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Otto Hufnagel war bis vor dem Ersten Weltkrieg ein typischer wilhelminischer Bildungsbürger. Er wurde 1885 als Sohn eines protestantischen Frankfurter Volksschullehrers und Veteranen des Kriegs von 1870 geboren, legte 1905 das Abitur ab und studierte in Heidelberg und Leipzig Geschichte, Deutsch und Latein. Während die kontroverse Bewertung seiner Dissertation zeigte, dass (nur) ein Teil der Leipziger Historiker in ihm ein wissenschaftliches Talent sah, waren auch die Skeptiker sicher, dass es sich bei Hufnagel Junior ebenfalls um einen vorbildlichen Lehrer handeln würde. Dieses Urteil bestätigte Hufnagel seit 1911 in der waldeckischen Hauptstadt Arolsen, wo er sich auch in der breiteren Öffentlichkeit der Residenzstadt hervortat: als glühender Bismarck-Verehrer, Marine-Apologet und Kriegsbefürworter. Das sollte sich erst ändern, als Hufnagel seit 1915 persönlich mit den Schrecken des Krieges konfrontiert wurde. Als er im Herbst 1918 in das einer relativ gemächlichen Revolution entgegenblickende Arolsen zurückkehrte, tat er dies als überzeugter Demokrat und Republikaner, der bald zu einer der führenden Persönlichkeiten der Waldeckschen DDP aufstieg. Als Mitglied des Landtages beschäftigte sich Hufnagel intensiv mit den besonderen Problemen der Waldeckschen Verfassung und ihrer Implikationen für eine Neuordnung der Beziehungen zwischen Bevölkerung, Fürst, Staat und Reich. Waldeck war 1866 von der preußischen Annexionswelle verschont geblieben, aber 1867 halb-freiwillig in die Rolle einer preußischen Dependance mit einem Monarch minderen Ranges gewechselt. Eine der beherrschenden Fragen der waldeckschen Landespolitik war daher - neben der Revolution - die Möglichkeit eines Anschlusses an Preußen (den Hufnagel befürwortete) und bereits vor 1926 die Frage nach dem Status des Vermögens eines Quasi-Monarchen (wo sich Hufnagel anspruchsvoll, aber kompromissbereit zeigte). Waldeck gehörte nach 1918 zunächst zu den deutschen Regionen, welche dem bürgerlichen Liberalismus besondere Möglichkeiten zu eröffnen schienen - dafür sprach bereits vor 1914 die Tatsache, dass Friedrich Naumann Reichstagsabgeordneter für Waldeck und Pyrmont gewesen war; nach dem Krieg kam das Wirken von ihrer Begeisterung für Kaiser und Reich abgekommenen Persönlichkeiten wie Hufnagel hinzu. Allerdings machte der weitere Verlauf der Ereignisse deutlich, dass auch in Waldeck der bürgerliche Liberalismus schwierigen Zeiten entgegenging. Zwar schien sich relativ lange die Chance zu bieten, alle liberalen Kräfte in einer Partei zu vereinigen oder zumindest im Landtag zu einer Fraktion zu schmieden, aber diese Hoffnung erwies sich als trügerisch. Die DDP wurde alsbald - trotz des politischen Geschicks Hufnagels - im bürgerlichen Lager von rechts überholt, wobei die Tatsache, dass in Menks Darstellung die liberale Haltung zu sozialen Fragen stark in den Hintergrund tritt, eine mögliche Begründung erahnen lässt. Die Taktik der bürgerlichen Rechten, Hufnagel öffentlich an den Pranger zu stellen, etwa durch Verweis auf die Folgen seiner politischen Aktivität für Unterrichtsausfall an seiner Schule oder durch Berichte über vermeintliche Verfehlungen im Landtag (beispielsweise Protokollfälschung) endete in einer Prozesskette, aus der Hufnagel zwar siegreich hervorging, die ihn aber zermürbte und 1924 dazu bewog, ins liberale Frankfurt überzusiedeln. Folgt man dem Urteil Gerhard Menks, so wurde Waldeck sehr bald ein weiterer Staat, in dem eine demokratische politische Kultur bereits vor 1933 von innen ausgehöhlt wurde und wo für kritische Geister weniger Platz blieb als für Demagogen, die nach 1933 erfolgreich blieben. In Frankfurt betätigte sich Hufnagel vorwiegend als Lehrer und Wanderer, kaum noch als Politiker und politischer Publizist. Insofern bedeutete die Machtergreifung 1933 zwar eine Zäsur, aber keine unmittelbare politische Bedrohung; eine Entlassung des wenig exponierten Lehrers stand offenbar ebensowenig zur Debatte wie ernsthafte Sanktionen. Die Versetzung innerhalb Frankfurts konnte als Strafe oder Belohnung gedeutet werden. 1944 zog Hufnagel mit seiner Schule nach Westerburg, um den Folgen des Bombenkrieges zu entgehen, starb aber noch im selben Jahr. Hufnagel war gewiss kein Politiker der ersten Reihe. Der vorliegenden Biografie gelingt es aber, anhand der detaillierten Betrachtung einer - zugegebenermaßen spröden - Person ein liberales Milieu der 'Provinz', das entscheidend von Lehrern geprägt wurde, neu und in vielfacher Hinsicht erstmals zu beleuchten. Dies geschieht auf der Grundlage akribischer Recherchen, die durch den beinahe kompletten Verlust des Nachlasses Hufnagels erschwert wurden, sowie umfassender Kenntnisse der Landesgeschichte, die immer in den breiteren historischen Kontext eingebettet wird. Ein 776 Seiten umfassender Dokumentenanhang enthält publizierte Quellen zu Hufnagel, zur Geschichte der waldeckschen und Frankfurter DDP, zur Revolution von 1918 und zur allgemeinen Regionalgeschichte des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Während der Rezensent sich eine deutlich rigorosere Straffung des Manuskripts gewünscht hätte, das zu ausladenden, sich im Rahmen der Darstellung mehrfach wiederholenden Schilderungen neigt, so werden andere Nutzer des Buches die Tatsache begrüßen, dass der Autor auch mit der allgemeinen Historiografie der Epoche nicht vertraute Leserinnen und Leser an jeder Stelle in den allgemeinen Kontext seiner Betrachtungen einführt. Es handelt sich insgesamt um ein Produkt einer gründlichen, leidenschaftlichen Forschungsarbeit, welche die Geschichte des Weimarer Liberalismus um eine biografische und regionalgeschichtliche Dimension erweitert und damit die Frage nach den Gründen für sein Scheitern der Beantwortung ein Stück näher bringt. Redaktionelle Betreuung: Nils Freytag
Douglas G. Morris's excellent book poses a broad question: what happened to the rule of law in Germany after 1919? How severe was the collapse of judicial impartiality and competence? Can one doubt whether the Weimar Republic ever qualified as a republic, "if a necessary part of a republic is a judiciary committed to democratic ideals and impartial justice" (p. 1)? That there was a collapse in judicial impartiality is hardly in doubt. As early as 1922, Emil Julius Gumbel provided statistical proof: between late 1918 and summer 1922, a total of 354 political murders committed by perpetrators affiliated with the political right had been punished with one life sentence plus 90 years and 2 months imprisonment; in 326 cases, there had been no punishment at all. By contrast, the 22 murders committed by left-wing sympathizers in the same period had been punished with 10 death sentences, 3 life sentences and 248 years and 9 months imprisonment; only 4 perpetrators escaped (p. 1). To be sure, this statistic may indicate more about the political leanings of police officials and prosecutors investigating cases than of judges who rule on the evidence put before them, but the divergence in sentencing remains remarkable. Morris reformulates this insight to ask how Germany's judges, trained to apply the law in an impartial and technically correct manner, could become raving political partisans willing to twist the law in favor of a particular political position. He does not seek to provide a comprehensive answer, but focuses on cases which involved Max Hirschberg, a Jewish attorney who practiced in Munich from 1911 to 1934, when he escaped to Italy. Hirschberg moved on to the United States in 1939, where he died in 1964. Hirschberg was not only involved in the major political trials of the day in 1920s and early 1930s Munich, but also developed a systematic interest in judicial error, which culminated in a major work on Das Fehlurteil im Strafprozeß, published in 1960. Morris is interested primarily in how trials were conducted. This in-depth analysis is divided into three blocks: political trials in 1922 and 1925, when Germany's war guilt and the causes of defeat were treated in libel suits and criminal prosecutions; non-political cases in which Hirschberg succeeded in having judicial errors reversed; finally, political cases linked with the rise of the Nazi party from 1926. In each case, Morris offers a clear exposition of the facts and substantial as well as legal issues in the case, a step-by-step analysis of trials and appeals processes, and an evaluation of the outcome. The main lines of argument which emerge from these analyses are, first, that some problems were peculiar to Bavaria. The main issue was the existence of people's courts, introduced during Bavaria's brief socialist phase to provide swift justice. The people's courts did not just increase judges' freedom of action by abolishing procedural safeguards, but also protected judges from professional scrutiny and criticism because there were to be no appeals. One of Hirschberg's major victories in the cases of the early 1920s was successful lobbying for their reintroduction. Second, Munich's judges may have been particularly traumatized by the brief revolutionary episode (and by the political preferences of Bavaria's ministries, which were systematically anti-Republican); moreover, they were called upon to decide a stream of political trials, some of which--notably libel trials--effectively sought the impossible, namely a definitive judicial ruling on the validity of a certain interpretation of history or a personal political position. Third, in spite of significant personal variations in style and substance, even after the reintroduction of appeals judges tended to use their freedom of maneuver in an anti-left-wing (which implicitly meant pro-National Socialist) sense. However, until 1933, this state of affairs did not challenge the ties which bound the profession. The Bavarian ministry of justice failed in its attempts to have Hirschberg disbarred in the early 1920s. Even when Hirschberg was released from so-called protective custody in 1934, most of his colleagues rallied round the decorated war veteran, allowing him to retain an access to the court building that was denied most Jewish attorneys. Finally, the problems of the justice system affected non-political cases as well, which may have deepened distrust of Republican institutions. The meticulously researched book benefits immensely from its author's experience as a practicing attorney familiar with courtroom drama and legal technicalities, which are vividly recreated and succinctly explained. The focus on Hirschberg illustrates both the immense obstacles a defense attorney faced and the victories an exceptionally gifted attorney could still win. Even though the courtroom perspective disregards some of the motivations which have their roots outside court--be it the social structure of and career perspectives in Munich's legal profession or political pressures on judges--these are not the main focus of Morris's research. Finally, one could argue about the optimist portrayal of pre-1918 German justice in politically sensitive cases. The clear focus on Weimar trials ensures that the book is no biography. Although Morris includes brief chapters on Hirschberg's youth and his years in exile, not much information is offered on Hirschberg's private life, the economics of his legal practice or his time in exile. But this decision does not diminish Morris's achievement in providing a fascinating insight into the workings of Weimar justice.
Jonathan Parry kann man als Biografen des englischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts beschreiben, und zwar als einen Biografen, der sich seinem Gegenstand nicht chronologisch, sondern systematisch nähert. Das vorliegende Buch bildet den dritten Teil einer Trilogie, die mit einer Studie über Liberalismus und Religion begann und sich mit einer viel beachteten Diskussion von Ideologie und Praxis des regierenden Liberalismus fortsetzte. [1]. In seinem zweiten Werk hatte Parry die Vermutung geäußert, dass der britische Liberalismus zwar "superficially generous" gewirkt habe, im Kern aber "profoundly chauvinistic" gewesen sei. [2] In gewisser Weise ist sein drittes Buch der Ausführung und Differenzierung dieser These anhand außenpolitischer Debatten gewidmet. Wie es sich bei der Fortsetzung einer Reihe geziemt, die ein komplexes Argument präsentiert, beginnt das Werk mit einer ausführlichen Rekapitulation der ersten beiden 'Folgen' in zwei einleitenden Kapiteln, die der liberalen Verfassungsvorstellung einerseits, der Verbindung zwischen der spezifisch liberalen Vorstellung eines moralischen öffentlichen Lebens, einer britischen nationalen Identität und europäisch-globalen Mission andererseits gewidmet sind. Der Einleitungsmodus setzt sich zunächst im dritten Kapitel fort, das anhand einer Diskussion der in England behandelten außenpolitischen Themen der 1830er- und 1840er-Jahre den Rahmen der Debatte absteckt: dabei stehen zunächst nicht außenpolitische Fragen (wie etwa die Orientkrise) im Mittelpunkt, sondern prinzipielle Probleme der Wechselwirkung zwischen äußerer Politik und nationalen Angelegenheiten, wobei Irland und der Katholizismus, Freihandel, die Person Palmerston und Nonkonformismus breiten Raum einnehmen. Die folgenden vier Kapitel behandeln dann jeweils anhand entscheidender Episoden (der Revolution von 1848, der italienischen Nationalstaatsgründung, des deutsch-französischen Krieges und der orientalischen Frage) Kontinuitäten und Brüche, Schwerpunktsetzungen und Veränderungen des liberalen Diskurses. Dabei zeigt Parry, wie drei Themenkreise ineinander griffen: die außen- und verteidigungspolitische Haltung Großbritanniens, die in liberaler Sicht dazu dienen sollte, ein nach englischem Muster geformtes, durch Kern-Werte wie Freiheit und staatliche Zurückhaltung, aber auch Protestantismus und Moral geprägtes Verfassungssystem weltweit zu fördern; die innenpolitische Thematik der Ausgestaltung der Erziehung (protestantischer) britisch / englischer Staatsbürger vor dem Hintergrund internationaler (Bildungs-)Konkurrenz; schließlich die Folgen eventueller auswärtiger Engagements für das britische Staatsgefüge, vor allem für die Beziehung zwischen Monarchie, Regierung, Parlament und Öffentlichkeit. Parry argumentiert überzeugend, dass eine innenpolitische Interpretation des Siegeszugs des britischen Liberalismus zu kurz greife. Außenpolitische Debatten (oder besser gesagt, deren innenpolitische Deutung und Instrumentalisierung) hätten eine entscheidende Rolle in der breiteren Öffentlichkeit gespielt, und auch in diesem Bereich sei es Liberalen (fast) immer gelungen, überzeugendere Antworten zu bieten als ihre konservativen Gegner. Die große Ausnahme in dieser Hinsicht war der deutsch-französische Krieg von 1870; hier führte liberale außenpolitische Zurückhaltung zu einer entscheidenden Wahlniederlage. Ähnliches galt für das Dilemma der orientalischen und ägyptischen Verwicklungen der 1880er-Jahre, wo die Kritik allerdings weniger einhellig ausfiel und mit gewissen Auflösungserscheinungen der liberalen Hegemonie, die ihren Ausgang in der Innen- und Irlandpolitik nahmen, zusammenfiel. Das Buch, ein Werk stupender Gelehrsamkeit, das auf jeder Seite von einer souveränen Kenntnis der Schriften bekannter und weniger bekannter Autoren zeugt, lässt sich in unterschiedlichen Perspektiven lesen. Zunächst einmal bietet es den letzten, am weitesten ausgereiften Stand von Parrys Überlegungen zum spezifischen Charakter des britischen Liberalismus in seiner hegemonialen Phase. Weiterhin bietet es eine exemplarische Fallstudie zur Interaktion zwischen außenpolitischer Konkurrenzwahrnehmung und innenpolitischen Initiativen im 19. Jahrhundert. Schließlich bietet das Buch einen Leitfaden durch die britische Außenpolitik und ihre Motivation zwischen 1830 und 1890. Man sagt Biografen gelegentlich nach, dass sie mit der Zeit Eigenarten ihrer Subjekte übernehmen. Parry mag der Versuchung insoweit erlegen sein, als er sein Thema ganz im Rahmen des liberalen Paradigmas angeht, das er beschreibt: mit einem trotz des potenziell internationalen Themas klaren Fokus auf England (der sich in der beinahe exklusiven Rezeption englischsprachiger Forschung spiegelt) und mittels einer pragmatischen, flexiblen, aber nicht immer trennscharfen Definition dessen, was als liberale (im Gegensatz zu konservativen oder radikalen) Äußerungen gewertet werden kann. Das ist eine potenzielle Schwäche, zugleich aber auch eine potenzielle Stärke des Buches, denn nur so konnte ein zentrales Alleinstellungsmerkmal des britischen Liberalismus adäquat abgebildet werden. Parry macht deutlich, dass Chauvinismus im britischen Fall eine Verbindung zwischen Überlegenheitsgefühl und potenzieller Weltoffenheit bedeutete; ebenso, dass die unpräzisen Parteigrenzen es ermöglichten, gerade im Bereich der Außenpolitik eine Anziehungskraft zu entfalten, die über den Kernbereich einer im engeren Sinne liberalen Klientel weit hinausreichen konnte. Unabhängig davon, aus welcher Perspektive man es in der Hand nimmt: dies ist ein sehr lesenswertes, zudem sehr angenehm geschriebenes Buch. Anmerkungen: [1] Jonathan Parry: Democracy and Religion: Gladstone and the Liberal Party, Cambridge 1986. [2] Jonathan Parry: The Rise and Fall of Liberal Government in Victorian Britain, New Haven 1993. [3] Ebd., 16. Redaktionelle Betreuung: Peter Helmberger
Die politische Geschichte der Stadt London im 19. Jahrhundert ist in den letzten Jahren nicht besonders intensiv behandelt worden. Ähnlich wie die Geschichten anderer Metropolen in der Moderne legen neuere Überblicke und Spezialstudien [1] für diese Jahre den Schwerpunkt auf eine kultur- und gesellschaftshistorische Perspektive, die sich mit dem Ausbau städtischer Infrastruktur, der symbolischen Sprache bebauter Räume und der Stadterfahrung im weitesten Sinne beschäftigt. Das hat eine historiografische Lücke hinterlassen, zu deren Schließung der vorliegende Band einen gewichtigen Beitrag leistet. Die Politik Londons zu beschreiben setzt allerdings voraus, dass es gelingt, londonspezifische Strukturierungsprobleme zumindest in den Griff zu bekommen. Wie das englische politische System insgesamt, so war auch der politische Raum London durch eine gewisse Unübersichtlichkeit geprägt, die es schwer macht, eine politische Gesamtgeschichte zu identifizieren, geschweige denn, einfach so zu erzählen. Im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert zerfiel London in die Parlamentswahlkreise Westminster, City of London, Southwark und Middlesex; der Einfluss der Metropole strahlte allerdings auch nach Kent und Essex aus. Die Wahlrechtsreform von 1832 erweiterte die Zahl der Londoner Wahlkreise erheblich. Mit den Reformen der Lokalverwaltung Ende des 19. Jahrhunderts und dem weitestgehenden Übergang zu Ein-Mann-Wahlkreisen 1885 kamen neben den neuen Wahlbezirken eine Londoner Gesamtverwaltung, die Gemeinden innerhalb der Grenzen der Metropole (boroughs) und formal unabhängige Städte wie Walthamstow in Greater London hinzu, welche die bisherige Mischung aus Gemeindeverwaltung (vestries) und Gremien für spezifische Zwecke (vornehmlich das für die Infrastruktur zuständige Metropolitan Board of Works) ablösten. Jeder Wahlkreis und jede Institution der Lokalverwaltung hat eine eigene, komplexe Geschichte; gerade diese Vielfalt trug entscheidendes zur politischen Vitalität Londons bei und stellt daher auch eine unverzichtbare Facette des Gesamtbilds dar. Der Sammelband strebt vor diesem Hintergrund nicht an, eine politische Geschichte der Gesamtmetropole zu skizzieren, sondern liefert in zehn Artikeln, die von einer ausführlichen Einleitung und einem Schlusskapitel, in dem weitere Forschungsperspektiven skizziert werden, eingerahmt sind, erste methodische und inhaltliche Annährungen an zentrale Fragen, welche eine solche Gesamtgeschichte behandeln müsste. Ein großes Thema des Bandes sind die Eigenarten, der Aufstieg und der Niedergang des Londoner Radikalismus. Matthew McCormick argumentiert, dass es weniger Sinn mache, von einem kohärenten radikalen Programm zu sprechen, als von einer Rhetorik der "Unabhängigkeit", die sich (nur) in der Gegnerschaft gegenüber den Zumutungen des Staates überschnitt. David A. Campion widmet sich der Frage, wie die Metropolitan Police zu der relativ zivilen, auf Deeskalation von Konflikten eingestellte Polizeikraft werden konnte, als die sie sich im späteren 19. Jahrhundert zumeist präsentiert. Er stellt klar, dass dies zum Zeitpunkt der Gründung keineswegs feststand, sondern Folge der Untersuchung von Missbräuchen durch die parlamentarische und breitere Öffentlichkeit im Rahmen von zwei 1833 eingerichteten Untersuchungskommissionen war, welche die Polizei von eher autoritären Wurzeln aus liberalisierten. Drei Aufsätze beschäftigen sich mit der viel diskutierten Frage, ob und wenn ja warum der Londoner Radikalismus im Laufe des 19. Jahrhunderts an Unterstützung verlor. Ben Weinstein dokumentiert, dass das Russel'sche Sozialreformprogramm in London durchaus auf breite Sympathie stieß. Anthony Taylor präsentiert die andauernde Vitalität Chartistischer Vereine in London nach 1848, während David Nash ein Panorama säkularistischer Vereine entwirft. Es scheint also, dass ein abschließendes Urteil in dieser Frage noch weiterer Forschungen bedarf. Eine globalere Perspektive zeichnet die Beiträge von Detlev Mares und Marc Baer aus. Mares diskutiert die Beziehungen und Spannungen zwischen der liberal-radikalen "Opposition" in London und der Provinz. Dabei werden die Gründe für die Vitalität der Opposition in London besonders deutlich, die sich auf ein breites Publikum, eine vitale Presse und symbolische Orte wie die königlichen Parks stützen konnte. Diese Vormachtstellung wurde zwar in der Provinz gelegentlich kritisiert, aber im Allgemeinen doch anerkannt. Baers Beitrag schildert die Londoner Wende zum Konservatismus am Beispiel des Wahlkreises Westminster in einer längeren Perspektive, die gewisse konservative potenziale bereits in Paradoxien des Radikalismus um 1800 angelegt sieht. Die abschließenden Beiträge widmen sich dem Konservatismus, der London im späten 19. Jahrhundert anerkanntermaßen weitgehend dominierte. Marc Brodies Studie des konservativen Wahlerfolgs in Londoner "Slums" macht deutlich, dass die konservativen Basen im East End eher durch relativ großen Wohlstand als durch Armut gezeichnet waren, und dass religiöse Bindungen oft die entscheidende, allerdings in ihrer parteipolitischen Ausrichtung von Bezirk zu Bezirk variierende, Rolle spielten. Alex Windscheffel beschäftigt sich anhand konkreter Beispiele mit der Rolle des Empire für konservative Wahlerfolge in London. Während er die spannende Wahl nicht-weißer, nicht in England geborener Parlamentsmitglieder in Londoner Wahlkreisen relativ kurz darstellt, er handelt er ausführlich von Wahlniederlage und Wahlsieg des Abenteurers und Entdeckers Henry Morton Stanley in Lambeth, die zeigen, wie umstritten das imperialistische Projekt auch in der Hauptstadt des Imperiums blieb. Timothy Cooper schließlich richtet den Blick noch einmal über die Stadtgrenzen hinaus, wenn er die politische Ausrichtung einer typischen Boom-Vorstadt wie Walthamstow in den Blick nimmt. Insgesamt handelt es sich bei dem Band um eine Sammlung konziser Aufsätze zu präzisen Themen der Londoner Stadtgeschichte (und darüber hinaus), welche die thematische und methodische Richtung - wie die entsprechenden Probleme - einer künftigen Londoner Politikgeschichte aufzeigen. Anmerkung: [1] Vgl. Francis Sheppard: London: A History. Oxford 1998; Peter Ackroyd: London: The Biography, London 2001; Jonathan Schneer: London 1900: The Imperial Metropolis, New Haven 2001. Redaktionelle Betreuung: Peter Helmberger
John Wilkes war eine der aufsehenerregendsten Figuren der englischen politischen Geschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts. 1725 wurde er als Sohn eines vom Nonkonformismus zum Anglikanismus konvertierten Londoner Unternehmers geboren. Es ist bezeichnend für das Streben der Familie nach sozialem Aufstieg, dass er zum Rechtsanwalt ausgebildet werden sollte; diesem Ziel diente auch ein Studienaufenthalt in Leiden. 1747 erwarb er durch die Heirat mit Mary Mead neben verstreutem Landbesitz ein Gut in Aylesbury, das ihm den Weg ins Parlament erleichterte, allerdings nicht verhindern konnte, dass er sich im Zuge des Wahlkampfs hoch verschuldete. Politisch stand er zunächst dem Kreis um William Pitt d. Ä. nahe, was dazu führte, dass er durch den Regierungswechsel, der Georgs III. Krönung folgte, Aussicht auf politische Ämter und das sich daraus ergebende Einkommen verlor. Stattdessen stellte er seine spitze Feder in den Dienst der Opposition, und seine Konflikte mit Regierung und Parlamentsmehrheit wurden bald zur Prinzipienfrage. Im Frühjahr 1763 wurde er wegen eines persönlichen Angriffs auf den ersten Minister des Königs, dem er ein Verhältnis mit der Königinmutter andichtete, erstmals verhaftet - was einen illegalen Eingriff in die parlamentarische Immunität darstellte, der Wilkes zunächst hohen Schadensersatz versprach. Im Herbst 1763 folgte allerdings eine formgerechte Anklage wegen Blasphemie, die sich auf einen pornographischen Text, den "Essay on Woman", bezog. Da seine Position aussichtslos schien, floh Wilkes nach Frankreich; seine Flucht zog die Ächtung nach sich, was wiederum bedeutete, dass er seine Schadensersatz-Forderungen vor Gericht nicht mehr geltend machen konnte. In Paris lebte Wilkes vor allem von mehr oder weniger geheimen Zuwendungen der wohlhabenden Mitglieder seiner 'Partei'. Die wachsende Schuldenlast und das Gefühl, von seinen Gönnern nicht hinreichend unterstützt zu werden, brachten Wilkes 1768 zurück nach England. Der Versuch, sich in den engeren Rat der Stadt London wählen zu lassen, scheiterte; allerdings gelang es Wilkes, sich - auch aus dem Gefängnis - drei Mal in Folge für den Wahlkreis Middlesex im Parlament wählen zu lassen. Die Wahl wurde dreimal annulliert, beim letzten Mal erkannte das Unterhaus den unterlegenen Kandidaten als rechtmäßig gewählt an. Vom unappetitlichen Propagandisten wurde Wilkes so zum Symbol für den Widerstand gegen die politische Willkürherrschaft einer parlamentarischen Oligarchie, die danach strebte, die Zusammensetzung des Parlaments durch Kooptation zu bestimmen. Die Kritik von Wilkes' Anhängern deckte sich in diesem Punkt in mehrfacher Hinsicht mit der Begründung amerikanischer Forderungen nach politischer Unabhängigkeit; ganz weitreichende Interpretationen weisen ihm sogar eine entscheidende Rolle für den Ausbruch der amerikanischen Revolution zu. [1] Wilkes wurde zum Liebling eines radikalen Londoner Kleinbürgertums. Er wurde Londoner Stadtrat, Bürgermeister, Kämmerer und setzte durch juristische Winkelzüge 1774 das Recht durch, über die Debatten eines Parlaments öffentlich berichten zu dürfen, dem er seit 1782 wieder angehörte. Die letzten Jahre seines Lebens sind weniger aufregend und weniger bekannt. In vielerlei Hinsicht wurde Wilkes zum gemäßigten Konservativen, der die Französische Revolution kritisch betrachtete und sogar ein einigermaßen vertrautes Verhältnis zu dem - allerdings nicht mehr ganz bei Verstand befindlichen - Georg III. aufbaute. Von den radikalen Forderungen der 1770er Jahre blieb vor allem die Unterstützung der religiösen Toleranz übrig. Wilkes starb 1797. Das Leben von John Wilkes ist seit George Rudés klassischer Darstellung der Gegenstand einer ganzen Reihe von Monographien gewesen; eine weitere ist angekündigt. [2] Vor diesem Hintergrund geht es Sainsbury weniger darum, noch eine Biographie zu schreiben, sondern Paradoxien der öffentlichen Wirkung von Wilkes zu entschlüsseln. Er fragt etwa danach, wie ein chronisch zahlungsunfähiger und -unwilliger Patron ausgerechnet zum Idol der kaufmännisch orientierten Londoner Bevölkerung werden konnte oder welche Rolle Wilkes sexuelle Ausschreitungen für seine Popularität spielten. Daraus ergibt sich der thematische Aufbau des Buches, das in sechs Teile gegliedert ist: Familie, Ehrgeiz, Sex, Religion, Klasse, Geld. Wilkes erscheint in (fast) allen diesen Bereichen als Grenzverletzer, dem es gelang, seine ungewöhnlichen Verhaltensweisen (Trennung von seiner Frau; aristokratische Ambitionen und Volksnähe) als kalkulierte Provokation gegenüber 'denen da oben' zu präsentieren. Eine solche Strategie war in vielem prekär, da sie auf subtilen Bedeutungsunterschieden beruhte. So versuchten Wilkes' Verteidiger seine sexuellen Ausschweifungen als Zeichen einer Potenz darzustellen, die sich von den verweichlichten, bisexuellen Praktiken einer perversen Aristokratie abhob - obgleich Wilkes diesen später von ihm kritisierten Zirkeln angehört hatte. Auf einer ähnlich spitzfindigen Argumentation beruhte die Unterscheidung zwischen den unvermeidbaren Schulden einer politischen Figur wie Wilkes und der Kaufleute bedrückenden Zahlungsverweigerung sozialer Eliten. Sainsburys sehr lesenswerte Interpretation der vielen Gesichter des John Wilkes beruht auf einer außerordentlichen Kenntnis der Briefe, Flugschriften und Karikaturen der Zeit. Was ihm allerdings auch nicht gelingt, ist, die Jahre nach 1774 stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Als es in der Öffentlichkeit Still um Wilkes wurde, verlor auch sein öffentliches Bild offenbar seine Konturen. Anmerkungen: [1] James Lander: A Tale of Two Hoaxes in Britain and France in 1775, in: Historical Journal 49, 2006, 995-1024. [2] Vgl. etwa George Rudé: Wilkes and Liberty: A Social Study of 1763 to 1774. Oxford 1962; Peter D. G. Thomas: John Wilkes: A Friend to Liberty. Oxford 1996; Arthur H. Cash: John Wilkes: The Scandalous Father of Modern Liberty. New Haven 2006.
Seit einiger Zeit hat sich herumgesprochen, daß sich Feste und Feiern außerordentlich gut für die Untersuchung von Grundwerten einer Gesellschaft eignen. In der Wiederholung bestimmter Riten einerseits, in der bewußten und betonten Abweichung von den normalen Verhaltensmustern des Alltags andererseits treten Konsens und Spannungen konzentriert zutage. Der von Karin Friedrich herausgegebene Sammelband zur Festkultur in Deutschland und Europa, der auf eine Tagung der German History Society, die 1997 in London stattfand, zurückgeht, ordnet sich daher in eine inzwischen recht umfassende Literatur zu einzelnen Regionen oder Epochen ein. Der geographische und thematische Rahmen des Bandes ist weit gespannt. Vertreten sind Wahlfeste im Burgund des 16. Jahrhunderts (Mack P. Holt) und die dortigen Weinfeste in den 1990er Jahren (Marion Demossier); Jubiläumsfeierlichkeiten im Rußland Zar Peters I. (Lindsey Hughes), ungarische Nationalfeierlichkeiten nach 1945 (Árpád v. Klimó) und die Begehung der Reichsverfassungstage im Berlin der Zwischenkriegszeit (Pamela Sweet). Ebenso stark variiert der methodische Zugriff der Autorinnen und Autoren. Während sich Demossier auf ein Weinfest im Jahr 1991 konzentriert, setzt sich etwa James M. Brophy mit die Politisierung traditioneller Festkulturen im deutschen Vormärz insgesamt auseinander. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Betrachtung von regelmäßig über längere Zeiträume wiederholten Festen--außer dem bereits genannten gilt dies etwa für den Beitrag Thomas Biskups über herzogliche Hochzeitsfeiern in Braunschweig zwischen 1760 und 1800 oder den von Corey Ross über Weihnachtsfeiern in Drittem Reich und DDR. Weniger stark ins Gewicht fallen dagegen einmalige Jubiläumsfeierlichkeiten, etwa das 1000. Jubiläum der Ankunft der Magyaren in Ungarn 1896 (Tom Barcsay) oder die Hundertjahrfeier der Völkerschlacht bei Leipzig 1913 (Ute Schneider), an denen langfristige politische Entwicklungslinien weniger deutlich werden. Alle Beiträge beschäftigen sich hauptsächlich mit der politischen Funktion von Festen. Dies wird bereits an der Darstellung der Ereignisse selbst deutlich, die sich auf den politischen Kern konzentriert und der Versuchung der bloßen Aneinanderreihung von Details widersteht. Im Mittelpunkt steht die Frage nach Macht, die in Festen zum Ausdruck kommt. Zwar taucht der Begriff Macht nur in der Überschrift einer der drei Abschnitte des Buches explizit auf, aber bei den beiden anderen Themen--monarchische, dynastische und Hoffeste sowie miltärische, nationale und patriotische Feiern--spielt Macht ebenfalls eine zentrale Rolle. Die Essays spüren den Spannungen nach, die von Festen verdeckt oder an die Oberfläche getrieben wurden; sie untersuchen, in wie weit es dem Staat oder der Obrigkeit zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten gelang, traditionale Festkulturen nach ihren Vorstellungen umzugestalten; und sie fragen nach dem Einfluß betont politischer Feste auf die nationale Kultur. Die Herausgeberin betont, daß die europäische Perspektive gewählt wurde, um die bislang allzu enge Konzentration auf die Sonderwegsdebatte, die für einen Großteil der deutschen Festforschung charakteristisch gewesen sei, zu überwinden, indem konkret nach dem Verhältnis deutscher Besonderheiten und europäischer Gemeinsamkeiten gefragt wird. Das überzeugt nicht ganz, denn die Auswahl der europäischen Beispiele erscheint für einen systematischen Vergleich zu beliebig. Während deutsche Feste von der frühen Neuzeit bis zum zwanzigsten Jahrhundert wenn nicht vollständig, so doch in durchaus nachvollziehbarer repräsentativer Auswahl in den Blick genommen werden (mit einem deutlichen Schwerpunkt auf dem 19. und 20. Jahrhundert), finden sich für das übrige "Europa" (das übrigens aus Frankreich, Rußland und Ungarn besteht) nur wenige Beispiele, die zudem--außer in den explizit komparativen Beiträgen von Helen Watanabe O'Kelly über Turniere in Frankreich und Deutschland und von Jakob Vogel über Militärfeiern in beiden Ländern--keine direkte deutsche Entsprechung haben: Einen Beitrag über deutsche Wein- oder Bierfeste in den 1990er Jahren gibt es beispielsweise nicht. Dies muß man lediglich bemerken, um keine falschen Erwartungen zu wecken, denn ein solcher Vergleich ist in einem Sammelband, der nicht Überblicksdarstellungen über nationale Festkulturen enthält, sondern einzelne Beispiele behandelt, schlicht nicht zu leisten. Die Stärken dieses Buches liegen daher an anderer Stelle: in der Qualität der allesamt hervorragend gelungenen Beiträge und in dem Überblick über die methodische Vielfalt der politisch orientierten Festforschung.
Celia Applegates neues Buch erzählt die Vorgeschichte eines überdeterminierten Ereignisses: der Aufführung einer gekürzten Version von J. S. Bachs Matthäus-Passion in Berlin 1829. Das Ereignis hatte viele (mögliche) Bedeutungen. Biografisch markierte es den Durchbruch Felix Mendelssohn Bartholdys als ernsthafter Akteur auf der Berliner, deutschen (und internationalen?) musikalischen Bühne. Musikalisch brachte es die Wiederentdeckung Bachs als Vokalkomponist, auf die eine bis 1833 andauernde Aufführungswelle und Neueditionen folgten. Allgemeinhistorisch könnte man argumentieren, dass Bach 1829 zum 'deutschen Erinnerungsort' wurde, der künftig eine Ikone des deutschen Kulturnationalismus, in dem die Musik bekanntlich eine Schlüsselrolle spielte, darstellte. Applegate geht es dagegen vorwiegend darum, 1829 als Endpunkt darzustellen: die Aufführung brauchte "einen Saal, eine Partitur, Sänger, Instrumentalisten, einen Dirigenten, ein Publikum" (173) - warum kamen die ausgerechnet 1829 zusammen? Sie schildert fünf Entwicklungsstränge, die in Berlin zusammenliefen. Mendelssohn Bartholdy konnte sich durch das relativ risikofreie Experiment einer Aufführung historischer Musik 1829 - nach einer gescheiterten Opernpremiere, einer Reise nach Paris und einer Wanderung durch Deutschland - in einer besonderen Weise präsentieren: als Experte für nationale, respektable, religiöse Musik. Letztlich bleibt aber auch nach Applegates Recherchen offen, welchen genauen Anteil an der Konzertplanung Mendelssohn, Carl Friedrich Zelter und Eduard Devrient hatten. Zweiter Punkt: die allmähliche Erhebung der Musik von einer Quelle bloßer, schwer analysierbarer und national unspezifischer Unterhaltung zu einer ästhetischen Form des Ausdrucks, der Kommunikation und Artikulation nationaler Besonderheit fand in philosophischen Debatten vor allem um und nach 1800 statt. Drittens profitierte die Aufführung von einer wachsenden, protestantisch geprägten, nord- und mitteldeutschen Musikpresse. Vor allem Adolf Bernhard Marx und seine Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung veranstalteten zugunsten Bachs und des Berliner Konzerts eine regelrechte publicity-Kampagne, der es auch darum ging, dem Publikum die wahre Bedeutung des Stückes (und die 'richtige' emotionale Reaktion) nahe zu bringen. Der Chor, der in Berlin auftrat, bestand aus Männern und Frauen. Das war zwar musikalisch nicht völlig neu, aber bei Aufführungen von Kirchenmusik hatte es das bislang nicht gegeben. Entscheidend war, dass es ein besonderer Chor war: eine Ansammlung musikalischer Laien in der Berliner Singakademie, die selten öffentlich auftraten und somit in doppelter Hinsicht einen Gegenpol zu weiterhin unter einem gewissen Prostitutionsverdacht stehenden weiblichen 'Bühnen-Profis' bildeten. Schließlich hatte die mit den preußischen Kirchenwirren verbundene Krise der protestantischen Kirchenmusik Bach im Besonderen und Kirchenmusik im Allgemeinen für eine säkulare (oder doch zumindest säkularere) Verwendung freigegeben, die zugleich erlaubte, Bach konfessionell zu delokalisieren und auch für ein katholisches deutsches Publikum annehmbar zu machen. Das elegant geschriebene Buch liefert einen sehr bemerkens- und bedenkenswerten Beitrag zur Musik-, Kultur- und Nationalismusgeschichte des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts in Deutschland. Mäkeln kann man natürlich immer: etwa, indem man fragen würde, ob der Rückgriff auf Mack Walkers eher statisches Bild der deutschen Gesellschaft (vgl. 61, 67) wirklich besser zu Applegates Interpretation passt als neuere Portraits einer dynamischeren, mobileren Gesellschaft [1], oder ob nicht auch der Blick auf nationale Vorstellungen um 1800 ein weniger stärker hätte differenziert werden können. Das ändert freilich nichts daran, dass man selten ein so kluges, spannendes, konzises und wohlproportioniertes Buch lesen wird. Anmerkung: [1] Vgl. Theodore Ziolkowski: Berlin. Aufstieg einer Kulturmetropole um 1810, Stuttgart 2002; Helga Schultz: Das ehrbare Handwerk: Zunftleben im alten Berlin zur Zeit des Absolutismus, Weimar 1993; Lothar Gall: Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989.
Die Folgen der französischen Vorherrschaft in Westdeutschland um 1800 sind ganz unterschiedlich bewertet worden. Manchmal schien der Verlust ‚nationaler‘ Selbstbestimmung entscheidend, so dass sie als düstere Jahre der Unterdrückung beschrieben wurden; manchmal stand der Aufbruch im Vordergrund, den die Modernisierung von Recht, Verwaltung und Wirtschaft, das Ende korporativer Autonomien und der Zuwachs an individuellen Mobilitätschancen zu ermöglichen schien. Auch im Bildungsbereich tritt beides vor Augen. Der Ersatz der ‚alten‘ Universitäten auf dem linken Rheinufer in Mainz und Köln durch neue Schultypen, zunächst Zentralschule und, in Köln, Sekundärschule, später durch preußische Gymnasien, ging mit zukunftsweisenden Reformen des Lehrplans und dem partiellen Abbau von Standesschranken einher. Zudem verzichteten die französischen Behörden auf die Verstaatlichung des bislang für die Bildung vorgesehenen Vermögens, und ermöglichten somit die Konsolidierung einer in Köln bis heute selbständigen Stiftung. Diese Neuordnung war aber zugleich Teil einer besatzungsähnlichen Politik, welche die in mancherlei Hinsicht erreichte Öffnung des höheren Schulwesens wieder einschränkte. Sie führte in beiden Städten zu vielen Jahren, in denen die Bürgerschaft auf den Komfort und das Prestige einer eigenen Universität verzichten musste: in Köln war das bis nach dem Ersten, in Mainz bis nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall. ...
Hans von Hentig war ein impulsiver Abenteurer mit wenig Respekt vor Autorität. Und er war ein extrem schreibfreudiger Wissenschaftler, der zu den Begründern einer modernen, durch die Verbindung juristischer und medizinisch-psychologischer Kenntnisse und Zugänge bestimmten Kriminologie gehörte. Hans von Hentig wurde 1887 als Sohn des Rechtsanwalts Otto Hentig geboren. Dieser hatte zunächst in Berlin praktiziert, bevor er als Spezialist für Wirtschaftsrecht 1893 zum Verwalter der Güter Karl Egon IV. zu Fürstenberg und 1900 zum Staatsminister des Herzogtums Sachsen Coburg und Gotha wurde; letzteres Amt brachte der Familie die Nobilitierung ein. ...
[Nachruf] Großer Historiker mit breiter Wirkung Lothar Gall * 3. November 1937 † 22. Mai 2024
(2024)
Irgendwann ist jede Revolution zu Ende. An die Stelle revolutionärer Unordnung tritt eine neue Ordnung. Wann das genau passiert, ist nicht einfach festzustellen. Das liegt nicht nur daran, dass die Forschung sich viel mehr für die Ursachen und Anlässe von Revolutionen interessiert. Es liegt auch daran, wie Revolutionen enden.