich aus der speziellen These, die sie als einen Leitfaden ihrem Erneuerungsversuch zugrunde legt: Es ist ihre Überzeugung, dass das Recht sich in kapitalistischen Gesellschaften seine "gespenstige Eigenwelt" (9) erzeugt. Die Faszination ihrer Theorie besteht gerade im Versuch, diese "phantasmagorischen" bzw. verdinglicht-verdinglichenden Prozesse des Rechts, seine Verselbständigung also, einer sowohl theoretischen als empirischen Analyse zu unterziehen. ...
In der Konstitutionsphase des zivilrechtlichen Persönlichkeitsrechtsschutzes in Deutschland Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts hatte Bernhard Grossfeld, rechtsvergleichend durch französisches und anglo-amerikanisches Recht inspiriert, sich 1960 für eine Renaissance der Privatstrafe als Sanktion für Persönlichkeitsrechtsverletzungen ausgesprochen. In ihrer Kieler Habilitation aus dem Jahre 2002 widmet sich Ina Ebert diesem Thema erneut und unternimmt nunmehr eine rechtshistorische Legitimation für die Wiedereinführung des Rechtsinstituts der Privatstrafe bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen. Sie zielt gewissermaßen auf die Wiederherstellung des Zustandes des späten gemeinen Rechts vor dem von ihr kritisierten deutschen Sonderweg des 19. Jahrhunderts. Dieser Zustand war durch das Vorhandensein von drei Sanktionen gekennzeichnet: (1) ziviler Schadensausgleich für Vermögensund Nichtvermögensschäden (gemeinrechtliche actio legis Aquiliae), (2) Privatstrafe für Ehrverletzungen (actio iniuriarum) und (3) öffentliche (Kriminal-)Strafe. ...
Die Allgegenwärtigkeit des Begriffs der Menschenrechte in politischen Kontexten kann leicht übersehen lassen, dass der rechtsphilosophische, rechtstheoretische und praktische Streit um die genaue Bestimmung, Begründung und Kodifizierung dieser »Rechte« alles andere als beigelegt ist. Der notorische Dissens zwischen Philosophen und Juristinnen und sogar Theologen steht in einem seltsamen Missverhältnis zur Selbstverständlichkeit, mit der politische Akteure die Notwendigkeit dieser oder jener außenpolitischen Handlung durch Bezug auf die Menschenrechte rechtfertigen. ...
Der Wandel von Perspektiven, Deutungen, Methoden und Themen bestimmt den wissenschaftlichen Fortschritt. Deshalb zerbricht die Vorstellung sicheren Wissens über die Generationen hinweg, so dass sich die Vergangenheit in den historisch arbeitenden Kulturwissenschaften in immer neuen Methodenwenden verändert. Der moderne Mut, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aktiv in die Subjektivität ihrer Perspektivierungen einzubauen, bringt die steuernde Macht des Erkenntnisinteresses und seiner Veränderungen vermehrt zur Geltung. Dabei geraten selbst traditionelle Kontrollinstanzen der historisch-kritischen Hermeneutik in die Debatte. Während heute die einen das Vetorecht der Quellen beschwören, stellen andere die beständig verformende Kraft des Gedächtnisses und damit die Relativität punktueller schriftlicher Fixierungen heraus. ...