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Vieldeutigkeit und Deutungsvielfalt : oder: das Problem der Beliebigkeit im Umgang mit Literatur
(1982)
In der Literaturtheorie hat sich in den letzten Jahren mehr und mehr die Auffassung ausgebreitet, daß ein spezifisches Merkmal literarischer Texte ihre Mehr- oder Vieldeutigkeit (Polyvalenz) sei. Welche Folgerungen sind daraus für den Literaturunterricht zu ziehen? Kann er überhaupt noch zu einem bestimmten Textverständnis hinführen wollen? Der Beitrag zeigt auf, daß Deutungsdifferenzen verschiedene Ursachen haben und keineswegs alle unauflösbar sind. Er plädiert zugleich dafür, an dem Ziel eines bestimmten Verstehens selbst dort festzuhalten, wo Texte mehrdeutig erscheinen, plädiert also für den Versuch einer Verständigung über sie und gegen das bloße Feststellen von Rezeptionsunterschieden.
Vom Recht des naiven und von der Notwendigkeit des historischen Verstehens literarischer Texte
(1982)
Die Szene ist originell, aber vielleicht nicht ganz unwahrscheinlich: Ein siebzehnjähriger Lehrling, der im finsteren Klo einer Gartenlaube nach Papier sucht, findet dort ein Reclamheft, benutzt einige Deck- und Nachblätter für den ortsüblichen Zweck und beginnt danach aus Langerweile das Buch zu lesen, das nun nichts weiter enthält als einen, als den Text. Es sind die Briefe eines gewissen Werther, die ihm so in die Hände kommen, aber der Name sagt ihm nichts, so daß er weder besondere Erwartungen noch Vorbehalte gegen die Lektüre hat, sondern sich wirklich unvoreingenommen und in seiner Lage auch frei von Ansprüchen auf sie einlassen kann. Für eine Rezeptionsforschung, die herausfinden möchte, was im Akt des Lesens und Verstehens literarischer Texte ,eigentlich' geschieht, ist die Dokumentation eines solchen Falles fraglos ein Beispiel, das dem sonst üblichen testmäßigen Abfragen von Leserreaktionen an Zuverlässigkeit überlegen ist.
Wohl jedem Leser der Romane Uwe Johnsons wird auffallen, daß örtliche und räumliche Angaben bei diesem Autor eine große Rolle spielen. Zwar sind diese Angaben - zumal in den frühen Romanen - nicht immer im kartographischen Sinne exakt, aber man spürt doch, daß es in dieser Hinsicht sorgfältig kalkulierte Verhältnisse gibt. Der wichtigste, der eigentliche Raum dieser literarischen Topographie ist natürlich Mecklenburg. Bereits in Ingrid Babendererde, dem ersten Roman, entworfen, kehrt er zunächst in den Mutmaßungen über Jakob, dann als Lebensstation des Journalisten Karsch wieder und wird schließlich in den Jahrestagen in umfassender Weise zur Geltung gebracht. Das Kleine Adreßbuch zu diesem Werk verzeichnet weit über einhundert Namen von mecklenburgischen Städten, Dörfern, Seen1), und nicht wenige von ihnen werden im Text in Einzelzügen berührt und einander räumlich zugeordnet nach Himmelsrichtungen und Verkehrswegen, Landschaftsmerkmalen und Aussichtshorizonten.
Wahrscheinlichkeit
(2003)
Wahrscheinlichkeit: Anschein der Übereinstimmung eines dargestellten Geschehens mit der gewöhnlichen Erfahrung. Expl: Der Begriff läßt sich auf Geschehensdarstellungen aller Art beziehen, also auf literarische (aller Gattungen) ebenso wie auf solche in Bild und Film. Hauptsächlich gebraucht wird er aber für ->Fiktion und hier für die erzählende Literatur und steht dabei zwischen dem ->Phantastischen oder ->Absurden einerseits und dem Verbürgten oder Tatsächlichen andererseits (->Dokumentarliteratur). Eindeutig und ein für alle Mal abgrenzbar ist er jedoch nicht; was für wahrscheinlich gehalten wird, kann je nach historisch-kulturell bedingten Kenntnissen und Ansichten schwanken. Unterscheidbar sind aber zwei Ausrichtungen des Begriffes: Textintern meint er die Widerspruchsfreiheit der Darstellung, textextern ihre Verträglichkeit mit dem verfügbaren Wissen.
Fahrten über Grenzen sind immer weite Fahrten, nach Osten besonders weite. Als wir bei Herleshausen einrollen in den Grenzbereich, dieser unvergleichlichen Veranstaltung aus Zäunen, Sperren, Wachtürmen und Brachstreifen, rückt wieder wie stets das Eigene plötzlich sehr fern. Wie oft muß man hier durch, um sich an das zu gewöhnen? Wir stehen mit unserem Bus auf einem Seitenstreifen und warten. Paßkontrolle, Listendurchsicht, Stempel, Gebühren - es tut sich was, aber es dauert. Einer vom Zoll holt zwei Taschen unten aus dem Bus, die Besitzer sollen mal rauskommen, Stichprobe. Ärgert es den Mann, daß alle die Hälse recken, um zu sehen, wie er es macht? Er macht es genau. Selbst noch das letzte Zettelchen aus dem Portemonnaie muß entfaltet und vorgewiesen werden, der will das tatsächlich lesen. So dauert es zwei Stunden, bis alles überstanden ist. Dann aber wird das Tor vor uns aufgemacht, der Posten wünscht wie selber erleichtert 'Gute Fahrt', der weiteste Abschnitt der Reise liegt hinter uns.
Im Jahre 1798, auf dem Höhepunkt seines Gedankenaustausches mit Schiller, veröffentlicht Goethe eine kleine Kunstbetrachtung mit dem Titel Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke. Zwei Opernbesucher unterhalten sich hier über die Frage, ob man von einem Kunstwerk verlangen konne, daß alles an ihm 'wahr und wirklich' erscheinen solle, oder ob nicht die 'innere Wahrheit', die Übereinstimmung des Werkes mit sich selbst das viel Wichtigere sei. Dabei überzeugt der eine den anderen, daß gerade die Oper, wo die Personen wider jede Wahrscheinlichkeit "alle ihre Leidenschaften singend darlegen, sich singend herumschlagen und singend verscheiden", den Beweis für die Nebensächlichkeit der Naturtreue liefere. Nur der ganz ungebildete, allein am Gegenständlichen haftende Zuschauer nehme an dieser Unwahrscheinlichkeit Anstoß. Der Kenner frage eher nach der Kunstgestalt des Werkes, er bewundere "die Vorzüge des Ausgewählten, das Geistreiche der Zusammenstellung, das Überirdische der kleinen Kunstwelt" und gewinne so auch für sein eigenes zerstreutes Leben die Ahnung einer "höheren Existenz".1)